Gemeinde – Kirche am Ort
Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils
Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Covergestaltung: Karin Cordes, Dipl.-Designerin, Paderborn
© 2015 by Bonifatius GmbH Druck · Buch · Verlag Paderborn
ISBN 978-3-89710-646-8
eISBN 978-3-89710-694-9
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.
Gesamtherstellung:
Bonifatius GmbH Druck · Buch · Verlag Paderborn
Vorwort
1Die Krise der Gemeinde
1.1Gängige, aber irreführende Krisendiagnosen
1.2Der Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen pastoralen Handelns
1.2.1Pastoral in der „christentümlichen Gesellschaft”
1.2.2Pastoral in der „halbierten Moderne”
1.2.3Pastoral in der „entfalteten Moderne”
1.3Die Konzeption der Gemeindekirche und die Gemeinde-Idee
1.4Das Scheitern der Gemeinde-Idee
1.5Worin besteht die Krise der Gemeinde?
1.5.1Gegenwartsuntauglichkeit
1.5.2Fortsetzung der Machtförmigkeit
1.5.3Bruch zwischen Gemeinderealität und Lebenswirklichkeit
1.6Die Wegscheide: Sekte oder diakonische Kirche
2Die Aussagen des II. Vatikanums zur Gemeinde
2.1Die eigenartige Reserviertheit des Konzils in Sachen Gemeinde
2.2Beiläufige Erwähnungen der Gemeinde
2.2.1Konstitution über die heilige Liturgie
2.2.2Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe
2.2.3Dekret über Dienst und Leben der Priester
2.2.4Dekret über das Apostolat der Laien
2.2.5Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche
2.3Das Gemeindeverständnis des Konzils
2.3.1Die entscheidenden Aussagen in der dogmatischen Kirchenkonstitution
2.3.2Das theologische Profil der Gemeinde
2.3.3Die Essenz des konziliaren Gemeindeverständnisses
3Kirche: als Volk Gottes Sakrament in der Welt
3.1Beliebte, aber nur bedingt taugliche Kirchenbilder
3.1.1Kirche als „communio”?
3.1.2Kirche als „Leib Christi”?
3.2Kirche als Volk Gottes
3.2.1Gleichheit der Würde
3.2.2Geschichtlichkeit
3.2.3Weltweite
3.2.4„Volk Gottes” als ekklesiologischer Grundbegriff
3.3Kirche als Sakrament
3.3.1Zeichen des Heils
3.3.2Funktionalität
3.3.3Option für die Armen
3.4Kirche in der Welt
3.4.1Eine neue Art von Konzil
3.4.2Was heißt eigentlich „pastoral”?
3.4.3Der pastorale Ortswechsel: „… in der Welt dieser Zeit”
3.4.4Die Welt als Ort der Bewahrheitung des Glaubens
3.4.5Die pastorale Konstitution der Identität der Kirche
3.4.6Kennzeichen einer pastoralen Kirche
3.5„Gemeinde” nach dem II. Vatikanum – Zusammenfassung auf einen Blick
4Richtungsanzeigen für Gemeinden als Kirche in der Welt von heute
4.1Rückkehr in die Seelsorge
4.1.1Was ist hier mit „Seelsorge” gemeint?
4.1.2Die Abkehr der Gemeinden von der Seelsorge
4.1.3Die Notwendigkeit einer Rückkehr
4.1.4Bedingungen einer Rückkehr
4.2Von der Gemeinschaftsideologie zur Achtung des Individuums
4.3Bewahrung des Territorialprinzips
4.4Anerkennung anderer Orte
4.5Die Quintessenz: Diakonie
5Zum Schluss ein Bild: Gemeinde als Berghütte
Verzeichnis der Abbildungen
Literaturhinweise
Im Herbst dieses Jahres wird im Vatikan die sogenannte „Familiensynode“ stattfinden. Im Vorfeld dazu sprach sich der Bischof einer deutschen Diözese nachdrücklich dafür aus, an den lehramtlichen Positionen der Kirche zu Sexualmoral, Homosexualität, Zölibat, Frauenrolle in der Kirche und Wiederheirat Geschiedener festzuhalten. Er begründete sein Plädoyer mit dem Argument, Änderungen dieser Positionen würden nicht dazu führen, dass auch nur ein Mensch mehr sich für die Kirche gewinnen lässt.
Das vorliegende Buch hat keineswegs die hier angesprochenen „heißen Eisen“ der kirchlichen Lehre zum Inhalt. Es widmet sich vielmehr der Gemeinde und der Frage, welche Impulse das Zweite Vatikanische Konzil für das Verständnis und die Praxis der Gemeinde in heutiger Zeit in sich birgt. Vorausgesetzt ist dabei die Überzeugung, dass eine jede heutige kirchliche Praxis ihre verbindliche Grundlage im Zweiten Vatikanischen Konzil findet. An dieser Stelle zeigt sich nun die Brisanz der Wortmeldung des Bischofs. Bei den darin angesprochenen Themen geht es um Fragen, die Menschen existentiell, in ihrer Persönlichkeit betreffen. Wenn man über diese Fragen spricht, hat man es mit Menschen zu tun und mit dem, was deren Lebenswirklichkeit ausmacht. Betroffene Personen erleben die Wortmeldung deshalb als Ausdruck einer bestimmten Haltung. Sie können sie nur so verstehen, dass die Begegnung mit ihnen dem Kriterium unterstellt wird, ob sie sich als Mitglieder in die Kirche einbinden lassen.
Genau das ist der Habitus gegenüber Welt und Menschheit, welchen das Zweite Vatikanische Konzil überwinden wollte. Genau diese Erhebung der Kirche zum Selbstzweck ihres Wirkens muss man ablegen, wenn man sich auf der Grundlage jenes Konzils bewegen will, das in seiner pastoralen Kirchenkonstitution „Gaudium et spes (GS)“ der Kirche aufträgt, die Freuden und Hoffnungen wie auch die Sorgen und Ängste der Menschen zu ihren eigenen zu machen (vgl. GS 1). Genau um diesen Gewinn für die Kirche, Menschen an sich binden zu können, darf es nicht mehr gehen in einer Kirche, die nicht von irdischem Machtstreben angetrieben wird, sondern nur dies eine will: Menschen retten, nicht richten; den Menschen dienen, nicht sich bedienen lassen (vgl. GS 3). So erweist sich die Wortmeldung des Bischofs als Beleg dafür, dass die Grundhaltung gegenüber Welt und Menschen, welche das II. Vatikanum der Kirche aufgetragen hat, noch keineswegs von allen kirchlichen Kräften und Instanzen als eigene Grundhaltung angenommen worden ist. Mit solchen Aussagen erfolgt eine unausgesprochene Abkehr vom entscheidenden pastoralen Anliegen des Konzils.
Beschädigt wird die pastorale Intention des Konzils gelegentlich aber auch dort, wo man sich emphatisch und im Brustton einer selbstverständlichen konziliaren Kirchlichkeit darauf beruft. So fällt z. B. auf, dass viele Protagonisten der neuen pastoralen Strukturen („Seelsorgeeinheiten“, „Pfarrgruppen“ usw.) ihre diesbezüglichen Konzepte und Maßnahmen als Einlösung des konziliaren Kirchenverständnisses darzustellen versuchen. Das muss man als eine besondere Form theologischer Chuzpe empfinden. Denn diese neuen Strukturen lösen gerade die engste Verbundenheit der institutionellen Kirche mit den Menschen (vgl. GS 1) auf. Sie bewirken, dass die Menschen die Kirche gerade nicht als heilsames Instrument für sich selbst erleben (vgl. LG 1), sondern dass sie sich zunehmend für die kirchlichen Strukturen und Vollzüge instrumentalisiert fühlen. Beruft man sich damit dennoch auf das Konzil, führt dies zu dessen Banalisierung.
Die beiden beschriebenen Phänomene sind Beleg dafür, dass das Denken, Reden und Handeln in der Kirche keineswegs so eindeutig auf dem II. Vatikanum aufruht, wie die permanente Berufung auf dieses Konzil glauben machen will. Auf den hier klaffenden Spalt im Bewusstsein zielt das Anliegen des vorliegenden Buches. Es will aufzeigen, was es bedeutet, das Zweite Vatikanische Konzil wirklich als Grundlage für die Praxis der Kirche ernst zu nehmen. Und es will diesen Aufweis speziell in Blick auf die Gemeinde führen – jene ehedem so unangefochtene Sozialform der Kirche, die sich in der individualisierten, pluralisierten Gesellschaft in einer tiefen Krise befindet. Damit versteht sich das Buch als kleiner Beitrag zur Bewahrung des „Geistes des Konzils“. Zu diesem Bemühen besteht 50 Jahre nach Abschluss des Konzils mehr denn je Anlass.
Erneut darf ich meiner Mitarbeiterin, Frau Anne Niederwestberg, herzlichen Dank abstatten für die Korrektur des Manuskripts sowie für wertvolle inhaltliche Hinweise.
Renholding, im August 2015
Herbert Haslinger
Über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg galt die Gemeinde bzw. Pfarrei als der kirchliche Ort schlechthin. Christliches Leben finde, so das vorherrschende Denken vieler Kräfte in der Kirche bis heute, gleichsam naturgemäß in einer Gemeinde statt. Andere Orte und Formen christlichen Lebens seien nur als Ableitung oder Ausnahme vom „Normal-Fall“ Gemeinde denkbar. Ein paar Schlaglichter aus der pastoraltheologischen Literatur mögen das veranschaulichen: In der Gemeinde sah man die Verwirklichungsform der Kirche, die auf Jesus selbst zurückgeht.1 Man erhob Gemeinde zum „Prinzip“, an dem alles kirchliche Leben und pastorale Handeln auszurichten sei.2 Christen sollten demnach der Gemeinde dienen3, weil diese einen „Selbstwert“ darstelle.4 Kirchliche Praxis hatte den Zweck, Gemeinde zu erleben.5 Viele sehen bis heute in der Gemeinde den „Ernstfall“ christlicher bzw. kirchlicher Existenz gegeben.6
Seit einiger Zeit nun lässt sich in Theologie und Kirche etwas beobachten, das in diesen Jahren der Gemeinde-Euphorie undenkbar gewesen wäre. Die Sozialform der kirchlichen Gemeinde wird anhaltend und deutlich in Frage gestellt. Auch dafür stehen Literaturtitel: Es wird gezweifelt, ob die Gemeinde überhaupt eine Zukunft hat.7 Die Richtungsanzeige „jenseits der Idylle“8 beschreibt Gemeinden als beschauliche Nischen, die zu überwinden seien. Man sieht in der Gemeinde einen alten Ort gegeben, während die Kirche neue Orte brauche.9 Der Gemeindetheologie wird ihr Scheitern attestiert.10 Die Gemeinde gilt „nicht mehr als unhinterfragte Sozialform“11 der Kirche. Oder man fragt sogleich unverblümt: „Was kommt nach der Pfarrgemeinde?“12 Sobald es um „Gemeinde“ geht, wird von vornherein eine „Krise der Gemeinde“13 diagnostiziert. Was ist da geschehen?
Bei der Frage, welche Entwicklungen und Umstände die offenkundige Krise der heutigen Gemeinden heraufbeschworen haben, ist man in Theologie und Kirche eilfertig mit gängigen Krisendiagnosen zur Hand: Es gebe zu wenig Priester, so dass nicht mehr in ausreichendem Maße Leiter für die einzelnen Gemeinden zur Verfügung stünden; die Priester litten unter einer zunehmenden Überlastung, so dass sie keine Zeit mehr für die eigentliche Seelsorgetätigkeit hätten; die Gemeindemitglieder zeigten zu wenig Bereitschaft, sich für die Gemeinde aktiv zu engagieren; immer weniger Menschen nähmen am gemeindlichen Leben (Gottesdienste, Gruppen, Veranstaltungen usw.) teil; Glaube und Religiosität würden verdunsten; die Menschen verfügten nicht mehr über genügend Glaubenswissen und wüssten immer weniger über die Bedeutung kirchlicher Vollzüge, was vor allem bei der Feier von Sakramenten deutlich werde; die Gesellschaft sei säkularisiert, moralisch fehlentwickelt und kirchenfeindlich eingestellt.
Nimmt man sich die Zeit, um über diese gängigen Diagnosen etwas genauer nachzudenken, erweisen sie sich schnell als ziemlich brüchig. Bei einem Blick in die Kirchengeschichte fällt auf, dass es zumindest in der Neuzeit kaum eine Zeit gab, in der nicht über einen Mangel an Priestern lamentiert worden wäre. Zum Ende des Jahres 1961 etwa beklagte der damalige Paderborner Erzbischof Lorenz Jäger „den erschreckenden Rückgang der Priester und Ordensberufe in der Erzdiözese“14, obwohl Paderborn in den Jahren 1951 bis 1964 durchschnittlich 50 (!) Neupriester jährlich zu verzeichnen hatte. Trotz des derzeitigen offenkundigen Rückgangs der Priesterzahlen waren, wenn man alle pastoralen Berufsgruppen in den Blick nimmt, noch nie so viele Seelsorgerinnen und Seelsorger (im Weiteren unabhängig vom Geschlecht „Seelsorger“ genannt) in der Kirche angestellt. Das sogenannte „Gemeindeleben“ hat sich heute in eine noch nie dagewesene Vielzahl an Vollzügen und Aufgaben ausdifferenziert; und es waren neben den beruflich tätigen Seelsorgern noch nie so viele Menschen in so vielen Bereichen der Kirche engagiert wie heute, und das trotz rückläufiger Kirchenmitgliederzahlen. Dass die Gläubigen früherer Zeiten wirklich über mehr Glaubenswissen verfügt und die inhaltliche Bedeutung kirchlicher Vollzüge besser verstanden hätten als die Menschen heute, ist realitätsferne Fiktion. Gerade unter den früheren Bedingungen einer christentümlichen Gesellschaft haben Christen z. B. den sakramentalen Ehebund geschlossen, weil man kirchlich heiraten musste, und nicht, weil sie so viel über die katholische Ehelehre gewusst hätten und davon so angetan gewesen wären. Die plakative Rede von einer „säkularisierten Gesellschaft“, wonach die Menschen heute von einem umfassenden Verlust religiöser Orientierung geprägt seien, hat sich aus religionssoziologischer Sicht als hinfällig erwiesen.15 Wenn auch die viel zitierte Rede von der „Wiederkehr der Religion“16 gewiss keine Rückkehr zu einer früheren Form von Religionsbindung meinen kann, so zeigt sie doch einen erhöhten Bedarf an religiösen bzw. ethischen Orientierungen an. Immer noch sind die christlichen Kirchen aufgrund ihrer Verflechtung mit dem Staat in einem Umfang gesellschaftlich gestützt und geschützt, ja auch privilegiert, dass dies nichtchristliche Gesellschaftsmitglieder verstört und den Gesetzgeber immer wieder – etwa wenn es um den Gebrauch religiöser Symbole im öffentlichen Raum geht – in die Bredouille bringt. Die Medien schließlich räumen den Kirchen, nicht zuletzt aufgrund gesetzlicher Vorgaben, eine denkbar umfangreiche Präsenz ein, welche diese auch weidlich zur werbenden Selbstdarstellung nutzen können. Selbst nicht kirchlich gebundene Medien zeichnen, wie etwa Unterhaltungsserien des Fernsehens zeigen, kirchliche Figuren überwiegend in positiven, sympathischen Zügen. Angesichts all dessen kann die Klage über eine durchgängige Religionslosigkeit und Kirchenfeindlichkeit der Gesellschaft wahrlich nicht überzeugen.
Vielmehr besteht Anlass, diese Krisenklagen umgekehrt mit Anfragen und Gegenüberlegungen zu konfrontieren:
Natürlich lässt sich der seit Jahren anhaltende Rückgang der Priesterzahlen als offenkundiges Faktum nicht bestreiten. Das beschriebene Phänomen aber, dass die Klage über einen Priestermangel auch bei umfangreichem Priesternachwuchs ertönt, wirft die Frage auf, ob sich dahinter wirklich eine realitätsgerechte Diagnose verbirgt. Könnte sie nicht auch von dem theologisch inakzeptablen Denkmuster motiviert sein, dass das Priestertum doch die wertvollere Form christlicher Existenz sei und dass es folglich der Priester nie genug geben könne?
Gewiss ist die Teilnahme bei Gottesdiensten und Sakramenten rückläufig. Aber die häufigere, regelmäßigere Gottesdienst- und Sakramentenpraxis in früheren Zeiten beruhte doch nicht darauf, dass die Gläubigen das gerne und mit Freude getan hätten, sondern darauf, dass sie aufgrund sozialer Kontrolle und kirchlicher Machtstruktur dazu weitgehend gezwungen waren. Und es waren gerade kirchliche Amtsträger, welche die Gläubigen zu einem kirchlichen Handeln angehalten haben, das weniger auf eigener Entscheidung, denn auf sozialem Druck und auf dem Gehorsam gegenüber der kirchlichen Autorität beruhte. Muss man nicht angesichts dessen das Problem in diesen Bedingungen einer zwanghaften Kirchlichkeit und nicht bei den Menschen von heute ansiedeln? Zumindest kann man den Umstand, dass sich auch in der Kirche das Teilnahmeverhalten zunehmend in die Entscheidungsfreiheit des einzelnen Menschen verlagert, gewiss nicht als Defizitentwicklung werten.
Es wurde schon angedeutet, dass auch die eng in die Kirche eingebundenen Gläubigen früherer Zeiten wohl kaum viel über die inhaltliche Bedeutung der kirchlichen Vollzüge wussten. Dann aber stellt sich die Frage: Warum haben damals unter den Bedingungen einer aufoktroyierten Kirchlichkeit die kirchlichen Amtsträger durchaus Eucharistie gefeiert, getauft, gefirmt, getraut und beerdigt, ohne in dem nur rudimentären Wissen der betroffenen Menschen darüber ein Problem zu sehen? Und warum wird geringes theologisches Wissen den heutigen Menschen als Fehlentwicklung vorgehalten? Umso mehr ist auf eine Beobachtung zu verweisen, welche die Diagnose mangelnden Glaubenswissens und ungenügenden Verständnisses auch von der anderen Seite her obsolet erscheinen lässt. Es gibt eindeutige Belege dafür, dass heutige Christen, gerade auch kirchendistanziert lebende, die von ihnen gewollten kirchlichen Vollzüge, insbesondere Sakramente, durchaus auf der Grundlage einer bewussten Reflexion ihrer inhaltlichen Bedeutung wie auch ihrer lebensgeschichtlichen Relevanz begehen.17
Den Menschen in den Gemeinden ist das Phänomen nur allzu vertraut: Seelsorger wirken gehetzt und innerlich erkaltet; selbst für wichtigste seelsorgliche Aufgaben wie Trauerbegleitung oder Jugendarbeit haben sie keine Zeit. Hier gebietet sich allerdings der Hinweis, dass gerade die Bedingungen in den heutigen pastoralen Großstrukturen – die nicht von den Menschen in den Gemeinden gewollt, sondern von kirchlichen Entscheidungsinstanzen vorgegeben sind – einer umfassenden und fundierten Wahrnehmung der Seelsorger-Rolle entgegenstehen. Gefragt werden muss freilich auch: Sind die Angehörigen der pastoralen Berufsgruppen wirklich selber in hinreichendem Maße bereit, sich in die unmittelbare Seelsorgearbeit in der alltäglichen direkten Begegnung mit Menschen hineinzubegeben? (s. 4.1.2) Gibt es nicht zumindest bei einem Teil von ihnen die ziemlich bedenkliche Tendenz, dass sich der notorische Verweis auf die Arbeitsüberlastung zum Habitus des Nicht-Zeit-Habens verfestigt?
Die gängigen binnenkirchlichen Krisendiagnosen helfen also nicht weiter, sondern führen eher in die Irre. Sie stimmen erstens in der Sache weitgehend nicht. Sie verleiten zweitens dazu, umso verkrampfter an bisherigen Handlungsmustern – die Kirche gibt Inhalte und Aktivitäten vor, die Menschen sollen diese konform annehmen und „mitmachen“ – festzuhalten, um der verspürten Krise zu wehren; damit folgen sie aber der Logik des „mehr vom selben“18 und erweisen sich gerade nicht als Lösung der Probleme. Drittens ist zu fragen: Stellen die gängigen Krisendiagnosen nicht Formen eines Schuldzuweisungsmechanismus dar, in dem kirchliche Instanzen und Handlungsträger – analog etwa zu pathologischen Beziehungsmustern suchtkranker Personen – die Ursachen für die eigene krisenhafte Situation immer nur bei „den anderen“ ansiedeln – „der Gesellschaft“, „den Menschen von heute“ oder „den Kirchendistanzierten“? Dienen sie nicht dazu, sich über die tatsächlichen Verhältnisse hinwegzutäuschen und die notwendigen Veränderungen bei sich selber abzublocken?
Die gängigen Krisendiagnosen zeigen, dass die heutige Situation der Kirche in umfassender Weise als krisenhaft erlebt wird. Dieses Erleben setzt die Annahme voraus, dass gegenüber einem als Vergleichspunkt angelegten „früher“ Veränderungen eingetreten seien. Soll eine solche Feststellung von Veränderungen nicht in einem trivialen „früher war alles besser“ stecken bleiben, bedarf es der Klärung, was sich hinsichtlich der pastoralen Praxis eigentlich verändert hat. Um dem auf die Spur zu kommen, sei hier ein Erklärungsmodell herangezogen, in dem der Münsteraner Theologe und Soziologe Karl Gabriel den Wandel im Verhältnis zwischen Gesellschaft, Christentum bzw. Kirche und individuellen Menschen typo-logisch als Abfolge von drei Phasen beschreibt.19 Diese drei Konstellationen von Gesellschaft, Christentum bzw. Kirche und Mensch bilden jeweils den Bedingungsrahmen pastoralen Handelns. Im Folgenden verknüpfe ich die Gabrielschen Phasen mit der Beschreibung eines Grundmusters pastoralen Handelns, so dass sich daraus eine analoge Abfolge dreier Konstellationen pastoralen Handelns ergibt.
Mit „christentümlicher Gesellschaft“ ist jene einmalige Verflechtung von Religion und Gesellschaft gemeint, wie man sie etwa mit mittelalterlichen, feudalen Gemeinwesen vor Augen hat. In ihr konnte sich eine soziale Formation herausbilden, in der die christliche Religion das gesellschaftliche Leben flächendeckend und einheitlich prägte. Die Gesellschaft fiel de facto mit der Christenheit in eins, präsentierte sich als „christentümliche Gesellschaft“. Die Kirche als das Sozialgebilde, welches die christliche Religion allein repräsentierte, nahm eine dominante Rolle ein; mit ihren Direktiven konnte sie alle Lebensvollzüge der Menschen kontrollieren und auch in andere Gesellschaftsbereiche wie Politik, Kultur oder Wirtschaft steuernd eingreifen.20 Unter diesen Bedingungen war die Rolle als Christ gleichsam automatisiert: Die Bürgerin und der Bürger waren qua Einbindung in die Gesellschaft Christ und Kirchenmitglied – und wenn sie nicht Christ und Kirchenmitglied waren, waren sie nicht in die Gesellschaft eingebunden.
Innerhalb dieser einheitlich christentümlichen Gesellschaft konnte sich ein selbstverständliches Grundmuster pastoralen Handelns ausbilden: (siehe Abbildung 1).
Den Christen (C) stand der Seelsorger (S) gegenüber, welcher in einem gleich bleibenden Muster sein pastorales Handeln (pH) vollzog. Der Seelsorger – der per se Priester war – brachte den Gläubigen den von den kirchlichen Instanzen vorgegebenen Inhalt, z. B. ein Sakrament, die Belehrung in einer Predigt oder die Ermahnung zu einem einwandfreien Lebenswandel. Der Christ nahm selbstverständlich seine Rolle ein, in der er eine unhinterfragte Empfänglichkeit zeigte für die Lehren, Moralvorschriften und Handlungsanforderungen der Kirche. Sie fügte sich passgenau mit einer ebenso selbstverständlich anerkannten Form pastoralen Handelns zusammen. Speziell die Zugehörigkeit zur Sozialform der Gemeinde, respektive der Pfarrei war integraler Bestandteil dieser gleichsam „automatisierten“ Christlichkeit. Dass man als Christ Mitglied eines kirchlichen Pfarrsprengels war, erschien so „naturgegeben“ selbstverständlich, dass man diesen Umstand gar nicht bewusst reflektierte, ja dass „Pfarrei“ oder „Gemeinde“ erst gar nicht zum Vokabular der Selbstverständnisbeschreibung des Christen gehörte.
Die zweite Phase setzte ein mit der aufgeklärten Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts, fand ihre volle Ausprägung in der industrialisierten Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und hielt bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, in Gestalt mancher nischenartiger Ausläufer sogar bis in die jüngere Zeit an. Die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte wie Staat, Wirtschaft oder Wissenschaft emanzipierten sich zusehends von der Kirche und gestalteten ihre Belange in eigener Souveränität. Wer christlich handelte und dachte, konnte nicht mehr automatisch sicher sein, damit in allen Gesellschaftssegmenten Anerkennung zu finden. Und umgekehrt: Wer sich in die Gesellschaft integrieren wollte, war nicht mehr auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dies über seine Zugehörigkeit zur christlichen Glaubensgemeinschaft zu bewerkstelligen. Mit der Arbeiterschaft oder bestimmten politischen Gesinnungsgemeinschaften etwa kristallisierten sich gesellschaftliche Gruppierungen heraus, die in ihrer Identität unabhängig waren vom christlichen Glauben und die nach anderen Maßgaben als denen der Kirche handelten. Die Gesellschaft begann, sich in verschiedene eigenständige Segmente aufzuspalten. Nun kam es jedoch in dieser Phase der Gesellschaftsentwick-lung zu einer eigenartigen Mischung traditioneller und moderner Orientierungen. So blieben z. B. viele herkömmliche Lebensformen der bäuerlichen Bevölkerung oder der Hand-werkerschicht neben den sich neu herausbildenden Lebensformen einer industrialisierten Gesellschaft bestehen. Quer zu der modernen Tendenz einer aufgeklärten Bevölkerung, sich von einheitlichen Sozialbindungen zu lösen, wirkte auch eine traditionsorientierte Tendenz der Verfestigung sozialer Strukturen. Das heißt: Es bildeten sich feste, voneinander abgegrenzte Milieus. Dabei handelte es sich um sozial-strukturelle Formationen, innerhalb derer die dazugehörigen Menschen einheitliche Werte akzeptierten, nach einheitlichen Orientierungen lebten und Wirklichkeit nach einheitlichen Sinndeutungen verarbeiteten. Die interne Einheitlichkeit solcher Milieus machte eine deutliche Abgrenzung nach außen gegenüber anderen Milieus nötig, aber auch möglich. Durch die betonte Einhaltung der Milieugrenzen konnten die für moderne Gesellschaften typischen Differenzierungsprozesse, welche die interne Einheitlichkeit des jeweiligen Milieus aufgelöst hätten, abgeblockt oder zumindest abgeschwächt werden.
Das Christentum hatte teil an diesem gesellschaftlichen Wandlungsprozess. Zwar bekam die Kirche die Entwicklung der modernen Gesellschaft als Bedeutungsverlust ihrer selbst zu spüren, vor allem als Verlust ihrer Möglichkeit, das soziale und individuelle Leben der Menschen einheitlich nach ihren Normen zu steuern. Dass sich die gesellschaftlichen Teilbereiche aus der bisherigen Dominanz des Christentums lösten, bedeutete notwendigerweise auch, dass Religion aus Bereichen wie Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft hinaus- und in den von der übrigen Gesellschaft abgegrenzten Bereich der institutionalisierten Kirchen abgedrängt wurde. Aber gerade im Rahmen der modernen Ausdifferenzierung der Gesellschaft konnte sich insbesondere die katholische Kirche als relativ festes, unterscheidbares und abgegrenztes Milieu stabilisieren, freilich neben anderen ebenso eigenständigen, oft auch konträr angelegten Milieus wie z. B. der Arbeiterschaft oder der intellektuellen Avantgarde.
Die katholische Kirche machte sich also in ihrer durch die Modernisierungsprozesse bedingten Bedrängnis gerade ein zentrales Element der Moderne, nämlich die Milieubildung, als Absicherung ihrer gesellschaftlichen Existenz zunutze. In dieser Phase zeigte sich eine neue Art der Verflechtung von Christentum und Gesellschaft. Das Christentum war einerseits am gesellschaftlichen Prozess der Modernisierung beteiligt. Seine gesellschaftliche Position und Funktion konnte nicht mehr wie unter christentümlichen Verhältnissen in einer allgemeinen und einheitlichen Prägung des gesellschaftlichen Lebens bestehen. Die vom Christentum obwalteten Sinngehalte und Handlungsformen bekamen ihren speziellen, aber eben auch eingeschränkten und separierten gesellschaftlichen Ort zugewiesen, nämlich die institutionalisierten Kirchen. Speziell in Gestalt der katholischen Kirche gelangte das Christentum andererseits gerade durch seine Teilhabe am Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung zu einer neuen sozialen Konstitution, nämlich derjenigen eines geschlossenen Milieus. Sie ermöglichte es der katholischen Kirche, den eigenen Binnenbereich gegenüber den irritierenden Wirkungen einer modernen Gesellschaft abzuschotten und darin eine traditionelle Einheitlichkeit der Praktiken und Orientierungen aufrecht zu erhalten. In Bezug auf die Verfasstheit der Kirche kam der Epochenwandel der Moderne also nur „halb“ zum Durchbruch, nämlich als Phänomen der Umwelt, nicht des eigenen Binnenbereichs. Gabriel spricht deshalb in Hinblick auf diese Phase von „eingeschränkter“ oder „halbierter Moderne“.21
Das pastorale Handeln folgte diesem Arrangement der abgeschotteten Einheitlichkeit: (siehe Abbildung 2). Die katholische Kirche bildete ein relativ geschlossenes Milieu (mittlerer Kreis) neben anderen eigenständigen, ebenso auf Abgrenzung bedachten Milieus (linker und rechter Kreis). Sie musste zur Kenntnis nehmen, dass sie viele Menschen, die anderen Milieus angehörten (M), mit ihrem pastoralen Handeln nicht mehr erreichen konnte bzw. dass diese Menschen das Handeln der Kirche ablehnten. Innerhalb des Milieus der katholischen Kirche konnte sich jedoch das traditionelle Muster des pastoralen Handelns (pH) mit seiner unhinterfragten Akzeptanz und Passgenauigkeit zwischen dem Handeln des Seelsorgers (S) und der Erwartungshaltung der Gläubigen erhalten. Nur war jetzt aus dem Christen ein Katholik (K) geworden, d. h. jemand, der sein Selbstverständnis als gläubiger Mensch mehr aus seiner Zugehörigkeit zur konfessionellen Kirche denn aus der allgemeinen christlichen Lebensführung schöpfte.
Für die Träger des pastoralen Handelns der Kirche stellte diese Konstellation eine glückliche Zwischenlösung dar. Das Christsein verlor zwar seinen „Automatismus“. Innerhalb ihrer selbst aber konnte die Kirche die traditionelle Einheitlichkeit der Lebensformen und die überkommene selbstverständliche Gültigkeit ihrer Normen bzw. Überzeugungen bewahren. Pluralisierende Entwicklungen der modernen Gesellschaft etwa im Bereich der Bildung, der Kultur, der Politik oder der persönlichen Lebensführung, welche die Katholiken in ihrer selbstverständlichen Einbindung in die Kirche verunsichern hätten können, wurden an den Milieugrenzen abgefangen. Das bedeutete aber, dass die Kirche tatsächlich auf eine deutliche Abgrenzung zu anderen Milieus bedacht sein musste, um Stabilität zu erlangen. Es kam zu dem, was Franz Xaver Kaufmann „Verkirchlichung des Christentums“22 nennt. Christliche Symbole und Vollzüge zeigte und erlebte man weniger als Ausdruck einer persönlichen Religiosität denn als Manifestationen einer kirchlichen Gesinnung. Den Mitgliedern der Kirche erschloss sich die Welt nur noch aus der Perspektive ihres katholischen Milieus. Mit möglichst vielen Anteilen der Lebensführung verblieb man innerhalb der eigenen Kirche: Als „Katholik“ ging man in eine katholische Schule, erlernte man einen nach katholischen Gesichtspunkten „anständigen“ Beruf, wählte man die „katholische“ Partei, heiratete man einen katholischen Partner, beschränkte man sich weitgehend auf einen katholischen Bekanntenkreis, schickte man die Kinder auf katholische Schulen – und grenzte man sich mit all dem betont von anderen Milieus ab, deren Mitglieder man stereotyp als „die Anderen“ und „die Fremden“ wahrnahm. Die Religionssoziologie diskutiert diese Entwicklung unter dem Stichwort der „Versäulung“.23 Es beschreibt den Prozess einer gesellschaftlichen Segregation, d. h. einer Aufspaltung, bei der sich Personen mit gleichen (sozialen, kulturellen, religiösen usw.) Merkmalen von Personen(gruppen) mit anderen Merkmalen absondern, so dass Kontakte zwischen beiden Gruppen unterbunden werden. Die verschiedenen Lebensbezüge und -felder der Menschen verknüpfen sich derart eng mit ihren weltanschaulichen Überzeugungen, dass – gleich den starr nebeneinander stehenden und voneinander abgegrenzten Säulen eines Gebäudes – soziale Segmente entstehen, denen jeweils nur Personen derselben weltanschaulichen Orientierung zugehören und zwischen denen gerade kein Austausch oder fließender Übergang vorgesehen ist. Innerhalb der einzelnen „Säulen“, also sozialen Formationen ermöglichen (oder erzwingen) einheitliche Strukturen und Verhaltensnormen eine Steuerung der unterschiedlichsten Lebensbereiche, von der Intimität der sexuellen Beziehung bis zur politischen Entscheidungsfindung. Die katholische Kirche bildete in diesem Sinn eine „Bekenntnissäule“ neben anderen.24 Nicht von ungefähr schuf sich die katholische Kirche in dieser Phase eigene „katholische“ Einrichtungen für die verschiedenen Belange der Lebensführung wie Schulen, Sportvereine, Partei, Gewerkschaft, Versicherungen, Krankenhäuser, Wohlfahrtsverbände, Presseorgane, Literatur und vieles andere mehr.
Auch in dieser Konstellation nimmt die Gemeinde bzw. Pfarrei einen bestimmten Platz ein. Allerdings verschiebt sich ihre Funktion bzw. ihr Stellenwert. War sie unter christentümlichen Verhältnissen so selbstverständlich der Ort des christlichen Lebens, dass man gar nicht über sie nachdachte, erhielt sie nun unter den Bedingungen der „halbierten Moderne“ eine bewusst reflektierte und intendierte Funktion. Die Pfarrei war der Ort, an dem das einheitlich katholische, geschlossene Milieu seine manifeste Gestalt gewann. Zwar gab es auch andere für das katholische Milieu kennzeichnende Sozialformen: Verbände, Schulen, Bewegungen usw. Diese bildeten aber keine Alternativen oder gar Gegenmodelle zur Pfarrei. Die Zugehörigkeit zum katholischen Milieu zeigte sich für die allermeisten Christen zuallererst in Form der Zugehörigkeit zu einer Pfarrei; und die Katholiken erwiesen ihre Integration in das katholische Milieu durch ihre Eingliederung in die Vollzüge und Strukturen der Pfarrei. Was für die Kirche im Allgemeinen zutraf, galt für die Pfarrei im Besonderen: Mochte sich die Gesellschaft im Umfeld auch noch so sehr gewandelt haben, innerhalb des einheitlichen katholischen Milieus blieb für die betreffenden Menschen die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde bzw. Pfarrei weiterhin eine Selbstverständlichkeit ihrer Lebenskonzeption. Die Bindung an eine Gemeinde blieb gleichsam „auf Automatik gestellt“.
Als „entfaltete Moderne“ bezeichnet Gabriel den Typus von Gesellschaft, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg, also in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgebildet hat und vor allem an der gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland ablesbar ist. Er fand seinen primären Entstehungsimpuls in einem neuen Modernisierungsschub, der den „alt-modernen“ Typ der industrialisierten Gesellschaft des 19./20. Jahrhunderts überholt erscheinen ließ. Dessen typisches Merkmal, die Koexistenz von modernen und traditionellen Lebensformen, die Verflechtung von pluraler Ausdifferenzierung und einheitlichen Milieus wurde aufgesprengt. Traditionelle Strukturen und Orientierungen und mit ihnen die geschlossenen, in sich einheitlichen Milieus lösten sich auf. Die gesellschafts- und weltweit agierende Marktwirtschaft sog die ortsgebundenen, im überschaubaren Bereich des unmittelbaren Umfeldes angesiedelten Lebensvollzüge in sich auf. Dieser neue Modernisierungsschub bedeutete nun in Sonderheit für die katholische Kirche eine beträchtliche Erschütterung ihrer gesellschaftlichen Position. Hatte sie doch zum einen in der Gesellschaftsstruktur der „eingeschränkten Modernität“, d. h. als versäultes Milieu, eine zwar relativierte, aber stabilisierte Positionierung gefunden; und fand sie doch zum anderen ihr Mitgliederklientel hauptsächlich in den traditionell orientierten, regional verwurzelten Bevölkerungssegmenten. Zwar kam es unter dem Zeichen der Aufbausolidarität unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal zu einer kurzen Renaissance des Milieu-Katholizismus. Die gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche der 1960er und -70er Jahre markierten aber umso deutlicher und für die Kirche umso schmerzhafter den neuerlichen Wandel im Verhältnis zwischen Gesellschaft, Christentum bzw. Kirche und einzelnem Menschen. Innerhalb kurzer Zeit gerieten die Umbrüche der Gesellschaft für die katholische Kirche zu einem „erdrutschartigen“ Einbruch der Bindungs- und Teilnahmebereitschaft ihrer Mitglieder. Ablesen lässt sich diese Entwicklung z. B. daran, dass zwischen den Jahren 1968 und 1973 der Anteil der regelmäßigen Gottesdienstbesucher unter den Katholiken von über 50% auf 35% zurückging, d. h. innerhalb von fünf Jahren etwa 40% der Gottesdienstbesucher ihre bisherige Teilnahmepraxis aufgaben.25 Forciert unter anderem durch eine erhöhte regionale und soziale Mobilität konnte nicht nur eine gesellschaftliche Avantgarde, sondern die breite Masse der katholischen Bevölkerung die bisher abschottenden, schützenden, aber auch einengenden, bevormundenden Grenzen ihres Milieus aufsprengen. Katholiken glichen sich in ihren Einstellungen und Erwartungen gegenüber der Kirche in frappierender Weise an die in der Gesellschaft allgemein verbreiteten Einstellungen und Erwartungshaltungen an.26 Kirchenmitglieder fanden sich zunehmend in Lebenssituationen vor, z. B. im Beruf, in der Schule oder in der Freizeit, in denen sie ihre Kirche und deren Vollzüge nicht mehr aus der Binnenperspektive eines einheitlichen, überschaubaren Milieus, sondern aus der Außenperspektive einer vielfältigen, unübersichtlichen Gesellschaft wahrnahmen.