Christian Schüle

Heimat

Ein Phantomschmerz

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Christian Schüle

Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert und ist freier Autor und Publizist. Seine Essays, Feuilletons und Reportagen wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Hansel-Mieth-Preis für Reportage und dem Erich-Klabunde-Preis des Deutschen Journalisten Verbandes Hamburg. Darüber hinaus war er dreimal für den Egon-Erwin-Kisch- bzw. den Henri-Nannen-Preis nominiert. Ab dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle an der Universität der Künste in Berlin. Er hat bislang acht Bücher veröffentlicht, u.a. »Deutschlandvermessung. Abrechnungen eines Mittdreißigers«. 2012 ist bei Pattloch »Das Ende der Welt. Von Ängsten und Hoffnungen in unsicheren Zeiten«, 2013 »Wie wir sterben lernen. Ein Essay« und 2015 »Was ist Gerechtigkeit heute?« erschienen.

Impressum

© 2017 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2017 Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Lektorat: Nadine Lipp

Covergestaltung: Jorge Schmidt, München

Coverabbildung: © AKG-Images

ISBN 978-3-426-44232-6

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


Noch mehr eBook-Programmhighlights & Aktionen finden Sie auf
www.droemer-knaur.de/ebooks.


Sie wollen über spannende Neuerscheinungen aus Ihrem Lieblingsgenre auf dem Laufenden gehalten werden? Abonnieren Sie hier unseren Newsletter.


Sie wollen selbst Autor werden? Publizieren Sie Ihre eBooks auf unserer Akquise-Plattform www.neobooks.com und werden Sie von Droemer Knaur oder Rowohlt als Verlagsautor entdeckt. Auf eBook-Leser warten viele neue Autorentalente.


Wir freuen uns auf Sie!

Auf einmal jedoch, entgegen meiner inneren literarischen Absicht, ruft der schwarze Hintergrund des Himmels im Süden dank einer wahren oder auch falschen Erinnerung einen anderen Himmel in mir wach, den ich vielleicht in einem anderen Leben erblickt habe, hoch im Norden, mit einem kleineren Fluss, mit traurigem Schilf und ohne jede Stadt. Ohne dass ich wüsste, wie, treibt mir eine Landschaft für Wildenten durch die Phantasie, und mit der Klarheit eines sonderbaren Traumes fühle ich mich dieser imaginären Landschaft ganz nahe.

 

Fernando Pessoa,
Buch der Unruhe, Fragment 51

I
Konstruktion der Heimat.
Sehnsucht und Sicherheit

Magie der Kirchturmglocken

Als stünde ich wieder am Ufer des Sees. Als sähe ich vor mir die Zinnen und Recken, die Grate und Täler, als fühlte ich die Erhabenheit und Grandezza der Alpen. Als röche ich die Erde, den Boden, den Atem der Algen. Als zögen Nebelschwaden übers Seewasser. Als spürte ich die Fülle des Wohllauts in der Stille des Moments.

Und weiter. Als täte man all das wieder und aufs Neue. Als wiederholte sich die Wiederholung der Wiederholung. Als übersetzte sich Vergangenes in Gegenwart, um gegenwärtig vergangen zu sein. Als riefe etwas: Komm heim! Zwei-, vier-, siebenmal. Nicht um Stunden geht es, nicht um die Uhr. Es geht nicht um die Verabredung einer zählbaren Einheit. Es geht um eine andere Zeit, um die Nicht-Zeit.

Die Kirchturmglocken schlagen, ihr Klang liegt überm Land. Jenes Land, jenes eine, so fern, so weit von diesem Landstrich entfernt, gerade nun, da die Lider herabfallen, mitten in Tokio oder New York oder Rosenheim oder Husum, einerlei, just hier und jetzt ersteht jenes von Kirchturmglockenschlägen eingeläutete, durch Alpen und See choreografierte Land der eigenen Kindheit innerlich auf. Die Grenze zwischen zwischen Individuum und Welt löst sich auf, als verschmelze man mit jenem in diesem Moment gar nicht vorhandenen Land. Unter tausend Kirchturmglockenschlägen würde man jetzt seine Glocke heraushören. Das gemähte Gras seines Nachbarn riechen. Das Land erinnern, als sei es sein mit einzigartiger Luft gefüllter Lebensraum.

Die Bindung an den Ort des eigenen Ursprungs – der ebenso gut die Plattenbausiedlung einer Metropole, die Straßenschlucht einer Großstadt oder die Leere einer Mark sein kann – ist mehr als ein Glaube, mehr als Rückbindung, mehr als persönliche Religion. Mit dem Klang meiner Glocke aus meinem Raum breiten sich dessen Umstände in mir aus. Ich spüre die Verwurzelung meines Körpers in einem bestimmten Boden, und der Kirchturmglockenklang korrespondiert mit einem Gefühl, das diebstahlsicher im Archiv des eigenen ICHs verwahrt ist.

Als wäre es die Grundmelodie meiner selbst. Als reproduzierte das Gehirn stets aufs Neue ein übersinnliches Sein im profanen Dasein, das längst vergangen scheint in einem Leben, das, wie jedes Leben, immer am Vergehen ist. Als reduzierte es dieses Leben, das viele Jahrzehnte fern dieses Orts vonstattenging, auf einen einzigen akustischen Reiz. Als holte es den Ort, das Land und Leben hervor und speiste es in den Strom der Gegenwart ein. Eingeschrieben hat sich ein Bild, das man nie wieder verlieren wird, und die Frage ist von nun an, ob der Mensch direkt oder indirekt sein Leben lang nach dessen Spuren sucht. Wohin der Weg auch führt, das Bild ist immer schon da. Als wäre das Leben die Erinnerung an es selbst.

Und dann reist man im Geiste zurück, kehrt heim, geht wieder die Wege seiner Kindheit, und es offenbart sich etwas Unerklärliches: Vertrautheit, Vertrauen, Frieden, während in der anderen, der realen Welt die Menschen sich zerfetzen, zerstören, vergewaltigen, vernichten. Dieses Gefühl der Zerrissenheit in Herkunft und Dasein, in Nicht-Ort und Ort, bleibt, solange das eigene Leben sich an den Kirchturmglockenschlag erinnern lässt. Man kann es Geborgenheit nennen. Man könnte dazu Heimat sagen.

Die Gretchenfrage der Epoche

Heimat schmerzt, wenn man sie verloren hat. Heimat schmerzt, wenn man sie aufgeben muss. Heimat schmerzt, wenn man ihr wahllos ausgesetzt ist. Heimat schmerzt, weil sie womöglich eine Chimäre ist, weil es Heimat vielleicht gar nicht wirklich gibt, obwohl jeder eine eigene zu haben glaubt. Der Zusammenhang zwischen Heimat, Herkunft und Identität betrifft jeden, weil jeder für seine Identität Heimat und Herkunft braucht und einen Staat dafür nicht nötig hat. Jeder wurzelt in einem Boden. Jeder bezieht sich auf eine Gruppe. Jeder kommt aus einer Familie. Jeder lebt in einem Umfeld, ist auf Sicherheit und Vertrauen angewiesen. So ist der Mensch. Nicht alle haben eine explizite Heimat, obwohl alle eine explizite Herkunft haben (und nicht immer ergibt heimatliche Herkunft zugleich eine abrufbare Identität, wenn Identität überhaupt etwas abrufbar zur Verfügung Stehendes ist). Kaum etwas eignet dem mit Fantasie- und Vertrauensfähigkeit begabten Individuum mehr, als sich Heimat zu erträumen und sich am Phantomschmerz ihrer Abwesenheit wahlweise zu erfreuen oder darüber zu verzweifeln.

Jahrzehntelang war »Heimat« in Deutschland ein kontaminierter Begriff mit dem Geschmack von Blut-und-Boden-Bitterkeit und dem Geruch von Rassenreinheit. Heimat war verdorben, das Denken an Heimat vergiftet, eine schwärende Wunde; jedes Ansinnen von Heimatverklärung unterlag dem Verdacht auf schwiemeligen Revisionismus. Der Gestank alles Heimatlichen war einer der nachhaltigen Siege der völkischen Blut-und-Boden-Apologeten, die Volk und Rasse topografisch radikalisierten, geografisch definierten und das Nationale mit dem Sozialistischen unheilvoll vermählten. Die Gleichsetzung von Heimat mit Ausgrenzung, Folter, Mord, Totschlag, mit Verwesung, Vernichtung und Vertreibung ist das nicht vergehende und vermutlich unvergängliche Wahnsinns-Werk des Dritten Reichs.

Und heute, hier und jetzt? Die Jahre 2015 und 2016 haben die durch ihre beständige Globalisierung aufgeblähte und ins Unermessliche vergrößerte Welt auf eine existenzielle Monade reduziert, indem sie den Bürgern Deutschlands und der Europäischen Union eine denkbar schlichte Frage vor Augen geführt hat: Wie hältst du’s mit der Heimat? Direkt oder als Teilnehmer einer demoskopischen Stilübung wurde niemand gefragt, aber die plötzliche Ankunft millionenfach Geflüchteter auf deutschem (wie europäischem) Boden warf und wirft in Gestalt jedes einzelnen dieser Fremden die Frage nach dem Eigenen auf, nach Wert und Konstruktion dessen, was der Sprachgebrauch als »Heimat« kennt. Mit dem Fremden kommt – jenseits kultureller oder politischer Wertung gesprochen – das Unheimliche ins Heimelige. Das Fremde definiert sich durch seine Un-Heimlichkeit: Durch die Absenz von Heim und Haus, durch den Mangel an oder den Verlust von Heimlichkeit, die ja nichts anderes ist als anheimelnde Geborgenheit einer friedsamen Gemeinschaft.

Die Frage nach der Bestimmung von Heimat ist eine der schwierigsten, obwohl sie so leicht zu beantworten scheint. Wer das Verhältnis zur Heimat erfragt, thematisiert immer einen Sachverhalt, der logisch und rational nicht erklärbar ist. Heimat lässt sich begrifflich nicht erschöpfend fassen und nur durch ein aufgespürtes Gefühl behaupten. Man könnte nicht sagen: Dies oder jenes ist exakt das, was meine Heimat ist. Das Nachdenken über unsere ewige Sehnsucht nach Heimat ist also Begehren und Entwurf zugleich. Ein psychologisches, philosophisches, kulturelles, politisches Konzept aus Erinnerung, Wahrnehmung, Ich-Bewusstsein, Gemeinschaft, Sprache und Sitte.

Im verstaubt klingenden, aus dem Archiv abgelegter Ideen hervorgekramten Wort »Heimat« sind mit einem Mal die drängendsten Probleme unserer Tage kurzgeschlossen: Herkunft, Bleiberecht, Wanderung und vor allem das Streben nach Zugehörigkeit, Schutz und Sicherheit. Im Begriff Heimat verstecken sich Theorien zu Inklusion, Integration und Assimilation und neuerdings wieder der politische Anspruch auf »echtes« Volkstum, »wahre« Kultur, ethnische Homogenität und kollektive Identität. Das Wort »Heimat« ruft nach seiner Verklärung durch Nationalisten und seiner Vergiftung durch Nationalsozialisten zur Entgiftung und Klärung auf. Es erfordert Besinnung und fordert zur Reflexion heraus, weil im Konzept der Heimat Geschichte und Gegenwart nicht immer berechenbar abgemischt sind und niemand die Qualität dieser Verbindung vorhersagen kann.

Eine Re-Romantisierung von Heimat und Natur ist dieser Tage ebenso festzustellen wie die nostalgiesatte Verklärung der Boden-Scholle als Frontabschnitt im Kampf der Kulturen. War die Heimattümelei der Deutschen Romantik als Epoche ab 1800 eine trotz aller Poesiebehauptung auch politische Antwort auf den abstrakten Rationalismus, auf die sittliche Verstocktheit, Altersspießigkeit und Neigung der damaligen Ära, allem einen Anfang und ein Ende zuzuordnen, versucht das neo-romantische Denken unserer Tage im Zuge der Entgrenzung des Raums durch Globalität und Digitalismus, durch Heimat Halt und Haltung neu zu definieren. Das ist nicht ohne Gefahr für Europa als Lebensraum und Idee.

Die Europäische Gemeinschaft (und heute Europäische Union) war und ist der Versuch, getrennte, benachbarte, einander feindselige Heimatblöcke zu überwinden, eine gemeinsame neue Heimat zu schaffen. Die einseitige Begründung dieser Idee mit Handelsfreiheit rächt sich heute und zwingt zur Erkenntnis, weder emotionale Bindekraft noch ideellen Überbau zu haben. Wohin sind wir mit alldem gekommen? An einen Kristallisationspunkt? Vieles, wenn nicht alles steht auf dem Spiel. Auch wenn Stilisierung und Dramatisierung, die wohlfeil gewordene Rede vom Ende der Welt, die Anrufungen des Luziferischen, all die Präfigurationen des Apokalpytischen und Flakfeuer der Katastrophik, gefährliche Versuche zur Revitalisierung der eigenen Komfortzone sind, werden die Karten offenbar neu gemischt. Ein Spiel ist das freilich nicht mehr; etwas Großes ist in Bewegung gekommen, und alle sind gezwungenermaßen auf der Wanderschaft, durch Außen- wie Innenräume.

»Heimat« ist wieder en vogue und ein Motiv für politische Moden. Nah an der beschworenen Liebe zur Heimat entlang verlief zum Beispiel im Sommer 2016 die Frontlinie des mecklenburg-vorpommerischen Landtagswahlkampfs, als sowohl die SPD als auch die CDU, vor allem aber die AfD mit verschiedenen Assoziationen des Satzes »Für die Heimat« um Zustimmung und Stimmen warben. Ähnlich war dies bei der Neuauflage des Bundespräsidentschaftswahlkampfs in Österreich zu beobachten, in dem sowohl der als rechtspopulistisch bezeichnete FPÖ-Kandidat Norbert Hofer als zu gleichen Teilen auch der ehemalige Grüne Alexander van der Bellen – für den TV-Spot ins alpine Hochland platziert – ein Bundespräsident »für die Heimat« werden wollten. Und zur Landtagswahl in Rheinland-Pfalz im Frühjahr des Jahres sah man in zweiminütigen Wahlfilmchen, wie eine offenbar höchst naturverbundene CDU-Spitzenkandidatin Julia Klöckner mit ihrem Pudel über Wiesen und durch Auen spazierte und, in die Knie gehend, das Hündchen knuddelte, wozu ihre zarte Stimme aus dem Off erzählte: »Menschen brauchen Boden unter den Füßen. Erdung und Verwurzelung, Fortschritt und Tradition schließen sich nicht aus, schon gar nicht bei uns in Rheinland-Pfalz.« Schnitt. Dann saß Klöckner auf einem Traktor und stutzte schließlich Äste der Reben im Weinstock. »So bin ich von zu Hause geprägt, so mache ich Politik.« Die politische Botschaft dieser Inszenierung eigener Verheimatung: Ich will die Einführung eines Landesfamiliengelds. Die Überzeugung der Kandidatin: »Dass Jung und Alt die Generationen zusammenhalten, das ist mir wichtig. Wir brauchen eine Hand, die uns hält, wenn wir ins Leben gehen, und eine, die uns stützt, wenn wir älter werden.« Schnitt. Dann sie im Dienstwagen. »Auf mich können Sie sich verlassen.«

Im vergangenen Herbst schließlich legten Politiker der CSU und der sächsischen CDU gemeinsam ein Papier mit folgender Botschaft vor: Heimatliebe und Patriotismus sind Kraftquellen der Gesellschaft. Vor Jahren hätte man für diesen Satz heftige Häme einzustecken gehabt, nun klingt der Aufruf zur Wiederbelebung einer »Leit- und Rahmenkultur« wie der letzte Sirenengesang jener, die im Lärm der Weltgeschichte unterzugehen drohen, weil die Basslinie der Zivilität durch die Wiedererweckung des Nationalismus und Nationalchauvinismus peu à peu nach unten verschoben wird.

 

Die in diesem Buch vorliegenden Betrachtungen, Gedankensplitter und Fragmente setzen sich zum Ziel, den Begriff der Heimat auf der Basis seiner Landläufigkeit zeitgemäß zu durchdenken und womöglich neu zu verstehen. Sie streben die Erkundung des Ungefähren mittels des Konkreten an, was ein ambitiöses Unterfangen ist. Nach der Bestimmung von Heimat als Sehnsucht und Gefühl führt der Weg zur Reproduktion des Heimatbezugs als Erinnerungsleistung des Gehirns. Der Pfad führt fort in den Transzendenzraum der Religion, die den nach Vertrauen suchenden Menschen ebenso beheimatet wie die bloße Natur und die konstruierte Nation, um deren Politik und Mythen es im zweiten Teil des Buches gehen wird. Nationalismus als politisierter Heimatschutz gegen die scheinbare oder empfundene Überfremdung Abertausender Wanderer auf der Flucht vor Tod und Elend führt zur Erörterung des Kampfs um Heimat als Konflikt der Kulturen am Beispiel des Kopftuchs. Kann Herkunft Identität stiften, oder gibt es nur den Plural der Identitäten? Im dritten Teil entfaltet sich schließlich das Spannungsverhältnis zwischen Integration und Identität. Unserer Tage, da eine große Krise der Zivilität festgestellt werden muss, wird Heimat aufgerüstet zum politischen Kampfbegriff, der das Eigene gegen das Schicksal des Fremden verteidigt, ohne dass abschließend geklärt wäre, was das Eigene eigentlich ist. Mit dem Versuch, die Zeichen einer neuen Zeit zu lesen und andere Heimat-Formationen aufzuspüren, sowie mit dem Plädoyer, Heimat als Idee eines neuen Gesellschaftsvertrags zu begreifen, enden diese Untersuchungen eines Phantomschmerzes keineswegs im luftleeren Raum, sondern auf dem bodenharten Grund dessen, was der Fall ist.

 

Was also könnte Heimat sein? Der lokale Boden, auf dem wir geboren sind? Die Region, aus der wir stammen? Muss von Heimat künftig nicht vielmehr im Plural gesprochen werden? Entstehen dieser Tage nicht zahllose neue Heimaten durch eine in ihrem Ausmaß bislang nicht für möglich gehaltene Wanderschaft des »Fremden«, das uns fremd ist, weil wir nicht mehr wissen, was das Eigene sein soll? Wer gehört wohin? Welchem Raum fühlen wir uns zugehörig? Verstehen wir unter Heimat notwendig eine territorial definierte Gebietskörperschaft? Oder Menschen, die uns nah sind? Oder eine Familie? Die Sprachgemeinschaft? Die Protestgruppe? Die Sharing-Community? Das Netzwerk? Und was wäre die Basis einer, unserer Heimat: Die gemeinsame Ethnie? Die einheitliche Religion? Der Interessenverbund?

Um Heimat zu begreifen, muss man den Begriff vom Verhängnis seiner Assoziationen ebenso freisprechen wie vom Kitsch seiner nostalgiesatten Verklärbarkeit. In jedem Fall ist Heimat eine hochemotionale Angelegenheit: Sie vereint Schmerz und Liebe, Trauer und Pathos, und vielleicht vermag nichts eine Biografie mehr zu prägen als die lebenslange Sehnsucht nach der verschwundenen, aufgegebenen, verlorenen, geraubten, alles in allem: nicht mehr auffindbaren Heimat. Als wäre sie der unverstummbare Resonanzraum eines Kirchturmglockenschlags an einem sich ohne Weiteres von selbst verstehenden Ort. Aber nein, kein Ort versteht sich mehr von selbst. Darin mag die Tragik der späten Moderne liegen – oder die Verheißung einer Welt ohne Grenzen.

Zufall und Wahlfall

Heimat ist der Zu-Fall. Sie fällt uns zu und ist immer schon da. Wir können unsere Heimat nicht verantworten, wie wir auch nichts können für das Faktum unserer Geburt. Der Mensch kann seine primäre Heimat nicht wählen, was er wählt, ist ein Zuhause. Oder eine zweite, dritte, vierte Wahlheimat. Heimat ist Schicksal, wohingegen Wahlheimat das Ergebnis einer Befreiung vom Schicksal der Heimat ist; die gewählte Heimat ist frei vom Verhängnis einer auferlegten Identitätszuschreibung, Heimat hingegen trägt manchmal schwer an der Unfreiheit einer nicht gehabten Wahl, an diesem Ort in dieser Zeit geboren worden zu sein (lassen wir für einen Moment jene außer Betracht, die kurz nach ihrer Geburt mit den Eltern an einen anderen Ort gezogen sind).

Wenn Heimat wahlfrei unser Selbst begründet, speist sich dieses Selbst aus dem Zugefallensein an einen nicht gewählten Ort, von dem wir, ob wir wollen oder nicht, unser ganzes Leben lang her-kommen und, mehr oder weniger stark, geprägt sein werden. Jede Biografie gründet also in Heimat. Durch die Biografie schreibt der Einzelne sein Leben einem Ort ein. Oder anders: Der Ort schreibt sich dem jeweiligen Menschen ein. Als Geburtsort ist Heimat ein untilgbares Faktum und als Beginn einer Biografie nicht auslöschbar. Der Beginn der eigenen Verortung ist meist physisch, leiblich, materiell; er kann aber genauso psychisch, mental oder virtuell sein.

Alles lässt sich tilgen, nicht aber die Bindung an den Ursprung unserer selbst am Ort der Untilgbarkeit. Die Koordinate des Ursprungs führt Heimat, Herkunft und Raum sehr nahe zu einer möglichen Identität zusammen. Heimat und Herkunft sind subjektiv wahr, denn Heimat ist immer die eigene, ist immer meine: der Boden, von dem ich komme, die Familie, von der ich abstamme, der Stamm, an dem ich gewachsen bin. Was hier und jetzt bereits feststeht: In der Heimat steckt immer auch ein Machtverhältnis, weil der Zufall Fremdbestimmung bedeutet. Man ist dem Zufall wahllos ausgeliefert und kann ihn durch kein Handeln steuern. Was einem Menschen ohne Wahl zufällt, beherrscht ihn auch. Er kann sich dagegen wehren und sträuben, gewiss, er kann jammern und leiden, aber er wird seine heimatliche Herkunft nie besiegen, selbst wenn er seine Heimat im Rückblick hasst, verachtet oder ignoriert. In letztem Fall hätte er ein Negativverhältnis zur Heimat, die aber auch dann sein Bezugspunkt bleibt. Heimat ist der Herrschaftsraum der Möglichkeit persönlicher Freiheit aus der Unfreiheit ihres Zufalls. Nach Wittgenstein ist die Welt all das, was der Fall ist. Der Zu-Fall der Heimat ist nicht der Fall, aber er steht am Beginn meiner Welt.

Die große Rede der sich jeder eindeutigen Erzählung verweigernden Gegenwart ist das Narrativ von der Einheit des Vielen. Das Narrativ ist eine Bekundung, ein Muster beglaubigter Zeichen. Das große Außerhalb meines kleinen Selbst ist zersplittert, die Lebenswelt segmentiert, die Gesellschaft fragmentiert, das Ganze eine Illusion und kein notwendiger Zusammenhang mehr. Netzwerk-Verbände sind flexibler als Totalitäten, Projekte gängiger als Programme. Frei flottieren Zeichen und Bedeutungen, rasen Bits und Bytes, rauschen und funken Teilchen durch den Äther. Für jede Wahrnehmung existiert eine bereits gemachte Erfahrung, für jedes abgerufene Erlebnis gibt es ein Bild. Jedes Bild wiederum ist das Surrogat für ein nicht erlebtes Ereignis. Das Einzige, was einem immerzu bleibt, während alles andere allen anderen gehört, ist die eigene Heimat. Das adelt die jeweilige Heimat zur Einzigartigkeit. Die ureigene Geschichte jedes Individuums ist also die Konstruktion einer Erzählung über die eigene Herkunft. Ich bin der Auto-Ethnograf meiner Herkunft; durch mich spricht meine Heimat. Oder anders: Ich spreche als Resultat meiner Heimat.

So gut wie alle Wissenschaften vom Menschen – vornehmlich die Cultural Studies, Anthropologie und Geschichtswissenschaft – sind sich einig darin, wie der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli vermerkt hat, dass die Identität eines Menschen in der Erzählung besteht, die ihm aus sich zu machen gelingt. Eine Person ist ihre Geschichte, und Heimat ist das Narrativ dieser Geschichte. Nur in der Schilderung meiner Realität erlangt die Geschichte meiner Person Glaubwürdigkeit. Nur über das Narrativ wird Herkunft zur Identität. Nein, genauer gesagt, ist die Identität selbst das Narrativ: Ich bin, was ich von mir erzähle.

Freiheit durch Erinnerung

Die Kirchturmglocken, die Wiese. Die Straße, der Rasen mähende Vater. Der schmatzende Kies, das rote Cabrio, die Propellermaschine überm See, das Mädchen. Plötzlich ist meine Vergangenheit allgemeine Gegenwart. Die Zeit ist aufgehoben, der Raum verlassen. Ich bin jetzt der Gegenwärtige, durch den die Vergangenheit hindurchtönt. Ich gehe an einer gerade gemähten Wiese vorbei, da springt, blitzlichtartig, das Bild auf und friert vier, fünf Sekunden ein. Entgegen meiner Absicht und wider Willen sehe ich mich auf der Wiese vor dem Haus, als wären 30 Lebensjahre getilgt. Ich höre eine Propellermaschine, obwohl keine am Himmel ist. Ich rieche den See, obwohl in diesem Augenblick keiner vorhanden ist. Ich sehe die Berge und höre die Kirchturmglocke schlagen und warte auf das Auto des Vaters. Dann springt etwas wie auf einen anderen Vorführapparat über, und plötzlich ist das Mädchen zu sehen, das am Geländer einer Terrasse lehnt und über den großen Garten blickt. Grillen sind zu hören, obwohl in diesem Augenblick keine vernehmbar sind. Ich höre das Schmatzen des Kieses, auf dem ein roter Golf einfährt, und die Glocken schlagen vier- und drei- oder sechsmal. Im Hintergrund erhebt sich die alpine Landschaft, obwohl in diesem Moment nichts außer Stadt, Straßen und Häusern zu sehen ist.

Erinnerung ist nicht gleichzusetzen mit Gedächtnis, obwohl sie sich von Gedächtnis nicht trennen lässt. Das Gedächtnis wiederum lässt sich von Geist und jener von Gehirn nicht trennen. Erinnern ist ein Vorgang, Gedächtnis ein Lager. Erinnern ist die Plünderung des Gedächtnisses als Tätigkeit des Geistes mithilfe des Gehirns. Manchmal ist es ja so, dass man nicht umhinkommt zu sagen: Das Gehirn weiß mehr als man selbst. Erinnerungen können einem unwillkürlich passieren und willkürlich evoziert werden. Der Erinnernde ist wie ein Wanderer, der die Landschaft seiner eigenen biografischen Welt durchmisst, für andere unverständlich, nicht mitteilbar. In der Erinnerung vollzieht sich etwas Unerklärliches: Sie ist der einzige Mechanismus, mit dem die Naturgesetze überlistet werden können. Der Erinnernde verlässt den gegenwärtigen Raum und die gegenwärtige Zeit mitten im Raum der Gegenwart und in der aktuellen Zeit und flieht im Geiste zurück zum Ort seiner Heimat. Es ist einer der rätselhaftesten Momente, da den Menschen die affektiv besetzte Sinnesempfindung erneut überwältigt. Seine Heimat und seine Erinnerungen sind das Einzige, das dem Individuum allein gehört. Der Akt des Erinnerns ist so komplex, dass darin so gut wie alles spezifisch Menschliche involviert ist: Emotion, Gefühl, Traum, Bewusstsein, Geist, Poesie. Erinnerungen steigen unvermittelt auf wie Bilderblasen aus irgendeiner Verborgenheit. Sie entschweben der Tiefe des Geistes, urplötzlich, ohne dass man sie kontrollieren könnte. Kein Verstand ist in der Lage, eine Erinnerung zu bändigen. Ein Wort, ein Stadtname reicht aus, um den Fantasiestrom der eigenen Märchen anzuzapfen, in denen man selbst stets die zentrale Rolle spielt. Wohlbefinden schleicht sich heran, unwillkürlich fühlt man sich erhoben und lächelt ein wenig, und auf einmal fliegen mirakulöse Details auf, schwebt längst vergessen Geglaubtes ein. Erinnern heißt Leben, oder andersherum: Leben ist Erinnern. Oder wie der renommierte Gedächtnisforscher Daniel Schacter befindet: »Wir sind Erinnerung.« Die Reise an einen entscheidenden, prägenden, von Emotionen codierten Ort zurück ist nur dem Menschen möglich. Die Magie des Erinnerns zeigt den Fortschritt der Evolution und ist zugleich die denkbar höchste Form von Freiheit. Durch diese Freiheit entsteht Schmerz. Und so entsteht Heim-Weh.

Das Proust-Phänomen

Sonntagmorgen, ein kalter Wintertag. Der junge Mann, um den es geht, weiß nicht, wie ihm geschieht. Er führt sich, ohne sich etwas dabei zu denken und bedrückt über den trüben Tag, einen Löffel Tee mit einem aufgeweichten Stückchen Madeleine an die Lippen. »In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog.« Der junge Mann spürt, wie etwas in ihm zitternd sich regt und verschiebt, wie es sich zu erheben versucht, als hätte etwas sich in großer Tiefe vom Ankertau gelöst. Langsam steigt es in ihm empor; er spürt den Widerstand und hört das Raunen der durchmessenen Räume. Unwillkürlich muss er an Combray denken, das Dorf seiner Jugend. Er sieht sich im Schlafzimmer liegen und auf den Kuss der Mutter warten. Und auf einmal ersteht Combray in ihm auf, er fühlt eine mächtige Freude und sucht die Quellen, aus denen ihm die Bilder zuströmen. »Es hatte mir mit einem Schlag, die Liebe, die Wechselfälle des Lebens gleichgültig werden lassen, seine Katastrophen ungefährlich, seine Kürze imaginär, und es erfüllte mich mit einer köstlichen Essenz; oder vielmehr: diese Essenz war nicht in mir, ich war sie selbst.«

Am Beginn seines Monumentalromans »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« hat der französische Schriftsteller Marcel Proust das eben beschriebene Erinnerungserlebnis zum vielleicht wirkmächtigsten und folgenschwersten in der Literaturgeschichte gemacht; der Rest des ersten Buchs »Unterwegs zu Swann« ist dann willentliche Erinnerung an einen Ort, den es als solchen nie gab. Die unwillkürliche Reise zurück in Kindheit und Jugend nennt die Literatur- und Gedächtniswissenschaft »Proust-Phänomen«. Wegweisende Studien haben empirisch belegen, jedoch nicht restlos erklären können, ob es vor allem die frühen Erinnerungen sind, die über Gerüche ausgelöst werden, oder ob es prinzipiell Erinnerungen sind, die nur über Geruchsassoziationen möglich sind. Nach dem 20. Lebensjahr, so das Resümee der Forscher, geht das Geruchsvermögen drastisch zurück, mit 70 riecht der Mensch nur noch einen Bruchteil dessen, was er mit 15 zu riechen vermochte; deswegen liegen gerade die Teenagerjahre so unversehrt und stark in der Erinnerung und lässt sich Heimat in gewisser Weise erriechen.

Gerüche vermögen einen von einem Moment zum anderen in eine Stimmung zu versetzen, die einem erst noch ein Rätsel ist; der Hauch von Stallmist, der von einem 100 Meter entfernten Karren weht und den Erwachsenen auf die Pferdekoppel seiner Kindertage bringt; die Frau, die durch den Duft eines Mitreisenden in der Bahn plötzlich eingeschüchtert ist, weil ihr Tanzlehrer in diesen für sie unglücklichen Probestunden denselben Duft hatte. Das scheinbar zu allem fähige menschliche Gehirn hat die charmante Unfähigkeit, Ort und Quelle eines erlebten Ereignisses keineswegs klar identifizieren zu können. Sie vermischen und vermengen sich. Habe ich tatsächlich selbst das gemähte Gras gerochen, die Kirchturmglocken selbst gehört? Oder habe ich einen mich emotional ergreifenden Film gesehen, in dem Gras gemäht wurde und ein Kirchturmglockenschlag zu hören war? Oder habe ich womöglich in einem mich fesselnden Buch gelesen, wie ein junger Mann meines Alters plötzlich auf die Suche nach der verlorenen Zeit geht und ich mich in der Erinnerung selbst darin wähnte, obwohl es das Rasenmähergeräusch und den Kirchturmglockenschlag nie gegeben hat?

Die Erinnerungsforschung unterscheidet zwischen dem deklarativen und dem nicht deklarativen Gedächtnis. Das deklarative ist das bewusste, willkürliche, das nicht deklarative das unbewusste, unwillkürliche Gedächtnis. Auf das deklarative Gedächtnis kann man intentional zugreifen, das nicht deklarative überkommt einen nach einem erinnernden unbewussten Auslöse-Reiz. Wenn einen das Rasenmähermotorengeräusch und das Kirchturmglockenschlagen also, ohne Ankündigung, unterhalb jeder Bewusstseinsschwelle in die Vergangenheit zurückführen, ist das eine nicht deklarative Erfahrung. Ist man so in der Kartografie der eigenen Kindheit angekommen, lassen sich ganz bewusst allerlei Bilder aufrufen, die sich einst im Umfeld der Wiese mit dem gemähten Gras abgespielt haben. Das wiederum ist die deklarative Form der Erinnerung. Die Vermischung zwischen der deklarativen und nicht deklarativen Form erklärt den Eigensinn meines Erinnerungsfilms in jenem Moment kurz vor Ladenschluss, da zwei, Jahre auseinanderliegende Szenen zugleich auftauchten, zeitlich gleichgeschaltet wurden und ich von der Wiese meiner Kindheit zum Gespür der ersten Liebe kam, ohne dass es dafür einen weiteren Anlass gegeben hätte als den des Geruchs von gemähtem Gras in einem Garten neben dem Supermarkt.

Über die Erinnerung wird das Gefühl für Zeit gebildet beziehungsweise: Während der mentalen Reise zurück wird Zeit getilgt. Der Erinnernde reist in den Resonanzraum jener Stimmung, in der er zu sich gekommen ist. Der Ort, an dem er aufgehoben war, weil der Widerspruch von Ich und Welt aufgehoben zu sein schien. Die Koordinate, an der die Spaltung von Subjekt und Objekt noch nicht ausgebrochen ist. Der Ort, der zunächst einmal nichts infrage und keine Fragen stellt. Der einen sein lässt, wie man ist, weil man durch ihn geworden ist, was man wurde.

Herrschaft der Emotionen

Der Film der Landschaft aus der Kindheit – der Kirchturmglockenschlag. Schnitt. Die Straßen an der Wiese. Schnitt. Der mähende Vater. Schnitt. Der schmatzende Kies. Schnitt. Das rote Cabrio. Schnitt. Die unerhörte wohltuende Selbstverständlichkeit von Kirchturm, Wiese, Vater, Kies und Cabrio. Jede bewusste Erinnerung ist mit Emotionen verkoppelt. Ist man traurig, hat man unangenehme Erinnerungen, ist man glücklich, angenehme. Empfindungen von Trauer oder Freude sind emotionale Wertungen. Je stärker die Emotion bei einem Ereignis im Spiel ist, desto deutlicher und besser ist die Erinnerung an dasselbe. Im menschlichen Gehirn, das als Baumeister seiner Wahrnehmung bekanntlich die Welt konstruiert, gibt es einen faszinierend autonomen Bereich, in dem explizite Erinnerungen an emotionale Erlebnisse geknüpft werden und auf implizite emotionale Erinnerungen treffen: im Arbeitsgedächtnis mit dem von ihm erzeugten unmittelbaren bewussten Erlebnis.

Sagen wir, ein Junge verliebt sich in ein Mädchen und küsst es zum ersten Mal am Ufer eines Sees, nicht weit vom Haus seiner Eltern entfernt. Die beiden liegen im Gras, ein Rasenmähermotor ist zu hören, durch die Luft schwirrt ein Propellerflugzeug. Ein halbes Jahr später verlässt das Mädchen den Jungen, und nach einer Zeit der Trauer küsst er irgendwann ein anderes Mädchen. An den ersten Kuss als solchen erinnert er sich nicht mehr, wohl aber an den Geruch von gemähtem Gras und an die Glocken des Kirchturms, die während des Kusses geschlagen hatten. Hört er Jahre später einen Kirchturmglockenschlag oder riecht er gemähtes Gras, werden sowohl das implizite als auch das explizite Gedächtnissystem aktiviert. Der Glockenklang geht vom Hörsystem direkt zur Amygdala, dem im Zentralgehirn gelegenen Koordinationskern für emotionale Angelegenheiten, und löst implizit körperliche Reaktionen aus: Muskelanspannung, Veränderungen von Blutdruck und Herzfrequenz, verstärkte Transpiration. Der Ton wandert durch den Kortex zum Temporallappen-Gedächtnissystem, wo deklarative Erinnerungen aktiviert werden. Der Junge wird Jahre später als Mann unwillkürlich und im Nu einer Hundertstelsekunde an den ersten Kuss erinnert, und plötzlich erinnert er sich wieder willkürlich und bewusst, wo er an besagtem Nachmittag mit dem jungen Mädchen gelegen hatte, ja sogar, dass sie den Flug der Propellermaschine beobachtet hatten. Es ist eine deklarative Erinnerung an ein emotionales Erlebnis. Je höher die emotionalen Anteile eines Ereignisses sind, desto eher erinnert man sich an ein Ereignis. Es ist konstante Arbeit, die dahintersteht, Arbeit, die auf einer Mission beruht. Das Läuten der Kirchturmglocken ist die Kunst, die eigene Geschichte zu Gehör zu bringen und die Kulturgeschichte zu erinnern. Unmissverständlich hat der Zuhörer zu verstehen, dass er sich auf dem Boden christlicher Tradition befindet. Die Kunst des Kirchturmglockenläutens besteht darin, Heimat herzustellen. Aber wie und wodurch?

Wenn Erinnern Wiedererleben und Wiedererleben nichts anderes als neuronales Wiedererkennen ist, dann ist Erinnerung auch Erkenntnis. Erkenntnis wiederum setzt Bewusstsein voraus, und Bewusstsein trennt – in der Definition des Neurologen António R. Damásio – ein sogenanntes »Kernselbst« vom »Protoselbst«. Das Kernselbst ist uns bewusst. Es kann durch jedes beliebige Objekt wie eine Kirchturmglocke ausgelöst werden. Des Protoselbst dagegen sind wir uns nicht bewusst. Es ist Damásio zufolge eine »Ansammlung von wechselseitig verbundenen und zeitweise zusammenhängenden neuronalen Mustern, die den Zustand des Organismus von Augenblick zu Augenblick auf verschiedenen Ebenen des Gehirns repräsentieren«. Höher als Proto- und Kernselbst ist nur noch das autobiografische Selbst veranschlagt, das aus unbelichteten Erinnerungen an viele Momente der subjektiven Erfahrung in der Vergangenheit besteht.

Ab dem Alter von drei entsteht Selbstbezug. Das sogenannte »Selbst« ist, philosophisch betrachtet, der unmittelbar gegebene Inhalt des Selbst-Bewusstseins. Das heißt, dass das Individuum im Alltag ständig wechselnde Beziehungen zu seiner Umwelt und den eigenen geistigen Zuständen aufnimmt. Dass es genau darum weiß, um seine eigene Innenperspektive also, zeichnet es als selbstbewusstes Wesen aus und macht es erinnerungsfähig. Viele empirische Daten stützen die Vermutung, dass die bewusst erlebte Gegenwart eines Orts, eines Ereignisses, einer biografischen Erfahrung eine erinnerte Gegenwart der Vergangenheit im Bewusstseins-Kontinuum ist. Und die immerzu unwillkürlich und willkürlich erinnerte Gegenwart der eigenen Herkunft ist nichts anderes als: Heimat.

Worte und Sinne

Die Gleichschaltung von Boden und Bestimmung eignet sich als Politikum, weil es als einer der letzten Begriffe Beharrung und Bedrohung, Differenz und Position an die selbst erfahrene Emotion und Erinnerung bindet. Herkunft wertet und wird bewertet. Boden wird Begriff, Begriff wird Raum, Raum wird Revier, Revier wird Polis, Polis wird Politik. Dann versteht sich die Parzelle, die kleinste Einheit Heimatraum, nicht mehr als kleinste Einheit eines kultivierbaren Stücks Welt, sondern als Trutz eines mit archaischem Bildervorrat und vitaler Lust verteidigten Reviers gegen Kräfte von außen. Heimat ist dann die dem einen bekannte, allen anderen unbekannte Grammatik des Ortes und zugleich der Code der eigenen Bindung daran. Die Verständigung mittels Codes legt die Vermutung nahe, Heimat sei eine Frage der Sprache. Dann wäre Heimat also die Geschichte eines bestimmten Ortes, die aus mir spricht. Diese Sprache in und durch sich selbst wird von Generation zu Generation weiter übersetzt, aus dem Original in einen womöglich zeitgemäßen Slang, aber dennoch bleiben Wortstamm und Semantik einander treu. Jeder Mensch beherrscht seine Sprache, die die Sprache seiner Heimat ist. Man könnte auch Muttersprache dazu sagen, wobei das Sprachliche noch weiter tonalisch ausdifferenzierbar ist: hin zum Dialekt, zum Idiom, zum Akzent.

Orts-Namen sind im Boden wurzelnde Heimat-Geschichte als Begriff. In gewisser Weise überhöhen sie die Beschaffenheit der Natur: die Erde, den Samen, die Wurzel, und tragen diese Bodenbeschaffenheit als Bezeichnung für einen entsprechenden Ort weiter, ohne dass man sich über den Namen die Bedeutung eines Ortes klarmacht. Dafür gibt es Abertausende Beispiele. Etwa außerhalb der Stadt Hamburg gibt es die kleine S-Bahn-Station Billwerder-Moorfleet. Billwerder war einst eine im Vier- und Marschland zwischen dem kleinen Fluss Bille und der großen Elbe gelegene Insel. Etymologisch dechiffriert, bedeutet Billwerder: »Insel in der Bille«. Bille wiederum stammt aus dem Slawischen und meint »weiß«. Moorfleet, lehrt uns die Schwarm-Intelligenz von Wikipedia, ist Teil der feuchten Marschgegend und stammt von Fleet für den Wasserverlauf eines Seitenarms ab; man könnte sagen: fleet im Sinne von »fließen«. Billwerder-Moorfleet heißt also übersetzt: »die Insel-Erhebung in dem durch feuchte Marschgegend hindurch in die Elbe einfließenden weißen Fluss«.