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Johan Huizinga
Erasmus und Luther

topos taschenbücher, Band 1071

Eine Produktion der Verlagsgemeinschaft topos plus

Johan Huizinga

Erasmus und Luther

Europäischer Humanismus und Reformation

Übersetzt und herausgegeben von Hartmut Sommer

topos taschenbücher

Verlagsgemeinschaft topos plus

Butzon & Bercker, Kevelaer

Don Bosco, München

Echter, Würzburg

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der

Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1071-8
E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5073-8
E-Pub: ISBN 987-3-8367-6073-7

2016 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer
Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen bei der
Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer
Umschlagabbildung: Hans Holbein der Jüngere, Erasmus von Rotterdam
Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

Inhalt

Einleitung

I. Kindheit und Jugend bis zum Klostereintritt

II. Klosterzeit, Klosterflucht und die Entdeckung der Latinität

III. Studium in Paris und beginnende Beziehungen zum Humanismus

IV. Erster Aufenthalt in England – Adagia

V. Erasmus als Vermittler der klassischen Kultur und seine Entfremdung von Holland

VI. Theologische Wende – Enchiridion militis christiani

VII. Schwierige Zeiten: Löwen, Paris, England, Italien – Carmen alpestre

VIII. Promotion in Italien und die Kunst des Buchdrucks

IX. Das Lob der Torheit – Moriae encomium

X. Dritter Aufenthalt in England und die erste Friedensschrift

XI. Durchbruch zur Berühmtheit: Geistiger und politischer Einfluss

XII. Erasmus’ geistige Ausrichtung

XIII. Erasmus’ intellektuelle Auffassungen

XIV. Erasmus’ Charakterbild

XV. Die Vorzeichen der Reformation

XVI. Beginn der Beziehungen zu Luther

XVII. Der Befürworter von Eintracht und Frieden im Streit – Colloquia

XVIII. Auseinandersetzung mit Luther über den freien Willen –De libero arbitrio

XIX. Kritik an den Humanisten und Rückzug nach Freiburg

XX. Letzte Gelegenheiten zur Einflussnahme und Tod am 12. Juli 1536

XXI. Lebensbilanz: Verdienste und Versagen

Anmerkungen

Literatur

Verzeichnis der Abbildungen

Einleitung

Wenn wir jetzt mit kritischem Abstand auf das Zeitalter des Humanismus und der Reformation zurückblicken, so sehen wir neben Luther und den anderen Reformatoren als herausragende Persönlichkeit vor allem Erasmus von Rotterdam (1466 oder 69 – 1536), dessen Einfluss als führender Humanist prägend war für diese Epoche. Lange bevor Luther mit seinen Reformbestrebungen an die Öffentlichkeit trat, hat Erasmus bereits das Denken der europäischen Intellektuellen als ihr geistiger Mittelpunkt bestimmt und durch seine Förderung der Latinität völkerübergreifend vermittelt. Sein Einfluss reichte bis in die Fürsten- und Königshäuser und den höchsten Klerus der Zeit. Er war einer der Ersten, die den neu aufgekommenen Buchdruck intensiv nutzten, um zu den zentralen Themen seiner Zeit Stellung zu nehmen. Mit satirischen und moraltheologischen Schriften kritisierte er die veräußerlichten kirchlichen Formen und schuf Anleitungen für ein ungezwungenes religiöses und soziales Leben. Aus der Feder des unermüdlichen Netzwerkers floss ein schier uferloser Briefwechsel. Als biblischer Humanist hat er dazu beigetragen, die klassischen Autoren, Kirchenväter und Philosophen neu zu erschließen. Mit mehreren Friedensschriften hat er versucht, auf die politischen Akteure seiner Zeit mäßigend Einfluss zu nehmen. Seine kritische Ausgabe des Neuen Testaments ist der erste Ansatz zu einer modernen Bibelexegese.

Mit Erasmus und Luther traten zwei geistesgeschichtliche Strömungen in Konkurrenz – Humanismus und Reformation –, die trotz teilweiser Übereinstimmung in der Kritik an zeitgenössischen Missständen ein fundamental unterschiedliches Menschenbild und dementsprechend eine sehr unterschiedliche Vision von der Zukunft der Gesellschaft und der Religion hatten. Während für Erasmus der Mensch besserungsfähig und frei ist, sieht ihn Luther belastet durch eine unaufhebbare Sündenschwere und als unfreien Spielball des Bösen sowie göttlicher Bestimmung. Der europäische Humanismus war in seiner Grundtendenz kosmopolitisch und bestrebt, eine durch die Latinität verbundene internationale Gemeinschaft des Geistes zu schaffen (trotz mancher nationaler Eifersüchteleien); die Reformation ging ein Bündnis mit dem aufkeimenden Nationalismus ein. Die Humanisten wollten den Reichtum der Kultur seit der Klassik (ohne die Scholastik allerdings) für ihre Zeit fruchtbar machen; die Reformatoren verwarfen den ungeheuren Schatz der Tradition und ließen nur noch die Bibel gelten. Erasmus setzte auf Toleranz und Verständigungsbereitschaft; die Reformatoren waren angetrieben durch einen kompromisslosen Geltungsanspruch. Erasmus „hasste diesen Geist der absoluten Gewissheit, der so untrennbar zu den Reformern gehörte“, wie Huizinga formuliert.

Mit ihrem rauen Durchsetzungswillen blieben die Reformatoren in diesem geistesgeschichtlichen Ringen siegreich. Der Humanismus ist mit seinen Bestrebungen gescheitert und hat auf Jahrhunderte das Feld für eine nationalistische und religiöse Unerbittlichkeit räumen müssen. Erasmus als sein führender Kopf ist dafür mitverantwortlich. Er hat nicht verstanden, dass Rückzug und Nichthandeln auch handelnde Einflussnahme sind und dass mit philologischer Schöngeisterei allein die Auseinandersetzung der Geister nicht zu gewinnen ist. Man muss bei aller Toleranz mit dem geschliffenen Instrumentarium philosophischer Argumentation für die Wahrheit streiten können, denn Toleranz bedeutet nicht Beliebigkeit.

Johan Huizingas Erasmus-Biografie, die hier in einer neuen, modernisierten Übersetzung vorgelegt wird, stellt uns diesen großen europäischen Geist vor Augen und zeichnet zugleich ein lebendiges Bild des Zeitalters. Als einer der bedeutendsten Kulturphilosophen des 20. Jahrhunderts hat Huizinga mit seiner bahnbrechenden Schrift Herbst des Mittelalters die Kräfte und Strömungen untersucht, die schließlich im Zeitalter des Humanismus und der Reformation wirksam geworden sind. Seine Gesamtschau dieses Zeithintergrundes zusammen mit der Deutung von Erasmus’ Werk und der einfühlsamen Auswertung seiner zahlreichen Briefe ist bis heute unübertroffen unter den Erasmus-Biografien. Huizinga hält sich frei von konfessionellen Vereinnahmungen und Einseitigkeiten. Er zeigt, wie Erasmus, dieser empfindsame Geist, versuchte, zwischen den Konfliktparteien des Reformationszeitalters einen mittleren Kurs zu halten und seine Unabhängigkeit zu wahren. Trotz seiner Kritik an kirchlichen Zuständen schloss er sich den Reformatoren nicht an und warb für eine gemäßigte Position, um die Auswüchse und Missstände ohne Gewalt durch eine innerkirchliche Reform überwinden zu können. Huizingas Charakterzeichnung lässt uns verstehen, warum Erasmus mit diesen Bemühungen tragisch gescheitert ist und gegenüber der derben Kraft Luthers unterliegen musste. Und mehr noch: Er lässt uns den Geist des Zeitalters verstehen, denn für Huizinga geht die Geschichtsschreibung aus von der Einfühlung in individuelle Gestalten, wodurch erst eine Zeit lebendig vor unseren Augen erscheint. Er zitiert Taine mit dem Ausspruch: „L’histoire, c’est à peu près voir les hommes d’autrefois.“ – Geschichtsschreibung bedeutet fast, die Menschen von damals zu sehen.1

Obwohl Erasmus an den auseinanderstrebenden Kräften der Zeit scheiterte, ist es auch heute gut, auf seine mäßigende Stimme zu hören, da die Welt erneut von Kriegen unter dem Vorwand der Religion erschüttert wird. Man muss sie immer wieder hören, die Stimme dieses großen Friedenstifters, dessen fünfhundertfünfzigsten Geburtstag wir bald feiern werden, damit das „Erasmische“, das für seine Zeitgenossen milde, tolerante Verständigungsbereitschaft bedeutete, sich zuletzt doch durchsetzen möge. So ist es auch gut und richtig, dass die Stipendien-Programme der Europäischen Union für Bildung, Jugend und Sport den Namen dessen tragen, der den Geist europäischer Verständigungsbereitschaft verkörpert.

Grundlage der vorliegenden Übersetzung ist die letzte von Huizinga selbst besorgte niederländische Fassung des Buches. Nicht mit aufgenommen wurde der Anhang über die Entstehungsgeschichte der Erasmus-Gemälde. Wie in der englischen Ausgabe sind die zahlreichen Quellennachweise Huizingas auf ein textökonomisches Maß reduziert. Die Abschnittsgliederung orientiert sich an der noch mit Huizinga selbst für die erste deutsche Übersetzung abgestimmten Einteilung.

Hartmut Sommer

I. Kindheit und Jugend bis zum
Klostereintritt

Die Niederlande im 15. Jahrhundert. Die burgundische Herrschaft. Nördliche Niederlande in jeder Hinsicht eine abgelegene Gegend. Die Devotio moderna, die Brüder vom gemeinsamen Leben und die Windesheimer Kongregation. Erasmus’ Geburt. Seine Verwandten. Sein Name. Schulzeit in Gouda, Deventer und Herzogenbusch. Er tritt ins Kloster ein.

Holland war Mitte des 15. Jahrhunderts erst zwanzig Jahre Teil des Gebietes, das die Herzöge von Burgund unter ihre Herrschaft gebracht hatten: eine Ansammlung von Ländern, teils mit französischer Bevölkerung wie Burgund, Artois, Hennegau, Namur, teils mit niederländischer wie Flandern, Brabant, Zeeland, Holland.2 Lange vor der burgundischen Zeit waren Holland und Zeeland bereits viel mehr als die östlichen Gebiete der nördlichen Niederlande nach Süden und Westen orientiert. Sie wurden als Erste in den Einflussbereich der burgundischen Politik gezogen. Sobald die Herzöge in Holland und Zeeland die Herrschaft hatten, richteten sie von da aus ihren Blick nach Osten und Norden. Im Bistum Utrecht hatte Philipp der Gute bereits seinen unehelichen Sohn David installiert, und die Eroberung von Friesland, ein Erbe aus der Politik des Hauses Bayern-Hennegau, schien nur eine Frage von Zeit und Gelegenheit zu sein. Das Herzogtum Geldern bewahrte noch seine uneingeschränkte Selbstständigkeit, da es mehr als die anderen nordniederländischen Gebiete mit benachbarten deutschen Territorien und damit zugleich mit dem Kaiserreich selbst verbunden war.

Die nördlichen Niederlande (die zusammenfassende Bezeichnung „Niederlande“ kam in diesen Tagen erst auf) hatten in nahezu jeder Hinsicht den Charakter einer entlegenen Peripherie. Die Macht der Deutschen Kaiser bestand hier seit einigen Jahrhunderten fast nur noch als eine verblasste Idee. Am aufkommenden Gefühl einer nationalen deutschen Einheit nahmen Holland und Zeeland kaum noch Anteil. Zu lange waren sie bereits politisch an Frankreich ausgerichtet gewesen. Seit 1299 hatte eine Französisch sprechende Dynastie in Holland regiert, denn das Bayerische Haus, das Mitte des 14. Jahrhunderts dem Hennegau’schen gefolgt war, hatte in keiner Weise die Verbindung von Holland und Zeeland mit dem Reich erneuern können. Es war im Gegenteil selbst unter französischen Einfluss geraten, angezogen durch Paris und umfasst von den ausgreifenden Armen Burgunds, das es mit einer doppelten Heirat an sich zog. Auch in kirchlicher Hinsicht waren diese Gebiete Peripherie. Spät für das Christentum gewonnen, blieben sie als Grenzgebiet unter einem Bischof, dem von Utrecht, vereinigt. Die Maschen des kirchlichen Organisationsgeflechts waren hier weiter als anderswo. Eine Hochschule gab es nicht. Paris blieb für die Nordniederländer das Zentrum von Lehre und Wissenschaft, auch nachdem die ambitionierte Politik der burgundischen Herzöge 1425 die Universität zu Löwen gestiftet hatte. Von den reichen Städten Flanderns und Brabants aus betrachtet, nun das Herz der burgundischen Macht, waren Holland und Zeeland armselige Ländchen von Schiffern und Bauern. Die ritterlichen Sitten, denen die Herzöge von Burgund neuen Glanz geben wollten, konnten unter dem holländischen Adel nur mäßig Fuß fassen. Die höfische Literatur, in der Flandern und Brabant eifrig dem französischen Vorbild nachstrebten, wurde durch die Holländer kaum nennenswert bereichert. Was in Holland entstand, blühte im Verborgenen und eignete sich nicht dafür, die Aufmerksamkeit der Christenheit auf dieses Land zu richten. Es waren die rege Schifffahrt und der Handel, meistens Transithandel, womit Holland bereits der deutschen Hanse den Rang streitig zu machen begann. Sie brachten das Land in ständigen Kontakt mit Frankreich und Spanien, England und Schottland, Skandinavien, Norddeutschland und den Rheinlanden ab Köln aufwärts. Es war die Heringsfischerei, ein einfaches Metier, aber Quelle großen Wohlstandes, und eine zunehmende Betriebsamkeit des Webens, Brauens und des Schiffbaus im Verbund mit zahlreichen kleinen Städten.

Keine der Städte in Holland und Zeeland, weder Dordrecht, noch Leiden, Haarlem, Middelburg oder Amsterdam, konnte sich nur im Entferntesten mit Gent, Brügge, Lille, Antwerpen oder Brüssel messen. Die holländischen und zeeländischen Städte waren noch zu klein und das Land zu abgelegen, um ein Zentrum von Kunst und Wissenschaft bilden zu können. Wer sich hier hervortat, wurde unwiderstehlich von den großen Brennpunkten der weltlichen und kirchlichen Kultur angezogen. Claus Sluter aus Haarlem arbeitete zuerst in Brüssel, dann in Burgund im Dienst der Herzöge und ließ seiner Heimatgegend nichts von seiner Kunst. Dirk Bouts, ebenfalls aus Haarlem, zog nach Löwen, das seine besten Werke hütet; was davon in seiner Geburtsstadt geblieben war, ist zugrunde gegangen. Die fragwürdigen Versuche, die den Namen von Haarlem in die Geschichte der Buchdruckkunst einschreiben sollten, mündeten nicht in einer besonderen Bedeutung von Haarlem als Buchmarkt.

Seit dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts hatte eine spirituelle Bewegung, die in den Städten an der Ijssel entstanden war, den gemeinsamen Volkscharakter der nördlichen Gebiete deutlicher in Erscheinung gebracht als zuvor. Es war eine Bewegung der vertieften und verinnerlichten Religiosität. Geert Groote hat sie geistig geprägt. Sein Streben nahm in zwei eng verwandten Formen Gestalt an: den Brüderhäusern, wo die Brüder vom gemeinsamen Leben zusammenwohnten, ohne ganz von der Welt Abschied zu nehmen, und der Windesheimer Kongregation, regulierten Chorherren nach der Regel des hl. Augustinus. Vom Landstrich an der Ijssel aus hatte die Bewegung sich rasch ausgebreitet, ostwärts nach Westfalen und nordwärts nach Groningen und den friesischen Gebieten, westwärts nach Holland. Überall wurden Brüderhäuser eingerichtet und Klöster der Windesheimer Kongregation gegründet oder ihr angeschlossen. Man sprach von der Bewegung als der „neuzeitlichen Religiosität“, der Devotio moderna. Sie war ein neuer Gemütszustand und eine neue Praxis, keinesfalls eine neue Lehre. Der gut katholische Charakter der Bewegung wurde, nach einigem Zweifel, rasch durch die kirchliche Autorität anerkannt. Ernst und Sittsamkeit, Schlichtheit und Fleiß, vor allem eine stete Innigkeit des religiösen Fühlens und Denkens waren die Ziele. Ihre Betätigungsfelder fanden die Brüder und Schwestern neben der Krankenpflege und der Fürsorge vor allem in Unterricht und Schreibkunst. Insbesondere durch ihre pädagogischen Bestrebungen unterscheidet sich die Devotio moderna vom etwa gleichzeitigen Aufschwung in den franziskanischen und dominikanischen Orden, die sich mehr der Predigt widmeten. Der Windesheimer und der Hieronymiaan (ein anderer Name für die Brüder vom gemeinsamen Leben) fanden ihre höchste Aufgabe in der Abgeschlossenheit des Schulraums und in der Stille der Schreibstube. Die Schulen der Brüder zogen bald Schüler aus weitem Umkreis an. Hier in den nördlichen Niederlanden und in Norddeutschland wurde so, früher als anderswo, die Grundlage gelegt für eine gewisse allgemein verbreitete Bildung in den Kreisen des wohlhabenden Bürgertums. Eine Bildung von sehr enger, strikt schulmäßiger und kirchlicher Art, die aber gerade dadurch geeignet war, breite Volksschichten zu erreichen. Was die Windesheimer an frommer Literatur selbst hervorbrachten, beschränkte sich hauptsächlich auf erbauliche Büchlein und Lebensbeschreibungen aus ihrem eigenen Kreis. Ihr Werk ist eher gekennzeichnet durch einen tiefernsten Ton als durch Kühnheit oder Neuheit der Gedanken.

Die Bewohner dieses Landstrichs galten als grob und bäuerlich, unmäßig bei Speise und Trank. Doch zugleich wurde mehr als ein Fremder, der sich hier aufhielt, berührt von der aufrichtigen Frömmigkeit der Bevölkerung. Diese Länder waren bereits, was sie immer geblieben sind: ein wenig in sich selbst gekehrt und einsilbig, besser geeignet, die Welt zu betrachten und zu ermahnen, als durch geistigen Glanz zu beeindrucken.

Rotterdam und Gouda gehörten nicht zu den führenden Städten der Grafschaft Holland. Beide waren Landstädtchen von geringerer Bedeutung als Dordrecht, Haarlem, Leiden und das schnell aufblühende Amsterdam. Kulturelle Mittelpunkte bildeten sie nicht. In Rotterdam wurde Erasmus in der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober des Jahres 1466 oder vielleicht auch erst 1469 geboren.3 Da es eine uneheliche Geburt war, wurde über seine Abstammung und seine Verwandtschaft ein Schleier des Geheimnisses gebreitet. Möglicherweise hat Erasmus selbst erst in späteren Jahren die Umstände seiner Geburt kennengelernt. Äußerst betroffen von diesem Makel, war er stets bemüht, das Geheimnis für sich zu behalten. Das Bild, das er sich davon im reiferen Lebensalter gemacht hat, war romantisch und rührselig. In seinem Vater sah er einen jungen Mann, der eine Beziehung mit der Tochter eines Arztes unterhielt, in der Hoffnung, sie heiraten zu können. Die darüber aufgebrachten Eltern und Brüder des jungen Mannes hätten ihn dazu gedrängt, in den geistlichen Stand zu treten. Dem habe er sich aber entzogen, indem er das Land verlies, bevor das Kind geboren wurde. Er sei nach Rom gegangen, wo er seinen Lebensunterhalt mit Abschriften verdiente. Nachdem er von seiner Familie die Nachricht vom angeblichen Tod seiner Geliebten erhalten habe, sei er aus Trauer Priester geworden und habe nur noch für seinen Glauben gelebt. Nach der Rückkehr in seine Heimat aber musste er feststellen, dass man ihn belogen hatte. Fortan vermied er jeden Kontakt mit der, die er nicht mehr heiraten konnte, aber gab sich alle Mühe, seinem Sohn eine gute Bildung zu ermöglichen. Die Mutter versorgte das Kind bis zu ihrem frühen Tod. Der Vater folgte ihr alsbald ins Grab. Erasmus meinte sich zu erinnern, dass er beim Tod seiner Mutter erst zwölf oder dreizehn Jahre alt war. Es lässt sich jedoch ziemlich sicher sagen, dass sie nicht vor 1483 gestorben sein kann, als er bereits sechzehn Jahre alt gewesen sein muss, wenn man am Geburtsjahr 1466 festhält. Sein Zeitgefühl war immer schwach ausgeprägt.

Leider steht fest, dass Erasmus selbst wohl wusste, dass nicht alle Einzelheiten dieser Geschichte der Wahrheit entsprachen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war sein Vater während der Beziehung, der er seine Existenz verdankte, bereits Priester. Sicherlich handelte es sich nicht um die Ungeduld eines verlobten Paares, sondern um eine schon länger bestehende illegitime Verbindung, aus der bereits drei Jahre vorher ein Kind hervorgegangen war. Mit diesem älteren Bruder namens Pieter wurde er zusammen großgezogen.

Aus den spärlichen Informationen zu Erasmus’ Verwandtschaft lässt sich wenig über das vielköpfige bürgerliche Geschlecht erschließen: Sein Vater hatte neun Brüder, die alle verheiratet waren. Die Großeltern der väterlichen Seite und die Onkel der mütterlichen Seite erreichten ein sehr hohes Alter. Es ist merkwürdig, dass sich keine zahlreiche Nachkommenschaft später mit dem großen Erasmus gebrüstet hat. Muss man annehmen, dass die ganze Familie bereits in den folgenden Generationen erloschen ist? Die Suche nach Erasmus’ Verwandtschaft ist erschwert, weil man die Familiennamen im Bürgertum der Zeit noch nicht durchgehend beibehielt. Üblicherweise wurde man mit dem eigenen Namen und dem Namen des Vaters gerufen, aber es kam auch vor, dass ein solcher Vatername beibehalten und an die folgenden Generationen weitergegeben wurde. Erasmus nennt seinen Vater Gerardus, seinen Bruder Petrus Gerardus, während ein päpstliches Schreiben ihn selbst Erasmus Rogerii nennt. Möglicherweise hieß der Vater Rotger Gerrit oder Gerrits. Obwohl Erasmus und sein Bruder in Rotterdam geboren wurden, weist vieles darauf hin, dass die Familie seines Vaters nicht dort, sondern in Gouda ansässig war. Jedenfalls hatte sie mit Gouda enge Verbindungen, wie sich noch zeigen wird.

Erasmus war sein Taufname.4 Der Name war nicht unbekannt, aber etwas ungewöhnlich. Der hl. Erasmus gehört zu den vierzehn Nothelfern, die im 15. Jahrhundert besondere Verehrung genossen. Vielleicht war die Namenswahl durch den Volksglauben motiviert, demzufolge die Anrufung des hl. Erasmus Reichtum versprach. Bis Erasmus besser mit dem Griechischen vertraut war, nannte er sich Herasmus. Später ärgerte er sich darüber, dass er nicht gleich, als er das H wegließ, zum richtigeren und gefälligeren Erasmius übergegangen war. So nannte er sich selbst ein paar Mal im Scherz, und sein Patenkind, der Sohn von Johannes Froben, wurde stets Erasmius gerufen, obwohl er auf den Namen Johannes Erasmus getauft war. Aus ähnlichen ästhetischen Überlegungen wird er das barbarische Rotterdammensis bald durch Roterdamus und später durch Roterodamus ersetzt haben, das er vielleicht als Proparoxytonon auf der drittletzten Silbe betonte. Desiderius ist ein von ihm selbst gewählter Zusatz, den er erst ab 1496 benutzte. Möglicherweise kam ihm die Idee bei der Lektüre seines geliebten Hieronymus, der einen Briefpartner mit diesem Namen hatte. Als dann in der zweiten Auflage der Adagia, 1506 von Joost Badius in Paris verlegt, das vollständige Desiderius Erasmus Roterodamus zum ersten Mal erschien, hatte sich der fast vierzigjährige Erasmus gleichsam selbst gefunden.

Die Umstände hatten es ihm nicht leicht gemacht, seinen Weg zu finden. Er glaubt sich zu erinnern, dass er in frühester Jugend, noch kaum vier Jahre alt, mit seinem Bruder in Gouda zur Schule gegangen ist. Neun Jahre war er alt, als ihn sein Vater nach Deventer schickte, damit er dort die berühmte Schule am Kapitel von St. Lebuinus besuchen konnte. Seine Mutter zog mit ihm dorthin. Der Aufenthalt in Deventer muss von 1475 bis 1484 gedauert haben, unterbrochen nur durch eine Zeit als Chorknabe am Dom zu Utrecht.5 In seinen Schriften finden sich später wiederholt Erinnerungen an diese Zeit in Deventer. Der ihm dort zuteil gewordene Unterricht veranlasste ihn nicht zur Dankbarkeit: Die Schule war damals noch rückständig, sagt er. Man benutzte die mittelalterlichen Lehrbücher, von deren Einfältigkeit und Umständlichkeit wir uns kaum eine Vorstellung machen können. Einige der Lehrer gehörten der Bruderschaft vom gemeinsamen Leben an. Einer von ihnen, Johannes Synthen, hatte ein gewisses Interesse für die Antike in ihrer reinsten Form. Kurz bevor Erasmus die Schule verließ, wurde Alexander Hegius, ein Freund von Rudolf Agricola, ihr Rektor. Seine Landsleute bestaunten ihn als ein Wunder an Gelehrsamkeit, nachdem er aus Italien zurückgekommen war. Wenn der Rektor an Feiertagen für die Schulgemeinde eine Rede hielt, hatte Erasmus Gelegenheit, ihn zu hören; einmal sah und hörte er sogar den berühmten Agricola selbst, der einen tiefen Eindruck bei ihm hinterließ.

Der Tod seiner Mutter während einer Pestepidemie, von der die Stadt heimgesucht wurde, bereitete der Schulzeit in Deventer ein abruptes Ende. Der Vater ließ ihn und seinen Bruder nach Gouda zurückkommen, starb aber bald darauf selbst. Er muss ein gebildeter Mann gewesen sein. Nach Erasmus’ Bericht beherrschte er Griechisch, hatte in Italien bedeutende Humanisten gehört und Kopien von allen klassischen Autoren angefertigt. Er hinterließ eine Bibliothek von einigem Wert. Erasmus und sein Bruder blieben jetzt unter der Obhut von drei Vormündern zurück, deren Fürsorge und Absichten er später in weinig günstigem Licht darstellte. Inwieweit er dabei übertrieb, ist schwer zu überprüfen. Die Vormünder, unter denen ein gewisser Pieter Winckel, der Lehrer in Gouda war, die bedeutendste Rolle einnahm, hatten zweifellos wenig Sympathie für den neuen Klassizismus, für den ihr Mündel bereits brannte. „Wenn du wieder einmal so elegant schreiben willst, füge dann einen Kommentar hinzu“, antwortete der Lehrer unwirsch auf einen Brief, für den der vierzehnjährige Erasmus sein Bestes gegeben hatte. Sicherlich hielten die Vormünder es aufrichtig für gottgefällig, die jungen Leute zum Klostereintritt zu bewegen, doch ebenso sicher ist, dass es für sie die einfachste Möglichkeit war, sich ihrer Aufgabe zu entledigen. Erasmus hat ihr Handeln später der eigennützigen Absicht zugeschrieben, unlautere Machenschaften zu verschleiern. Er sah darin lediglich sträflichen Missbrauch von Macht und Befugnis. Und das nicht allein: Diese Dinge haben ihm in späteren Jahren das Bild seines Bruders verdunkelt, mit dem er einst doch so herzliche Beziehungen unterhalten hatte.

Winckel schickte die beiden Jünglinge, die nun zwischen 16 und 21 Jahre alt waren, erneut zur Schule, diesmal in Herzogenbusch. Sie wohnten in dem Bruderhaus, mit dem die Schule verbunden war. Hier war nichts von dem Glanz, der die Schule in Deventer umstrahlt hatte. Die Brüder kannten kein anderes Ziel, sagt Erasmus, als den Willen durch Schläge, Zurechtweisungen und Strenge zu brechen, um den Charakter für das Kloster geeignet zu machen. Genau darum, meint er, ging es den Vormündern: Obwohl die Brüder für die Universität reif waren, wollte man sie davon fernhalten. Mehr als zwei Jahre habe er insgesamt verloren. Einer der beiden Lehrer an der Schule, ein gewisser Rombout, hielt viel vom jungen Erasmus und wollte ihn zum Eintritt in die Bruderschaft vom gemeinsamen Leben bewegen. „Hätte ich es doch getan“, seufzte Erasmus später, denn die Brüder legten keine unwiderruflichen Gelübde ab, wie sie ihn nun erwarteten.

Eine Pestepidemie veranlasste die beiden Brüder, Herzogenbusch zu verlassen und nach Gouda zurückzukehren. Erasmus litt an Fieberanfällen, und seine Widerstandkräfte, die er nun so nötig hatte, da die Vormünder (einer der drei war bereits verstorben) nun doch alles unternahmen, um die beiden jungen Männer zum Klostereintritt zu drängen, schwanden. Die Vormünder hatten allen Grund dafür, behauptet Erasmus, weil sie das bescheidene Vermögen ihrer Schüler schlecht verwaltet hätten und keine Rechenschaft darüber ablegen wollten. Alles, was mit dieser dunkelsten Periode seines Lebens zu tun hatte, sah er später in schwärzesten Farben, außer sich selbst. Er sieht sich als einen Knaben von noch nicht sechzehn Jahren (dabei muss er mindestens achtzehn gewesen sein), geschwächt durch Fieber, aber dennoch fest entschlossen, sich kaltblütig zu verweigern. Er hat seinen Bruder überzeugt, zusammen mit ihm zu flüchten und sich bei einer Universität einzuschreiben. Der eine Vormund ist ein engherziger Tyrann, der andere (Winckels Bruder, ein Kaufmann) ein leichtfertiger Schwätzer. Pieter, der älteste der Brüder, erliegt zuerst dem Druck und begibt sich in das Kloster Sion bei Delft (vom Orden der Regularkanoniker nach der Regel des hl. Augustinus), wo der Vormund einen Platz für ihn gefunden hatte. Erasmus wehrt sich länger. Erst nach einem Besuch des Klosters Steyn oder Emmaus bei Gouda (vom selben Orden), wo er einen Schulkameraden aus Deventer wiedertraf, der ihm die Vorteile des Klosterlebens schilderte, gab auch Erasmus nach und trat in Steyn ein, wo er bald danach, wahrscheinlich 1488, die Gelübde ablegte.

II. Klosterzeit, Klosterflucht und die
Entdeckung der Latinität

Erasmus als Augustiner-Chorherr im Kloster Steyn bei Gouda. Seine Freunde. Briefe an Servatius. Der Humanismus im Kloster. Lateinische Poesie. Abwendung vom Klosterleben. Er verlässt Steyn, um beim Bischof von Cambrai in Dienst zu treten: 1493. – Jacobus Battus. Antibarbari. Er erhält die Genehmigung, in Paris zu studieren: 1495.

Erst viel später, als er sein Mönchsein mit all der Mühe, daraus zu entfliehen, bitter bereute, haben sich seine Vorstellungen davon gewandelt. Bruder Pieter, dem er von Steyn aus noch in herzlichem Ton geschrieben hatte, ist ein Nichtswürdiger geworden, stets sein böser Geist, ein Judas. Der Schulkamerad sei ebenfalls ein Verräter gewesen, der aus bloßem Eigennutz handelte und lediglich aus Faulheit und Liebe zu seinem Bauch das Kloster gewählt habe.

Die Briefe, die Erasmus in Steyn geschrieben hat, lassen noch in keiner Weise den tiefen Widerwillen gegen das Klosterleben erkennen, den er von Anfang an gehabt haben will, wie er uns später glauben zu machen versucht. Man kann natürlich annehmen, dass die Aufsicht seiner Oberen ihn daran hinderte, alles zu schreiben, was er auf dem Herzen hatte, und dass er sich im Tiefsten seiner Seele immer nach Freiheit und kultivierterem Umgang sehnte, als Steyn ihm bieten konnte. Aber er muss doch einiges von dem, was ihm sein Klassenkamerad vom Klosterleben vorgeschwärmt hatte, tatsächlich auch so gefunden haben. Dass er in dieser Zeit ein Lob des Mönchslebens nur darum geschrieben haben soll, „um einem Freund einen Gefallen zu tun, der einen Neffen in die Falle locken wollte“, gehört zu den naiven nachträglichen Erklärungen, deren Unglaubwürdigkeit Erasmus nie einsah. Er fand in Steyn einen ziemlich großen Freiheitsspielraum mit etwas Nahrung für seinen nach der Antike hungernden Geist und gleichgesinnte Freunde. Den Schulkameraden, der ihn vom Klosterleben überzeugt hatte, erwähnt er nicht mehr. Seine Freunde in Steyn waren die Mitbrüder Servaas (Servatius) Rotger aus Rotterdam und Willem Harmens aus Gouda. Der dritte Freund, Cornelis Gerard aus Gouda, der Aurelius genannt wurde (eine Quasi-Latinisierung von Goudanus) und etwas älter war als Erasmus, lebte überwiegend im Kloster Lopsen bei Leiden. Der Briefwechsel mit diesem Freund war entspannt und unterhaltsam, aufgelockert durch muntere Scherze.

Einige der an Servatius gerichteten Briefe lassen ein Bild von Erasmus entstehen, das wir später so nie wiederfinden werden: ein junger Mann mit mehr als weiblicher Empfindsamkeit und einem schmachtenden Sehnen nach sentimentaler Freundschaft. Gegenüber Servatius schlägt er Töne wie ein glühender Liebhaber an. Sobald ihm das Bild seines Freundes vor dem geistigen Auge erscheint, bricht er in Tränen aus. Stündlich liest er den lieben Brief seines Freundes. Aber er ist am Boden zerstört und beunruhigt, zeigt sich sein Freund doch ablehnend gegenüber der übersteigerten Anhänglichkeit. „Was willst du denn von mir?“ fragt er. „Was hast du denn?“ ist die Rückfrage. Erasmus kann es nicht ertragen, dass seine Zuneigung nicht in gleichem Maße beantwortet wird: „Sei doch nicht so verschlossen, sag mir doch, was du hast!“ „Auf dich allein habe ich meine Hoffnung gesetzt; so ganz bin ich der Deine geworden, dass du mir von mir selbst nichts gelassen hast. Du kennst doch meine Kleinmütigkeit [pusillanimitatem], die mich so verzweifeln lässt, dass mir das Leben eine Last wird, wenn ich mich nicht bei jemandem anlehnen und ausruhen kann.“

Diese leidenschaftliche Hingabe wird man bei Erasmus nicht wiederfinden. Er musste sie sich gründlich abgewöhnen. Es ist nicht unwichtig, sich daran zu erinnern, dass er einmal ein Sentimentaler war, wenn man seinen späteren Charakter verstehen will.

Man hat diese Briefe für bloße Stilübungen gehalten; der Ton sehnender Weichheit ohne jede Zurückhaltung scheint so gar nicht in Einklang zu sein mit der sorgfältigen Abschirmung seines Innersten, die Erasmus später nie ganz aus den Augen verlor. P.S. Allen lässt die Angelegenheit in der Schwebe, doch neigt er dazu, die Briefe als echte Gefühlsäußerung anzusehen. Und warum sollten sie es nicht sein? Eine solche überschwängliche Freundschaft scheint sehr gut zum Wesen des Erasmus zu passen und ist zudem typisch für die Zeit. Sentimentale Freundschaften gehörten in weltlichen Kreisen des fünfzehnten Jahrhunderts ebenso sehr zum guten Ton wie gegen Ende des achtzehnten. Freundespaare, die sich gleich kleideten, Zimmer, Bett und Herz teilten, fand man an jedem Hof. Die Anbahnung und Pflege inniger Freundschaften beschränkte sich nicht auf die Aristokratie. Der freundschaftliche Briefwechsel zwischen Klosterbrüdern hatte bereits im zwölften Jahrhundert oft einen stark emotionalen Ton. Innige Freundschaften gehörten auch zur Eigenart der Devotio moderna. Ist es nicht übrigens auch ein Zug, der dem Pietismus wesenhaft zu eigen ist? Sich gegenseitig mit Anteilnahme zu beobachten, das Gefühlsleben des anderen auszuforschen und darüber Aufzeichnungen anzufertigen war bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben und in den Windesheimer Klöstern eine übliche und geförderte Praxis. Und obwohl die Klöster in Steyn und Sion nicht zur Windesheimer Kongregation gehörten, herrschte der Geist der Devotio moderna dort ebenso. Vielleicht hat Erasmus das Wesen seines Charakters nie klarer beschrieben als in einem Brief an Servatius, wenn er erklärt: „Ich bin von solchem Geist, dass ich im Leben nichts über Freundschaft stellen, nichts heftiger begehren werde, nichts eifriger bewahren will.“ Später sieht man ihn noch einmal von solchen schwärmerischen Gefühlen erfasst, doch äußert er sich darüber nicht so treffend wie gegenüber Servatius. Die Jugend, bezeugt Erasmus später, pflegt brennende (fervidos) Zuneigung zu manchen Gefährten zu fassen. Das Vorbild der antiken Freundschaftspaare Orest und Pylades, Damon und Phintias, Theseus und Perithous, auch David und Jonatan hatte möglicherweise auch einigen Einfluss.

Ein junger Mann mit einer sensiblen Gemütsart, mit einem stark femininen Zug, ergriffen von den Gefühlen und der Fantasie klassischer Literatur, dem die Liebe verschlossen war und der sich gegen seinen Willen in einem derben und kalten Umfeld befand, neigte leicht zur Übertreibung seiner Zuneigung.

Er musste sich mäßigen. Servatius verbat sich eine so eifersüchtige und fordernde Freundschaft. Wohl zum Preis von mehr Erniedrigung und Beschämung, als es in den Briefen erkennbar ist, fand Erasmus wieder zu sich, um fortan seine Gefühle besser zu kontrollieren. Der sentimentale Erasmus macht fortan Platz für eine vollständig andere Person: den geistreichen Latinisten, der gegenüber seinen älteren Freunden den Ton angibt, mit ihnen über Dichtkunst und Literaturwissenschaft plaudert, ihnen Ratschläge zu ihrem lateinischen Stil gibt und ihnen, falls nötig, Lehren erteilt.

Die Gelegenheit, sich der neuen Vorliebe für die lateinische Klassik zu widmen, muss dann doch in Deventer und im Kloster selbst nicht so gering gewesen sein, wie uns Erasmus später glauben machen will. Die Anzahl der lateinischen Autoren, die er in dieser Zeit bereits kannte, ist nicht gering. In einem Brief an Cornelis Aurelius nennt er die folgenden Dichter als seine poetischen Vorbilder: Vergil, Horaz, Ovid, Juvenal, Statius, Martial, Claudian, Persius, Lukan, Tibull, Properz. Bei der Prosa waren es Cicero, Quintilian und Terenz. Von den italienischen Humanisten kannte er vor allem Lorenzo Valla, dessen Elegantiae für ihn das bahnbrechende Werk der bonae literae war, aber auch Filelfo, Aeneas Sylvius, Guarino, Poggio und weitere waren ihm nicht unbekannt. Innerhalb der altchristlichen Literatur war er vor allem mit Hieronymus vertraut.

Es bleibt bemerkenswert, dass eine Erziehung in den Schulen der Devotio moderna, die mit ihrem ultrapuritanischen Geist und ihrer strengen Zucht auf das Brechen der Persönlichkeit ausgerichtet war, in Erasmus einen Geist hervorbringen konnte, wie er ihn in seiner Klosterzeit offenbart: den Geist eines vollendeten Humanisten. All sein Interesse richtet sich vor allem auf das Dichten in Latein und auf die Reinheit seines lateinischen Stils. Nach frommen Bemerkungen sucht man im Briefwechsel mit Cornelis van Gouda und Willem Harmens fast vergeblich. Mit eleganter Leichtigkeit handhabten sie die schwierigsten lateinischen Versmaße und die gewähltesten Bezeichnungen aus der Mythologie. Ihr Stoff ist bukolisch oder amatorisch [also verträumt, romantisch oder mit der Liebe befasst]; ist er heilig, dann nimmt ihm doch das Klassizistische den frommen Akzent. Der Prior des Nachbarklosters Hem, auf dessen Wunsch Erasmus den Erzengel Michael besungen hatte, riskierte es nicht, diese sapphische Ode öffentlich zu präsentieren. Sie sei so „poetisch“, meinte er, dass man sie für griechisch hielt. „Poetisch“ bedeutet in dieser Zeit „klassizistisch“. Erasmus selbst fand alles so einfach gestaltet, dass es eher Prosa glich. „So unfruchtbar waren damals die Zeiten“, seufzte er später.

Diese jungen Dichter fühlten sich als Hüter eines neuen Lichts inmitten der Dummheit und Barbarei, die sie niederdrückten. Ihre Schöpfungen hielten sie, wie jede junge Dichtergruppe es tut, für schlechthin unsterblich, und sie erträumten sich für Steyn eine Zukunft voller Dichterruhm, womit man Mantua übertrumpfen würde. Die bäuerlichen und bornierten Klostergeistlichen (so sahen sie diese) in ihrer Umgebung gaben ihnen weder Anerkennung noch Ansporn. Mit seiner starken Neigung, sich bedroht und zurückgesetzt zu fühlen, gab Erasmus seiner Lage den Anstrich des Märtyrertums eines unterdrückten Talents. Er beklagt sich bei Cornelis in kunstvollen horatischen Versen über die Verachtung der Dichtkunst: Sein Ordensbruder befehle ihm, die an das Schreiben von Versen gewöhnte Feder beiseite zu legen; brennender Neid zwinge ihn, das Dichten aufzugeben. Eine abscheuliche Barbarei herrsche; das Land treibe Spott mit der lorbeerbekränzenden Kunst des überragenden Apollo; der grobe Bauer bestelle Verse beim gelehrten Dichter. „Hätte ich auch so viele Münder wie in stillen Nächten Sterne flimmern am schweigenden Firmament, oder so viele wie der laue Frühlingswind Rosen auf den Boden streut, ich könnte nicht alle Übel beklagen, mit denen in dieser Zeit die heilige Dichtkunst unterdrückt wird.“ Er sei des Dichtens müde. Cornelis setzte diesen Gefühlsausbruch in einen Dialog um, der wiederum Erasmus außerordentlich erfreute.

Auch wenn neun Zehntel dieser Kunst aus rhetorischen Erfindungen und emsiger Nachahmung bestehen, darf man den Eifer, der diese jungen Dichter beseelte, nicht gering achten. Wie erhebend war es wohl, das Latein in seiner Reinheit zu entdecken und es dann für den faszinierenden Rhythmus kunstvoller Verse zu benutzen, in der wunderbaren Exaktheit seiner Struktur und der Klarheit seines Klangs, obwohl man es vorher aus den absurdesten Lehrbüchern und mit der unmöglichsten Methode gelernt hatte. Lasst uns, die wir dem Zauber des Lateinischen doch meist kaum noch etwas abgewinnen können, nicht gering darüber denken.

Nec si quot placidis ignea noctibus
Scintillant tacito sydera culmine,
Nec si quot tepidum flante Favonio
Ver suffundit humo rosas,
Tot sint ora mihi.6

Ist es verwunderlich, dass sich als Dichter fühlte, wer dies zuwege brachte? Oder wer mit seinem Freund in einem Wechselgesang von fünfzig Distichen den Frühling preisen konnte? Schularbeiten, wenn man will, oder fleißige Schreibübungen, mehr nicht. Doch sind sie voller Frische und Kraft, die gleichsam aus dem Lateinischen selbst hervortreiben.

Aus dieser Stimmung ist der Anstoß zu seinem ersten, umfangreicheren Werk hervorgegangen, dessen Manuskript er verlieren und erst viele Jahre später unvollständig wiedererhalten sollte, sodass nur ein Teil veröffentlicht werden konnte: Es sind die Antibarbari, die nach P.S. Allen bereits in Steyn begonnen wurden. Allerdings spricht die Gestaltung des ersten Buches der Antibarbari, das im Druck erschienen ist, für eine etwas spätere Phase in Erasmus’ Leben, die nach seinem Klosterauszug anzusetzen ist. Zum Dichter von Steyn passt auch nicht der behagliche Ton, in dem geistreich die profane Literatur verteidigt wird. Aber das Ideal eines freien und gehobenen Lebens mit freundschaftlichem Umgang und ungestörtem Studium der Alten war ihm bereits hinter den Klostermauern aufgegangen.

Im Laufe der Jahre hat er diese Mauern wahrscheinlich als immer beengender empfunden. Weder die gelehrte und poetische Korrespondenz noch die Malerei, mit der er sich zusammen mit einem gewissen Sasboud beschäftigte, konnte für ihn den Druck des Klosterlebens und seiner kleingeistigen und unfreundlichen Umgebung mildern. Aus der letzten Periode seiner Klosterzeit sind nach P.S. Allens sorgfältiger Datierung keinerlei Briefe erhalten geblieben. Hatte er aus Lustlosigkeit den Briefwechsel eingestellt? Hatten seine Oberen ihm das Briefeschreiben verboten? Oder ist es lediglich Zufall, der uns im Unklaren lässt? Wir wissen nichts von den Umständen und seiner Gemütsverfassung bei der Priesterweihe am 25. April 1492, die er aus den Händen von David von Burgund, dem Bischof von Utrecht, empfing. Vielleicht hatte er bereits den Wunsch, das Kloster zu verlassen. Er hat später selbst bezeugt, dass er selten die Messe gelesen hat. Die Gelegenheit, Steyn den Rücken zu kehren, ergab sich für Erasmus mit dem Angebot, Sekretär bei Heinrich von Bergen, dem Bischof von Cambrai, zu werden. Dieses Angebot verdankte er seinem Ruf als Latinist und Literat, denn der Bischof stellte ihn an, weil er eine Reise nach Rom plante, um dort die Kardinalswürde zu erlangen. Die Erlaubnis des Bischofs von Utrecht und auch die seines Priors sowie des Ordensgenerals wurden erteilt. Von einem endgültigen Abschied konnte natürlich keine Rede sein; Erasmus trug auch im Dienst des Bischofs weiter seine Ordenstracht. Unter striktester Geheimhaltung hatte er seine Abreise vorbereitet. Es ist etwas Rührendes im Rückblick seines Dichterfreundes Willem Harmens, der vergeblich vor den Toren Goudas wartete, um den Freund, der auf seinem Weg nach Süden hier vorbeikommen sollte, noch einmal zu sehen. Die beiden hatten anscheinend Pläne geschmiedet, gemeinsam Steyn zu verlassen. Erasmus aber ließ den Freund im Unwissen über seine eigene Möglichkeit, dies zu tun. Willem musste sich mit der Literatur trösten, die ihm in Steyn zur Verfügung stand.

Erasmus, jetzt Mitte zwanzig oder älter ‒ denn das Jahr seines Auszuges aus dem Kloster war aller Wahrscheinlichkeit nach 1493 ‒, betrat nun einen in seiner Zeit üblichen und sehr begehrten Karrierepfad, den des Intellektuellen im Schatten der Großen. Sein Herr entstammte einem der zahlreichen südniederländischen Adelsgeschlechter, die im Dienst Burgunds aufgestiegen waren und sich den Interessen des Herrscherhauses verbunden fühlten. Die Glymes waren die Herren von Bergen op Zoom, das zwischen Schelde- und Maasdelta liegt und eines der Bindeglieder zwischen den nördlichen und den südlichen Niederlanden bildete. Heinrich, der Bischof von Cambrai, war gerade zum Kanzler des Ordens vom Goldenen Vlies ernannt worden ‒ die angesehenste Würde am Hof, der zwar faktisch schon habsburgisch war, aber den Namen Burgund beibehielt. Im Dienst einer so bedeutenden Persönlichkeit zu sein versprach fast unbegrenzte Vorteile. Mancher wird es zum Preis von einiger Geduld, Erniedrigung und Prinzipienlosigkeit selbst bis zum Bischof gebracht haben. Aber Erasmus ist nie der Mann gewesen, eine solche Gelegenheit zu seinem Vorteil zu nutzen.

Die Anstellung beim Bischof war enttäuschend. Er musste zahlreiche Umzüge von einem Ort zum anderen mitmachen: Bergen, Brüssel, Mechelen. Zahlreiche drängende Aufgaben lasteten auf ihm. Welcher Art sie waren, ist uns nicht bekannt. Die Reise nach Rom, Höhepunkt für jeden Geistlichen oder Intellektuellen, fand nicht statt. Der Bischof war nach einem herzlichen Interesse während der ersten Monate weniger entgegenkommend, als er erwartet hatte. Und so sehen wir bald wieder einen Erasmus, dessen Stimmung alles andere als froh ist. „Das härteste Los“, nennt er sein Leben. Es nehme ihm all seine alte geistige Lebendigkeit, klagt er. Zum Studium komme er nicht. Nun beneide er seinen Freund Willem, der in Steyn in seiner kleinen Zelle schöne Verse schmieden könne, von „glücklichen Sternen“ begünstigt. Für ihn, Erasmus, bleibe nichts als Weinen und Seufzen, wobei sein Geist schon so abgestumpft und sein Gemüt so abgestorben sei, dass ihn nichts von seinen alten Studien mehr freue.

Darin sind rhetorische Übertreibungen, und wir sollten sein Heimweh nach dem Kloster nicht zu ernst nehmen, aber es wird doch deutlich, dass ihn eine ziemlich tiefe Depression erfasst hat. Wahrscheinlich hat ihn die Berührung mit der Welt des politischen Ehrgeizes aus der Fassung gebracht. Dafür war er nicht geeignet. Die harte Wirklichkeit erschreckte und bedrückte ihn. Gezwungen, sich damit zu befassen, sah er um sich herum nichts als Verbitterung und Verworrenheit. „Wo sind Glück und Stille? … Wohin ich auch schaue, sehe ich nur Unglück und Härte. Und in solch Hektik und Tumult um mich herum willst du, dass ich für das Werk der Musen Ruhe finde?“

Wirkliche Ruhe sollte Erasmus sein Leben lang nicht finden. Er las und schrieb stets hastig, „tumultuarie“, wie er es wiederholt bezeichnet. Doch er muss es zugleich mit einer unvergleichlichen Hingabe getan haben, dabei von einem unbeschreiblichen Vermögen, Dinge zu erfassen. Während seiner Zeit beim Bischof besuchte er das Kloster Groenendael bei Brüssel, wo einst Ruysbroeck gewirkt hatte. Von Ruysbroek hörte er dort wahrscheinlich nichts, und er wird an den Schriften des großen Mystikers sicher wenig Gefallen gefunden haben. Doch er entdeckte in der Bibliothek die Werke des Augustinus, und die verschlang er. Die Mönche von Groenendael staunten über seinen Eifer. Selbst in seinen Schlafraum nahm er die Bände mit.

Auch zum Schreiben hat er in dieser Periode die Zeit wohl noch gefunden. In Halsteren bei Bergen op Zoom, wo der Bischof ein Landhaus besaß, hat er die in Steyn begonnenen Antibarbari