Lena Hach, geboren 1982, lebt als freie Autorin in Berlin. Sie besuchte eine Schule für Clowns, studierte Literatur und Kreatives Schreiben und arbeitete als Journalistin. Für ihren Roman Wanted. Ja. Nein. Vielleicht erhielt sie 2015 die Goldene Leslie. Bei Beltz & Gelberg erschien zudem der Roman Zoom. Alles entwickelt sich.
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Für Liesel – auch wenn es kein Briefbuchroman ist
»Geh ruhig vor«, sage ich. »Das hier dauert ’ne Weile.«
Ich halte meine Adidas hoch, die Schnürsenkel zum Gordischen Knoten geschlungen. Ach, wie gut, dass niemand weiß: Die Täterin bin ich selbst, der Einfall kam in letzter Sekunde.
»Du Arme«, seufzt Thea. »Mein Bruder kommt nie auf solche Ideen.«
»Tja, Henri ist halt ein besonders gelungenes Exemplar.« Ich versuche ein Grinsen. In letzter Zeit fällt es mir schwer, die Mundwinkel hochzuziehen. Es schmerzt in den Wangen, als würde ich gekniffen. Früher war das anders, früher war ich anders. Lustig. Nicht so sarkastisch. Spontan. Nicht so zögerlich. Ich könnte hundert Beispiele nennen.
»Kaum zu glauben, dass Henri zwei Jahre älter ist als wir«, murmelt Thea. »Du kannst echt froh sein, dass er auf eine andere Schule geht.« Unschlüssig steht sie in der Tür. Sie kommt ungern zu spät.
»Echt«, sage ich. »Du kannst vorgehen.« Da tut sie’s, läuft runter in die Halle, wo die Sohlen schon quietschen. Ich sehe Thea einen Moment hinterher, fast wünsche ich sie mir zurück. Irrsinnig. Noch so etwas, das ich früher nicht war. Als der Schnürsenkel-Knoten gelöst ist, stelle ich mich wie geplant vor den Spiegel. Das geht nur allein. Ich kontrolliere meine Frisur, drapiere die Strähnen, ziehe das Zopfband fest. Damit bin auch ich bereit für Sport.
Balancieren und springen, überschlagen, rollen und wieder aufstehen. Neunzig Minuten lang, jeden Montag. Weil der Lehrplan sagt: Auch Einzelsportarten müssen sein. Leichtathletik hätte ich lieber belegt, aber der Kurs war schon voll. Ich habe keine Pechsträhne. Ich habe einen Pechschopf. Schön wär’s.
Dass Frau Heinrich deutsche Meisterin im Turnen war, glaubt man sofort, so durchtrainiert, wie sie ist. Sehnig, würde meine Mutter sagen, mit Respekt in der Stimme. Meine Mutter mag Frauen, die sich im Griff haben, von lackierten Fußnägeln bis hin zu frisch geschnittenen Haarspitzen. Bei Männern ist sie schon beeindruckt, wenn sie an frische Wäsche denken. Meinem Vater legt sie jeden Tag was raus.
Wir laufen ein paar Runden, dann geht es ans Dehnen. Ich schnappe mir einen Platz an der Wand, da, wo die blauen Matten festgebunden sind. Aufwärmen ist keine große Herausforderung, aber manchmal will die Heinrich, dass wir uns auf und ab rollen, auf und ab, jeden Wirbel einzeln, und da habe ich lieber niemanden hinter mir. Ob sich meine Unterhose abzeichnet, kümmert mich nicht.
Thea will wissen, warum ich immer hier hocke.
»Die Matten stinken«, sagt sie.
Klar tun sie das. Barbarisch. Aber es gibt Schlimmeres.
»Ist bequem«, behaupte ich und lehne den Kopf hinten an. Irgendwie geht das schief, ich schätze den Abstand falsch ein. Das Band in meinem Haar löst sich. Keine Kleinigkeit.
»Ich muss mal«, murmle ich und verschwinde schnell Richtung Umkleide.
*
Auch wenn er seine Finger nicht im Spiel hatte: Die Sache mit den Schnürsenkeln sieht Henri ähnlich. Einmal schwatzte er einem Kumpel einen ausrangierten Mac ab. Auf dem leuchtenden Apfel platzierte er genau den Theater-Aufkleber, der auch auf dem Laptop unseres Vaters prangt. Nur, um ihn glauben zu lassen, er sei kaputt. Mein Vater, der seine ganzen Arbeitsblätter darauf speichert, alle Klausurvorlagen und die Vornoten, klappte den Laptop auf und zu, immer wieder, immer hektischer. Probierte sämtliche Ladekabel und Steckdosen durch, fluchte, rief seine Kollegin an, die sich mit dem ganzen Technikkram auskennt, aber nicht zu erreichen war. Er hinterließ ihr einen Monolog auf der Mailbox und hätte das Scheißteil am liebsten aus dem Scheißfenster geschmissen.
Im Türrahmen stehend, beobachtete ich das verzweifelte Ein-Mann-Stück. Ich erinnerte mich an etwas, das ich mal gelesen hatte: Komödie = Tragödie + Zeit. Das Zitat hatte ich mir für meinen Vater gemerkt. Aber jetzt war nicht der richtige Augenblick.
Henri stellte sich neben mich, frisch geduscht, wie ich ihn am liebsten mag. Von dem seifensauberen Bruder ging ein Beben aus. Er schüttelte sich vor Lachen und hielt den richtigen – funktionierenden – Mac wie eine Trophäe in die Luft.
»April! April!«, rief Henri. Ein unverbesserlicher Kindskopf trotz seiner achtzehn Jahre. Es scherte ihn nicht, dass Oktober war. Und nicht mal der erste.
So ist er, mein Bruder. Und das erklärt vielleicht, warum ich ihm kein Wort glaubte. Zwei Monate später. Das war schon im neuen Jahr.
»Katha, du kriegst ’ne Glatze.«
»Nice try«, sagte ich.
*
Aufwärmen ist das eine. Turnen das andere und weitaus Schwierigere. Man kann nicht jede Woche Regelschmerzen haben, und genau genommen sind die auch kein Grund, nicht mitzumachen. Sagt die Heinrich, die es wissen muss oder auch nicht, weil Kunstturnerinnen bekanntlich so abgemagert sind, dass deren Eizellen keine Kraft zum Springen haben. Falls sie überhaupt reif dafür sind.
Bei einer Flugrolle kommt man nicht mit dem Kopf auf. Man rollt über die Schultern ab, das Kinn an die Brust gezogen. Trotzdem kann ein Zopf verrutschen, ein Band und mehr oder weniger Verwurzeltes sich lösen. Deshalb taste ich nach jedem Überschlag, nach jeder Rolle meinen Hinterkopf ab. Ein flüchtiger Kontrollgriff, den niemand bemerken soll. So, wie wenn man mit der Hand unter die Achsel fasst und heimlich an den Fingern schnuppert. Mit dem Unterschied, dass das alle tun. Was ich mache, macht keiner. Niemand sonst hat es nötig.
»Hast du dir wehgetan?«, fragt die Heinrich und runzelt die Stirn. Sie sitzt auf der Bank, auf den Knien Papier, hat alles genau im Blick, jeden Haltungsfehler, jede Unterbrechung im Ablauf, jede unvorgesehene Bewegung. Ich schiebe meine Hände in nicht vorhandene Hosentaschen.
»Nee, warum?«
Sie schüttelt den Kopf, macht sich eine Notiz.
*
Mit süßstoffsüßem Kaffee hocken wir hinter der Schule bei den Containern. Die Märzsonne scheint; ein wahres Pausenidyll. Sport liegt für eine Woche hinter mir.
»Nikolas hat diesen Tick«, sagt Thea und nippt an ihrem Becher. »Ständig fasst er sich an den Hosenstall.«
»Pervers!«, ruft Charlie begeistert. »Und ich dachte schon, an dem Unglaublichen Nikolas gibt es nichts auszusetzen.«
Sie spricht den Namen Französisch aus, verzichtet auf das S am Ende.
»Gibt es auch nicht«, sagt Thea und schiebt Charlie einen kleinen Ellenbogen in die Seite, Kaffee schwappt über. Eine Verschwendung, die keinen interessiert, weil die Brühe nur ein Requisit ist. Wir kaufen sie, um was in der Hand zu halten, das billig ist und uns nicht gleich umbringt. Würde an Theas Onkel nicht der Krebs nagen, wären es wohl Kippen.
Warum wir bloß Süßstoff nehmen? Ich weiß es nicht.
»Und ob das pervers ist! Eine Variante von Taschenbillard. Hosenstallbillard.«
»So ist das nicht«, sagt Thea.
»Hosenstall. Was ist das überhaupt für ein Wort?«, frage ich.
»Ein altertümliches«, meint Charlie. »Aus einer längst vergangenen Zeit, in der die Menschen noch zu Pferde unterwegs waren. Heute wäre es natürlich die Hosengarage.«
»Nein, der Hosencarport.«
Das gefällt Charlie.
»Dein Liebster fasst sich also immer an den Hosencarport. Das ist kein Tick. Das machen achtundneunzig Prozent der Typen, die ich kenne.«
»Du kennst die falschen.«
»Ich kenne sie alle.«
Thea geht nicht darauf ein, sie guckt mich von der Seite an.
»Ich vermute, Niki will sichergehen, dass der Reißverschluss zu ist. Ihr wisst schon. Damit keiner sieht, was keiner sehen soll.«
»Du meinst seinen Mini«, sagt Charlie. »Oder ist es etwa ein Kombi? Oder warte, eine Stretchlimousine?«
Charlie gluckst vor Vergnügen, als Einzige. Wir haben uns daran gewöhnt.
*
Was keiner sehen soll, hat Henri, mein großer und einziger Bruder, zuerst gesehen. Vor zwei Monaten, nach meiner Mandelentzündung. Januar war es und der Schnee nicht mehr schön, schmutzig von Raketenpappe und Hundedreck. Wir standen im Bad am Waschbecken, wo Henri sich normalerweise vor mich drängt, um mich ein bisschen zu ärgern und sich noch mehr zu freuen. An dem Morgen aber stand er hinter mir, hatte beste Aussicht. Ich sah das Übliche, weiße Fliesen, graue Fugen und einen Klecks Zahnpasta. Über Kopf föhnen bringt mehr Volumen, hatte ich gelesen. Henri sprach laut, brüllte fast, um das Gebläse zu übertönen. Ich verstand ihn gut.
Ich glaubte ihm nicht.
Katha, du kriegst ’ne Glatze.
Nice try.
Nice try. Was kam ich mir cool vor, mitten in unserem tropenheißen Bad! Da zückte Henri sein Handy, blitzschnell, drückte auf den Auslöser und hielt das Display nah vor mein Gesicht.
Darauf: Zwei runde Stellen, münzgroß und von einem Weiß, für das ich keinen Namen wusste. Ich kapierte nicht gleich. Der hat sich heute Nacht in mein Zimmer geschlichen, dachte ich. Der hat mein Haar angehoben und mit seinem superduper Elektroding hier und da gemäht. Henri macht doch so was! Das ist doch so einer! Wer für einen Scherz extra einen alten Laptop anschleppt.
»Du spinnst ja!«
Als ich Henri einen Stoß versetzte, hart vor die Brust, fiel sein Handy auf die Fliesen. Ein Splittern. Das Display wie von Spinnweben überzogen. Mein Bruder hob das Handy auf und ließ mich allein. Brüllte nicht, fluchte nicht mal.
*
Eine Wolke versteckt die Sonne, der Kaffee ist kalt und wir sitzen immer noch zwischen den Containern. Sprachlos für einen kurzen Moment, weil Jasper vorbeiläuft, unglaublich lässig, in der Hand eine Birne. Jasper Bergemann, der erst seit Kurzem an unserer Schule ist und den schon jeder zu kennen scheint.
Was ich sagen wollte, falls ich was sagen wollte, weiß ich nicht mehr. Die Buchstaben haben sich aufgelöst, bevor sie sich zu Wörtern ordnen konnten. Weil sie gar nicht so schön sein können wie die dunklen Jasper-Locken, die breiten Jasper-Schultern und der ganze wunderbare Rest. Das Lächeln, zum Beispiel. Oder vor allem. Das verschmitzte Jasper-Lächeln.
So muss es am Grand Canyon sein, an einer dieser Plattformen. Scenic View. Man will einfach nur gucken und staunen, und das ist auch genug, wenigstens fast, weil man weiß: Näher kommen geht nicht. Das können nur andere, mit dem richtigen Equipment. Mit Wander- oder besser noch Siebenmeilenstiefeln und so was wie Chuzpe. Dann bückt man sich vielleicht nach einem mickrigen Stein und denkt, das ist jetzt ein Souvenir und muss reichen.
Jasper wirft das Birnengehäuse ins Gebüsch. Aber das hebe ich nicht auf. Ich bin nicht bescheuert. Vielleicht wächst da mal ein Baum.
»Jasper«, gibt Charlie von sich, als er uns nicht mehr hören kann. Die erste Silbe stöhnt sie, die zweite flüstert sie und für einen Moment kann ich sie nicht leiden.
Fakt ist: Ich habe keinen Alleinanspruch auf Jasper Bergemann. (Ob er wegen seines Namens klettert? Angeblich hat er Meisterschaften gewonnen.) Alle dürfen schmachten. Aber wer dabei klingt wie eine Sexhotline, der hat nichts kapiert.
Vielleicht nervt Charlie mich auch nur deshalb so sehr, weil sie schon wieder die alte Leier von ihrem Pony bringt.
»Der hängt so schlaff runter. Das ist bestimmt das Chlor.«
Charlie hat Schwimmen gewählt. Hätte ich auch tun sollen. Die Schwimmer tragen Badekappen.
»Nass sind die Haare auch noch«, jammert sie, und am liebsten würde ich schreien. Du hast Probleme!
»Sieht bestimmt voll fettig aus.«
Thea drängt zum Aufbruch, sie greift nach ihrer Tasche und wirft mir meinen geliebten Beutel zu. Vorne drauf ist ein roter Siebdruckfuchs, der immer gute Laune hat.
»Lasst uns was essen«, sagt sie und geht los.
*
Im Badlicht schienen die zwei Stellen so schützbedürftighell, dass ich mit meinen Fingerkuppen immer wieder darüberstrich. Wollte sie warm halten, wollte mich trösten. Es war alles so surreal.
Dann fand ich die Abtrünnigen. Gut verborgen im Ablauf der Duschrinne, als wollten sie keine Umstände machen, als täte es ihnen leid.
Aus der Rinne gezogen, hielt ich die Haare ins Licht. Ein dreckiger Klumpen, nass und verklebt. Wegwerfen mochte ich ihn dennoch nicht, konnte ich nicht, zumindest nicht gleich.
Ihr gehört doch zu mir, dachte ich. Ich brauche euch doch. Was macht ihr denn da? Eine Antwort blieb aus. Nur in Märchen sprechen leblose Dinge.
*
Kaum eingeweiht, bestand meine Mutter auf einem Termin beim Hausarzt. Im Wartezimmer voller triefender Nasen war nur noch ein Platz an der bollernden Heizung frei. Ich lehnte mich an die Wand und zählte die Sekunden.
Wieder auf der Straße, hielt meine Mutter eine Überweisung in der Hand. Wer runde, münzgroße Stellen auf dem Kopf hat, muss zum Hautarzt, kriegt sofort einen Termin und von den Sprechstundenhilfen ein unfassbar herzliches Hallo. Es war lieb gemeint, lieber geht es gar nicht und genau deshalb wurde mir schlecht. Ich ahnte, dass so eine Begrüßung nichts Gutes bedeutet.
*
»Was war das denn?«, will Charlie wissen. Sie sieht von der zweifelhaften Lasagne auf. Der Brocken, der uns für den Nachmittagsunterricht stärken soll, liegt im Magen wie ein ganzer Käselaib. Die Koch-AG gehört abgeschafft.
»Na, das da! Der da!«
Charlies Gabel ist ein Spieß, gerichtet auf die Zwölfer. Auf Jasper. Ich ziehe ihren Arm nach unten.
»Bist du verrückt?! Was soll der denn von uns denken?«
»Wer?«, fragt Charlie und grinst. »Jasper?!«
Da ist es wieder, das Stöhnen und das Flüstern.
»Ehrlich gesagt wüsste ich das wirklich gern, was der von uns denkt. Beziehungsweise von dir.«
Dieses Grinsen!
»Wie meinst du das?«
»Wie meinst du das?«, äfft Charlie mich nach. »Der hat sich schon zum zweiten Mal nach dir umgedreht. Und vorhin bei den Containern auch.«
»Quatsch«, sage ich.
»Kein Quatsch«, sagt Thea, und weil sie bis jetzt die Klappe gehalten hat, will das was heißen.
Damit die beiden nicht merken, dass es mir runtergeht wie Öl, wie Wachs und geschmolzener Käse, konzentriere ich mich auf meinen Teller und sage kein Wort.
In mir hüpfen Fragen herum: Seid ihr wirklich sicher? Wann genau hat er sich umgedreht? Wie hat er dabei geguckt? Hat er vielleicht nur aus dem Fenster gesehen? Und was habe ich in dem Moment gemacht? Hatte ich den Mund offen? (Klebte was zwischen meinen Schneidezähnen?) Und vor allem: Was bedeutet das?
Das Beste an besten Freundinnen: Man muss all die Fragen nicht stellen, um Antworten bemühen sie sich von allein.
Statt am Nachmittag ein unappetitliches Gedicht von Benn zu sezieren, sind die Jasper-Blicke dran. Der steht auf dich, die Diagnose. Mit warmen Ohren glühe ich zwischen Thea und Charlie, vergesse sogar, zur Toilette zu gehen, um einen prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen. Ich kann nur tasten, ob alles noch sitzt.
*
Partnerarbeit ist keine Gruppenarbeit. In Englisch müssen wir uns aufteilen, Charlie, Thea und ich.
»Machen wir zwei?«, fragt Elias, steht plötzlich einfach neben mir, den Stuhl schon in der Hand. Ich nicke und rücke zur Seite. Elias ist mein Krabbeldeckenfreund, wenn nicht noch mehr. Vor unserer Geburt haben unsere Mütter gemeinsam atmen geübt, später zusammen ihre Beckenböden trainiert. Es gab eine Zeit, da dachte ich: Ich bin verknallt. (Elias hat perfekte Zähne.) Dann kam die Phase, in der es schien, als hätte es ihn erwischt. Da interessierte Elias mich nicht mehr, zumindest nicht mehr so richtig.
Mittlerweile würde ich uns Kumpel nennen. Obwohl da manchmal ein Rest rosarotes Brausepulver in meinem Bauch ist – und bestimmt auch in seinem –, jedenfalls, wenn wir betrunken sind.
»Was sollen wir eigentlich machen?«, frage ich, habe nicht aufgepasst, vor lauter Jungsgedanken. Orientierungslos blättere ich in Lord of the Flies.
»Keine Ahnung«, sagt Elias. »Im Zweifel ein Standbild.«
Er schmeißt sich vor Referendarsaugen auf den Boden, streckt die Arme zu mir.
»Was soll das?«, frage ich.
»Ich bin Piggy. Du der Fels. Spring!«
Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. Hätte das Buch wohl lesen sollen. Ich lache trotzdem, weil es Elias ist. Weil Elias immer alle zum Lachen bringt.
*
Ich bin Meisterin darin, meinen Schädel zu untersuchen. Kann mich im Bad einschließen, stundenlang. Eine Bürste, ein Kamm und ein Spiegel meine einzigen Begleiter. Nur mit Vorsicht dürfen die Instrumente eingesetzt werden; damit nicht noch mehr verloren geht. Verfolgte mich eine Wassernixe, wie in dieser alten Geschichte, ich wüsste mich zu verteidigen. Aber was macht man mit Haaren, die beschlossen haben, dass es Zeit ist, zu gehen?
Am Abend des missglückten Standbilds entdecke ich eine neue Stelle, nur einen Fingerbreit entfernt von einer anderen. Tun sie sich zusammen, verbünden sie sich gegen mich, muss ich eine neue Frisur erfinden. Einen Zopf, der seitlich am Kopf sitzt wie ein drittes, haariges Ohr.
Die Kunst ist, dabei nicht wie ein Freak auszusehen.
Die Unmöglichkeit, jetzt nicht in Tränen auszubrechen.
*
Die Hautärztin hatte einen roten Pixieschnitt, der sah aus wie gefärbt. Nachdem sie mich untersucht hatte, die Haare wie Laub zur Seite fegte und daran zupfte, um zu prüfen, wie fest sie sitzen, hielt sie meine Wangen. Blickte mich mit Bernadineraugen an und fragte, wie alt ich sei. Mein »Sechzehn« klang so trotzig, dass meine Mutter die Stirn runzelte. Ein Blick wie der eines Mopses, der kein Leckerli kriegt, obwohl er doch so brav Sitz macht und Männchen. Im Raum entschieden zu viele Hunde. Treudoof, allesamt. Was hätte ich gegeben für eine Raubkatze, einen Löwen, ein Ungeheuer. Das mich verteidigt oder lieber noch auffrisst mit Haut und Haaren. Den restlichen. Ha, ha. Doch mir blieb das Lachen im Hals stecken. Da saß schon ein Tränenkloß. Meine Mutter beantwortete die letzte Frage (»Gibt es Vorfälle in der Familie?«) mit einem zögerlichen Ja. Doch der betroffene Großvater, von dessen Haarausfall ich bis eben nichts wusste, ist längst tot.
»Wir könnten noch ein bisschen warten«, seufzte die Ärztin. »Aber ehrlich gesagt würde ich dich vor diesem Hintergrund gern direkt zu einer Kollegin mit einer speziellen Sprechstunde schicken. Es gibt bestimmte Therapien, die in deinem Alter vielleicht gerade schon so infrage kommen.«
»Wir haben Koffeinshampoo gekauft«, übernahm meine Mutter.
»Du hast das gekauft«, sagte ich.
»Wir dachten, wir probieren es mal damit?«
»Du hast das gedacht.«
Die Antwort der Ärztin war, keine zu geben. Stattdessen bat sie mich, eine Faust zu machen, sie wollte mein Blut. Ich grub die Fingernägel so tief in meine Handfläche, dass vier Halbmonde aufgingen. Der Schmerz tat gut, er ließ mich an Lindys Schwester denken, von der es heißt, dass sie sich ritzt. Ich drückte ein bisschen fester.
»Ich habe gesagt, du kannst die Faust jetzt wieder öffnen.«
Der Ärztin war anzusehen: Sie hätte mir zum Trost gern einen der Lollis geschenkt, die in einem großen Glas auf kleine Patienten warteten. Stattdessen bekam ich ein Rezept für eine Creme. Und lernte ein neues Wort.
*
Alopecia areata. Ein Name, der nach botanischem Garten klingt. Nach wild wucherndem Grünzeug, einer tropischen Kletterpflanze. Eine seltene Lianenart, die im Boden wurzelt und ihre Blätter in der Krone entfaltet. Oder eine Orchidee mit knallfarbiger Blüte, rot, pink, mit weit verzweigten Luftwurzeln.
Tatsächlich gilt: Wäre Alopecia eine Pflanze und keine Krankheit, sie wäre ein Kaktus. Oder der Ficus, den man seit jeher zu gießen vergisst. Der ohne ein Blatt in der Ecke steht. Man könnte auch sagen: Kreisrunder Haarausfall.
*
Jasper war schon immer ein Punkt auf meinem Radar. Jetzt ist er der einzige, leuchtend grün wie der Stern auf seinen Sneakers. Nähere ich mich der Schule, nähere ich mich ihm, erhöht sich meine Pulsfrequenz und ich vergesse meinen Kopf, bin nur noch Herz und Bauch. Und zwei stolpernde Füße.
In der Cafeteria bin ich mir bewusst, wo er ist, mit wem er redet und habe auch im Rücken Augen. Eine Wahrnehmungsübung aus dem Theaterkurs. Jasper ist keiner von denen, die durch den ganzen Raum zu hören sind. Er lacht nicht lauthals, er lacht leise, als habe er irgendwas vor, als wisse er irgendwie mehr. Dann sind da noch die zwei Grübchen, die ä-Tüpfelchen auf seinem Lächeln.
Da man die nur aus der Nähe sieht, stehe ich auch auf, als er es tut. Charlie muss mich nicht mal schubsen. Wir gehen Richtung Theke, Jasper voran, ich hinterher, der Abstand wird klein und kleiner. Ich halte die Luft an, das Radar überschlägt sich, in meinen Ohren beginnt das Rauschen. Als ich dran bin, bestelle ich mit dem Zeigefinger, der stummste aller Fische im Meer.
»Seit wann isst du denn so was?«, fragt Charlie.
Ich schüttle den Kopf, versuche, den Rest des Rauschens aus den Ohren zu locken.
»Tut sie nicht«, weiß Thea, die Kleinste, Dünnste, die immer Hunger hat. Sie schnappt sich das Brötchen, beißt rein, wie ich es nur meinen Bruder habe tun sehen; die Hälfte ist in ihrem Mund verschwunden. Ich weiß schon: Will man anziehend wirken, sollte man sich etwas anderes kaufen als einen dick mit Mett bestrichenen Brötchenhintern, garniert mit einer rohen Zwiebel. Das Petersilienblättchen macht es auch nicht besser. Aber nicht nur meine Speisenwahl ist mehr als daneben.
Ich bin die Bescheuertste im ganzen Land, weil ich für den Bruchteil einer Sekunde dachte, vielleicht ist ja was Wahres dran. Vielleicht stimmt ja, was die besten Freundinnen behaupten: Der steht auf dich. Von wegen! An der Theke hat er mich nicht einmal bemerkt, quatschte stattdessen mit einem lönnebergablonden Pagenkopf.
*
»Ich bin einfach ein Busentyp«, hörte ich meinen Bruder vor Jahren am Telefon sagen. Mein Dekolleté gab nichts her, und es war nicht zu erwarten, dass sich das ändern würde in nächster Zeit. Mir blieb nichts übrig, als Henri auf den Fuß zu stampfen, vorne, wo die Zehen sind.
Jetzt, da mein Kopf wie von Geisterhand gerodet wird, bin ich auch ein Typ. Ein Haartyp, von der schlimmsten Sorte. Nicht nur den Jungs starre ich aufs Haupt, mehr noch den Frauen, am meisten den Mädchen, die so alt sind wie ich. Auf Scheitel und Wirbel glotzend, analysiere ich Struktur, Schnitt, Farbe und vergesse dabei, den Leuten in die Augen zu sehen.
*
Jaspers Unerreichbarkeit hat etwas Gutes. Er wird mir nie gefährlich werden, mir nie zu nahekommen. Also kann ich von ihm träumen. Doch das lässt die Sehnsucht wachsen, die ab einer gewissen Größe fast körperliche Schmerzen bereitet. Nach einer Woche habe ich die Jasper-Theorie meiner Freundinnen satt. Reiner Selbstschutz. Verdammte Münchhausengeschichte, denke ich, motze rum, nichts passt mir.
»Ich brauch jetzt ’ne Pizza«, murmle ich und lasse Thea und Charlie auf dem Pausenhof stehen. Normal gehen wir immer zusammen.
Meine schlechte Laune ist ein Glück. Denn als ich allein den Weg zum Pizza-Sprinter gehe, der freitags am Sportplatz hält, um Schülermägen unerlaubt und aufs Leckerste zu stopfen, kommt mir ein Paar dunkle Augen entgegen. Das Leuchten in ihnen hält mich fest. In dem Moment, in diesem Augenblick, erfahre ich am eigenen Leib, der nie so lebendig war: Vier Augen, die können sein wie vier Magnete, Pluspol, Minuspol, das ist Physik für Einsteiger und jede Menge stimmige Chemie.
»Hey«, sagt Jasper.
In mir setzt etwas aus, nur für den Bruchteil einer Sekunde zwar, aber ich schwöre: Kurz ist es stehen geblieben, mein Herz.
Hey.
Hey. Damit bin ich gemeint, nur ich, weil da absolut niemand anderes ist, dem das Wort gelten könnte. Gewissheit gibt ein Schulterblick.
Hey. Als ob wir uns kennen würden. Hey.
Ich sage nichts, kann nichts sagen, möglicherweise nie mehr, aber in meinem Bauch geht eine Sonne auf, die nehme ich mit nach Hause.
*
Am Abend, im Bett, beschließe ich: Hey ist viel schöner als Hi. Charlie hat es bestätigt. Ich habe ihr eine Nachricht geschrieben, weil ich nicht schlafen kann.
Und dann wähle ich noch Theas Nummer. Sie hebt beim ersten Klingeln ab, ein lang gezogenes Heeeyyy verrät: Sie ist längst informiert. Aber trotzdem darf ich noch mal erzählen, alles ganz ausführlich und von Anfang an. Dafür könnte ich sie küssen.
Eine Stunde später schlafe ich immer noch nicht. Wie wunderbar es ist, zur Abwechslung wegen so was wach zu liegen. Einmal nicht grübeln über die kreisrunden Stellen, die meinen Kopf besetzen, in feindlicher Absicht. Mich einmal nicht fragen, ob die Stellen heute vielleicht bemerkt wurden, von Aynur oder Lindy. In Physik haben die beiden getuschelt. Zugegeben, das tun sie ständig. Dennoch bin ich mir sicher: Dieses Mal drehte es sich wirklich um mich.
Zu denken, ich bin die Hauptperson in jedem verdammten Flüstergespräch. Das ist mit das Schlimmste.
*
»Ich sage ja nur, es könnte sein.«
Die Stimme, die in meine Mutter dringt, gehört ihrer Freundin Claudi. Die mochte ich noch nie.
Schon allein wie sie ihren eigenen Namen ausspricht, Claudiii, das i penetrant lang gezogen, sodass es kein Spitzname mehr ist: Da kann man auch gleich Claudia sagen.
Sie sitzen in der Küche, bei einem späten Glas Wein, das in Wahrheit eine sehr späte Flasche ist. Ich will bloß Wasser holen, weil Schwärmen durstig macht.
»Ich kann mir das nicht vorstellen. Beim besten Willen nicht. Die Ärztin hat ihre Diagnose gestellt –«
»Ärzte können sich irren. Du hast doch gesagt, dass sie noch jung war. Und euch woanders hingeschickt hat.«
»Ja, es wird Zeit, dass wir zu dieser Spezialistin kommen.«
»Das stand im Forum auch. Ein Spezialist ist das A und O.«
A und O