Julia Cameron / Emma Lively

Es ist nie zu spät, neu anzufangen

Der Weg des Künstlers ab 60

Aus dem Englischen von Dr. Bernhard Kleinschmidt

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Julia Cameron / Emma Lively

Julia Cameron ist Künstlerin, Bestseller-Autorin und international bekannte Seminarleiterin. Sie schreibt Drehbücher für Film und Fernsehen und produziert Dokumentarfilme; ihre journalistischen Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt in Santa Fé/New Mexico. Sämtliche ins Deutsche übersetzte Bücher von Julia Cameron sind bei Knaur MensSana erschienen.

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »It’s never too late to begin again. Creativity in the Golden Years« bei TarcherPerlgee, an imprint of Penguin Publishing Group, a devision of Penguin Random House LLC.

 

© 2016 Julia Cameron

Für die deutschsprachige E-Book-Ausgabe: © 2017 Knaur eBook

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Michaela Zelfel

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-44251-7

Hinweise des Verlags

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Wir freuen uns auf Sie!

Dieses Buch ist Jeremy Tarcher gewidmet, dessen lebenslange Kreativität uns alle inspiriert hat.

Einleitung

Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich ein Buch über Kreativität geschrieben. Es trägt den Titel Der Weg des Künstlers und erklärt Schritt für Schritt, was wir tun können, um unsere Kreativität wiederzugewinnen und zu nutzen. Ich habe dieses Buch oft als Brücke bezeichnet, weil seine Leserinnen und Leser damit von der Küste ihrer Einschränkungen und Ängste ins gelobte Land einer zutiefst befriedigenden Kreativität reisen können. Der Weg des Künstlers wurde von Menschen jeden Alters verwendet, aber am meisten haben an mein Herz jene meiner Schüler gerührt, die gerade in den Ruhestand getreten waren. In ihnen nahm ich eine spezielle Problematik wahr, die mit ihrer Reife zu tun hatte. Im Laufe der Jahre haben mich viele von ihnen um Hilfe dabei gebeten, mit Themen umzugehen, die charakteristisch für den Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand sind. Das Buch, das Sie nun in den Händen halten, baut auf einem Vierteljahrhundert Unterrichtserfahrung auf. Es ist mein Versuch, Menschen, die in eine neue Phase ihres Lebens eintreten, eine Antwort auf die Frage »Was nun?« zu geben. In diesem Buch werden typische Probleme behandelt, vor denen man in einem solchen Moment steht: zu viel Zeit, ein Mangel an Struktur, das Gefühl, dass unsere materielle Umgebung uns plötzlich überholt vorkommt, Freude auf die Zukunft, gepaart mit einer handgreiflichen Furcht vor dem Unbekannten. In diesem Sinne hat eine gute Bekannte von mir neulich besorgt zu mir gesagt: »Die Arbeit ist mein ganzes Leben. Wenn ich nicht mehr arbeite, werde ich dann etwa … gar nichts tun?«

Die Antwort lautet nein. Sie werden nicht »nichts« tun, sondern sogar sehr viel. Sie werden freudig überrascht feststellen, dass Sie über die Quelle einer lebhaften Inspiration verfügen – eine Quelle, die nur Sie allein anzapfen können. Sie werden entdecken, dass Sie mit Ihren Wünschen nicht allein sind und dass es kreative Techniken gibt, die Ihnen dabei helfen können, mit den spezifischen Problemen des Ruhestands umzugehen. Wer mit dem Weg des Künstlers gearbeitet hat, wird mit einigen dieser Techniken bereits vertraut sein, andere sind neu oder werden innovativ verwendet. Dieses Buch versucht, viele Themen anzusprechen, die nach dem Ende des Berufslebens als tabu gelten: Langeweile, Schwindelgefühle, das Gefühl, nicht mehr verankert zu sein, Reizbarkeit, Erregung und Depression, um nur einige zu nennen. Es will seinen Lesern einige einfache Techniken an die Hand geben, die eine kreative Wiedergeburt auslösen werden, wenn man sie koordiniert einsetzt. Es versucht zu beweisen, dass wir alle kreativ sind – und dass es nie zu spät ist, die eigene Kreativität zu erkunden.

Als mein Vater nach ebenso arbeits- wie erfolgreichen fünfunddreißig Jahren als Kundenbetreuer in der Werbebranche in Rente ging, hat er sich der Natur zugewandt. Er besorgte sich einen schwarzen Scottish Terrier namens Blue, mit dem er täglich lange Spaziergänge machte. Außerdem kaufte er sich ein Fernglas zur Vogelbeobachtung und stellte fest, dass ihm das Zählen seiner geflügelten Freunde viel Freude bereitete. Er sichtete Finken, Junkos, Meisen, Zaunkönige und exotische Besucher wie etwa Reiher. Die Hälfte des Jahres lebte er in Florida auf einem Segelboot, die andere Hälfte in der Nähe von Chicago. Er freute sich über den unterschiedlichen Bestand an Vögeln und war ganz bezaubert von deren Eigenheiten. Als es zu gefährlich für ihn wurde, allein auf seinem Boot zu leben, zog er für immer in den Norden, wo er sich in einem an einer Lagune gelegenen Häuschen niederließ. Dort beobachtete er Kardinäle, Tangaren, Blauhäher, Eulen und gelegentlich Habichte. Wenn ich ihn besuchte, sprang seine Liebe zur Vogelbeobachtung auf mich über. Seine Begeisterung wirkte so ansteckend, dass ich mir die von dem berühmten Ornithologen John James Audubon geschaffenen Drucke der Vogelarten besorgte, die mein Vater beobachtet hatte. Sorgfältig aufgezogen und gerahmt, machten mir diese Bilder viel Freude. Das neue Hobby meines Vaters wurde bald zu meinem eigenen, wenn auch nur teilweise.

»Man braucht bloß Zeit und Aufmerksamkeit«, sagte mein Vater immer. Im Ruhestand stellte er fest, dass er beides zur Verfügung hatte. Die Vögel leisteten ihm Gesellschaft. Er war begeistert, als in Sichtweite seines Hauses zwei große Kanadareiher ihr Nest bauten. Bei meinen Besuchen hoffte ich immer, die Reiher zu Gesicht zu bekommen, denn sie waren wunderschön und elegant. Mein Vater wartete geduldig auf sie. Diese Geduld war ein Geschenk seines Ruhestands. In seinem hektischen und von Stress erfüllten Berufsleben hatte er sich weder mit Hunden noch mit Vögeln beschäftigt, obgleich ihn die Natur immer angezogen hatte. Ganz darauf eingehen konnte er freilich erst, als er in Rente war.

Ich wiederum zog im Alter von vierundfünfzig Jahren nach Manhattan. Als ich mit vierundsechzig selbst allmählich zur Seniorin wurde, zog ich nach Santa Fe. Ich kannte zwei Menschen, die dort lebten, die Schreiblehrerin Natalie Goldberg und Elberta Honstein, die sich mit der Zucht preisgekrönter Morgan Horses beschäftigte. Man könnte sagen, dass damit meine zwei wichtigsten Interessen abgedeckt waren, denn ich liebe es, zu schreiben, und ich liebe Pferde. In meinen zehn Jahren in Manhattan hatte ich viel geschrieben, war jedoch nie geritten. Es war eine Übung aus dem Weg des Künstlers, die mich nach Santa Fe brachte. Ich hatte eine Liste der fünfundzwanzig Dinge aufgestellt, die ich liebte, und ganz oben auf dieser Liste standen Wüsten-Beifuß, Rabbitbrush, Wacholder, Elstern, Rotschulterstärlinge und ein weiter Himmel. Das heißt, die gesamte Liste bezog sich auf den amerikanischen Südwesten, während New York darin überhaupt nicht auftauchte. Was ich liebte, waren die Flora des Westens und dessen Tierwelt: Hirsche, Kojoten, Rotluchse, Adler, Habichte. Als ich meine Liste zusammenstellte, dachte ich nicht an mein Alter, wenngleich mir jetzt klar ist, dass der Umzug von New York nach Santa Fe womöglich mein letzter größerer Ortswechsel gewesen ist.

Mit der Absicht, innerhalb von drei Tagen eine Bleibe zu finden, flog ich von New York nach Santa Fe und machte mich auf die Suche. Ich stellte eine Liste von allem auf, was ich meiner Meinung nach haben wollte: eine Wohnung – kein Haus – in Gehnähe zu Restaurants und Cafés sowie mit Blick auf die Berge. Die erste Wohnung, die die Maklerin mir zeigte, entsprach jeder einzelnen Voraussetzung auf meiner Liste, doch ich fand sie trotzdem scheußlich. Wir klapperten ein Angebot nach dem anderen ab. Viele der Wohnungen waren mit hellem Teppichboden ausgelegt, und aus meiner Zeit im nicht weit entfernten Taos wusste ich, dass dies in dieser Gegend eine Katastrophe war.

Endlich, am Spätnachmittag meines ersten Tages in Santa Fe, brachte die Maklerin mich zu einem letzten Haus.

»Ich weiß gar nicht, wieso ich Ihnen das überhaupt zeige«, sagte sie, während sie durch ein Gewirr ungepflasterter Straßen zu einem kleinen Adobehaus fuhr, in dessen Garten allerhand Spielsachen herumlagen. »Hier wohnt eine Frau mit vier Kindern«, sagte sie entschuldigend. Ich warf einen Blick in das Haus. Auch hier lagen überall Klamotten und Spielzeug herum. Ein Sofa stand neben dem anderen.

»Ich nehme es«, erklärte ich der verblüfften Maklerin. Das Haus war von Wacholderbäumen umgeben. Man hatte keinen Bergblick, und es war meilenweit von Restaurants und Cafés entfernt. Dennoch rief es mir zu, hier sei ich nun daheim. Die steile Zufahrt war im Winter sicher eisglatt, und ich ahnte, dass ich mich daran gewöhnen musste, eingeschneit zu sein. Dafür gab es einen achteckigen Raum, durch dessen Fenster man auf die Bäume blickte. Mein Vater wäre begeistert von diesem bestens zur Vogelbeobachtung geeigneten Zimmer gewesen. Ich habe es zu meinem Schreibzimmer gemacht und freue mich jeden Tag über das muntere Treiben draußen.

Inzwischen wohne ich schon beinahe drei Jahre in diesem Adobehaus am Berghang und habe nicht nur Bücher, sondern auch Freunde gesammelt. Santa Fe hat sich als gastfreundlich erwiesen. Es ist eine Stadt voll lesender Menschen, in der mein Werk geschätzt wird. Oft erkennt man mich von meinen Umschlagfotos her. »Danke für Ihre Bücher!«, sagen die Leute. Ich baue mein Leben in Santa Fe sorgfältig auf; meine Freundschaften gründen auf gemeinsamen Interessen. Da ich Kreativität als spirituellen Weg empfinde, gehören viele Buddhisten und Wicca-Anhänger zu meinem Kreis. Wenn ich alle drei Monate wieder nach Manhattan komme, um Workshops zu leiten, empfängt mich die Stadt freundlich, aber die Eindrücke überfluten mich. Ich stelle mich den Kursteilnehmern als »Julia aus Santa Fe« vor. Dort lebe ich unheimlich gern, erkläre ich ihnen, und das stimmt.

Meine Post landet in einem klapprigen Briefkasten, der unten an meiner Einfahrt steht. Ich muss mich zwingen, den Kasten zu öffnen, um sie herauszunehmen. Vieles, was ich erhalte, ist unwillkommen. Im März meines ersten Jahres in Santa Fe bin ich fünfundsechzig geworden, doch schon im Januar war meine Post mit Propaganda zum Thema Altern infiziert. Fast täglich erhielt ich Hinweise darauf, dass ich als Seniorin zusätzlich zur öffentlichen Krankenversicherung noch spezielle Versicherungen brauchte. Ich empfand diese Sendungen als aufdringlich und fühlte mich beobachtet. Woher wussten die Absender überhaupt, dass ich fünfundsechzig wurde?

Unwillkürlich grauste mir vor meinem Geburtstag. Auch wenn ich mich im Herzen jung fühlte, wurde ich offiziell als Seniorin kategorisiert. Eine Werbesendung ging so weit, mir die Finanzierung einer Grabstätte nahezulegen. Ich wurde also nicht nur älter, sondern näherte mich eindeutig auch dem Ende meines Lebens. Wollte ich meine Angehörigen mit den Bestattungskosten belasten? Nein, das wollte ich nicht.

Solche Sendungen wurden zu einem Spiegel, der mich in einem grellen, unerbittlichen Licht darstellte. Meine Lachfältchen wurden zu Runzeln, an meinem Hals zeigten sich Falten. Ich musste an Nora Ephrons Erinnerungen denken, die den Titel Der Hals lügt nie tragen. Als ich das Buch mit sechzig Jahren gelesen hatte, war es mir melodramatisch vorgekommen, aber damals hatte ich mir noch keine Sorgen um meinen eigenen Hals gemacht und war noch nicht offiziell zur Seniorin erklärt worden.

Als Senioren werden Menschen bezeichnet, die fünfundsechzig Jahre oder mehr auf dem Buckel haben, aber nicht jeder, der so bezeichnet wird, fühlt sich auch so. Abgesehen davon gehen nicht alle mit fünfundsechzig in den Ruhestand; manche tun das mit fünfzig, andere mit achtzig. Das Alter ist eine relative Angelegenheit. Die meisten künstlerisch tätigen Menschen gehen nie in Rente. Nicht umsonst hat der Filmregisseur John Cassavetes bemerkt: »Egal, wie alt man wird – wenn man sich den Wunsch erhält, kreativ zu sein, bleibt das Kind im Manne lebendig.« Cassavetes war selbst ein gutes Beispiel für das, was man als »jugendliches Altern« bezeichnen könnte. Als Schauspieler und Regisseur drehte er Filme, die seine Überzeugungen widerspiegelten. Mit einem Ensemble, zu dem seine Frau Gena Rowlands gehörte, erzählte er Geschichten von menschlicher Vertrautheit und Verbundenheit. Als er älter wurde, trat er selbst in seinen Filmen auf, wobei er an Sorgen und Konflikten leidende Männer darstellte. Selbst wenn er die älteste Figur im Film spielte, war er im Herzen immer jung. Wenn wir uns daran orientieren, können wir uns ein leidenschaftliches Interesse am Leben bewahren und uns rückhaltlos neuen Projekten widmen. Auch mit fünfundsechzig können wir noch dynamische Anfänger sein.

Soweit ich gehört habe, beträgt der Altersdurchschnitt in Santa Fe sechzig Jahre. Die Stadt ist als Alterssitz sehr beliebt, und beim Einkaufen fallen mir tatsächlich viele ältere Menschen auf. »Schreiben Sie immer noch?«, ist eine Frage, an die ich mich beinahe schon gewöhnt habe. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, nicht mehr zu schreiben; sobald ich ein Projekt abgeschlossen habe, wende ich mich dem nächsten zu und fürchte mich geradezu vor der Pause dazwischen. Dabei misstraue ich meiner eigenen Arbeit. Obwohl ich inzwischen mehr als vierzig Bücher verfasst habe, fürchte ich bei jedem Buch, es könnte mein letztes sein, weil mir das Alter schließlich doch ein Schnippchen schlagen wird.

Darüber habe ich mich vor einer Weile mit Barbara McCandlish unterhalten, einer begabten Therapeutin.

»Ich bin traurig«, sagte ich, »weil ich Angst habe, dass ich nie wieder etwas schreiben werde.«

»Ich glaube eher, du hast Angst vor dem Älterwerden«, meinte Barbara. »Wenn du darüber schreibst, wirst du wahrscheinlich wieder befreit arbeiten können.«

Die Lösung ist immer Kreativität.

Der Dramatiker Richard Nelson widmet sich ständig neuen Projekten, ohne sich um sein Alter zu scheren. Eines seiner neueren Werke, ein Dramenzyklus, ist ein Beispiel dafür, was man mit echtem Engagement erreichen kann.

John M. Bowers, ein großartiger Autor, hat seinen ersten Roman mit sechzig verfasst. Heute arbeitet er im Alter von vierundsechzig Jahren intensiv an seinem zweiten, der länger und ambitionierter als der erste sein soll. Er weist gern darauf hin, dass Laura Ingalls Wilder ebenfalls vierundsechzig war, als sie ihren Erstling Laura im großen Wald, den ersten Band ihrer Reihe Unsere kleine Farm, veröffentlichte. Eine Autorenlesung in Santa Fe hat er neulich mit der Bemerkung begonnen, wegen der hellen Bühnenbeleuchtung würde man leider seine vielen Falten sehen. Er ist ein attraktiver Mann und nimmt sein Alter trotz solcher Scherze auf die leichte Schulter. Aus meiner Sicht hält ihn sein kreatives Schaffen geistig wesentlich jünger, als dies sein offizielles Alter besagt.

Meine Freundin Laura aus Chicago nimmt mit Mitte sechzig an dem anstrengenden Zumba-Tanztraining teil, das in ihrem Fitnessstudio angeboten wird. »Ich schaffe es, mitzuhalten«, sagt sie bescheiden. In Wirklichkeit tut sie mehr als das; sie hat eine stolze Körperhaltung und eine elektrisierende Energie. »Es ist bloß dreimal pro Woche«, hat sie mir erzählt, doch das reicht eindeutig aus, um eine Wirkung auf ihren Körper und ihren Optimismus zu haben. Getanzt hat Laura schon immer gern, seit sie in ihrer Kindheit Ballettunterricht hatte, und da sie nun ein Training gefunden hat, das ihrer spielerischen, kreativen Natur entspricht, blüht sie richtig auf – und trainiert konsequenter als je zuvor.

Wade wiederum, silberhaarig, aber fit, hat vor kurzem eine lange Karriere im akademischen Bereich an den Nagel gehängt. An der philosophischen Abteilung seiner Universität war er für seine charismatischen Vorlesungen bekannt, staunte jedoch über sich selbst, als er im Ruhestand Lust bekam, an einem Schauspielkurs teilzunehmen. Schon als junger Mann war er Mitglied einer Amateurtruppe gewesen, nun verfolgt er die Schauspielerei mit großer Leidenschaft. In demselben Theater, in dem er in seiner Jugend aufgetreten ist, hat er in einer Bühnenfassung von Besser geht’s nicht die Rolle übernommen, die Jack Nicholson in dem gleichnamigen Film gespielt hat. »Meine Rückkehr auf die Bühne«, sagt er grinsend. Seine Begeisterung ist greifbar, und die jüngeren Mitglieder der Truppe brennen darauf, seine Geschichten aus der Vergangenheit zu hören.

Im Ruhestand haben Laura und Wade die Leidenschaften ihrer Jugend wiedergefunden. Das ist kein Zufall; in unserem ganzen bisherigen Leben finden sich Hinweise darauf, was uns in unserem »zweiten Akt« Freude machen wird.

Ein Freund namens Barry, der als Junge mit seiner Boxkamera auf Fotosafari gegangen ist, hat diese Leidenschaft wiederentdeckt, nachdem er eine lange Laufbahn in der Telekommunikationsbranche beendet hatte. Er fing wieder an zu fotografieren, eignete sich fasziniert die neuen Möglichkeiten an, die Digitalkameras zu bieten haben, und kam rasch auf die Idee, seine Aufnahmen mit Photoshop zu bearbeiten. Die Fotos, die er fast täglich auf Facebook postet, sind ebenso geheimnisvoll wie schön. Manchmal sind sie eher realistisch, manchmal ist es eine veränderte Version der ursprünglichen Aufnahme, mit der Barry seinen persönlichen Eindruck, seinen eigenen künstlerischen Blick wiedergibt. Oft bearbeitet er ein Bild so lange, bis es an ein klassisches Gemälde erinnert.

»Als ich fünf war«, erzählt er, »saß ich oft auf dem Schoß meines Vaters, um mit ihm ein Buch über berühmte Gemälde anzuschauen. Er hat mir die Bildunterschriften vorgelesen. Damit haben wir uns mehrere Wochen lang beschäftigt, in denen ich viel große Kunst kennengelernt habe. Das ist haftengeblieben.« Wenn seine Freunde sagen, er habe seine Berufung wohl immer schon gekannt, reagiert er mit Bescheidenheit. »Ich war mir dessen wirklich nicht bewusst«, sagt er. »Wahrscheinlich gilt das für viele Menschen.«

»Jedes Kind ist ein Künstler«, hat Picasso bemerkt. »Das Problem besteht darin, einer zu bleiben, wenn man erwachsen ist.« Leidenschaft, Hingabe und vor allem der Mut, Anfänger zu sein, sind die Eigenschaften, die man braucht – und das sind Eigenschaften, die durchaus in unserer Reichweite sind.

Kürzlich saß ich mit einem künstlerisch tätigen Freund beim Abendessen. Mit siebenundsechzig arbeitet er immer noch täglich als Schriftsteller, Radiomoderator und Kursleiter. Wir kamen auf meine aktuellen literarischen Projekte und meine Überlegungen zum Thema Ruhestand zu sprechen.

»Künstler gehen nicht in den Ruhestand«, sagte er einfach.

Das stimmt. Mit dreiundachtzig Jahren hatte Tom Meehan am Broadway in einer Saison gleich zwei Musicals laufen. Heute ist er sechsundachtzig und arbeitet an einem neuen. Roman Totenberg, ein bekannter Geiger und Lehrer, hat bis zu seinem Lebensende mit über neunzig Jahren unterrichtet und konzertiert. Als Frank Lloyd Wright mit einundneunzig starb, befand sich das letzte von ihm geplante Gebäude noch im Bau. B.B. King ist bis sechs Monate vor seinem Tod im Alter von neunundachtzig Jahren auf Tournee gegangen. Oscar Hammerstein II. wurde zwar nur fünfundsechzig, erlebte aber noch, wie The Sound of Music am Broadway uraufgeführt wurde. Sein letzter Song – »Edelweiß« – wurde noch während der Proben eingebaut.

Was können wir alle davon lernen? Unsere Fähigkeit zur Selbstentfaltung hat kein Ende und sollte das auch nicht haben. Wir sind alle kreativ, wir besitzen alle etwas Einzigartiges, was wir der Welt schenken können. Zeit und Erfahrung stehen auf unserer Seite. Der Ruhestand ist eine Zeit, neue Projekte anzugehen und Träume zu erfüllen, eine Zeit, die Vergangenheit wieder aufzusuchen und das Unbekannte zu erforschen. Es ist eine Zeit, unsere Zukunft zu gestalten.

Die Grundprinzipien der kreativen Erneuerung

Wie man dieses Buch verwendet

Dieses Buch enthält ein zwölfwöchiges Programm für alle, die ihre Kreativität entwickeln wollen. Es ist nicht nur für ausgewiesene Künstler gedacht, sondern für all jene, die sich im Übergang zum zweiten Akt des Lebens befinden. Das heißt, sie lassen ein bestimmtes Leben hinter sich und brechen in eines auf, das erst noch geschaffen werden muss. Für manche bedeutet das, ihre Berufstätigkeit hinter sich zu lassen, für andere, mit einem leeren Nest konfrontiert zu sein, weil die Kinder erwachsen und von zu Hause ausgezogen sind. Wieder andere wollen vielleicht einfach ihren kreativen Geist in dem Moment wieder auffrischen, in dem man sie mit einem Mal als »Senioren« bezeichnet.

In jeder Woche werden Sie das entsprechende Kapitel lesen und die darin enthaltenen Aufgaben erledigen. Sie werden mit vier Basistechniken arbeiten: den täglichen Morgenseiten, dem einmal pro Woche stattfindenden Künstlertreff und dem Solospaziergang zweimal in der Woche. Dazu kommen die Memoiren, die sich über die gesamten zwölf Wochen hinweg entfalten und dazu dienen, Ihre ureigene Geschichte in überschaubaren Abschnitten zu rekapitulieren.

Zwölf Wochen – oder drei Monate – sind ein scheinbar langer Zeitraum. Betrachten Sie ihn als eine Investition in die nächste Phase Ihres Lebens, die Sie nicht mehr als ein paar Stunden pro Woche kostet.

Im Buch gibt es immer wieder Stellen, an denen Sie ein Notizbuch und einen Stift brauchen – nicht nur für Ihre Morgenseiten, sondern auch zur Selbstreflexion. Da Sie in dieses E-Book nichts hineinschreiben können, sollten deshalb Notizbuch und Stift beim Lesen in Reichweite sein. Sie sind wichtige Utensilien auf Ihrem Weg zur Kreativität.

Die Basistechniken

Die Morgenseiten: Gleich nach dem Aufstehen notieren Sie handschriftlich alles, was Ihnen in den Sinn kommt. Es ist nur für Sie bestimmt.

Die Memoiren: Durch einen angeleiteten Prozess werden Erinnerungen ausgelöst, mit denen Sie Ihr Leben über jeweils mehrere Jahre hinweg rekapitulieren.

Der Künstlertreff: Jede Woche brechen Sie einmal allein auf, um etwas zu erforschen, was Ihnen Freude macht.

Der Spaziergang: Zweimal pro Woche gehen Sie zwanzig Minuten allein spazieren, ohne Begleitung von Hund, Freunden und Mobiltelefon.

Die Morgenseiten

Die zentrale Basistechnik der kreativen Gesundung bezeichne ich als Morgenseiten. Es sind drei von Hand geschriebene Seiten, auf denen es um wirklich alles gehen kann. Sie werden gleich nach dem Aufstehen beschrieben, und niemand bekommt sie zu sehen. Bei den Morgenseiten kann man nichts falsch machen. Ich stelle sie mir gern als Scheibenwischer vor, mit dem wir alles entfernen, was zwischen uns und einem klaren Blick auf den angebrochenen Tag steht.

Manchmal wird Ihnen der Inhalt dieser Seiten belanglos und trivial vorkommen (»Ich habe vergessen, Vogelfutter zu kaufen. Das neue Geschirrspülmittel taugt nicht viel. Ich muss meine Mitgliedschaft im Automobilclub kündigen. Das Druckerpapier geht allmählich aus. Ich muss meinen Bruder zurückrufen …«), aber sie bahnen den Weg für weitere kreative Abenteuer.

Diese Seiten teilen uns und dem Universum exakt mit, wo wir gerade stehen. Dadurch sind sie eine Art aktive Meditation. Man kann sie auch als winzigen Staubwedel sehen, mit dem wir aus jeder Ecke unseres Lebens den Staub entfernen, der sich dort niedergelassen hat. Oft regt sich in uns Widerstand gegen die Morgenseiten, weil wir behaupten, keine Zeit dafür zu haben, aber sobald mehr freie Zeit verfügbar wird, kommen wir immer besser damit zurecht.

Anders gesagt: Für Leute im Ruhestand sind die Morgenseiten geradezu ideal.

»Julia, ich habe einfach keine Zeit« wird zu »Julia, ich habe massenhaft Zeit – und ich will wissen, was ich damit anfangen soll«. In solchen Fällen erkläre ich, dass die Morgenseiten wie ein spirituelles Funkgerät wirken. Indem wir unsere Ärgernisse, Ängste, Freuden und Wünsche niederschreiben, teilen wir dem Universum mit, wer wir wirklich sind. Da wir ganz frei schreiben, werden wir auch im Leben freier und entdecken in unserem Tagesablauf kostbare Dinge, die wir bisher womöglich gar nicht bemerkt haben. Wir ahnen intuitiv, wie unsere nächsten Schritte aussehen sollen. Wir werden behutsam und gut an die Hand genommen. Oft behandeln uns die Morgenseiten mit liebevoller Strenge. Wenn wir angesichts eines wichtigen Problems vermeiden zu handeln, werden die Seiten uns so lange zusetzen, bis wir ihren Vorschlägen Folge leisten.

»Julia, durch die Morgenseiten habe ich mich dazu gebracht, die Finger vom Alkohol zu lassen«, hat man mir oft berichtet.

»Julia, mit Hilfe der Morgenseiten war ich bereit, meine Essgewohnheiten und meine mangelnde Bewegung unter die Lupe zu nehmen. Seither habe ich mehr als zwanzig Kilo abgenommen.«

Es ist sehr schwierig, Morgen für Morgen und Seite um Seite über etwas zu klagen, ohne zu konstruktivem Handeln angeregt zu werden.

Durch die Morgenseiten stellen wir einen bewussten Kontakt mit unserem Schöpfer her. Sie bilden eine Brücke, über die wir in ein neues Leben gehen können, in ein Leben, das besser zu unseren Träumen und Ambitionen passt.

»Julia, ich habe Angst vor diesen Seiten«, höre ich manchmal. Die Morgenseiten sind nett zu uns, beruhige ich die Ängstlichen.

»Mir ist nicht klar, wie das funktionieren soll«, erklären die Zweifler.

»Versuch es einfach«, schlage ich vor. Bei den Morgenseiten kann man nichts falsch machen; sie sind eine Technik, die auf Erfahrung basiert. Durch ihre Praxis entsteht Vertrauen.

Wie man beim Flug in einem Düsenjet dessen Geschwindigkeit erst dann wahrnimmt, wenn Turbulenzen auftreten, ist man sich beim Schreiben der Morgenseiten womöglich nicht bewusst, wie schnell man sich fortbewegt. Es ist unmöglich, die Morgenseiten zu schreiben, ohne Veränderungen zu bewirken, und trotzdem beschweren sich manche, sie würden zwar brav ihre Seiten füllen, aber das wäre schlicht und einfach langweilig.

»Schreib weiter«, rate ich solchen Trotzköpfen. »Wenn du weiterschreibst, wirst du einen Durchbruch erleben.«

»Hör mal, Julia, es passiert wirklich absolut nichts«, höre ich manchmal von jemandem, der sich mit Lichtgeschwindigkeit verändert. Oft bleibt unsere kreative Gesundung unsichtbar, weil wir uns in unerwartete Richtungen verändern. Ich habe erlebt, wie Schriftsteller zum Malen kommen, Rechtsanwälte zum Schreiben, Lehrer zum Singen. Wir öffnen uns alle in die Richtung, die für uns passt. Ich sage oft, wenn man diese Techniken anwendet, ist das wie das Schütteln eines Apfelbaums – woraufhin das Universum uns Orangen schenkt.

Nicht jeder öffnet sich für etwas Künstlerisches. Carol zum Beispiel arbeitet ehrenamtlich bei einem Alphabetisierungsprogramm für Erwachsene mit, was ihr viel Freude macht und ihre leeren Stunden füllt. Anthony ist einem Schachclub beigetreten, Monty spielt regelmäßig Bridge. Oft ergibt sich durch die Morgenseiten, dass wir unsere Hobbys von neuem zu schätzen wissen. Wenn Sie das nächste Mal also auf die Idee kommen sollten, dass »nichts« passiert, denken Sie doch bitte noch mal nach.

Indem wir die Morgenseiten schreiben, üben wir uns in Aufmerksamkeit, was immer eine heilsame Wirkung hat. Viele beginnen mit dieser Praxis, ohne ihren therapeutischen Wert zu erkennen. Wir alle tragen Wunden mit uns herum, von denen einige schlimmer sind und einige weniger schlimm. Manche von uns haben als Kind schwere Schläge erlitten, bei anderen sind Wunden entstanden, als sie bereits erwachsen waren. Indem wir schreiben, machen wir den Schaden, den wir erlitten haben, ganz konkret wieder gut.

In den Morgenseiten ist Hoffnung für die Zukunft enthalten. Sie wird uns bewusst, indem wir uns auf die Gegenwart konzentrieren, denn auf unserem Weg durch den Tag kommen wir an viele Stellen, an denen wir uns entscheiden können. Wenn wir unsere Wahlmöglichkeiten erkennen, hellt sich unsere Stimmung auf – und unser Leben ebenfalls.

Wer sich zum ersten Mal mit den Morgenseiten beschäftigt, fühlt sich vom Ansturm so vieler bislang vermiedener Emotionen womöglich überfordert. Normalerweise sind wir daran gewöhnt, uns vage auszudrücken, doch das genügt uns jetzt nicht mehr. Gewöhnlich sagen wir etwa: »Damit komme ich ganz gut zurecht«, obwohl wir in Wirklichkeit etwas ganz anderes empfinden. Die Morgenseiten fordern uns dazu auf, uns präzise auszudrücken. Statt zu behaupten, wir kämen ganz gut mit etwas zurecht, schreiben wir vielleicht: »Ich bin wütend, ärgere mich, fühle mich bedroht« – was etwas ganz anderes ist. Wenn wir lernen, unseren Gefühlen einen Namen zu geben – und uns zu ihnen zu bekennen –, wirken sie weniger überwältigend. Und wenn wir uns unsere negativen Emotionen eingestehen, halten wir sie allmählich nicht mehr für schlecht. Zum Beispiel schreiben wir: »Ich werde bedroht«, »Ich bin eifersüchtig«, oder: »Ich bin wütend.« Wenn wir die Emotionen spüren, die wir bisher nicht zur Kenntnis genommen haben, bekommen wir ein Mittel an die Hand, mit ihnen umzugehen. Wir werden davon nicht mehr einfach überfallen. Indem wir unsere Morgenseiten nutzen, um unsere schwierigen Gefühle zu erforschen und auszudrücken, eignen wir uns die kostbare Kunst an, authentisch zu sein. Zuerst auf einem Blatt Papier und dann im Leben ziehen wir neue Grenzen. Wir versuchen nicht mehr, den anderen mit Notlügen zu gefallen. Wir geben uns schreibend zu erkennen und merken dann bald, dass wir auch im Alltag unsere Interessen vertreten.

Beim Schreiben der Morgenseiten finden wir unsere wahre Orientierung. Wir klären unsere eigenen Werte. Wir werden aufrichtiger, zuerst uns selbst und dann den anderen gegenüber. Während wir früher Angst hatten, andere mit unserer Aufrichtigkeit zu vergraulen, stellen wir nun fest, dass das Gegenteil zutrifft: Wenn wir genesen und wachsen, tun das auch unsere Beziehungen.

Die Morgenseiten werden von Hand geschrieben. Weshalb? In jedem Kurs, den ich leite, weist jemand darauf hin, dass man auf dem Computer doch viel schneller schreibt. Wäre es da nicht effizienter, wenn …?

Nein, das glaube ich nicht.

Die Morgenseiten müssen unbedingt handschriftlich sein. Wenn wir von Hand schreiben, sind wir langsam genug, um unsere Gedanken exakt aufzuzeichnen. Auf dem Computer hauen wir das, was wir denken, einfach in die Tasten. Von Hand zu schreiben ist so, wie mit Tempo fünfzig zu fahren. »Ach«, sagen wir, »da vorn muss ich abbiegen. Und schau mal an, da ist ja ein kleiner Supermarkt, in dem man mal was besorgen kann.«

Auf dem Computer zu tippen ist wie eine Fahrt mit der doppelten Geschwindigkeit. »Ach du lieber Himmel, hätte ich da nicht abbiegen sollen?«, überlegen wir. »War das da hinten eigentlich ein Supermarkt oder eine Tankstelle?« Wir nehmen alles nur flüchtig wahr und sind uns nicht ganz sicher, was wir sehen und empfinden. Wir verpassen wichtige Wegweiser und Einzelheiten. Wenn wir von Hand schreiben, erkennen wir genau, welchen Dingen wir begegnen. Von Hand zu schreiben führt zu einem handgemachten Leben. Gut möglich, dass wir am Computer schneller sind, aber um Schnelligkeit geht es uns hier nicht. Wir schreiben von Hand, um eine exakte Verbindung zu dem herzustellen, was wir denken und empfinden. Am Computer jagen wir dahin und reden uns ein, was in unserem Leben geschieht, sei »schon in Ordnung«. Aber was bedeutet das eigentlich?

Diese Frage wird beantwortet, wenn wir von Hand schreiben.

Ich bin traurig, und die Worte, die ich aufs Papier bringe, sagen mir, weshalb. Ich vermisse meine Hündin Tiger Lily, die vor zwei Monaten gestorben ist. Ich vermisse meine Tochter, die in New York ist, um ihren Vater zu besuchen. Was ich vermisse, ist spezifisch – die Gewohnheit meiner Hündin, auf dem Orientteppich vor sich hin zu dösen; die liebe Stimme meiner Tochter, wenn sie mir das Neueste aus ihrem Leben erzählt. Nein, eigentlich habe ich nicht das Gefühl, dass alles »schon in Ordnung« ist. Das war eine Nebelwand, ein Dunstschleier, der zwischen mir und meiner Realität gestanden hat. Wenn mein Stift übers Papier gleitet, ist meine Aufrichtigkeit greifbar. Es ist zwar langsamer, als zu tippen, aber ich komme wesentlich schneller in direkten Kontakt zu meinen eigenen Fragen und den Antworten darauf.

Durch die Morgenseiten lernen wir, Geduld zu haben, wenn wir uns mit einer schwierigen Beziehung auseinandersetzen. Sie führen uns durch unsere Widerstände hindurch, wenn wir uns auf neue Ziele und Projekte einlassen.

Aufgabe – Die Morgenseiten

Schreiben Sie jeden Morgen möglichst bald nach dem Aufstehen drei Seiten über absolut alles, was Ihnen in den Sinn kommt. Diese Seiten werden von Hand geschrieben und sind nur für Sie selbst bestimmt. Ich schlage vor, Papier im DIN-A4-Format zu verwenden; kleinere Bogen schränken das Denken ein. Bitte schreiben Sie wirklich von Hand – wenn wir einen Computer nehmen, hat das eine andere Wirkung, auch wenn wir dann das Gefühl haben, »schneller« zu sein. Man fragt mich oft, ob diese Aufgabe unbedingt vor der ersten Tasse Kaffee erledigt werden muss. Da ich selbst ausgesprochen gern Kaffee trinke, würde ich nie jemanden von seinem morgendlichen Wachmacher abhalten. Allerdings sollten Sie keine Dreiviertelstunde damit verbringen, die perfekte Kanne Kaffee aufzubrühen. Machen Sie sich so rasch wie möglich an die Seiten. Je schneller Sie zu schreiben beginnen, desto größer ist die Wirkung.

Zeigen Sie diese Seiten weder Ihren Familienmitgliedern noch irgendwelchen wohlmeinenden Freunden. Die Seiten sind privat, vollständig frei und folgen ausschließlich dem Bewusstseinsstrom. Dadurch wirken sie wie geistige Chiropraktik und klären das Denken für den vor uns liegenden Tag. Es soll sich nicht um »Literatur« oder auch nur um ein Tagebuch handeln, wo wir ein bestimmtes Thema strukturiert erforschen. Die Morgenseiten räumen die geistigen Trümmer weg, die zwischen uns und dem begonnenen Tag stehen. Wenn wir sie konsequent schreiben, ändern sie den Verlauf unseres Lebens.

Der Künstlertreff

Die zweite Basistechnik der kreativen Genesung bezeichne ich als Künstlertreff. Das ist eine Solounternehmung, bei der Sie einmal pro Woche etwas erforschen, was Sie interessiert oder gar fasziniert. Es ist zu erwarten, dass Sie auf inneren Widerstand treffen, wenn Sie sich selbst etwas vorschlagen, was Spaß macht. Die Morgenseiten sind Arbeit, und Arbeit erledigen wir bereitwillig. Scheinbar begreifen wir, was es bedeutet, an unserer Kreativität zu »arbeiten«.

Beim Künstlertreff handelt es sich hingegen um eine spielerische Aufgabe, und selbst wenn wir ein Lippenbekenntnis zu einer Floskel wie der vom »Spiel der Ideen« ablegen, begreifen wir nicht immer wirklich, wie die Freude am Tun uns helfen kann. Wer sich mit dem Künstlertreff beschäftigt, berichtet von Einsichten, Ahnungen und Durchbrüchen, aber auch von einem Gefühl des größeren Wohlbefindens. Manche gehen sogar so weit, zu sagen, der Künstlertreff habe ihnen einen bewussten Kontakt zu einer Macht vermittelt, die größer als sie selbst sei. Es ist also die Mühe wert, unserem Widerstand zu widerstehen.

Legen Sie für den Künstlertreff vorab einen Termin fest, so als ob Sie sich mit jemand anders treffen würden. Beobachten Sie dann, wie Ihr innerer Spielverderber in Gang kommt. Mit einem Mal gibt es tausend Dinge, die stattdessen erledigt werden sollten – oder unser Partner will sich unbedingt zu uns gesellen. Nichts da! Zum Künstlertreff gehen wir ganz allein. Wenn wir uns daran halten, werden wir mit dem Gefühl einer größeren Autonomie belohnt.

Ein Künstlertreff muss weder kostspielig noch exotisch sein. Es kann sich um etwas so Einfaches handeln wie um den Besuch einer Tierhandlung. Ich wiederum suche gern einen Buchladen für Kinder auf, schließlich können wir unseren Künstler als inneres Kind betrachten. Die Bücher in einem solchen Laden bieten gerade die richtige Menge Informationen, um an der Oberfläche eines Themas zu kratzen, das ich interessant finde, und die spielerische Natur der Umgebung ermuntert mich selbst zum Spielen, indem ich mich kurz mit vielen verschiedenen Dingen beschäftige.

Beim Künstlertreff geht es darum, dass Sie etwas frisch und aufregend finden.

Charles hat bei einem seiner Künstlertreffs eine Pflanzenhandlung aufgesucht. Dort hat er sich viele auserlesene Orchideen angesehen, sich letztendlich jedoch für eine Bromelie mit rosafarbenen und blauen Blüten entschieden, weil die Verkäuferin gemeint hat, die würde monatelang blühen.

Muriel hat einen musikalischen Künstlertreff unternommen. Sie war bei einem Konzert ihres Kirchenchors, der Händels Messias aufgeführt hat. »Es war phantastisch«, sagte sie. »Ich hatte keine Ahnung, dass die so viel Talent haben!«

Gloria hat ein Geschäft für Künstlerbedarf besucht, in dem zu Dekorationszwecken ein Plexiglaskasten mit einer hundertzwanzig Kilo schweren Schlange darin aufgestellt war. »Vor der Schlange hatte ich zwar Angst«, berichtete Gloria, »aber dafür war mein Einkauf ein echtes Abenteuer.«

Antoinette hat sich für einen ziemlich aufregenden Künstlertreff entschieden, einen Kurs im Kickboxen, der in ihrem Fitnessstudio angeboten wird. »Ich bin rasch außer Puste geraten und konnte nicht mehr mithalten«, erzählt sie, »aber ich bin entschlossen, weiterzumachen, weil ich mit Sicherheit allmählich ausdauernder werde. Schließlich war die Kursleiterin übergewichtig und hat trotzdem ein ziemlich strammes Training abgehalten. Es war gut für mich, dass sie nicht perfekt ausgesehen hat, denn das hat mir Mut gemacht.«

Beim Künstlertreff müssen wir tatsächlich mutig sein, aber dafür werden wir mit neuer Vitalität und Inspiration belohnt.

Zu den ersten Früchten des Künstlertreffs gehört eine größere Ausdauer. Wenn wir uns darauf einlassen zu spielen, stellen wir fest, dass wir nicht mehr so rasch ermüden. Die Welt ist ein Abenteuer, und wir sind abenteuerlustige Geschöpfe. Beim Planen unserer Abenteuer ist es allerdings wichtig, dass wir darauf aus sind, Geheimnisse zu ergründen und nicht, Meisterschaft in irgendetwas zu erlangen. Ach, Sie können nicht Schlittschuh laufen? Es ist nie zu spät, so etwas zu erlernen! Der jugendliche Teil von uns ist oft lange ausgehungert worden; nun müssen wir an Schönheit denken statt an Pflicht. Wir streben danach, in uns wieder ein Gefühl des Staunens zu wecken. Ein idealer Ausgangspunkt dafür ist beispielsweise ein Zoo, eine Voliere oder ein Aquarium. Dort begegnen wir Lebewesen, die uns gelegentlich mit ebenso viel Neugier betrachten wie wir sie. Wenn wir unsere Abenteuer planen, kann es sinnvoll sein, ein imaginäres Kind zu erfinden, für dessen Unterhaltung wir sorgen müssen. Aber bringen Sie bitte kein echtes Kind mit – beim Künstlertreff wollen wir das Staunen und die Begeisterung wiederfinden, die wir in unserer Jugend hatten, und zwar unbelastet von der Verantwortung, uns um jemand anders kümmern zu müssen.