Mhairi McFarlane
Roman
Aus dem Englischen von Maria Hochsieder
Knaur eBooks
Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Who’s That Girl« bei HarperCollinsPublishers.
© 2017 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2016 Mhairi McFarlane
© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Nadine Lipp
Covergestaltung: Franzi Bucher, München
ISBN 978-3-426-44053-7
Für Natalie, Paula und Serena – mein Lieblings-Mixtape
Durch das Display eines Smartphones betrachtet ist das Leben eine große Lüge. Edie stellte sich den Übertragungsprozess wie ein Schaubild im Physikunterricht vor, wie das LP-Cover von Pink Floyd – ein weißer Lichtstrahl, der in einem Prisma gebrochen wird, zersplittert und sich in einen Regenbogen auffächert.
Ich meine, wie viel Täuschung, fragte sie sich, steckt schon in diesem einen gefälligen Foto? Sie betrachtete das verführerische Trugbild auf dem etwas verschmierten Bildschirm in ihrer Handfläche, während sie sich an der Hotelbar anstellte.
Um sie herum war quirliges Leben, die chaotische, struppige verschwitzte Wirklichkeit, unterlegt mit dem Soundtrack der Supremes – Where Did Our Love Go? In diesem Stillleben hingegen war alles für immer bildbearbeitet und makellos.
Unwahrheit Nummer eins: Sie und Louis sahen aus, als seien sie total vernarrt ineinander. Um ins Bild zu passen, hatte Edie ihren Kopf auf seine Schulter gelegt. Sie wirkte kokett mit ihrem rätselhaften Lächeln. Er posierte mit einem selbstzufriedenen James-Bond-Grinsen, das sagen sollte: Hey, alles cool, nur keine Aufregung. Es war tatsächlich keine große Sache.
Sie hatten fünf Stunden in platonischer Zweisamkeit verbracht – die Hochzeitsplanerin hatte Paare angeordnet, wie auf der Arche Noah –, und jetzt gingen sie sich auf die Nerven in der Hitze und im Alkoholdunst und in Kleidern, deren Taillenbünde enger und enger wurden wie eine aufgeblasene Blutdruckmanschette.
Edies High Heels, jedenfalls hoch genug, um der besonderen Gelegenheit Rechnung zu tragen, die von Anfang an wacklig waren, aber gerade noch erträglich drückten, quälten sie mittlerweile auf bösartige, geradezu mythische Weise; sie hätte ihre Meerjungfrauenflosse hergegeben für ein Paar Aschenbrödelschuhe und die Liebe eines Prinzen.
Lüge Nummer zwei: das Arrangement. Das funkelnd-fröhliche Partygirl Edie, das durch straßenkehrerbesengroße falsche Wimpern nach oben schaut. Man konnte die obere Hälfte ihres roten Kleids erkennen, mit dem hübsch hinaufgestemmten blassen Busen und dem diszipliniert eingezogenen Bauch. Louis’ markante Wangenknochen und das gesenkte Kinn sahen noch mehr nach einem Killer mit Bret-Easton-Ellis-Methoden aus als sonst.
Das lag daran, dass sie die Kamera in Armeslänge über ihren Köpfen hielten und außerdem fünf weniger schmeichelhafte Bilder verworfen hatten, nachdem sie ausgehandelt hatten, welches das beste war. Edie hatte Tränensäcke, Louis klagte, dass er ausgemergelt wirkte, mal war ihr Blick zu aufgesetzt, mal legte sich ein Schatten unvorteilhaft über ihre Gesichter. Okay, noch eins, noch eins. Posieren, Klick, Blitz. Ein halbes Dutzend Versuche hatte schließlich den gewünschten Erfolg gebracht: Sie sahen beide gut aus, aber nicht allzu sehr so, als hätten sie sich darum bemüht, gut auszusehen.
(»Warum machen heutzutage alle immer ein Gesicht, als würden sie an einer sauren Zwetschge saugen?«, hatte sich Edies Vater gefragt, als sie das letzte Mal zu Hause gewesen war. »Wahrscheinlich, damit sie dünn aussehen und einen Schmollmund haben. Aber in Wirklichkeit sehen sie gar nicht so aus wie auf dem Bild. Schon seltsam.«)
Louis, Instagram-Profi und besonders saure Zwetschge, spielte mit dem Licht und den Kontrasten. »Jetzt retuschieren wir uns zu Tode.«
Er wählte den Filter Amaro und tauchte sie in einen märchenhaften Limonadennebel. Ihr Teint war vollkommen, die Stimmung auf Hollywood-Art verträumt. Man konnte glauben, es sei ein perfekter Moment. Du hättest (nicht) dabei sein sollen.
Und dann war da noch die Bildunterschrift, die größte Täuschung von allen. Louis tippte sie ein und ging auf Senden. »Glückwunsch Jack & Charlotte! Was für ein unglaublicher Tag! Wir freuen uns so für euch! <3 #dasperfektepaar führt sein #bestesleben.«
Das galt vor allem den übrigen Leuten bei der Agentur Ad Hoc, die sich elegant aus der Affäre gezogen hatten, weil sie den Weg von London nach Harrogate gescheut hatten. Nichts stellte Popularität derart auf den Prüfstand wie Hunderte von Meilen auf der Autobahn.
Ein Like nach dem anderen trudelte ein. »Seufz. Ihr zwei seid auch #dasperfektepaar!« Louis antwortete: »Bloß Pech, dass ich schwul bin!« Das wäre unser geringstes Problem, dachte Edie. Allen war klar, dass Louis, wenn er dir gegenüber alle anderen schlechtmachte, das Gleiche umgekehrt auch mit dir tat.
Im Übrigen hatte Louis pausenlos über die »unglaubliche« Hochzeit hergezogen. Edie fand, dass es ungefähr das Gleiche war, die Hochzeit anderer Leute zu kritisieren, wie sich über ihre Art zu essen oder ihre dicken Fußknöchel lustig zu machen. Ein guter Mensch spürte instinktiv, dass so etwas nicht anständig war.
Ich hätte erwartet, dass Charlotte sich für etwas Schlichteres entscheidet, wie Carolyn Bessette auf der Hochzeit mit JFK junior. Diese Glasperlen auf dem Kleid sind schon ein bisschen Pronuptia-mäßig. Selbst Frauen mit Geschmack scheinen durchzudrehen, wenn es ans Heiraten geht, und in Disney-Kitsch abzudriften. Ich kann diese Rosenbouquets mit dem Perlenschnickschnack und den weißen Bändern um die Stiele, die aussehen wie ein Beinstumpf mit Mullverband, nicht mehr sehen! Wenn es einmal die Frau von einem Promi gemacht hat, dann tun es alle. Und es tut mir leid, aber ich finde eine braungebrannte Braut vulgär. Argh, zwei Schlucke von diesem Gesöff, und ab damit in den Blumentopf. Ich kann es nicht ertragen, wenn Orangensaft den Billigsekt übertünchen soll. Schau dir mal den DJ an, der ist ungefähr fünfzig und trägt ein Lederblouson! Wo hat er das denn her? Ist das noch von 1983? Er sieht aus, als gehört er in eine Folge Top Gear. Wir dürfen wahrscheinlich zu Sex on Fire von den Kings of Leon abrocken, und für die Erektion sorgt Toni Braxton. Warum können Hochzeiten nie modern sein?
Das Old Swan in Harrogate war tatsächlich nicht modern, wie schon der Name nahelegte. Spannenderweise war es der Ort, an dem Agatha Christie abstieg, als sie in den zwanziger Jahren elf Tage lang verschwand, wobei vermutlich nichts Spannendes daran ist, unter geistiger Umnachtung zu leiden.
Edie liebte diesen Ort. Sie hätte nichts dagegen gehabt, sich aus ihrem Leben in eines der Zimmer mit Himmelbett zu stehlen. Jedes Detail des Old Swan war tröstlich. Die efeubewachsene Front, der robuste Eingang mit dem Säulenvorbau, die Art, wie es nach warmem Frühstück und plüschiger Geborgenheit roch.
Es war ein heißer, hochsommerlicher Tag gewesen – Haben sie nicht ein Glück mit dem Wetter, lautete die verlässliche, banale Eröffnung eines jeden Gesprächs –, und die Glastüren in der Bar öffneten sich zu dem in weiches Licht getauchten hügeligen Garten. Kinder in weiß blitzenden Westen sausten herum und spielten Flugzeug, aufgeputscht von zu viel Cola und dem Reiz, so lange aufzubleiben.
Nichtsdestoweniger war dies die schlimmste Hochzeit, auf der Edie jemals gewesen war – wenngleich aus keinem der Gründe, die Louis angeführt hatte.
Als sie an der Bar ihr Getränk orderte, stand neben ihr eine Gruppe siebzig- bis achtzigjähriger Frauen im Zwanziger-Jahre-Look. Edie vermutete, dass sie Teilnehmerinnen eines Krimiwochenendes waren – sie hatte einen Reisebus aus Scarborough gesehen.
Eine der »Verdächtigen« hatte keine Beine und saß im Rollstuhl. Sie trug Federschmuck im Haar, eine lange, geknüpfte Perlenkette und eine weiße Federboa um den Hals. Mit einem Strohhalm nuckelte sie an einem Pikkolofläschchen Prosecco. Edie hätte sie gern in den Arm genommen.
»Ach, Sie sehen aber hübsch aus«, sagte eine der Frauen zu Edie, und Edie lächelte und erwiderte: »Danke! Sie aber auch.«
»Sie erinnern mich an jemanden. Norma! Wem sieht diese wunderschöne junge Frau ähnlich?«
Edie setzte das peinlich berührte Lächeln auf, das unvermeidlich war, wenn einen eine Schar beschwipster älterer Senioren genauestens in Augenschein nahm.
»Clara Bow!«, rief eine.
»Genau!«, stimmten die anderen ein. »Ahh. Clara Bow.«
Es war nicht das erste Mal, dass Edie ein solches Kompliment erhielt. Ihr Vater sagte, sie habe ein altmodisches Gesicht. »Du siehst aus, als solltest du in einem Film in Glockenhut und Handschuhen an der Bahnstation stehen. In einem Tonfilm, versteht sich.«
(Edie fand nicht, dass sie so viel redete; ihr Vater und ihre Schwester waren einfach schweigsamer als sie.)
Sie hatte schulterlanges tiefschwarzes Haar und dicke dunkle Augenbrauen, die offensiv per Fadenzupfung in Form gebracht werden mussten, damit sie nicht allzu buschig ausfielen. Sie saßen über großen ausdrucksstarken Augen in einem herzförmigen Gesicht mit kleinem Mund.
Ein grausamer, wenn auch wortgewandter Kerl hatte ihr auf einer Party erklärt, dass sie aussah wie eine viktorianische Puppe, die von Anhängern der schwarzen Magie zum Leben erweckt worden war. Sie versuchte sich einzureden, dass es an ihrer damaligen Gruftiephase gelegen hatte, aber eigentlich war ihr bewusst, dass es immer noch zutraf, wenn sie nicht genug geschlafen hatte und einen finsteren Blick aufsetzte.
Louis hatte mal gesagt – und dabei so getan, als spreche er nicht über sie, auch wenn es beide besser wussten: »Babygesichter altern auf unvorteilhafte Weise. Deswegen ist es auch so eine Tragödie, dass Lennon anstelle von McCartney erschossen wurde.«
»Sind Sie mit Ihrem Mann hier?«, fragte eine der Frauen, als Edie den Weißwein und den Wodka Tonic entgegennahm.
»Nein, ich hab keinen Mann. Bin Single«, erwiderte Edie, und einmal mehr wurde sie interessiert angestarrt und mit entzückten Oohs bedacht.
»Das hat jede Menge Zeit. Haben Sie erst mal Ihren Spaß, nicht wahr?«, meinte eine der Damen im Zwanziger-Jahre-Kostüm, und Edie lächelte und hätte beinahe gesagt: »Ich bin fünfunddreißig und habe sehr wenig Spaß.« Doch sie überlegte es sich anders und sagte stattdessen: »Ja, ja, haha!«
»Sind Sie aus Yorkshire?«, fragte eine andere.
»Nein, ich wohne in London. Die Familie der Braut kommt aus …«
In diesem Moment kam Louis aus dem Festsaal und wedelte sie nachdrücklich mit der Hand herbei. »Edie!«, zischte er.
»Edie! Was für ein wunderschöner Name!«, riefen die Frauen im Chor und betrachteten sie mit neuer Bewunderung. Edie war gerührt und etwas überrascht über ihren plötzlichen Promistatus. Das kam davon, wenn man Prosecco mit dem Strohhalm trank.
»Sind Sie der Begleiter dieser jungen Dame?«, fragten sie Louis, als er sich zu ihnen gesellte.
»Nein, meine Lieben, ich steh mehr auf Schwänze.« Er nahm Edie, die sich innerlich krümmte, sein Glas ab.
»Er steht wo?«, fragte eine der Frauen nach.
»Ich steh auf Schwänze.« Louis deutete auf seinen Bizeps, was es nach Edies Ansicht nicht unbedingt deutlicher machte.
»Oh, er mag Männer, Norma. Er ist ein warmer Bruder«, sagte eine der Frauen beiläufig.
Die Aufmerksamkeit wandte sich dem warmen Bruder zu.
»Heutzutage ist mir ein warmes Bad und eine Runde Scrabble lieber«, schaltete sich eine andere ein. »Aber Barbara mag hie und da noch einen Schwanz.«
»Wer von Ihnen war’s?«, sagte Louis mit Blick auf ihre Kostüme. »Wer ist die Hauptverdächtige?«
»Bislang gab es noch kein Verbrechen«, erklärte eine der Frauen. »Aber das Gerücht, dass im dritten Stock eine Leiche gefunden werden wird.«
»Nun, dann können Sie wohl die hier ausschließen.« Louis tippte sich an die Nase und deutete auf die Frau im Rollstuhl.
»Louis!«, keuchte Edie.
Glücklicherweise brachen die Frauen in gackerndes Gelächter aus.
»Sheila hat ihre Hühneraugen immer mit Sicherheitsnadeln rausgepult. Mit der sollte man sich nicht anlegen.«
»Sieht aus, als sei sie dabei übers Ziel hinausgeschossen.«
Wieder hielt Edie den Atem an, doch die alten Damen brüllten vor Lachen. Edie konnte es nicht fassen: Louis hatte ein Publikum gefunden.
»Großartig, euch kennenzulernen, Mädels«, verabschiedete er sich, und sie waren nah dran, ihm zu applaudieren. Edie war vergessen.
»Komm zurück an den Tisch. Jetzt geht’s richtig los«, sagte Louis zu ihr. »Jetzt kommen die Reden.«
Mit schwerem Herzen entschuldigte sich Edie. Der Moment, den sie gefürchtet hatte.
Das Publikum vor dem Hashtag Perfektes Paar, das sein Hashtag Bestes Leben führte.
War der kostenlos?«, bellte der Mann in den Sechzigern, Hörgerät im Ohr und im Gutsbesitzerstil gekleidet, und fixierte das Glas in Edies Hand. Edie und Louis hatte man an den Tisch mit den Überbleibseln gesetzt, die schwierigen Fälle ohne Gemeinsamkeiten. Die anderen Tischnachbarn hatten sich sofort abgesetzt und in der langen Pause zwischen Essen und Tanz irgendwo im Saal zerstreut. Dieser alte Knacker hier mit seiner scheuen, nicht weniger landadeligen Ehefrau war dageblieben.
»Oh, nein. Ich kann Ihnen was holen, wenn Sie möchten?«
»Nein, nein. Da ist man auf diesen endlosen Veranstaltungen, und dann nehmen sie einen auch noch aus wie einen Truthahn. Als wäre die Hochzeitsliste nicht schon dreist genug gewesen. Vierhundert Pfund für einen scheußlichen blauen Schneebesen, diese Dummköpfe. Sei still, Deirdre, ist doch wahr.«
Edie ließ sich auf den Lehnstuhl fallen und bemühte sich, nicht zu lachen, weil auch sie die Küchenmaschine für vollkommen überkandidelt gehalten hatte.
Sie trank einen großen Schluck säuerlichen Weißwein und dankte dem Herrn für die Gabe Alkohol, um das hier zu überstehen. Am Tisch vorne wurde das Mikrofon an Jack, den Bräutigam, weitergereicht. Er tippte mit einer Gabel an sein Glas und hüstelte in die Faust. Seine frischgebackene Schwiegermutter zog ihn am Ärmel. Also hob er entschuldigend die Hand, um eine kurze Verzögerung anzuzeigen.
»Was ist das heutzutage für eine Schnapsidee, braune Schuhe zu einem blauen Anzug und einer rosa Krawatte zu tragen?«, hörte Edie den Mann mit dem Hörgerät im Hinblick auf den Bräutigam sagen. »Jedermann muss annehmen, dass das eine Lavendelehe ist.«
Edie fand zwar, dass Jacks schmaler hochgewachsener Körper in dem Paul-Smith-Anzug ziemlich toll aussah, aber sie würde den Teufel tun und ihn verteidigen.
»Was ist eine Lavendelehe?«, fragte Louis.
»Eine Scheinehe, um die wahren Neigungen zu verbergen. Wenn man eigentlich anders orientiert ist.«
»Oh, ich verstehe. Wir führen auch so eine.« Grinsend drückte er Edie an sich.
»Vergeben Sie mir, wenn ich nicht schockiert nach meinem Inhalator greife«, erwiderte der Mann und betrachtete Louis’ Haartolle. »Ich hatte schon gemutmaßt, dass Sie ganz gern an Blümchen schnuppern.«
Edie hatte heute weit mehr Euphemismen für »homosexuell« gehört, als sie an einem solchen Tag erwartet hätte.
»Was meinst du, wirst du dir je eine Ehe antun?«, fragte Louis leise.
»Ich denke, die Frage lautet eher, ob sich die Ehe mich antut«, antwortete Edie.
»Liebes, ein Haufen Leute würde dich heiraten. Du bist so unglaublich ehefraulich. Man schaut dich an und denkt: Mach mich zur Ehefrau.«
Edie lachte freudlos. »Komisch nur, dass sie mir das nicht zu verstehen geben.«
»Du bist ein Rätsel, weißt du das?« Louis stieß mit dem Plastikstäbchen auf dem Boden seines Glases herum. Edies Magen zog sich zusammen, denn wann immer Louis seinen Gedanken freien Lauf ließ, landeten sie bei Ich kann nicht fassen, dass du das gesagt hast.
»Ha, nein.«
»Ich mein, du hast eine Menge Fans. Du bist eine Stimmungskanone. Aber du bist immer allein.«
»Ich denke, das liegt daran, dass ein Fan sein nicht gleichbedeutend ist mit eine Beziehung wollen«, sagte Edie in neutralem Ton und ließ den Blick über den Tumult im Saal schweifen. Sie hoffte, dass sie auf ein anderes Thema zu sprechen kämen.
»Bist du diejenige, die bindungsunfähig ist, oder die anderen?« Louis drückte das Stäbchen an den Rand, während er einen Schluck nahm.
»Oh, ich halt sie mir mit einer Art Zentrifugalkraft vom Leibe. Oder ist es die Zentripetalkraft?«
»Ernsthaft?«, fragte Louis. »Ich meine es ernst.«
Edie seufzte. »Ich habe schon mal Leute gemocht, und mich haben auch schon mal Leute gemocht. Ich habe nur nie jemanden gemocht, der mich zur gleichen Zeit so sehr gemocht hat wie ich ihn. So einfach ist das.«
»Vielleicht wissen die gar nicht, dass du an ihnen interessiert bist? Man durchschaut dich nur schwer.«
»Vielleicht.« Edie hoffte, dass das Thema schneller vom Tisch wäre, wenn sie ihm zustimmte.
»Also hat dir niemand jemals ein glückliches gemeinsames Leben versprochen? Du hast noch nie ein Herz gebrochen?«
»Hach. Nein.«
»Dann bist du ein Paradoxon, du großartige Edie Thompson. Das Mädchen, das alle haben wollen … und keiner nimmt.«
Edie prustete los, und Louis hatte die Reaktion, die er wollte.
»Niemand nimmt mich! Verdammt, Louis, besten Dank!«
»Nein, Liebes! Ich bin doch auch nicht anders. Für den armen einsamen Louis wird es in absehbarer Zeit keine Hochzeit geben. Ich bin vierunddreißig, in Schwulenjahren ist das so gut wie tot.«
Natürlich war das Blödsinn. Louis wünschte sich eine Hochzeit ungefähr so sehr wie ein aggressives Karzinom. Er verbrachte seine Zeit damit, nach bedeutungslosen Techtelmechteln auf Grindr zu suchen; das jüngste war ein reicher, haariger Mann, den er den Chewbacca der »Prinzessin Louis« nannte. Es ging nur darum, die Freiheit für sich zu beanspruchen, Edie auf den Arm zu nehmen.
»Ich habe gesagt, dass du umwerfend bist, du Diva.« Louis schmollte, als sei Edie der Aggressor gewesen. Man musste die perfekt choreographierten Grausamkeiten von Louis durchaus bewundern – sorgsam ausgearbeitete, wendige Winkelzüge, die fehlerlos ausgeführt wurden.
»Liebe Anwesende, entschuldigt die Verzögerung«, sagte der Bräutigam endlich ins Mikrofon.
Jacks recht blutleere Rede hakte all die Dinge ab, die laut Internet-Ratgeberseite hineingehörten. Er erwähnte, wie hübsch die Brautjungfern waren, und dankte allen für ihr Kommen. Er las Grußkarten von ferngebliebenen Verwandten vor. Er dankte dem Hotel für die Gastfreundschaft und beiden Elternpaaren für die Unterstützung.
Es endete mit dem Gelöbnis: »Ich weiß nicht, womit ich dich verdient habe, Charlotte. Ich werde mich den Rest meines Lebens darum bemühen, dass du deine heutige Entscheidung nicht bereust«, und Edie hätte die Sektflöte, mit der sie anstießen, beinahe auf ex gekippt.
Der Trauzeuge Craig hielt eine Rede, die weniger amüsant als fehlgeleitet war, in der sich ein Witz an den anderen reihte über die mehr oder weniger erfolgreichen Sexabenteuer in Jacks Studienjahren. Er schien zu glauben, dass diese Erzählungen angemessen waren, denn »wir waren ja alle so drauf« und »verdammt tolle Kumpel«. (Jack war an der Uni Durham.) Als er ein Rugbyspiel erwähnte, das sie »Schweinelotterie« genannt hatten, fuhr Jack ihn an: »Vielleicht lässt du das besser weg«, und Craig ging geradewegs über zu: »Auf Jack und Charlotte!«
Die Braut grinste starr und nervös, und ihre Mutter sah aus, als unterzöge sie sich gerade einer Hintern-OP.
Charlottes erste Brautjungfer Lucie bekam das Mikrofon.
Edie hatte schon viel über die legendäre Lucie Maguire gehört, wenn Charlotte im Büro ehrfürchtig Anekdoten erzählte. Sie war eine skrupellos erfolgreiche Immobilienmaklerin (»Sie würde es fertigbringen, dir ein Außenklo anzudrehen!«), Mutter von anstrengenden Zwillingen, die man aus dem Kindergarten ausgewiesen hatte (»Sie sind sehr aufgeweckt«), und spielte prima Muggel-Quidditch. (»Ein Spiel aus einem Kinderbuch«, hatte Jack zu Edie gesagt. »Was kommt als Nächstes? Wird sie Meisterin im Stöckchenspiel mit Pu der Bär?«)
Sie »redete freiheraus« (übers.: sie war grob), »ließ sich nicht zum Narren halten« (übers.: war anderen gegenüber grob) und »ließ nicht mit sich spaßen« (übers.: war anderen gegenüber sehr grob).
Edie hatte den Eindruck, dass man Lucie allenfalls dann zur besten Freundin erklären würde, wenn es eine weltweite Epidemie gegeben hatte und kein anderer mehr übrig war, vermutlich aber nicht einmal dann.
»Hallo, allerseits«, sagte sie mit selbstbewusster, scharfer Stimme, eine Hand in die lachsfarbene Seide an der Hüfte gestützt. »Ich bin Lucie. Ich bin erste Brautjungfer und Charlottes beste Freundin seit unserer gemeinsamen Zeit in St Andrews.«
Beinahe erwartete Edie, dass sie den Satz beenden würde mit: »Bachelor of Science mit Auszeichnung, offizielles Mitglied des Immobilienverbands«.
»Nun, ich hab hier eine etwas ungewöhnliche kleine Überraschung für unser glückliches Paar.«
Edie setzte sich auf und dachte: Wow, tatsächlich? Eine Hochzeitsüberraschung ohne Vetorecht? Oje …
»Ich wollte etwas wirklich Besonderes für meine beste Freundin machen. Glückwunsch, Jack und Charlotte. Das hier ist für euch. Ach, und damit es in meinem Lied mit dem Rhythmus hinhaut, heißt ihr in guter alter Brangelina-Manier ›Charlack‹. Hoffe, das geht in Ordnung.«
Lied? Jeder Hintern im Saal spannte sich an.
»Also, und eins, und zwei, und drei …«
Die anderen beiden Brautjungfern, denen die Schamesröte ins Gesicht gestiegen war, zogen Schellen heraus und begannen sie synchron zu schwenken. Ihren Gesichtern sah man an, dass sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden hatten, auch wenn der Augenblick dadurch nicht weniger schrecklich war.
Lucie begann zu singen. Ihre Stimme war zwar a-cappella-tauglich, aber es war immer noch a cappella, und der ganze Raum hielt in Schockstarre mit durchgedrücktem Rücken und eingefrorenem Lächeln peinlich berührt inne. Zur Melodie von Julie Andrews’ My Favourite Things schmetterte sie los.
Dachshund, Narzissen und Gummistiefel in Grüün,
Clarins und Clooney auf großem Flatscreen,
Land Rover ganz und gar schlammverspritzt,
Darauf sind die Charlacks total spitz.
Edie hatte Schwierigkeiten, sich jemanden vorzustellen, dem dies als eine gute Idee erscheinen mochte. Und dem während des Entstehungsprozesses keine Zweifel gekommen waren. »Charlack« klang wie ein Schurke aus Doctor Who. Einer mit schmutziger Fantasie.
Die Cotswolds, Cream-Tea und leckere Dinner,
Skifahrn in Méribel, sie sind die Gewinner,
Darauf sind die Charlacks total spitz.
Kajal und Mascara, frische Farbe, Dim Sum,
Rugby und Cricket und auch mal Wimbledon,
Darauf sind die Charlacks total spitz.
Edie wagte nicht, Louis anzusehen, der zweifellos kurz davor war, vor Entzücken zu platzen. Die Ehrengäste am vorderen Tisch starrten reglos vor sich hin.
Wenn die Arbeit ätzt,
Wenn das Handy nervt,
Wenn’s im Hals krätzt,
Denken die Charlacks an all das,
Gleich ist alles nicht so krass.
Edie bemühte sich um einen undurchdringlichen Gesichtsausdruck, während Lucie mit gereckten Armen die letzten Worte hinauskrähte, und hoffte inbrünstig, dass damit der Schrecken vorüber war. Doch nein, Lucie schlug den Takt für die nächste Strophe an.
In die kurze Stille hinein meldete sich der Mann mit dem Hörgerät zu Wort.
»Was ist das nur für eine scheußliche Dummheit? Wer hat dieser Frau gesagt, dass sie singen kann? Grundgütiger, was für ein entsetzlicher Krawall«, wandte er sich an seine Frau.
Lucie hob mit der nächsten Strophe an, jetzt aber horchte der ganze Saal starr vor Schrecken auf den deutlich hörbaren Kommentar von Edies Tischnachbarn. Offenbar bemerkte er nicht, wie laut er brüllte. Die verzweifelten und erfolglosen Bemühungen seiner Frau, ihn zum Schweigen zu bringen, konnte man ebenfalls hören.
»Du liebe Güte, was kommt als Nächstes. Ich war auf eine Hochzeit eingeladen, nicht zu einer Nummernrevue von Amateuren. Ich fühl mich wie Prinz Philip, wenn er gezwungen ist, sich die nackten Hinterteile irgendwelcher Eingeborenen anzusehen. Ach, Unsinn, Deirdre, das hier ist einfach nur schlechter Geschmack.«
Das spuckeversetzte Pschscht seiner Frau erreichte mittlerweile hysterische Ausmaße, während sich im Saal nervöses Lachen ausbreitete.
Edie spürte, dass Louis neben ihr zusammengebrochen war, sein ganzer Körper zuckte und bebte.
Im Land der Werbung immer ein Treffer,
Jetsetting und Wan Tan mit Chilipfeffer,
Tiffany-Päckchen, die Nacht im Hotel Ritz,
Darauf sind die Charlacks total spitz.
»Wird dieses Martyrium jemals enden? Kein Wunder, dass unser Land in so desolatem Zustand ist, wenn die Leute derartig vulgäre Darbietungen der eigenen Unzulänglichkeiten für angemessenes Amüsement halten. Was? Ich bezweifle, dass irgendwer mich bei diesem unbeirrbaren Gejodel von Kiri Te Kanarienvogel hören kann. Das hier ist eine von den Geschichten, die typischerweise mit den Worten enden: Und dann richtete er den Lauf seiner Pistole gegen sich selbst.«
Edie wusste nicht, wo sie hinsehen sollte. Dadurch dass der Störenfried an ihrem Tisch saß, fühlte sie sich wie ein Teil der Verschwörung, so als leihe er ihr seine Stimme oder als spiele sie ihm Argumente zu.
Unvermeidlich suchten ihre Augen Jack, der ihren Blick, die Hand auf den Mund gepresst, direkt erwiderte. In seinen Augen spiegelte sich der Satz: Was geht hier vor sich, das ist völlig verrückt!
Sie hätte es sich denken können. Nicht nur, dass er es lustig fand, er wählte sie zur heimlichen Verbündeten. Beinahe hätte Edie gelächelt, doch dann bremste sie sich und sah schnell weg. O nein, das wirst du nicht tun. Nicht an diesem Tag.
»Ich geh kurz aufs Klo«, flüsterte Edie und floh.
Während sie ihre Hände wusch, dachte Edie mit wachsender Überzeugung, dass sie die Einladung nicht hätte annehmen sollen. Sie hatte jedes Für und Wider durchgespielt und dabei den wichtigsten Grund übersehen: Es war eine totale Zumutung.
Als die »Save the Date«-Mail in ihrem Postfach gelandet war, hatte der innere Kampf begonnen. Das Einfachste war, einen Urlaub vorzuschützen, doch in dem Fall musste sie schnell sein. Eine Buchung kurz nach der Einladung käme verdächtig rüber.
Wobei ihr – wie immer, wenn man tief in einem Sumpf steckte, in dem man nichts verloren hatte – nicht klar war, wie sehr man ihr das alles überhaupt anmerkte. Womöglich würde ihr Fehlen kaum auffallen, aber genauso gut war denkbar, dass ein blinkender Neonpfeil über ihrem Kopf aufploppte, der besagte: Hmm, Edie kommt nicht? Was mag nur der Grund sein?
Ihre Unentschlossenheit dauerte an, bis Charlotte sagte: »Edie, du kommst doch, oder? Zur Hochzeit? Ich hab noch keine Antwort von dir.« Sie standen vor dem Wasserspender, aus dem lauwarm die Brühe in knisternde Plastikbecher lief. Im Hintergrund schoss Jacks Kopf in die Höhe.
Edie lächelte verkniffen und sagte: »OnatürlichichfreumichsehrvielenDank.«
Sobald ihr Schicksal beschlossen war, ihrer eigenen Dummheit sei Dank, begann sie sich einzureden, dass ihre Anwesenheit auf der Hochzeit nicht nur strategisch klug wäre, sondern ihr auch guttun würde. Als ob es je eine gute Idee gewesen war, gesellige Zusammenkünfte anzugehen, als seien sie ein vom Personalchef initiierter Schlammgruben-Crosslauf zum Teambuilding.
Edie sagte sich, dass sie nichts, aber auch gar nichts fühlen würde, wenn das glückliche Paar die Ringe tauschte und ewige Treue gelobte. Ihre Gefühle würden einfach davonschweben wie ein Ballon, und endlich wäre unter diese ganze traurige Verwirrung ein Schlussstrich gezogen. Ha, na klar. Und wenn ihre Tante einen Schniedel hätte, dann wäre sie ihr Onkel.
Stattdessen fühlte sie sich wie benommen, angespannt und vollkommen fehl am Platz. Als der Alkohol zu fließen begann, drückte der Kummer bleischwer auf ihrer Brust.
Edie zog die Hände unter der Turbine des Handtrockners hervor. Eine ihrer falschen Wimpern hatte sich gelöst, und sie presste sie mit Daumen und Zeigefinger wieder fest.
Wenn sie ehrlich war, war es eine Frage des Stolzes gewesen. Sich dem hier zu entziehen wäre wie eine große rote Fahne gewesen, auf der stand: Ich pack das nicht. Ihr selbst gegenüber und auch den anderen.
Als sie sich im Toilettenspiegel betrachtete – ohne die Wunder wirkende Amaro-Wolke, mit zerlaufenem Make-up und alkoholinduzierten roten Striemen in den Augäpfeln –, verachtete sie sich. Was war nur los mit ihr? Wie in aller Welt war sie hierhergeraten? Niemand mit einem Fünkchen Verstand würde sich so in die Scheiße reiten.
Sie atmete tief ein, riss die Toilettentür auf und sagte sich: Ein paar Stunden noch, dann kann ich ins Bett gehen. Wenn sie Glück hatte, war Lucie mittlerweile fertig mit ihrem Lied.
Sie durchquerte die Bar, doch statt sich unerschrocken ins Restaurant zu begeben, zog es sie zu den Geräuschen, die aus dem Garten kamen, an die noch immer milde Abendluft.
Edie konnte ein wenig Einsamkeit ertragen, doch ihr war auch klar, dass sie nicht den Eindruck erwecken sollte, melancholisch durch den Garten zu streifen.
Ja, das Smartphone eignete sich für das Täuschungsmanöver; sie konnte vorgeben, ein Foto des Hotels zu machen. Niemandem fiel auf, dass man allein war, wenn man am Telefon herumfummelte.
Vorsichtig quälte sie sich in ihrem aggressiven Schuhwerk über den Rasen. Lucies Kampfeinsatz als Dschihadist schien beendet zu sein, By Your Side von Sade klang nun aus den offenen Türen des Restaurants.
Ein paar der kriminalistischen Rentnerinnen erlaubten sich eine heimliche Zigarette auf der Gartenbank. Es war ein schöner Anblick, und sie wünschte sich, dass sie ihn genießen könnte. Sie wünschte sich, dass die Glücksgefühle anderer Menschen nicht wie ein Scheuerschwamm auf ihrer Seele wirkten. Ab sofort würde es besser werden, sagte sie sich.
Sie war weit genug vom Hotel entfernt, um sich vom Geschehen zu distanzieren, wie eine Außenstehende betrachtete sie die Hochzeit aus der Ferne. Es machte sie ruhiger. Sie drehte das Smartphone und hielt es mit beiden Händen hoch, um das Hotel im Dämmerlicht einzufangen. Während sie mit dem Blitz hantierte, die Ergebnisse betrachtete und sich über ihre zittrigen Hände ärgerte, sah sie jemanden zielstrebig über den Rasen näher kommen. Sie senkte das Telefon.
Es war Jack. Sie hätte ihn früher erkennen sollen. War es wirklich die Aufgabe des Bräutigams, alle Gäste hineinzutreiben, damit sie dem ersten Tanz beiwohnten? Edie hatte es darauf angelegt, huch, rein zufällig und versehentlich dieses Vergnügen zu versäumen.
Als Jack sie erreichte, steckte er die Hände in seine Anzugtaschen. »Hallo, Edie.«
»… Hallo?«
»Was machst du denn hier draußen? Drinnen gibt es auch Toiletten, wenn du mal musst.«
Fast hätte Edie gelacht, doch sie verkniff es sich.
»Ich mach nur ein Foto vom Hotel. Es sieht erleuchtet so hübsch aus.«
Jack blickte über die Schulter, als wolle er ihre Aussage überprüfen. »Ich wollte hallo sagen und hab dich nirgends finden können. Ich hab mich schon gefragt, ob du dich mit jemandem verdrückt hast.«
»Mit wem?«
»Keine Ahnung. Stattdessen schleichst du allein herum und benimmst dich merkwürdig.«
Er lächelte auf seine liebe Art. Bis Edie Jack begegnet war, hatte sie immer geglaubt, dass es nur eine Redewendung war, wenn man davon sprach, dass jemand einem das Gefühl gab, die einzige Person im Raum zu sein.
»Ich benehme mich nicht merkwürdig!«, sagte Edie spitz. Sie merkte, wie ihr Blut in Wallung geriet.
»Wir müssen uns über den Elefanten unterhalten«, sagte Jack, und Edies Kehle zog sich zu.
»Was?«
»Diese Greueltat mit Pearl-Harbor-Ausmaßen, die dort drinnen verübt wurde.«
Der Schock ließ nach, und widerstrebend lachte Edie erleichtert auf. Wieder einmal hatte er sie rumgekriegt.
»Du bist fort, bevor die Brautjungfern ihr Badubadu einlegen mussten. O mein Gott, es war das Grauenhafteste, was mir je passiert ist. Und man bedenke, ich habe meinen Vater mal mit einem Playboy-Heft erwischt.«
Edie gluckste. »Was hat Charlotte dazu gesagt?«
»Erstaunlicherweise macht sie sich mehr Sorgen darüber, dass Onkel Morris Lucie mit seinen Kommentaren verärgert haben könnte. Offenbar leidet er unter einer ›niedrigen Hemmschwelle‹ aufgrund eines Frühstadiums von Demenz. Wobei das genau genommen sein Urteil nicht weniger treffend gemacht hat. Vielleicht ist es gar nicht er, der unter Demenz leidet.«
»O nein. Der arme Onkel Morris. Und arme Charlotte.«
»Verschwende dein Mitgefühl nicht an sie. Onkel Morris wird nur toleriert, weil er unverschämt reich ist und alle auf ein Stück vom Kuchen hoffen, wenn er rübermacht.«
»Ah«, sagte Edie und spürte nicht zum ersten Mal, dass sie sich nicht unter ihresgleichen befand. Sie hatte angenommen, dass wenigstens einer von ihresgleichen da sein würde, aber auch er erwies sich als einer »von denen«. Von jetzt an für immer.
»Ist schon verrückt, das Ganze«, sagte Jack und machte eine Handbewegung zum erleuchteten Hotel, aus dem Stimmengewirr herüberwehte. »Verheiratet. Ich.«
Edie irritierte es, dass er ihr nahelegte, in seine wehmütigen Betrachtungen dieser Sache einzustimmen. Jack hatte vor langer Zeit aufgehört, sie in seine Entscheidungsfindung mit einzubeziehen. Genau genommen war sie nie dabei gewesen.
»Deswegen bist du heute hier, Jack. Was hast du erwartet? Einen Grillabend? Den Geburtstag einer Katze? Eine Beschneidungszeremonie?«
»Haha. Du wirst nie aufhören zu schockieren, E.T.«
Auch das ärgerte Edie. Der unverheiratete Jack hatte sie nie schockierend gefunden, sondern interessant und lustig. Jetzt war sie plötzlich die nicht heiratsfähige, unmögliche Schrulle mit einer Neigung zu unanständigen Kommentaren. Die niemand nahm.
»Wie auch immer«, sagte Edie freundlich, aber entschlossen. »Es wird Zeit, dass wir wieder reingehen. Du darfst die teuerste Party, die du jemals schmeißen wirst, nicht verpassen.«
»Ach, Edie. Komm schon.«
»Was?«
Wieder wurde Edie nervös und fragte sich, warum sie hier gemeinsam in der Abenddämmerung standen, was das alles sollte. Sie verschränkte die Arme.
»Ich freu mich, dass du hier bist. Du glaubst gar nicht, wie sehr. Es gibt so gut wie niemanden, über den ich mich hier mehr freue.«
Von deiner Braut abgesehen?, dachte Edie, aber sie sprach es nicht aus.
»… Danke.«
Was sollte sie auch sonst sagen?
»Bitte, tu nicht so, als ob wir von nun an keine Freunde mehr sein können. Es hat sich nichts geändert.«
Edie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Wenn sie immer nur gute Freunde gewesen waren, dann hatte die Hochzeit selbstverständlich nichts daran geändert. Ihr wurde bewusst, dass sie Jack nie verstanden hatte, und das war ein Problem.
Während sie überlegte, was sie darauf erwidern sollte, sagte Jack: »Jetzt versteh ich. Du hältst mich für einen Feigling.«
»Wie bitte?«
»Ich mach Dinge, die nicht wirklich zu mir passen.«
»… Was meinst du?«
Edie war klar, dass das die falsche Frage war. Dieses Gespräch gehörte sich nicht. Es war abstoßend. Jack hatte eine andere geheiratet. Er sollte nicht im Dunkeln im Gebüsch stehen und zweideutige Sache zu einer Kollegin sagen. Hier war nichts und niemand mehr zu retten. Sie wusste seit einer Weile, dass er ein schlechter oder zumindest ein schwacher Mensch war, und sein jetziges Verhalten war ein weiterer Beleg dafür.
Doch es war verlockend, mit Jack über die Dinge zu sprechen, über die sie schon so lange hatte sprechen wollen.
»Manchmal weiß man einfach nicht, was man tun soll. Verstehst du?« Jack schüttelte den Kopf, atmete schwer aus und scharrte mit der Spitze seines Paul-Smith-Schuhs im Gras.
»Nicht ganz. Beim Heiraten geht es ziemlich klar um ja oder nein. Dafür gibt es das Ehegelübde.«
»Das meinte ich nicht. Charlie ist großartig, klar. Ich meine, das alles. Der Rummel. Ach, ich weiß nicht …«
Edie merkte, dass er wesentlich betrunkener war, als sie anfangs gedacht hatte.
»Was erwartest du von mir?«, fragte Edie mit möglichst emotionsloser Stimme.
»Edie! Hör auf, so zu sein. Ich versuche dir zu sagen, dass du mir nicht egal bist. Ich habe das Gefühl, das ist dir nicht klar.«
Darauf hatte Edie keine Antwort parat, und in der Pause, in der ihre Antwort hätte erfolgen sollen, murmelte Jack »O Gott«, trat auf sie zu, beugte sich herab und küsste sie.
Sie schwankte beinahe vor Überraschung, als sie die sanfte Berührung seines frisch rasierten Kinns spürte und den Druck seiner warmen, bierfeuchten Lippen auf den ihren. Die Nachricht, dass Jack sie küsste, war so ungeheuerlich, dass sie nicht auf einen Rutsch in ihr Großhirn vordrang. Schritt für Schritt stellte sich die ganze Bedeutung ein.
Jack küsst dich. Auf seiner eigenen Hochzeit. Das ist unmöglich! Erste Meldungen aber verlauten, dass es tatsächlich passiert.
Wird das hier mehr als nur ein oberflächliches Küsschen? Ist es ein Missverständnis? Wollte er eigentlich deine Wange treffen und hat danebengezielt?
Okay, das hier ist ohne Zweifel ein richtiger Kuss. Aber was zum Teufel tut er da?
Und was zum Teufel tust du da? Es scheint fast so, als würdest du den Kuss erwidern. Willst du das wirklich? Handlungsempfehlung wird erbeten.
Handlungsempfehlung. Bitte kommen.
Die Sekunden zogen sich eine Ewigkeit hin. Sie hatten sich geküsst. Endlich erkannte Edie die Ungeheuerlichkeit ihrer Lage und ihrer eigenen Rolle darin und wich zurück.
Rechts von sich nahm sie eine Bewegung wahr, und sie bemerkte Charlotte, deren weißes Kleid in der zunehmenden Dunkelheit leuchtete wie ein bloßgelegter Knochen. Jack wandte sich um und entdeckte sie ebenfalls. Für den winzigen Augenblick, in dem sie sich einfach nur ansahen, gaben sie ein groteskes Bild ab. Es war wie der Anblick des Blitzes, auf den der Donner erst Sekunden später folgt.
»Charlotte …« Jack wurde von einem Schrei unterbrochen, genauer gesagt war es ein tiefes Heulen, das der frisch vermählten Miss Marshall entwich. »Oh, Charlotte, nein, das ist nicht …«
»Du verdammtes Arschloch! Du verfickt-verdammter Arsch! Wie kannst du mir so was antun? Wie zum Teufel konntest du das tun? Ich hasse dich! Du mieser …« Charlotte stürzte sich auf ihn und begann auf ihn einzuschlagen und zu prügeln, während Jack versuchte, ihre Handgelenke zu fassen.
Ausdruckslos beobachtete Edie die Szene und hatte plötzlich den dringenden Wunsch sich zu übergeben.
Louis hatte zu einem früheren Zeitpunkt des Tages seiner Abscheu darüber Ausdruck verliehen, wenn Bräute sich mit organisatorischen Aufgaben beschäftigten. Wie auf Sternenstaub sollten sie durch diesen Tag schweben, jegliche Arbeit war profan und schäbig. »Man will die Primaballerina auch nicht schwitzen sehen.« Edie fand, es klang, als habe Louis eine Frauenzeitschrift verschluckt.
Dennoch hatte es etwas beinahe Anstößiges, jemanden in einem so femininen, glamourösen Gewand im Volldampf beim Ausrasten zu beobachten. Da stand sie mit ihrer Hochsteckfrisur, zart schillerte das Schlüsselbein, das Prinzessinnenkleid raschelte, und attackierte ihren frischgebackenen Ehemann mit manikürten Händen – an einer glänzten der Verlobungsklunker und der neue weißgoldene Ehering.
»Es war nicht, wonach es aussah!«, hörte Edie sich sagen, als wäre sie ein Fremder. Es sah aus wie das, was es war.
Kurz hielt Charlotte in ihrem Gerangel mit Jack inne und fauchte, das sorgfältig geschminkte Gesicht wütend verzerrt: »Fahr zur Hölle miese Hure.« Diese Feststellung besaß kein Komma und kein Ausrufezeichen, es war reine Gewissheit.
Edie glaubte nicht, dass sie Charlotte jemals zuvor hatte fluchen hören. Ihr wurde bewusst, dass sie an Ort und Stelle geblieben war, weil sie irrtümlich davon ausgegangen war, sie würde sonst schuldig wirken, und dass sie bleiben und die Sache aufklären sollte.
Als ihr die Idiotie dieser Idee klarwurde, setzte sie sich endlich in Bewegung. Sie stürmte zum Hotel, wo die ersten Gäste neugierig und irritiert zu den Stimmen starrten, die über den Rasen herüberklangen.
Okay, eins nach dem anderen. Edie musste sich dringend übergeben. Nicht in den öffentlichen Toiletten, das war zu auffällig. Sie musste hinauf in ihr Zimmer.
Zitternd kramte sie den Zimmerschlüssel mit der Metallkugel aus der Handtasche und machte rasch einen Bogen zum Haupteingang. Auf diese Weise würde sie weniger Menschen begegnen.
In diesem Moment war ihre einzige Sorge, wie sie das Hühnchen, das sich gerade zur Wiederkehr ankündigte, in ein passendes Behältnis befördern könnte. Sie wusste, dass danach eine schreckliche, furchtbare, düstere Zukunft auf sie lauern würde. Immer der Reihe nach.
Als sie die Treppen hinaufstürmte, über den ruhigen Korridor, schien es Edie undenkbar, dass die Zeit immer noch stur geradlinig verging und dieses andere Universum unerbittliche Wirklichkeit war. Dass es unmöglich war, eine magische Uhr zu knacken, die Zeiger zurückzudrehen und diese ganze entsetzliche Geschichte aufzuhalten. Dass Edie ihren Entschluss, im Garten spazieren zu gehen, nicht rückgängig machen konnte. Sie konnte es nicht wie einen alten Videofilm zurückspulen und Jack eine andere Antwort geben, davonstapfen, sobald er anfing, rätselhafte, bedeutungsschwangere Sätze von sich zu geben. Oder einfach nur an einer Stelle stehen, von der aus sie Charlotte hätte kommen sehen, die mit dem Hochzeitskleid in der Hand auf der Suche nach Jack war und sich fragte, wo er blieb, weil es Zeit war, die Torte anzuschneiden.
Nein. Edie war die Frau, die den Bräutigam am Tag seiner Hochzeit geküsst hatte, und es gab keine Möglichkeit, die Geschichte zurückzudrehen. Wenn sie jetzt eine Zeitmaschine hätte, würde noch nicht einmal das Hitler-Attentat an erster Stelle der dringend zu erledigenden Aufgaben stehen.
Sie stürzte in das leere Hotelzimmer, und die Unordnung dort erinnerte sie daran, dass es erst vor kurzer Zeit Schauplatz unschuldigen Haarerichtens und Ganzkörperspiegelprüfungen und Tee-mit-H-Milch-Machens gewesen war. Sie verschloss die Tür und rüttelte am Griff, um sicherzugehen, dass sie in Sicherheit war. Dann schüttelte sie die Schuhe ab.
Sie schaffte es bis zum Klo, hielt sich das Haar aus dem Gesicht und würgte, ein Mal, zwei Mal, drei Mal, dann richtete sie sich auf und wischte sich den Mund ab. Auge in Auge mit ihrem Spiegelbild, die Arme auf das Waschbecken gestützt, konnte sie ihren Anblick kaum ertragen. Nun begann das Feilschen.
Charlotte musste klar sein, dass Jack ihr in den Garten gefolgt war, oder? Dass er sie geküsst hatte? Doch dieses Argument konnte sie nicht anführen. Es war Jacks Sache, das zu erklären.
Edie dachte darüber nach, was die Leute sagen würden. Sie musste weg. Jetzt. Sie versuchte sich zu sammeln und sah auf die Uhr. 21 Uhr 14. War es zu spät, um noch einen Zug zu erwischen? Könnte sie ein Taxi nehmen? Bis nach London? Ohne Vorankündigung? Das wäre irrsinnig teuer. Trotzdem, sie wäre bereit, das zu bezahlen. Aber sie müsste mit ihrem Gepäck an der Rezeption vorbei, ein Spießrutenlauf sondergleichen.
Es gab nur einen Ausweg: abtauchen. Sich verbarrikadieren.
Das ganze Ausmaß dessen, was geschehen war, toste in Wogen immer wieder aufs Neue heran. Die Musik hallte von unten herauf, die blechernen Synthesizergluckser in Madonnas Hung Up schienen Edies Zwangslage zu verhöhnen. Time goes by, so slowly.
Das hier war ein Horrorfilm, in dem das spritzende Blut und die Schreie ironisch von den Lachern aus der Sitcom untermalt wurden, die das ahnungslose Opfer gerade angesehen hatte.
Edie rang die Hände und knirschte mit den Zähnen und lief im Zimmer auf und ab. Sie spielte mit dem Gedanken, hinunterzugehen, den Leuten entgegenzutreten und zu rufen: »Er war’s!« Doch sie wusste, dass nichts das Schandmal, mit dem sie jetzt gezeichnet war, auslöschen konnte.
Als sie aus dem Fenster zu sehen wagte, war der Garten gespenstisch leer.
Es war unmöglich, nicht online zu gehen, so sehnlichst sie dem Drang auch widerstehen wollte. Sie saß auf dem Himmelbett und starrte grimmig auf den erleuchteten Bildschirm. Jedes Mal wenn sie irgendwohin klickte, fürchtete sie, sich gleich wieder zu übergeben. Bislang war da nichts.
Die Ruhe vor dem Sturm. Es gab getaggte Fotos davon, wie sie vor den Altar traten, lächelten, wie sie unterschrieben, Charlotte, wie sie sagte: »Champagner für meine Nerven!« mit haufenweise Likes. Was würden die Leute sagen? Was ging dort unten vor sich?
»Edie? Edie!« Als jemand plötzlich mit der Faust an die Tür hämmerte, sprang ihr das Herz geradewegs aus der Brust, genau wie bei Bugs Bunny.
»Edie, ich bin’s, Louis. Lass mich rein.«
Erst da fiel Edie auf, dass die Musik nicht mehr spielte.