Marlitt Wendt
Pferdetraining optimal gestalten
➤ Stress erkennen und verstehen
➤ Bewusst zur Entspannung finden
Stress ist nicht nur eine unangenehme Nebenwirkung unserer modernen Welt, sondern ist zum großen Teil selbstgemacht und kann sogar ansteckend wirken. Wenn wir mit unserem übervollen Terminkalender durch den Alltag hetzen, geht schnell der Blick für das Wesentliche verloren und wir nehmen uns kaum noch Zeit für die wirklich wichtigen Dinge in unserem Leben. Mitbetroffen von diesem schnelllebigen Zeitgeist sind auch unsere liebsten Freizeitpartner, die Pferde.
Sie sind von der Natur nicht dafür geschaffen im Dauerstress zu leben und leiden darunter genauso wie wir. Dabei ist der vorhandene Stress im Pferdeleben gar nicht immer so offensichtlich zu erkennen und wird häufig in seiner Tragweite unterschätzt. Der Stress im Alltag unserer Pferde hat viele Gesichter, oft trägt der Mensch diesen zu den Tieren, manchmal ist die Haltungsform verantwortlich und in vielen Fällen werden schlichtweg die vielfältigen Bedürfnisse der Pferde nicht angemessen befriedigt.
Bei meiner Arbeit als Verhaltensbiologin werde ich immer wieder mit dem Thema Stress bei Pferden konfrontiert. Ich sehe gestresste Pferde auf Veranstaltungen, in Reitställen und auch bei eigentlich es gut meinenden Freizeitreitern. Die schädlichen Auswirkungen von unerkannten Stressoren wirken sich immer negativ auf den Körper und die Psyche der Tiere aus. Vermeintliche Widersetzlichkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten sind dabei oft ein verzweifelter Hilferuf des Pferdes, den wir lernen sollten zu erhören. Aus diesem Grund habe ich dieses Buch geschrieben, denn ich möchte die Leser sensibilisieren und ihnen verdeutlichen, was Pferden heutzutage an Stress zugemutet wird und wie wir ihn umgehen können. Ein glückliches Pferdeleben und eine harmonische Beziehung zwischen Mensch und Tier können wir gemeinsam verwirklichen, wenn wir die Empfindungen der Pferde respektieren und uns bemühen, Stress von ihnen fernzuhalten. Auf diesem Weg möchte ich Sie ein Stück weit begleiten hinein in eine (möglichst) stressfreie und unbesorgte Zeit mit Ihrem geliebten Vierbeiner.
– ohne Stress kein Pferdeleben
Stress ist vielfältig, er kann gleichzeitig belebend wie auch zerstörend wirken. Die gesunde Balance zwischen Anregung und Aufregung bestimmt den Alltag unserer Pferde entscheidend mit.
Sogar Pferde haben Stress, auch wenn uns das oft bei unseren umsorgten Pferdepersönlichkeiten auf den ersten Blick gar nicht so bewusst ist. Wo soll da der Stress herkommen, wenn sich das Leben doch zwischen Artgenossen auf der Weide abspielt, mit gutem reichhaltigen Futter und hin und wieder einem kleinen Ausritt? Wie immer liegt die Tücke im Detail. Jedes Pferd hat sein ganz eigenes Stressempfinden und je nach Haltungsform, Trainingsmethode und Umgangsgepflogenheiten wird es mehr oder weniger stark von den negativen Auswirkungen von Stresserlebnissen betroffen sein. Zunächst einmal gilt biologisch gesehen Folgendes: Das Leben an sich bedeutet Stress. Es gibt kein Leben, ohne dass der Organismus, ob Mensch oder Pferd, von körperlichen oder aber geistigen Einflüssen beansprucht wird. In jeder einzelnen Sekunde seines Lebens wirken vielfältige Reize auf das Pferd ein. Es ist gleichzeitig von internen Empfindungen wie von externen Stimuli beeinflusst. Immer gerät der Körper dabei ein wenig aus seinem inneren Gleichgewicht, die dadurch entstehende Belastung muss der Körper durch die typischen Stressreaktionen wieder ausgleichen. Stress ist also gleichzeitig ein Aktivitäts- wie auch ein Balancemechanismus, er ist für sich genommen weder nur negativ zu sehen noch rein positiv, sondern ein neutraler Auslöser für körperliche Reaktionen. Wir müssen nur bedenken, dass Mensch und Pferd Angehörige zweier unterschiedlicher Arten mit ganz verschiedenen Bedürfnissen und Vorlieben sind. Die Ansprüche die wir an das Pferd stellen, wird es nicht von Natur aus verstehen können, es muss langsam und Stück für Stück lernen, was wir von ihm möchten und was es von seinem Leben in menschlicher Obhut erwarten kann. Wir brauchen gewissermaßen Brücken der Verständigung, die wir gemeinsam behutsam bauen müssen.
Viel zu selten stellt man sich die Frage, ob unsere geliebten und umsorgten Freizeitpferde denn überhaupt an Stress leiden. Dabei gibt es unzählige mögliche Stressfallen, in die man sehr leicht tappen kann, ohne es überhaupt zu bemerken. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht nur die Ursachen von Stress, sondern auch seine Erscheinungsformen und Auswirkungen extrem vielfältig sind. Auffällige Ursachen wie das Erscheinen eines Raubtieres in einer Wildpferdeherde können zu ebenso gravierenden Stressreaktionen führen wie schleichende stressbesetzte Prozesse. So bedeutet auch ein überfüllter Offenstall, häufige Stallwechsel oder ein zu geringes Raufutterangebot Stress für das Pferd, beeinträchtigt also sein Wohlbefinden und belastet seine Psyche. Dabei gehen die einzelnen Pferdepersönlichkeiten ganz unterschiedlich mit Stress um. Während es Tiere gibt, die einmalige Unruhe sehr gut wegstecken und neugierig nach Anregungen suchen, nehmen sich andere, sensiblere Naturen schon kleinste Veränderungen in ihrer Umgebung zu Herzen und lassen sich leicht beunruhigen. Das allgemeine Nervenkostüm reicht je nach Individuum von sehr tolerant Stressreizen gegenüber bis hin zu fast „mimosenhaft“ überempfindlich.
Nimmt man den Begriff „Stress“ einmal wörtlich, so handelt es sich der lateinischen Wortherkunft her (lat. stringere bedeutet anspannen) um jede Form der Anspannung des Körpers. Biologisch gesehen reagiert der Pferdekörper auf jede Beeinträchtigung mit einer Stressreaktion. Jeder nicht einzuordnende, beunruhigende oder einfach unbekannte Außenreiz kann dazu führen, ebenso wie eine körperliche Beanspruchung oder Beeinträchtigung wie Hitze oder Kälte, aber auch eine psychische Belastung, eine unbestimmte Befürchtung oder eine Erwartungshaltung kann Stressreaktionen hervorrufen. Alle diese als Stressoren bezeichneten möglichen Stress-Auslöser wirken vereinfacht gesagt auf einen äußerst ursprünglichen Bereich des Pferdegehirns, das sogenannte Stammhirn. Das Stammhirn hat sich im Laufe der Evolution schon sehr früh entwickelt. Die hier generierten Reaktionsmuster haben sich seit Millionen von Jahren bewährt, aber sie sind eben nicht vom Verstand gesteuert, sondern äußerst emotional geprägt und wenig variabel.