Über den Autor
Arnulf Zitelmann, geboren 1929, studierte Philosophie und Theologie und lebt als freischaffender Autor in der Nähe von Darmstadt. Für sein literarisches Gesamtwerk wurde er mit dem Friedrich-Bödecker-Preis und dem Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet.
Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihm u.a. die Romane Unter Gauklern, Der Turmbau zu Kullab, Hypatia, Unterwegs nach Bigorra, Paule Pizolka oder Eine Flucht durch Deutschland sowie die Biographien Nur dass ich ein Mensch sei. Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant, »Ich weiß, dass ich nichts weiß«.
Die vier großen Philosophen der Antike Sokrates, Platon, Aristoteles, Diogenes, »Keiner dreht mich um«. Die Lebensgeschichte des Martin Luther King sowie die Sachbücher Die Weltreligionen und Die Geschichte der Christen.
Impressum
»Widerrufen kann ich nicht« kam auf die Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis.
Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-407-74768-6 Print
ISBN 978-3-407-74813-3 E-Book (EPUB)
© 1999 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
Neue Rechtschreibung
© 1983 Beltz & Gelberg
Einbandgestaltung: Cornelia Niere mit Roland Werner, München
Bildnachweis: Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553), Bildnis Martin Luther, um 1525, Öl/Buchenholz, 37,0 × 24,4 cm, Inv.Nr. 1232 BRD, LWL-Museum für Kunst und Kultur (Westfälisches Landesmuseum), Münster/Dauerleihgabe der Bundesrepublik Deutschland
Fotonachweis: LWL-Museum für Kunst und Kultur (Westfälisches Landesmuseum), Münster/Sabone Ahlbrand-Dornseif
E-Book: publish4you, Bad Tennstedt
Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de
Inhalt
Mansfelder und Eisenacher Schulzeit
Erfurter Philosophiestudium
»Schwarzes Kloster« in Erfurt
Romreise und Wittenberger Professur
Wittenberger Thesen
Augsburger Verhör und Leipziger Disputation
Wormser Reichstag
Wartburghaft und Wittenberger Bildersturm
Thomas Müntzer und der Bauernkrieg
Heirat, Rückfälle, Krankheiten und Tod
Zeittafel
Literaturauswahl
Bei Luthers erstem Auftritt vor dem Wormser Reichstag soll der junge Kaiser spontan geäußert haben: »Der wird mich nie zum Ketzer machen!« – Luther hatte keinen großen Eindruck hinterlassen, wirkte eher unsicher, linkisch. Die Reichstagsabgeordneten, Fürsten, Bischöfe, Grafen und Magistratsvertreter hatten sich den Mann, der den Papst in Panik versetzte, wohl anders vorgestellt. Luther selbst »entschuldigte sich wegen seiner Einfalt, bisher habe er zurückgezogen gelebt, sei einfältig aufgezogen worden, man wolle ihm zugute halten, wofern er sich gegen eine so ansehnliche Versammlung nicht gebührend verhalte«. Noch lange danach erinnerte sich Luther an den Augenblick, wo er sich vor Kaiser und Reich verantworten sollte, »da mich Gott wider mein Willen und Wissen in das Spiel führte«. Er sah sich nicht als Macher und hat trotzdem Geschichte gemacht. Das ist eine der vielen Unstimmigkeiten im Leben dieses umstrittenen Mannes, der für seine Gegner ein »schwarzer Kulkrabe«, der »Doktor Lügner« war, doch den seine Freunde die »wunnigkliche Nachtigall« nannten. Luther war sich der Widersprüchlichkeit seiner Lebensgeschichte bewusst. Er meinte über sich: »Dass ich Bakkalaureus und Magister wurde, dann das braune Barett ablegte, anderen ließ und Mönch wurde, und dass ich dennoch dem Papst in die Haare geriet und er mir wieder, dass ich eine entlaufene Nonne zum Weib nahm, wer hat das in den Sternen gelesen? Wer hätte mir das vorausgesagt?«
Mansfelder und Eisenacher Schulzeit
»Ein Kind, das einmal kleinmütig geworden ist, ist zu allen Dingen untüchtig und verzagt. Es fürchtet sich allezeit, sooft es etwas tun und anfangen soll. Was aber noch ärger ist: Wo eine solche Furcht in der Kindheit einreißt, kann sie schwerlich wieder ausgerottet werden sein Leben lang. Denn weil sie bei einem jeden Worte der Eltern erzittern, so fürchten sie sich auch nachher ihr Leben lang vor einem rauschenden Blatte.«
1483–1500
Am Ostrand vom Harz wird Martin am Montag, den 10. November in der Stadt Eisleben geboren. Der Priester tauft ihn am Martinstag und der Junge erhält den Namen des Tagesheiligen. Man zählt das sechstausendsechshundertzweiundachtzigste Jahr der Welterschaffung, das Jahr 1483 nach der Geburt von Christus. Im Jahr darauf ziehen seine Eltern Hans und Margarete ins nahe gelegene Mansfeld. Hier wächst Martin auf. Mansfeld ist eine aufstrebende kleine Stadt. Die Mansfelder Kupferindustrie zählte zu den bedeutendsten Bergbauunternehmen Deutschlands und der Abbau war über Jahrhunderte hinweg so ergiebig, dass die Gruben erst in unserer Gegenwart aufgegeben werden mussten. Männer wie Martins Vater, arbeitsam und auf Aufstieg bedacht, waren für die Grafen und ihre Stadt willkommene Leute. Besonders, wenn sie noch Kapital in die Bergbaugesellschaft miteinbrachten. Erst Häuer unter Tage, dann Pächter einer kleinen Kupfermine des Grafen, erwirbt sich Vater Hans gesellschaftliches Ansehen und in späteren Jahren sogar einen Sitz im Rat der Stadt.
Martins Mutter hatte ihrem Mann den Einstieg in das Bergbauunternehmen ermöglicht. Margarete, Tochter einer wohlgestellten Bürgerfamilie Eisenachs, heiratete achtzehnjährig den Bauernsohn aus dem Dorf Möhra. Die Heirat war für Hans ein Glücksfall. Neben der Aussteuer, die Margarete mitbrachte, bürgte das Ansehen der Schwiegereltern für seine Kreditfähigkeit. In Margaretes Familie gab es Ratsherren und studierte Leute. Das kam Martins Eltern zugute, als sie sich um das Bürgerrecht in Mansfeld bewarben.
In Mansfeld hat Margarete mehrere Kinder geboren, einige davon starben bereits in jungen Jahren. Bekannt sind uns außer Martin noch der Bruder Jakob und drei Schwestern. Martin erinnert sich später an das karge Leben der Eltern: »Mein Vater ist in jungen Jahren ein armer Häuer gewesen; die Mutter hat all ihr Holz auf dem Rücken eingetragen.«
Über Martins Kindheit wissen wir wenig. Zeitgenössische Berichte und Darstellungen vermitteln uns aber einen Eindruck vom äußeren Rahmen. Der Junge trägt ein wadenlanges Kittelkleid. Im Sommer ist es aus Leinen und die Kinder laufen barfuß. Während der kalten Jahreszeit zieht Martin lange Strümpfe oder »Beinlinge« an, die seine Mutter mit Bändern am Unterleibchen »festnestelt«, darüber trägt er ein wollenes Hemdkleid. Bis ins Schulalter stecken Mädchen und Jungen in der gleichen Kleidung. Auf der Gasse kann man sie kaum unterscheiden.
Die Familie geht zeitig zu Bett, denn morgens steht man mit dem ersten Messeläuten zwischen fünf und sechs Uhr auf. Ein Arzt empfiehlt zu der Zeit: Richte deine Sachen, »dass du spatisten um 8 oder 9 Uhr zur Ruhe gehest; so hastu deine acht oder neun stund zum genugsamen schlaff. Im Sommer hastu an sechs oder sieben stunden übrig genug.«
Die Kinder helfen mit in der Hauswirtschaft. Sie melken die Ziegen, führen sie hinaus vor die Stadt und lassen die Tiere an Wegrändern weiden. Martins Mutter bewirtschaftet einen großen Garten. Sie erntet Gemüse und Obst; Kohl und Bohnen werden für den Winter in Salz eingelegt, Äpfel und Birnen geschnitzelt und luftgetrocknet. Die Mädchen helfen der Mutter am Waschbottich und bringen die Wäsche zum Bleichen auf den Gemeindeanger. Brot wird im Gemeindebackhaus gebacken und frisches Wasser vom städtischen Brunnen herbeigetragen, wenn nicht das Haus einen eigenen Hofbrunnen besitzt.
Langweilig wird es nie und ruhig und still ist es in der Stadt nur in den Stunden um Mitternacht. Ansonsten quietschen Pferdekarren durch die Gassen, Hunde bellen, im Wirtshaus spektakeln »fahrende Scholaren«, größere Schüler, die von einer Schule zur anderen wandern. Überall riecht es nach Bier, Zwiebeln, Gemüse, Mist und Faulstoffen. Der Priester kommt die Straße entlang, um einem Sterbenden das letzte Sakrament zu bringen. Hühner flattern, eine junge Frau sitzt auf der Hausstufe und gibt ihrem Kind die Brust. Wieder läuten die Glocken, den ganzen Tag hört man sie, den Stundenruf, die Turmuhr.
Ist erst die jährliche Kirchweih, steht der ganze Ort Kopf. Fliegende Händler, Gaukler, Liedermacher und Geschichtenerzähler besetzen Plätze und Straßen, in offenen Buden wird ausgeschenkt, Frauen und Männer tragen sehr bunte, phantasievolle Kleidung. Lauten, Geigen, Pfeifen, Handorgeln, Krummhörner und Drehleiern verbreiten fröhlichen Lärm. Nicht jedem gefällt das. Ein Prediger bemerkt böse: »Die Klötz tanzen so säuisch und unflätig, dass sie die Weiber und Jungfrauen dermaßen herumschwenken und in die Höh werfen, dass man ihnen hinten und vorn hinaufsieht bis in die Weich und haben es bisweilen die Jungfrauen fast gern, wenn man sie also schwenket.«
Das ist die Welt, in der Martin aufwächst. Er ist mit dabei, wenn auf dem Schindacker vor der Stadt das Volk zusammenläuft, um dem Henker bei der Arbeit zuzusehen. Das Gesetz kennt noch keine Freiheitsstrafen. Jedes Vergehen muss mit Geld oder Leibespein abgegolten werden. Foltern, Rädern, Hängen, mit glühenden Zangen reißen sind ein öffentliches Schauspiel.
Mehrmals die Woche marschiert die Familie in eins der städtischen Badehäuser, wo sie sich mit Seife und Badequast reinigt. Die Leute hocken zu mehreren in großen Holzbottichen und genießen das heiße Wasser. Männer lassen sich scheren und rasieren, auch Zähne werden hier gezogen, und man schwitzt und trinkt, erzählt und lacht, bis es Zeit wird, zu Hause das Vieh zu versorgen und in der Stube die Bettstatt zu richten.
Im Haus ist es beengt, zumal im Winter, wenn man sich mehr drinnen als draußen aufhält. Als Luther später in Wittenberg einem seiner Kinder beim Spiel zusieht, meint er: »Es springet und hüpfet und braucht in diesem Alter viel Platz im Haus, damit es sich wohl fühlt.« Viel Platz bietet das Mansfelder Haus den sechs oder acht Geschwistern nicht. Man lebt eng zusammen, in ständigem Hautkontakt. Im Haus wird gestorben und geboren und zur Schlafenszeit liegt die ganze Familie in der großen Bettnische beisammen. »Mein Vater hat mit meiner Mutter geschlafen und mit ihr gescherzt und sind fromme Leute gewesen«, so schildert Luther das Familienleben.
Wie Martin als Kind war, ausgelassen oder eher zurückhaltend und besinnlich, das wissen wir nicht. Aussagen über ihn gibt es erst aus späteren Jahren.
Seine Mitstudenten schildern ihn als »hurtigen und fröhlichen Gesellen«. Alleinsein liegt ihm nicht: »Da fällt einem allerlei Böses ein, so Leib und Seele schädlich ist«, schreibt Luther. Und er sagt von sich: »Ich esse und trinke und spaße und bin ein umgänglicher Mensch.«
Aber er hat auch eine andere Seite. »Doktor Luther ist ein grober Gesell«, erklärt er selbst, nennt sich einen »harten Kopf« und meint, »mit Pochen soll niemand an mir nichts gewinnen«.
Er kann seinen Gegnern mit bösen Worten zusetzen, wirft mit Kraftausdrücken um sich und ist nicht eben zimperlich, wenn es ans Hauen und Stechen geht. Auch das gesteht er: »Ich habe drei schlimme Hunde, Undankbarkeit, Hochmut und Gehässigkeit. Wen die drei hundt peissen, der ist sehr übel gebissen.«
So ein Mann dürfte wohl kaum ein bequemes Kind gewesen sein. Ein vulkanisches Temperament schreiben ihm schon seine ersten Biographen zu. Wahrscheinlich gibt es kein anderes Wort für Martins Ausbrüche, wenn er in Zorn geriet und mit der Faust den Tisch bearbeitete. »Ich habe keine bessere Arzenei als den Zorn«, bemerkt er, »denn wenn ich gut schreiben, beten, predigen will, muss ich zornig sein; da erfrischt sich mein ganz Geblüt, mein Verstand wird geschärft und all meine Anfechtungen weichen.«
Anfechtungen, Selbstzweifel, Angst und Niedergeschlagenheit deuten auf einen dritten Persönlichkeitsaspekt Luthers hin. Innere Bedrängnis, Unwertgefühle setzen ihm später immer wieder zu. »Wenn jemand anders diese Anfechtungen hätte aushalten müssen, die ich hatte, wäre er längst tot.« Lag schon in dem Mansfelder Jungen, der mit anderen Kindern Federball spielte, Steine stieß und Weitsprünge übte, etwas von dieser gedrückten Stimmungslage? Das ist anzunehmen.
Der Mann, der in seinen mittleren Lebensjahren so klotzig daherkommt, kann zugleich überraschend sanfte und warme Gefühle äußern. Kein harter Kern steckte in ihm, keine kräftige Seele, sondern ein »seelichen«, wie er es nannte. »Das Herz des Menschen ist das allerempfindlichste Ding, dennoch stürmt man dazu, als wäre es eine Mauer drei Ellen dick.«
Man muss annehmen, dass Martin in dieser ungewöhnlichen Mischung aus Geselligkeit und Grobheit, Selbstzweifeln und verletzlichem Gemüt ein empfindsames Kind gewesen ist. Und denkt man an die beinahe beängstigende Fähigkeit des erwachsenen Luthers, mit der Sprache umzugehen, in ihr zu denken, zu erzählen, zu poltern und zu trösten, dann ergeben sich Rückschlüsse auf ein unterschiedlich und vielseitig begabtes, intelligentes, aber gerade deshalb kompliziertes und schwieriges Kind, das auf jede Art von Einengung mit heftigen Gefühlen reagiert.
Für die Beantwortung der Frage, ob die Eltern diesem Jungen gewachsen waren, wie sie ihn erzogen haben, sind wir allein auf Luthers eigene Erinnerungen an die Kindheit angewiesen, und dabei ist anzunehmen, dass die Rückblende das Bild verzerrte. Fest steht, dass seine Eltern ihm eine sorgfältige und für sie sehr kostspielige Schulbildung zukommen ließen. Für eine Bergarbeiterfamilie war das nicht die Regel. Die Eltern spürten wohl doch, dass in diesem Kind etwas Besonderes steckte. Jurist sollte er werden, entschieden sie später, Staatsbeamter im höheren Dienst. Martin sollte es leichter haben als sein Vater, der sich im schweren Mergelgestein der Mansfelder Grube krumm arbeitete. Zwar wurden gerade jetzt die Gruben modernisiert, kamen Hebemaschinen für Stein, Erz und Wasser in Gebrauch, auch Hammerwerke zum Zerkleinern des geförderten Rohguts, und man experimentierte bereits mit Gebläsen, die »gut Wetter« in die tief führenden Schächte bringen sollten. Doch die Plackerei blieb. Arbeitsanreiz für die Knappen war ein Gewinnbeteiligungsverfahren, durch das ein Häuer im Schacht ein Vielfaches von einem landwirtschaftlichen Arbeiter verdiente. Von dem Gewinn musste allerdings auch wieder investiert werden. Martins Vater blieb lange Zeit in Schuld bei der Gesellschaft, hinterließ jedoch bei seinem Tod ein kleines Vermögen von zwölfhundert Gulden.
Martin sollte es besser haben. ›Drei Finger tun’s‹, sagte man vom Beamten, der die Feder hält und schreibt. Das wünschten sich die Eltern für ihren Sohn, wollten ihm körperliche Schwerarbeit ersparen, suchten ›das Beste‹ für ihn. Aber offenbar haben sie dabei mit Prügel auch nicht gespart. Martin erzählt: »Mein Vater stäubte mich einmal so sehr, dass ich ihn floh und ward ihm gram, bis er mich wieder zu sich gewöhnte.« Bei anderer Gelegenheit: »Meine Eltern haben mich gar hart gehalten, dass ich darüber ganz eingeschüchtert, unsicher wurde. Meine Mutter stäubte mich schon um einer geringen Nuss willen bis aufs Blut.« Im Nachhinein meint er: »Aber sie meinten es herzlich gut mit mir.«
Er lernte, sich zu fügen, zu funktionieren, doch zurück blieb ein schlechtes Gefühl mit sich selbst. Noch im Alter denkt Martin an einen Liedvers aus den Kindertagen: »Mir und dir ist niemand hold, das ist unser beider Schuld.« Seine Mutter hat das gesungen. Ein winziger Gedächtnisfetzen kehrt zurück ins Bewusstsein, das Bild der Mutter, die er gelernt hatte »zu fürchten und zu lieben«. Hat Margarete ihr eigenes Lebensgefühl an ihren Sohn weitergegeben? Zum Beispiel auch ihre Teufelsängste? Am Teufel hat Martin nie gezweifelt, wohl aber an seinem Gott.
Aus Luthers Erinnerungen wissen wir, dass die Mutter eine Nachbarin der Hexerei beschuldigte. »Die schoss ihr die Kinder, dass sie sich zu Tode schrien. Der musste sie sehr gefällig sein und ihr schöntun, um sie versöhnlich zu halten.« Und der Vater erzählt, dass im Bergwerk der Satan die Leute betrügt, ihnen Schätze vorgaukelt, dass sie meinen, da wäre »ein großer Haufen Erz und gediegen Silber, da doch nichts ist«.
Der Teufel gehört mit zum Alltag, das ist nicht nur bei den Luthers so. Später sehen Martins Gegner in ihm einen Besessenen, ein Teufelskind. Der päpstliche Gesandte, der ihn 1535 in Wittenberg erlebt, schreibt in seinem Bericht an die Kurie: »Auf Grund dessen, was ich über seine Geburt erfahren habe, bin ich fast sicher, dass der Mann von einem Dämon besessen ist.« Martins Mutter, so war ihm zu Ohren gekommen, habe im Badhaus von Eisleben als Badmagd mit dem Teufel gehurt.
Auch dem bekannten Doktor Faust, Luthers Zeitgenossen, schrieb die Nachwelt den Besitz teuflischer Kräfte zu. Das 1587 in Frankfurt am Main erschienene Volksbuch Historia von D. Johann Fausten versetzt den geheimnisumwitterten Magier in die Umgebung Luthers. In diesem Buch tritt Faust als Wittenberger Bürger auf, diskutiert mit den Professoren der dortigen Universität und treibt allerlei Unwesen im sächsischen Land. Da stirbt er auch, vom Teufel umgebracht, »eine halb Meil Wegs von Wittenberg«.
Faust, der »einen geschwinden Kopf« hatte, studierte Theologie, wollte aber höher hinaus und verlangte »alle Gründ am Himmel und Erden zu erforschen«. Sein Pakt mit dem Teufel gibt ihm Macht und grenzenlose Möglichkeiten, doch am Schluss steht er mit leeren Händen da, vom Wissen genarrt, und wird in die Hölle verstoßen.
Ein gleiches Ende wünschten seine Gegner auch Luther, dem anderen Wittenberger. Und tatsächlich gibt es Ähnlichkeiten zwischen ihm und Faust. Beide setzen sich mit dem Teufel auseinander, beide sind besessen von der Suche nach Gewissheit. Faust hofft, sie im Wissen zu finden, und paktiert im Interesse der Forschung mit dem Teufel. Martin braucht Glaubensgewissheit, um den Teufel, die Anfechtungszweifel, das schlechte Gewissen mit sich selbst abzuwehren und zum Schweigen zu bringen. Wie Faust ist er bereit, alles dafür herzugeben, mit seinem Leben zu zahlen: Er wird Mönch. Diese Entscheidung steht am Ende einer Ausbildung, die ihm seine Eltern mit einer ganz anderen Zielsetzung ermöglichten.
Mit fünf, sechs Jahren kommt Martin in die Schule. Die Eltern lassen ihn beim Rektor einschreiben, entrichten das Schulgeld und erstehen Bücher und das erste Schreibgerät, eine zusammenklappbare Wachstafel mit Griffel. Zu dieser Zeit gibt es bereits in jeder Stadt Schulen, mancherorts auch für Mädchen. Die allgemeine Schulpflicht kennt man zwar noch nicht, aber die Schulmeister am Ort kümmern sich darum, dass möglichst viele Kinder die Schule besuchen, denn ihr Verdienst richtet sich nach der Schülerzahl.
Das Mansfelder Schulhaus ist ein Fachwerkbau, der früher einmal als Scheune gedient hatte. Hinter der Tür steht ein Ofen. Im Winter bringen die Kinder Feuerholz und Kerzen zur Beleuchtung mit. Der Lehrer sitzt auf einem kanzelähnlichen Katheder, die Schüler hocken unter ihm auf Bänken. In der Ecke stehen ein paar Tische für Schüler, die Schreibarbeiten zu verrichten haben. Der Unterricht beginnt früh um sechs und endet nachmittags, zwischendurch gehen die Kinder zum Essen nach Hause.
Die Jungen werden in einem Raum unterrichtet, die dreizehn-, sechzehnjährigen zusammen mit den Schulneulingen. Ein paar ältere Schüler, manchmal schon bärtige Gesellen, die als Wanderschüler in die Stadt gekommen sind, helfen dem Schulmeister abhören, die jüngeren Schreiben und Lesen lehren.
Die älteren Schüler lernen das Schreiben mit der Gänsefeder. Man schneidet sie mit dem Federmesser zu, löst den Flaum vom Schaft und übt, mit harter und mit weicher Spitze zu schreiben und die Tinte richtig zu dosieren, damit es keine Kleckse aufs kostbare Papier gibt.
Die Schulsprache ist Latein, auch in den Büchern. Die Schulbücher enthalten Grammatik, Vokabeln, Lesestücke. Mit auf dem Lehrplan stehen Psalmen, Lieder und die Gebete der Kirche. Das Rechnen ist an den meisten Schulen noch nicht eingeführt. Erst 1489 erscheint das erste Rechenbuch mit den heutigen Ziffern. Lernen heißt pauken, auswendig lernen, aufsagen, wiederholen. Grammatik- und Vokabelbücher werden Seite für Seite abgehört. Es wird laut vorgesprochen, laut repetiert, die gelernte Lektion laut im Chor aufgesagt.
Seit es gedruckte Bücher gibt, können die Kinder auch daheim üben. Oft lernen dabei die Eltern Schreiben und Lesen von den Kindern. Man schätzt, dass um diese Zeit etwa zehn Prozent der Stadtbewohner lesen können. »Auf keine Erfindung können wir Deutschen so stolz sein wie auf die Erfindung des Buchdruckens, die uns zu neuen geistigen Trägern des Christentums, aller göttlichen und irdischen Wissenschaft und dadurch zu Wohltätern der ganzen Menschheit erhoben hat«, schreibt ein Autor 1507, gerade ein halbes Jahrhundert nach Gutenberg, dem Erfinder der Buchdruckkunst.
Von der allgemeinen Wissensexplosion profitieren die Stadtschulen zunächst allerdings kaum. Während Martin die Schulbank drückt, stellt Martin Behaim der Gelehrtenwelt seinen ersten Globus vor, Kolumbus erreicht Amerika, Leonardo da Vinci entwirft eine Flugmaschine und in Nürnberg geht die erste Deutschlandkarte in Druck. Aber von solchen Dingen hört man damals in Mansfeld wohl nichts, schon gar nicht in der Schule, in die Nachrichen von diesen neuen Errungenschaften erst sehr verspätet eindringen.
Das Schulwesen, in der Regel den Kirchen angegliedert, braucht Jahrhunderte, um sich eigenständig zu organisieren. Die Schulmeister, Rektoren und Gehilfen bleiben vielfach nur zwei, drei Jahre am selben Ort. Dann wandern sie weiter. Vielleicht gehen sie zurück an die Universität, um ihr Studium abzuschließen, oder sie suchen sich woanders ein neues Schulquartier.
Der Schulmeister hat in der Stadt oft noch den Dienst eines Schreibers und Notars, in der Kirche das Amt eines Kantors mitzuversehen. Als »Kindermeister« ist er nicht hoch geachtet, aber rund um die Uhr beschäftigt. Auch außerhalb der Schule soll er die Schüler beaufsichtigen, bei jeder Beerdigung muss sein Schulhaufe mit, um »über die Leich zu singen«, im Gottesdienst wird seine Mitwirkung verlangt und die Ratsherren erwarten hin und wieder eine Theateraufführung. Dabei sind Schulmeister meist nur kärglich untergebracht. Sie genießen nicht die vollen Bürgerrechte, werden aber gleichwohl zur Stadtsteuer und zum Wachtdienst an Tor und Mauer herangezogen. »Mich wundert«, beschwert sich einer, »dass sich rechtschaffene Leute noch zur Schule brauchen lassen. Denn die Männer, welche den ganzen Tag im Gestank und Lärmen der Knaben zugebracht haben und halb schwindsüchtig, halb taub geworden sind, müssen mancherorts das Brot des Jammers essen und das Wasser der Betrübnis trinken. Ich könnte Städte nennen, wo der Kuh- oder Sauhirt einen größeren Lohn hat als der Schulmeister.«
Luther hat sich später in Wittenberg leidenschaftlich für durchgreifende Schulreformen eingesetzt. Mehrere seiner Schriften widmet er diesem Thema. »Einen fleißigen, frommen Schulmeister oder Magister oder dergleichen«, so schreibt er, »den kann man nimmer genug lohnen und mit Geld bezahlen.« In einem Schreiben von 1524 »An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes« fordert er mehr Geld für das Bildungswesen: »Liebe Herren, man muss jährlich so viel für Verteidigung, Straßen- und Wegebau ausgeben und dergleichen, warum soll man nicht viel mehr wenden an die dürftige arme Jugend? Da werden täglich Kinder geboren und wachsen bei uns auf und ist leider niemand, der sich des jungen Volks annehme. Das ist doch eine unmenschliche Bosheit, wenn man nicht weiter denkt als so: Wir wollen jetzt regieren, was geht uns an, wie es denen gehen werde, die nach uns kommen! Nicht über Menschen, sondern über Säu und Hund sollten solche Leute regieren, die nicht mehr denn ihren Eigennutz suchen.«
Die eigene Mansfelder Schulzeit ist Martin nicht in guter Erinnerung geblieben. Die Schulordnung sah vor, dass ein älterer Mitschüler das verhasste »Wolfsbuch« führte, das die Namen der Schüler enthielt, die während der Schulzeit deutsch geredet hatten oder sich andere Ordnungswidrigkeiten hatten zuschulden kommen lassen. Wöchentlich einmal rechnete der Lehrer mit dem Stock ab. Der Wolfszettel war für Martin und seine Mitschüler ein Alptraum. »Die Examen sind für die Kinder eine Folter gewesen. Ich bin einmal vor Mittag in der Schule fünfzehnmal nacheinander gestrichen worden.«
Martin hatte mitgezählt. Die Schulordnung der Stadt Braunschweig z.B. legt den Lehrern »Züchtigung, ernste Strafworte« und »die Rute« ernstlich ans Herz, dass den Schülern »gebührlich Hilf« geschehe, aber aus »väterlichem« Sinn. Darum soll sich der Schulmeister »im Strafen alles Fluchens und ungebührlichen Redens enthalten, die Knaben nicht mit Schlüsseln, Büchern oder Fäusten ins Gesicht schlagen, nicht gräulich über die Bänke werfen, ihre Glieder ausrenken, an den Ohren ziehen, dass Gehör und Augen verletzt werden«.
Mehr wie Henker und Stockmeister, erinnert sich Luther, hätten die Schulmeister in seiner Schulzeit sich aufgeführt, statt die Anlagen der Kinder zu fördern.
Nach sechsjähriger Schulzeit in Mansfeld schicken die Eltern Martin auf weiterführende Schulen in Magdeburg und Eisenach. Martin beherrscht inzwischen Latein, die Kirchen- und Wissenschaftssprache, und hat sich in Mansfeld die Grundbegriffe von Logik und sprachlichem Ausdruck angeeignet. Er ist nun zwölf Jahre alt, zieht das Kittelkleid aus und kleidet sich wie ein junger Mann: mit Beinlingen, Kraushemd und Wams und kurzer Pluderhose, an der Seite hängt der Degen.
Wir wissen nicht, mit welchen Gefühlen er das Elternhaus verlassen hat, aber vielleicht bedeutete das Internat der »Brüder zum gemeinsamen Leben«, das er in Magdeburg besuchte, einen neuen Anfang. Warum er nur ein Jahr bei den Brüdern blieb, ist unbekannt. Sicher ist jedoch, dass die folgenden Jahre in Eisenach Martins Stimmungsbild aufhellen. Er bekommt einen Essplatz im Haus des begüterten Familienfreundes Schalbe. Unterkunft vermittelt ihm Margaretes Familie bei dem Ehepaar Konrad und Ursula Cotta. Von Frau Ursula bleibt ihm ein Wort im Gedächtnis, das er später als Randglosse in seine deutsche Bibel aufnimmt: »Es ist kein lieber Ding auf Erden denn Frauenliebe, wem sie kann zuteil werden.«