Waris Dirie
Brief an meine Mutter
Knaur e-books
© 2017 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2017 Knaur Verlag
© 2007 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Aufgezeichnet von Dr. Christian Nusser und Barbara Rieger
Text und Recherche: Daniel Winkler und Joanna Jasik
Fotos im Innenteil: Walter Lutschinger/Desert Flower Foundation 2017
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Matthias Bothor/Photoselection
ISBN 978-3-426-44117-6
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Das Maputo-Protokoll wurde 2003 in der Hauptstadt Mosambiks verabschiedet und beinhaltet neben der Ächtung der Genitalverstümmelung weitreichende Frauenrechte. In dem Protokoll sind die Regierungen aufgerufen, in der Öffentlichkeit ein größeres Bewusstsein für die schädlichen Folgen der Beschneidung zu schaffen. Zudem wird gefordert, FGM als Straftat einzustufen und gesetzlich zu ahnden und beschnittenen Mädchen und Frauen zu helfen beziehungsweise sie vor einem Eingriff zu schützen. Das Protokoll kann erst in Kraft treten, wenn es von fünfzehn Ländern ratifiziert wird. Bislang haben dies nur zehn getan.
Manchmal frage ich mich: Ist das alles wirklich passiert? Oder bin ich nur gerade eben aufgewacht aus einem langen und düsteren Traum?
Wenn ich mich dann in meinem Sessel zurücklehne und die Augen schließe, tauchen die Bilder jener intensiven gemeinsamen Wochen vor mir auf. Ich habe meine Mutter zum ersten Mal seit zehn Jahren wiedergesehen. Ich habe sie aus Afrika zu Ärzten nach Wien geholt, weil sie sehr krank war, an Bauchkrämpfen litt, deren Ursache niemand feststellen konnte. Ich habe ihr mein Wien gezeigt und versucht, mich mit ihr auszusprechen. Alles endete, wie ich es mir in meinen schlimmsten Träumen nicht hätte ausmalen können.
Als meine Mutter abgereist war, fühlte ich mich ausgebrannt und leer. Ich wusste nicht, wohin mit meinen Gefühlen – meiner Trauer, meiner Wut, meinem Schmerz. Eine günstige Fügung führte mich schließlich nach Südafrika. Ich kaufte mir dort ein kleines Haus, und allmählich reifte in mir der Entschluss, die Erlebnisse der letzten Monate aufzuschreiben, um zu verstehen, was geschehen war, und um den Weg zurück zu meiner Mutter zu finden. Ich musste mir meinen Kummer von der Seele schreiben.
Es entstand das intimste Buch, das ich je verfasst habe, ein langer Brief an meine Mutter. Ich teile ihr darin alles mit, was ich in Wien nicht sagen konnte, Dinge, die ich bisher noch niemandem anvertraut habe. Er ist keine Anklage. Er ist auch für mich mehr als eine seelische Reinigung. Er ist eine Liebeserklärung. Die Liebeserklärung einer Tochter an ihre Mutter.
Waris Dirie
Liebe Mama,
ich trage dieses Bild bei mir, wo immer ich auch bin. Es zeigt dich in der somalischen Wüste. Du hast ein weites afrikanisches Kleid an, das bis zum Boden reicht. Es ist bunt und grell, zeigt alle Farben der Welt. Um deinen Hals baumeln unzählige Ketten aus Gold, die Finger sind voll mit Ringen. Ich weiß, dass du es so magst. Du siehst stolz aus und erhaben, dein Gesicht ist glatt wie das eines Mädchens. Dein Blick ist unergründlich wie die See, und vielleicht ist es auch das, was ich an dem Bild am meisten liebe.
Als wir uns vor einigen Monaten in Wien das letzte Mal sahen, hatten wir einen riesigen Streit. Wir haben beide geschrien, getobt und geweint vor lauter Wut, Enttäuschung und auch aus Schmerz. Wir haben uns Worte an den Kopf geworfen, die besser ungesagt geblieben wären. Wir sind schließlich auseinandergegangen wie zwei Streithähne, ermattet nach einem stundenlangen Kampf.
Ich sitze nun hier in meinem kleinen Häuschen in Südafrika, das zu meinem neuen Refugium geworden ist. Dein Bild steht vor mir auf dem Schreibtisch, und ich kann deinem Blick nur selten entgehen. Ich schaue auf das Meer hinaus, auf die Wellen, auf die kleinen Fischerboote, die vor der Küste treiben. Es ist später Nachmittag. Die Sonne zeigt sich glutrot und ist am Horizont schon halb ins Meer abgetaucht. Sie geht hier in Afrika anders unter als in Europa, unsagbar langsam.
Ich habe nicht viel geschlafen die letzten Nächte. Ich war aufgewühlt und durcheinander. Ein Feuer loderte in mir. Ich suchte nach einer Möglichkeit, dir nahezukommen, aber mir fiel nichts ein. Ich wälzte mich im Bett hin und her. Ich habe dir noch so viel zu sagen, aber ich weiß nicht, wie. Ich muss dir einiges beichten, aber ich finde keinen Weg. Die Wahrheit ist oft wie eine Rose. Wer nach ihr greift, muss damit rechnen, gestochen zu werden. Es tut weh, unsagbar weh, dass ich mir eingestehen muss: »Waris, du hast in deinem Leben viel geschafft, aber ein Ziel nie erreicht: in das Herz deiner Mutter zu gelangen.«
Ich wollte immer, dass du stolz auf mich bist, dass du daheim erzählst von deiner Tochter in der fremden Welt. Dass du dabei Bewunderung empfindest für die starrköpfige, dickköpfige, trotzköpfige Waris, die sich durchgeboxt hat in ihrem neuen Leben. Ich weiß: Vieles von dem, was ich tue und sage, verstehst du nicht oder kannst du nicht gutheißen, weil dir deine Tradition etwas anderes vorschreibt. Du lebst im alten Afrika, gefangen in all seinen Riten und Sitten. Ich trage mein Afrika in mir. Es ist ein modernes Afrika, eine kraftvolle Mischung aus Tradition und Erneuerung. Liebe Mama, alles, was ich von dir möchte, ist, dass du versuchst, mich zu verstehen.
Wenn man das, was im Leben scheinbar wichtig ist, mit der Hand einfach wegschieben könnte, was bliebe dennoch immer so, wie es war? Die Liebe einer Tochter zu ihrer Mutter. Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Nichts auf der Welt ist so stark wie dieses Band.
Es sind sehr intime Zeilen, Mama. Vieles von dem, was ich dir schreibe, habe ich noch nie jemandem erzählt. Nicht einmal meinen besten Freunden. Mehr als einmal musste ich mich überwinden, dir die nackte Wahrheit zu schildern. Aber die Zeit ist gekommen, um Zeugnis abzulegen. Die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit.
Ich will, dass du verstehst, warum ich so bin, wie ich bin. Vielleicht schaffe ich es so, dir nahezukommen.
Wir sind Mutter und Tochter, blutsverwandt, aber doch grundverschieden. Wir sind Tausende Kilometer voneinander getrennt, aber unsere Ansichten liegen oft so weit voneinander entfernt, als würden wir auf unterschiedlichen Planeten leben. Ich habe oft die Hand zur Versöhnung ausgestreckt, aber du hast sie immer ausgeschlagen. Egal, ob wir über Religion, Tradition, Familie gesprochen haben – wir fanden nie zueinander. Da war kein Verständnis für die Sichtweise der anderen. Dabei wünsche ich mir nichts sehnlicher in meinem Leben, als von dir verstanden zu werden.
Ich bin und bleibe Waris, deine Wüstenblume. Geboren in deinem Schoß in der Wüste Somalias, halb totgeprügelt vom jähzornigen Vater, genital verstümmelt einer grausigen Tradition wegen. Ich lief weg mit nichts als den Kleidern auf dem Leib. Eine gnädige Welle spülte mich nach London, eine günstige Woge trug mich nach oben. Aus Waris, der Wüstenblume, wurde Waris, das Topmodel, die UN-Sonderbotschafterin, die Kämpferin gegen das Unrecht der Genitalverstümmelung, die Erfolgsautorin. Viele Millionen Menschen haben die Bücher über mein Leben gelesen.
Aber, Mama, das ist nicht die ganze Geschichte. Denn seit vielen Jahren trage ich ein Geheimnis in mir. Ich habe noch nie darüber gesprochen. Nach außen hin bin ich die starke Waris, die Kämpfernatur, immer schön, immer lächelnd. Innen aber bin ich verletzlich, unsicher, nach wie vor fremd in dieser großen, bunten Welt. Schuld daran ist ein Dämon, der über meinem Leben schwebt. Manchmal glaube ich, dass er verschwunden ist oder dass ich ihn besiegt habe. Aber dann taucht er plötzlich wieder auf, und das mit einer Wucht und Brutalität, dass es mich umreißt und in die Dunkelheit zerrt.
Dieser Dämon hat die Befehlsgewalt über mein Leben. Er bestimmt, was ich fühle, was ich im Leben schaffe, ob es mir gut geht oder schlecht. Vielleicht kannst du mir helfen, ihn zu besiegen, Mama. Gemeinsam sind wir stark, Mutter und Tochter.
Mama, mit diesem Brief trete ich vor dich hin und bitte dich um deine Hilfe und um deine Liebe.
Deine Waris, deine Wüstenblume, deine Tochter.
Es war unverkennbar Herbst geworden in Wien. Der Wind wehte die Blätter von den Bäumen, und das Laub am Boden bot ein spektakuläres Farbenspiel in allen erdenklichen Braun- und Rottönen. Zwischen den Blättern lugten immer wieder Kastanien hervor. Der Sommer war heiß und trocken gewesen. Jetzt hatten der erste Regen und der kühle Wind die Natur in Aufregung versetzt. Man hatte den Eindruck, als wollten sich Tiere und Pflanzen noch schnell für den Winter wappnen. Wer durch die Stadt strich, sah Eichhörnchen hektisch Futter sammeln und von Baum zu Baum huschen.
Am Himmel zogen die Wolken rasch vorbei. Licht und Schatten wechselten in rascher Folge. Wenn die Sonnenstrahlen durchbrachen, dann war es anheimelnd und warm, wurden sie durch Wolken verdeckt, dann spürte man den kalten Hauch des kommenden Winters. Unverkennbar focht der Sommer seinen letzten Kampf aus, in wenigen Tagen schon würde er ermattet aufgeben und dem Herbst unwiderruflich das Feld überlassen.
Es war Ende Oktober geworden, und ich spazierte durch Wien, meine neue Heimat. Halb hatte mich der Zufall, halb das Schicksal hierherverschlagen. Ich war vor einem Mann, der mich hartnäckig verfolgte und bedrohte, nach Wien geflüchtet. Ich hatte mir eine kleine Wohnung genommen und war glücklich, angekommen zu sein. Aber in mir brannte die Frage: »Werde ich hier endlich Wurzeln schlagen können? Wird Wien meine neue Heimat? Für wie lange? Vielleicht für immer?«
Es war aufregend und beglückend zugleich, durch die Straßen der Stadt zu gehen und dem geschäftigen Treiben zuzusehen. Vor mir sah ich eines dieser typischen Wiener Kaffeehäuser. Ich beschloss, mir eine Tasse Tee zu gönnen. Es ging mir so gut wie schon lange nicht mehr in meinem Leben. Ich hatte das Gefühl, endlich mit mir im Reinen zu sein. Das vergangene Jahr war hart gewesen, und ich war mehr als einmal am Ende meiner Kräfte angelangt. Aber dann schaffte ich es doch, diese schwerste Prüfung meines Lebens zu meistern, und aus diesem Triumph zog ich unendlich viel Mut, Selbstvertrauen und Energie. Ich fühlte mich wie ein Marathonläufer beim Zieleinlauf. In den Beinen steckte noch die Anstrengung von zweiundvierzig gelaufenen Kilometern, aber in der Seele breitete sich nach und nach das wohlige Gefühl aus: Geschafft!
Jahrelang hatte ich etwas in mir getragen, über das ich mit keiner Menschenseele sprechen konnte – oder wollte. Als Kind war ich auf grausame Weise genital verstümmelt worden, weil es die Tradition in meiner Heimat Somalia so verlangte. Bis ans Ende meiner Tage werde ich wohl an den Folgen dieser Verstümmelung zu leiden haben. Ich habe häufig Schmerzen, manchmal so stark, dass ich weder ein noch aus weiß. Aber nicht nur mein Körper schrie, auch meine Seele brüllte, seit ich ein Kind war. Diesen Schmerz, diese Demütigung musste ich ertragen, ohne mich jemandem anvertrauen zu können.
Eines Tages entschied ich, nicht mehr davonzulaufen: »Waris«, sagte ich zu mir, »du musst dich deinem Schicksal stellen. Du bist kein Baby mehr, das glaubt, es genüge, die Augen zu schließen, und sofort würde alles gut werden.«
Ich beschloss, über Genitalverstümmelung zu sprechen, ganz offen. Ich schrieb ein Buch über mein eigenes Schicksal und über das Schicksal von genital verstümmelten Mädchen in Europa: Schmerzenskinder. Das Buch wurde ein Bestseller, Tausende Menschen lasen es. Für viele war neu, was hier geschildert wurde, und sie konnten es kaum glauben. Andere wiederum erkannten sich und ihr Schicksal wieder.
Ich wusste anfangs nicht, welche Lawine ich mit meinem Buch lostreten sollte. Noch nie zuvor hatte jemand offen darüber gesprochen, welches Leid mitten unter uns angerichtet wird. Genitalverstümmelung – das kannte man höchstens aus Abenteuerfilmen über Afrika. Und dann stellt sich jemand wie ich plötzlich hin und widerspricht: »Nein, das passiert nicht nur Tausende Kilometer entfernt, sondern auch mitten in Europa, mitten unter uns. Mädchen werden Teile der Klitoris weggeschnitten, man näht ihnen die Vagina fast ganz zu. Meist verwendet man eine Rasierklinge zum Schneiden, eine Betäubung gibt es nicht.«
Zeitungen, Zeitschriften, Radio, Fernsehen, Internet – ich gab Interviews, hielt Vorträge, wurde zu Konferenzen eingeladen. Ich wurde geehrt und mit Auszeichnungen bedacht. Ich traf viele interessante, mächtige und bedeutende Menschen aus aller Welt, vom ehemaligen Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, bis zur Musiklegende Paul McCartney, vom früheren UN-Generalsekretär Kofi Annan bis zum Bestsellerautor Paulo Coelho. Sie alle begannen, mich in meinem Kampf zu unterstützen, einige wurden zu Freunden.
Ich arbeitete bis an den Rand der Erschöpfung, aber ich machte es gern. Vielleicht war es auch das Gefühl, erstmals in meinem Leben etwas Bedeutendes, Wichtiges für andere tun zu können, das mich so lange durchhalten ließ.
Doch niemand konnte sehen, wie es in mir drinnen aussah. Ich sprach ja nicht allein über Schicksale anderer, ich erzählte auch von meinem eigenen Leben, was mir zugestoßen war. Ich öffnete vor aller Welt meine Seele.
Die Konfrontation mit meiner eigenen Vergangenheit traf mich mit einer Wucht, auf die ich nicht vorbereitet war und der ich mich auch schutzlos ausgeliefert sah. Ich stand da wie nackt vor einem Spiegel. Er zeigte eine Frau, die jahrelang eine Burg um sich gebaut hatte, um dann plötzlich feststellen zu müssen, dass das Mauerwerk zu bröckeln beginnt.
Es dauerte lange, bis ich mich wiedergefunden hatte. Als es mir elend ging, fragte ich mich oft, ob es denn richtig und sinnvoll gewesen war, die Pforte zur Vergangenheit zu öffnen. Heute weiß ich, dass diese Zeit wie ein reinigendes Gewitter für meine Seele war. Wenn man in der Wüste auf einen Geparden trifft, ist es wenig sinnvoll, davonzulaufen. Seine Beine sind schneller, irgendwann holt er dich ein. So ist es auch im Leben. Sich dem Schicksal nicht zu stellen heißt, es aus der Hand zu geben.
Liebe Mama,
ich habe einen Mann getroffen, der mir neue Kraft gab. Schicksale verbinden. Der Mann hat jahrelang einen aussichtslosen Kampf gegen einen übermächtigen Feind geführt. Er hat diesen Kampf schließlich gewonnen, weil er stets der Überzeugung war, das Richtige zu tun, auf der richtigen Seite zu stehen. Er hat Risiken in Kauf genommen, Entbehrungen ertragen und wurde dafür mit der höchsten Auszeichnung belohnt, welche die Menschheit zu vergeben hat: dem Friedensnobelpreis.
Ich war Ehrengast einer Gala der UNICEF in Düsseldorf in Deutschland. Seit einigen Jahren bin ich Ehrenbotschafterin von UNICEF, der Kinderhilfsorganisation der UNO, die auf der ganzen Welt viel Gutes für Kinder tut.
Am Vorabend der Gala traf ich einen Mann, der meine Stimmung aufhellte: Lech Walesa. Er war Führer der Solidarność in Polen, einer Gewerkschaftsbewegung, die Geschichte schrieb. Lech Walesa und seiner Bewegung ist es zu verdanken, dass heute Millionen Menschen in Frieden und Freiheit leben können. Als Führer seiner Gewerkschaft hat er sich eines Tages gegen die herrschenden Machthaber, die Kommunisten, aufgelehnt. Er wurde zunächst nicht ernst genommen, dann angefeindet, schließlich bedroht – aber immer mehr Menschen folgten seinem Beispiel. Erst Hunderte, dann Tausende. Schließlich wurden die Kommunisten in Polen zum Teufel gejagt und wenig später in einigen Nachbarländern ebenso.
Ein einzelner Mensch hat das möglich gemacht.
Ich wurde Lech Walesa am Vortag der Gala vorgestellt. Wir waren uns sofort sympathisch und beschlossen, am nächsten Abend Tischnachbarn zu sein.
Lech Walesa erzählte mir, dass seine Frau und er meine Bücher gelesen haben. »Überall in Polen wissen die Menschen, was du geschrieben hast, Waris. Du bist bei uns sehr bekannt, fast wie ein Popstar. Mädchen, du hast eine Mission, und du wirst deine Ziele erreichen! Ich weiß, wovon ich spreche.«
Und dann erzählte mir dieser kraftvolle Mann seine Geschichte, die so unglaublich viel Mut macht. Auf den ersten Blick klang alles so einfach und logisch. Fast wie eine Erzählung aus dem Märchenbuch, mit einem Happy End. Heute denke ich: Was muss Lech Walesa für einen ungeheuren Willen und Lebensmut gehabt haben, um das alles durchzustehen.
»Als ich einst meinen Kampf als einfacher Elektriker und Gewerkschaftsmitglied in der Werft von Danzig begonnen habe, wusste ich, dass ich damit das Ende der kommunistischen Diktatoren einleiten werde«, sagte er. »Man hat meine Familie bedroht und mich eingesperrt, aber ich war stärker, weil ich an meine Aufgabe geglaubt habe und wusste, dass mich Gott dabei unterstützt.«
Meine Wangen begannen zu glühen.
»In meinem Land sind Tausende von Menschen einfach verschwunden, von den kommunistischen Machthabern eingesperrt, gefoltert und umgebracht worden. Die freie Meinungsäußerung war verboten. Die Menschen lebten in Angst.«
Dann beugte sich Lech Walesa zu mir, fast so, wie es Kinder tun, wenn sie ein Geheimnis weitersagen wollen.
»Ich weiß, Waris, dass du mit deiner Mission, deinem persönlichen Kampf gegen Genitalverstümmelung erfolgreich sein wirst, dass du diesem schrecklichen Unrecht und dem Leid, das Millionen von Mädchen angetan wird, ein Ende setzen wirst. Du bist sehr stark, und du wirst deinen Kampf gewinnen! Wer sich berufen fühlt, gibt niemals auf und kann alles schaffen.«
Von diesem Augenblick an, Mama, waren alle Zweifel wie weggeblasen. Von da an war ich felsenfest überzeugt davon, dass mein Kampf gegen Genitalverstümmelung richtig und wichtig ist. Wann immer mich der Mut verlässt, denke ich seither an Lech Walesa, seinen Kampf und seinen Sieg. Das verleiht mir Flügel.
Im Kaffeehaus herrschte hektisches Treiben. Ich ergatterte nur durch Zufall einen winzigen Tisch in der Ecke, aber von hier aus hatte ich wenigstens einen guten Überblick. Ich liebe es, Menschen zu beobachten.
Die letzten warmen Sonnenstrahlen ermunterten die Ober, Tische und Stühle, die sie schon eingewintert hatten, noch einmal ins Freie zu tragen. Pausenlos strömten neue Gäste ins Kaffeehaus. Ich hörte das Klirren von Geschirr, die Geräusche von eifrigem Geschwätz, hier und da ein Fluchen, weil etwas im Wege stand.
Das also war jetzt meine neue Heimat. Kaffeehaustisch statt Wüstensand; Jahreszeiten statt Hitze das ganze Jahr über; Freiheit statt Sitten und Regeln; Frieden statt Bürgerkrieg; Verstand statt Bauchgefühl; Fortschritt statt Tradition; Europa statt Afrika. Werde ich mich hier jemals heimisch fühlen? Und wenn ja, wie lange? Ein Jahr? Ein Jahrzehnt? Mein Leben lang?
Heimat – wo ist das überhaupt für mich?
Somalia, wo ich herkomme?
London, wohin ich flüchtete?
New York, wo mein Sohn lebt?
Cardiff, wo ich zuletzt wohnte?
Wien, wo ich jetzt zu Hause bin?
Es sagt sich so leicht: »Ich bin überall zu Hause, die Welt ist meine Heimat.« In Wahrheit stimmt das nicht. Jeder Baum braucht Wurzeln.
Ich schloss kurz die Augen. Ein Gefühl der Heimatlosigkeit breitete sich in mir aus. Ich kämpfte mit den Tränen, biss mir auf die Lippen.
»Waris«, schalt ich mich, »eben noch warst du himmelhoch jauchzend, jetzt bist du zu Tode betrübt.«
Ich musste an den ehemaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton denken. Ich traf ihn, als ich Ehrengast eines großen Kongresses in Prag war. Der tschechische Ministerpräsident Václav Havel, den ich früher schon kennenlernen durfte, hatte mich eingeladen. Wir aßen gemeinsam mit Bill Clinton zu Abend. Ich erzählte von meiner Arbeit, und alle hörten aufmerksam zu. Jeder war überzeugt, dass man gegen Genitalverstümmelung mehr tun müsse. Bill Clinton machte dabei auf mich einen so ganz anderen Eindruck als viele Staatschefs, die ich sonst kennenlernen durfte. Er war unterhaltsam, witzig, zeigte echtes Interesse an Menschen und ihren Geschichten.
Nach dem Essen brachte man mich in mein Hotel. Ich war ziemlich aufgekratzt, immerhin isst man nicht jeden Abend mit dem amerikanischen Präsidenten. Doch das war es nicht, was mich hauptsächlich beschäftigte, sondern mir ging eine Frage, die mir an diesem Abend gestellt wurde, nicht aus dem Kopf:
»Wie sehen Sie sich eigentlich, Frau Dirie? Fühlen Sie sich als Amerikanerin, als Engländerin, als Österreicherin, als Afrikanerin, als Somalierin?«
Ich wich der Frage wie immer aus und antwortete schlagfertig: »Wissen Sie, ich bin Kosmopolitin. Ich bin überall zu Hause. Sie kennen doch sicher das Lied: ›Papa was a Rolling Stone, wherever he laid his hat was his home.‹«
Alle lachten, und ich lachte mit. Aber ich brauchte alle Kraft der Welt dazu, denn im Inneren war mir gar nicht fröhlich zumute.
»Wohin gehöre ich?«
»Wo möchte ich leben?«
»Wo ist mein Zuhause?«
In Wahrheit kann ich keine Antwort auf diese Fragen geben.
Ich bin eine Nomadin. Aber ich ziehe nicht aus freien Stücken durch die Welt.
Mama,
wenn ich in Europa oder den USA bin, träume ich davon, nach Afrika zurückzukehren und in Afrika zu leben. Ich sehne mich nach meiner Kindheit, nach den unendlichen Weiten der Wüste, dem klaren Sternenhimmel in der Nacht, den Farben und Gerüchen. Wenn ich allein in meinem Bett liege, dann habe ich manchmal das Gefühl, dass es mir mein Herz zerreißt vor lauter Heimweh.
Mama, aber wenn ich in Afrika bin, dann sehne ich mich wieder nach meinen europäischen Freunden, nach meinem Sohn Aleeke und dem Leben in Europa. So geht es mir auch jetzt. Ich bin und bleibe eine Nomadin.
Mama, wenn ich mir die Frage stelle, wo ich eigentlich zu Hause bin, dann fällt mir nichts ein, dann entsteht in mir eine große Leere, ein großes schwarzes Loch. So gern würde ich diese beiden Welten für mich miteinander verbinden, aber es gelingt mir nicht. Ich fühle mich oft heimatlos und entwurzelt.
Als ich mit meiner Kampagne gegen Genitalverstümmelung begann, da gab es viele afrikanische Frauen und Männer, die mir vorwarfen, unsere Tradition, unsere Kultur zu verraten. Das hat mich unglaublich getroffen, denn das ist das Letzte, was ich möchte.
Ich will unsere Heimat nicht verraten! Ich will nicht als Verräterin gelten! Ich will, dass Afrika ein sicherer Platz für Kinder wird, dass Mädchen nicht mehr genital verstümmelt und seelisch traumatisiert werden. Sie sollen nicht erleiden, was ich erlitten habe.
Ich habe viel geweint in dieser Nacht in Prag, Mama. Ich konnte nicht mehr einschlafen, ich habe mit der Fernbedienung des Fernsehers gespielt, ich habe ständig zwischen allen Programmen hin und her geschaltet, um etwas zu finden, was mich ablenkt, mich abbringt von meinen düsteren Gedanken. Dann habe ich mich an den Schreibtisch gesetzt und versucht, meine Gefühle in Worte zu fassen, aber dann doch nur irgendwelche sinnlosen Zeilen gekritzelt. Ich stand am Fenster und schaute auf das Lichtermeer der Stadt. Ich wünschte mir, dass ganz schnell der Tag anbricht, die Sonne aufgeht. Ich habe mich wie der einsamste Mensch auf diesem Planeten gefühlt.
Ich wollte eben einen Schluck Tee nehmen, als plötzlich mein Mobiltelefon läutete. Ich war so in Gedanken vertieft, dass ich erst das zweite oder dritte Läuten hörte. Als ich dann rasch zum Hörer griff, spürte ich alle Blicke auf mich gerichtet, und es lief mir kalt den Rücken runter. Ich drückte die grüne Empfangstaste und meldete mich mit einem schnellen »Waris Dirie«.
Zunächst hörte ich am anderen Ende der Leitung nur ein Knistern und Knacken, dann vernahm ich eine Stimme, die seltsam blechern klang. Ich brauchte eine Zeit lang, um zu begreifen, wen ich am Apparat hatte. Es war Mohammed, mein Bruder.
»Mama ist sehr krank«, sagte er in einem seltsamen Tonfall. »Sie hat starke Schmerzen. Keiner kann ihr helfen.«
Ich benötigte einen Augenblick, um zu verstehen, wie ernst es Mohammed meinte. Schmerzen, Leiden und Tod – für uns Somalis ist es nichts Außergewöhnliches, darüber zu reden. Aber wenn es die eigene Mutter trifft?
Mohammed lebt mit seiner Familie in Großbritannien. Wir sehen und hören uns nur sehr selten. Dann aber ist der Tod ein allgegenwärtiges Thema. Gespräche über die Heimat, über unsere Familie führen unweigerlich dazu, dass wir uns auch über das Sterben unterhalten. Erst vor wenigen Monaten hatte er mir erzählt, dass der Junge, mit dem wir früher immer am Wasserloch gespielt hatten, von einer verirrten Kugel getroffen worden und ein Freund unseres Clans in Somalia an Aids gestorben war.
Tod und Afrika – das scheint eine Art Schicksalsgemeinschaft zu sein.
Mit einem Schlag aber war jetzt alles anders. Mutter war krank.
Als mich Mohammed anrief, fiel mir sofort die Geschichte vom Baum und vom Mond ein, die uns Mutter erzählt hatte, als wir klein waren. Sie sagte: »Wir Somalis glauben, dass es auf dem Mond einen Baum des Lebens gibt. Fällt dein Blatt von diesem Baum, gehst du zu Allah in den paradiesischen Garten.«
Ich wollte nicht, dass dein Blatt vom Baum fällt. Damals nicht. Jetzt nicht. Noch lange nicht.
Mohammed ist ein kräftiger Bursche. Vor meinem geistigen Auge tauchte ein Bild von ihm auf. Er ist über einen Meter neunzig groß, hat pechschwarze Haare und ein kantiges Gesicht mit sehr entschlossenen Augen. Er flößt jedem Respekt ein, der ihn trifft. Aber niemand ahnt, wie es in diesem wuchtigen Menschen aussieht, welches Martyrium er hinter sich hat. Es ist jetzt zwölf Jahre her, dass er dem somalischen Bürgerkrieg entfliehen konnte. Die Narben, die der Krieg ihm geschlagen hat, trägt er bis heute – am Körper und in der Seele. Mohammed war Gefangener. Wochenlang wurde er in Ketten gelegt und gefoltert. Noch heute sieht man die Abdrücke der Kettenglieder an seinen Armen und Beinen. Er spricht nie darüber.
Mohammeds nächster Satz schnitt meine Gedanken ab. Ein anklagender Ton lag in seiner Stimme. »Nihyea, Frau. Du musst sie nach Europa bringen. Mama muss operiert werden. Sie schreit den ganzen Tag vor Schmerzen. Es ist ihr Bauch.«
Typisch für meinen Bruder. Jeder Satz eine Anklage. Ich begann, mich zu ärgern. Als ob ich schuld daran wäre, dass meine Mutter schwer krank war. Auch wenn ich meine Familie sehr selten sehe, kümmere ich mich doch um alle, helfe, wo ich kann, gebe Geld. Ich habe meiner Mutter daheim in Somalia ein kleines Haus bauen lassen. Wann immer sie etwas braucht, sorge ich dafür, dass sie es bekommt.
In Afrika erwartet die Familie von jedem, der die Heimat verlässt, um sein Glück im Ausland zu versuchen, dass er Geld schickt. Wer es in der Fremde zu etwas bringt, der muss mit seinen Brüdern und Schwestern daheim teilen. Ich weiß das, und ich versuche, dieser Tradition gerecht zu werden. Ich schaffe es nicht immer.
Mohammed lebt mit seiner zweiten Frau in Manchester und genießt noch immer Flüchtlingsstatus. Er ist mein Bruder, ich liebe ihn, deshalb teile ich auch.
Meine Antwort fiel knapp aus: »Ich werde sie holen lassen.« Ich hatte den Eindruck, dass Mohammed noch weiter mit mir sprechen wollte, aber meine Gedanken waren schon meilenweit entfernt. Ich war zu aufgewühlt. Ich dachte an Mama.
Jetzt saß ich da mit meinem Mobiltelefon in der Hand, am Kaffeehaustisch mit dem blütenweißen Tischtuch, und starrte aus dem Fenster. Ein paar Wolken waren aufgezogen, der Wind wehte lose Seiten einer Zeitung durch die Straße.
»Wien ist eine wundersame, lebendige Stadt«, dachte ich. »Es wird hier nur zu schnell kalt. Viel zu kalt.«
Liebe Mama,
weißt du noch, wie lange es her ist, dass wir uns vor deinem Aufenthalt in Wien das letzte Mal gesehen haben? Es liegt zehn Jahre zurück. Damals lebte ich noch in New York und brach Hals über Kopf mit meinem Sohn Aleeke und meinem Bruder Mohammed auf, um dich daheim in Somalia zu besuchen. Ich habe ein Buch über diese aufwühlende Reise geschrieben: Nomadentochter.
Ich wollte dir damals erklären, wie es mir in meinem Leben ergangen ist, was mir wichtig ist. Ich wollte meine Sorgen und meine Freuden mit dir teilen, und ich wollte, dass du auch etwas stolz bist auf deine Tochter aus der Wüste, deren Leben sich in so märchenhafter Weise entwickelt hat.
Ich habe dir so viel zu sagen.
Tatsächlich, liebe Mama, klingt es wie eine Geschichte aus einem Märchenbuch, was mir widerfahren ist. Das kleine Nomadenmädchen, das von daheim wegläuft, weil es nicht mit einem alten Mann zwangsverheiratet werden will. Der lange, einsame Marsch durch die Wüste, die Begegnung mit einem hungrigen Löwen, der sie wie durch ein Wunder verschont. Die Ankunft in der Hauptstadt Mogadischu, danach der abenteuerliche Weg zum Onkel nach London, der dort als somalischer Botschafter lebt und arbeitet.
Waris, die Wüstenblume, die in der fremden Stadt als Dienerin bei ihren eigenen Verwandten zu arbeiten beginnt. Die Schwester ihrer Mutter behandelt sie stiefmütterlich. Trotzdem lernt sie nebenbei Lesen und Schreiben. Dann wird sie von einem Fotografen entdeckt und lässt sich eher widerwillig zu ersten Aufnahmen überreden. Und tatsächlich – beinahe über Nacht wird sie zum Star. Ihr Gesicht ziert die führenden Modemagazine dieser Welt. Deine Waris, deine kleine Tochter, macht als Supermodel Karriere, sie arbeitet zusammen mit den schönsten Frauen der Welt. Für dich mag es seltsam klingen, aber man verdient außerhalb Afrikas eine Menge Geld, wenn man sich in schönen Kleidern fotografieren lässt und auf einer Bühne auf und ab stolziert.
Aber das ist nicht die wahre Geschichte deiner Waris, nur ein Schlaglicht auf ihr Leben. Das Bad in der Menge, die Blitzlichter haben mich immer mehr erschreckt als fasziniert. Das dabei verdiente Geld half mir, unabhängig zu werden. Aber bei der ersten Gelegenheit machte ich Schluss mit dem grellen, oberflächlichen Schaugeschäft. Ich wollte nicht mehr die Anziehpuppe sein, Lächeln auf Knopfdruck, ein paar sonnige Jahre, dann ab auf die Ersatzbank und her mit dem frischen Gesicht aus Afrika. Ein neuer Farbtupfer in der Menge der Laufsteg-Bleichgesichter. Mir schwebte für mein Leben etwas anderes vor, etwas Erfüllendes. Und wieder schickte mich das Schicksal mit einer neuen Aufgabe auf die Reise: gegen Genitalverstümmelung zu kämpfen.
Ich würde alles Geld der Welt dafür geben, wenn ich dir begreiflich machen könnte, wie wichtig es ist, gegen Genitalverstümmelung anzutreten, Mama. Keine Religion und keine Politik schreibt vor, dass man seine Töchter diesem grausamen Ritual unterziehen muss. Aber es geschieht. In Afrika, in Europa, in Asien, in Australien und in den USA, überall auf der Welt. Jeden Tag.
Dass ich als erste afrikanische Frau das Schweigen brach, um über das Tabu offen zu sprechen, hat meinem Leben eine neue Richtung gegeben. Ich nutzte meine Bekanntheit als Model für den Kampf gegen dieses grausame Verbrechen, das mir und Millionen anderen muslimischen Frauen schon im Kindesalter angetan wurde. Ich wollte kein Opfer mehr sein, ich wollte, dass auch kein anderes Mädchen mehr zum Opfer wird.
Es war nicht leicht, den Mund aufzumachen, und ist es bis heute nicht. Aber erinnert dich diese Entschlossenheit, diese Dickköpfigkeit nicht an die kleine Waris, dein Mädchen? Tausende Frauen haben mir geschrieben, wie sehr sie unter ihrer Verstümmelung gelitten haben und auch heute noch leiden. Vielleicht findest du einmal die Kraft, mir zuzuhören. Ich würde dir die Schilderungen der Mädchen gerne vorlesen. Dieses unendliche Leid.
Man kann seine Ohren und Augen nicht für immer verschließen.
Das Thema Genitalverstümmelung liegt wie ein tiefer, unüberbrückbarer Abgrund zwischen uns. Als ich versuchte, dir zu erklären, warum ich Vorträge halte, Bücher schreibe und eine Stiftung gegründet habe, hast du die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. »Es ist unsere Tradition!«, hast du geschrien. »Lass uns nicht weiter darüber sprechen.«
Mama, dieser Satz hat mich wie ein Schwerthieb getroffen und unsagbar verletzt.
Du hast nie verstanden, warum ich mich durch meine Dickköpfigkeit immer wieder in Schwierigkeiten brachte. Schon als kleines Kind hast du mich dafür gescholten.
»Waris, bedecke deine Beine, das ist schamlos, wie du herumläufst.« Das waren deine Worte, wenn ich wieder einmal die dirah, das bodenlange traditionelle somalische Gewand, hochgebunden hatte, um mehr Bewegungsfreiheit beim Laufen zu haben.
Den Kamelen bindet man in Somalia die Vorderbeine zusammen, damit sie nicht zu weit weglaufen. Bei den Frauen macht man das mit Gewändern statt mit Seilen.
»Herr Ober, ich möchte zahlen!«
Plötzlich hatte ich es sehr eilig, nach Hause zu kommen. Ich lief aus dem Kaffeehaus auf die Straße. Der Weg zu meiner Wohnung kam mir plötzlich unendlich lang vor. Ich nahm keine Notiz mehr von den Bäumen und den Eichhörnchen und dem bunten Laub in den Parks.
Nachdem die Wohnungstür ins Schloss gefallen war, machte ich mich sofort auf die Suche nach Fotos von meiner Mutter. Ich wollte ihr nahe sein, und wenn auch nur über eine Fotografie.
Eine seltsame Rastlosigkeit hatte mich erfasst. Ich konnte keine Sekunde still sitzen. Ich begann, in der Wohnung auf und ab zu laufen, so wie man es bei Raubtieren manchmal in den Zoos sieht. In den nächsten paar Stunden sortierte ich Briefe, räumte auf, stapelte das Geschirr neu, ordnete meine Kleider, wischte Staub, so als würde Mutter in der nächsten Minute durch die Tür treten und prüfen, ob ich eine gute Hausfrau geworden wäre.
Erst nachdem ich langsam müde geworden war, fiel mir auf, wie absurd ich mich verhielt. Ich setzte mich auf den Boden und versuchte, zur Ruhe zu kommen, meine Gefühle zu ordnen. Ich sagte laut zu mir: »Waris, du musst dich beruhigen! Du musst wieder klar denken! Du musst stark sein!«