
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel «Tre anni luce» bei Feltrinelli, Mailand.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2017
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«Tre anni luce» Copyright © 2013 by Andrea Canobbio
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ISBN Printausgabe 978-3-498-00943-4 (1. Auflage 2017)
ISBN E-Book 978-3-644-04681-8
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-04681-8
Für Pier Vittorio Tondelli und Daniele Del Giudice
Ich weiß jedoch von einem Chronophobiker, den so etwas wie Panik ergriff, als er zum ersten Mal einige Amateurfilme sah, die ein paar Wochen vor seiner Geburt aufgenommen waren.
Vladimir Nabokov, Erinnerung, sprich
Die Erinnerung ist ein leeres Zimmer. Verschwunden sind die mit Zeitschriften vollgestopften Regale, die Stühle und der Tisch, verschwunden die Gemälde, der Kalender und der Computerbildschirm voller Worte. Verschwunden ist auch mein Vater, der dort sitzt und auf der Tastatur tippt, beseitigt durch Tausende identischer Momente, jeden Tag aufs Neue gelöscht durch die Wiederholung der immer gleichen Gesten.
Und so wäre er geblieben, leer in der Leere, wie eine Null, wer weiß, wie lange noch, wenn nicht Cecilia aufgetaucht wäre und ihn um Hilfe gebeten hätte. Es war um sechs Uhr an einem Abend Ende März. Das Ärztezimmer der Kinderheilkunde wurde zu einer Bühne, auf der eine junge Frau im weißen Kittel erregt hin und her lief und sich beklagte, dass sie niemanden fand, der ihr half. Ihr achtjähriger Sohn lag seit ein paar Tagen auf dieser Station, und sie suchte einen Arzt oder wenigstens einen wie ein Arzt gekleideten Mann, der den Jungen überredete, etwas zu essen. Mein Vater bemerkte den auf ihren Kittel gestickten Namen eines anderen Krankenhauses, ihre geröteten, rissigen Hände, die ungepflegten Fingernägel und das Fehlen von Ringen. Er betrachtete die Hände so genau, in allen Einzelheiten, dass er sich noch Jahre später an sie erinnerte, denn er konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, ihre Augen machten ihn schon in diesen ersten Momenten verlegen.
Hatte die Frau den Kittel gestohlen, oder trug sie aus einer verrückten Modelaune einen Arztkittel, ohne Ärztin zu sein? Nein, die Begriffe, mit denen sie die Situation beschrieb, waren zu präzise, sie sprach als Ärztin. Das Kind wurde parenteral ernährt, die Elektrolytwerte und die Nierenfunktion kehrten allmählich zurück, aber der Junge musste wieder anfangen, selbständig zu essen, und er mochte die Oberschwester nicht, vielleicht könnte ein Mann ihn überreden, am Vortag war es dem diensthabenden Arzt gelungen. Der Junge hatte genug von den Frauen um ihn herum, Mutter, Großmutter, Schwester, er wollte nur in Ruhe gelassen werden. Wie die anderen auch, dachte mein Vater, die, die immer Hunger haben, und die, die nie hungrig sind, eigentlich scheinen alle nur zu wollen, dass man sie in Ruhe lässt.
Er sagte Cecilia, dass er ihr helfen wolle, und folgte ihr in das erste Zimmer der Station. Nicht, dass er große Hoffnung auf Erfolg gehabt hätte: Dies war nicht sein Gebiet, er war kein Kinderarzt und konnte mit Kindern nicht umgehen. Er vertraute darauf, dass sofort eine Krankenschwester kommen würde, um ihm die Aufgabe abzunehmen.
Der Junge saß mit dem Rücken zur Tür auf dem mittleren Bett und baumelte mit den Beinen. Über dem Pyjama trug er ein blaues Sweatshirt mit Kapuze, und auf seinem Schoß lag ein aufgeschlagenes Buch, während sein Abendessen, Grießbrei und ein geriebener Apfel, offensichtlich unangetastet auf dem Servierwagen geblieben war. Die gefüllten Teller erzählten, was passiert war: Die Oberschwester musste in ihrem üblichen autoritären Ton, der Eltern sehr beeindruckte, den Befehl zum Essen gegeben haben, der Junge hatte sich nicht beeindrucken lassen, und Cecilia war panisch geworden, sie wollte nicht, dass die Szene sich wiederholte, dass dem Kind auf diese Weise Gewalt angetan wurde.
Mein Vater hielt sie an der Tür zurück, machte ihr ein Zeichen, sie solle draußen bleiben, dann trat er mit zerstreuter Miene ein und studierte die Diagramme an den Fußenden der Betten. Ein Junge mit mürrischem Gesicht hatte das Bett an der Tür, und ein Kind mit dichtem, rotem Wuschelkopf das am Fenster. Eine Frau, wahrscheinlich eine Mutter, saß strickend in der hinteren Ecke. Es gab noch Frauen, die strickten, man sah sie in den Wartezimmern, den Gängen, geheimnisvoll und tröstlich wie alte Narben aus der Kindheit, die man manchmal auf der Haut wiederentdeckt.
Cecilias Sohn starrte das Kind mit den roten Haaren an, das auf seinem Bett zwei Dinosaurier in einen lautstarken Kampf ohne Ende verwickelte. Der Junge ähnelte seiner Mutter sehr, das Gesicht war nur leicht eingefallen, er wirkte nicht unterernährt. Auf dem Nachttisch standen neben einer Flasche Mineralwasser und einem Glas vier Spielzeugautos, abgestellt auf einem karierten Blatt Papier mit der sehr präzisen Zeichnung eines Parkplatzes mit Fischgrätmuster, und mein Vater dachte, dass dieses Kind offenbar ordentlich gemachte Dinge und überhaupt Ordnung in all ihren Variationen liebte.
Das Buch auf seinem Schoß trug den Titel Supercars. Mein Vater fragte, ob er es sich anschauen dürfe. Beim Blättern fiel sein Blick auf einen alten Aston Martin. «Das Auto von James Bond», sagte er erfreut. Er erzählte von einem Modellauto, das ihm jemand aus London mitgebracht hatte, als er klein war. Drückte man auf einen Knopf, wurde der Beifahrer herauskatapultiert. Während er sprach, hatte er sich neben das Kind aufs Bett gesetzt. Er nahm den Löffel und begann, in dem Grießbrei zu rühren, er rührte und redete, rührte und redete. So ging es eine Weile, mein Vater erzählte, welche Tricks sich in dem Aston Martin von James Bond verbargen, der hintere Schutzschild, das Gas, die Waffen, die Klingen, die aus den Naben der Räder herauskamen, und der Junge hörte stumm zu, ließ sich kein Wort entgehen.
Schließlich sagte mein Vater, er müsse jetzt gehen. Vielleicht würde er morgen wiederkommen und noch mehr vom Kampf von 007 gegen Spectre erzählen.
«Wer ist Spectre?», fragte der Junge.
«Sehr böse Menschen.»
«Diebe?»
«Diebe und Mörder, aber James Bond besiegt sie immer.»
«Und warum heißen sie Spectre?»
«Damit man Angst vor ihnen hat.»
Hinter ihnen schlug der mürrische Junge eine andere Erklärung vor: «Weil sie unsichtbar sind.» Als wäre das selbstverständlich und sattsam bekannt.
Mein Vater sah die Szene von oben wie durch ein Lampenauge an der Decke. Das Zimmer von einem langsamen Wirbel erfasst, Gegenstände und Menschen in der Luft schwebend, doch alle nach unten gezogen, wo Cecilias Sohn seinem Abendbrot den kalten Krieg erklärt hatte.
Er wandte sich zu dem anderen Bett und fragte den Jungen mit den roten Haaren, wie die beiden Dinosaurier hießen, doch der wusste es nicht oder war zu eingeschüchtert, um zu antworten. Wieder schaltete sich der andere Junge ein, nun eher naseweis als mürrisch: Es waren ein Tyrannosaurus Rex und ein Diplodokus. Die Mutter in der Ecke lächelte, ohne den Blick von ihren Nadeln zu heben.
Er ging jetzt besser, was glaubte er noch zu erreichen, wenn er blieb. Er wandte sich zur Tür. Um noch etwas Zeit zu gewinnen, fragte er den mürrischen Jungen, welche Musik er auf seinen iPod geladen hatte. Er steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und hörte in übertriebener Lautstärke eine Gruppe mit Namen Punkreas. Cecilias Sohn hatte angefangen zu essen. Er sah ihn nicht mit einem versteckten Auge, nahm ihn nicht durch einen sechsten Sinn wahr und konnte auch das Geräusch des Löffels auf dem Teller nicht hören. Er sah sein Spiegelbild in einer leeren Infusionsflasche, die zwischen den beiden Betten noch an ihrer Stange hing.
Tropfen für Tropfen verfolgte er die Szene und war so auf das kleine konvexe Bild konzentriert, dass er den Aufprall der Musik auf seine Trommelfelle erstaunlich gut ertrug. Schließlich nahm er die Stöpsel aus den Ohren und sagte dem Jungen, diese Punkreas seien interessant. «Aber mach die Musik nicht zu laut», fügte er hinzu, um in der Rolle des lästigen Erwachsenen glaubwürdig zu wirken.
Er drehte sich um und nahm den Servierwagen an sich, ohne dem Jungen in die Augen zu sehen, dabei widerstand er der Versuchung, ihn zu loben. Als er herauskam, die Trophäe der leeren Teller vor sich herschiebend, fand er Cecilia an die Wand neben der Tür gelehnt. Sie musterte ihn mit einem angedeuteten Lächeln und glänzenden Augen. Sie sagte nichts, aber sie öffnete ihre Hand, als wollte sie ihn am Sprechen hindern oder auf Abstand halten.
Also ging mein Vater mit dem Wagen zur Küche, und als er in den Flur zurückkam, war Cecilia schon wieder bei ihrem Kind. Der Flur und die Station wurden ins Vergessen gesaugt, von der Zeit verschlungen, und mein Vater ging durch die Glastür hinaus, ohne weitere Erinnerungen schaffen zu können, abgewehrt und in der resignierten Gewissheit, sie nie mehr wiederzusehen.
Ich denke an diese Begegnung zurück, an ihre Zufälligkeit, der Ursprung von allem. Sie erstaunt mich immer noch. Was macht mein Vater in der Kinderheilkunde? Er ist Internist, doch in der pädiatrischen Abteilung arbeitet sein bester Freund, und der Computer, an dem er ein Projekt mit neuen Leitlinien überarbeitet, ist ein altes, leicht zu bedienendes Modell, trotz oder wegen des schmutzigen Plastiks und des zerkratzten Bildschirms.
Mein Vater hält sich oft in dieser Station auf. Es ist kein Zufall, dass Cecilia ihn gerade dort antrifft. Es ist kein Zufall und auch kein Schicksal, das Schicksal gibt es nicht, man darf nicht ans Schicksal glauben, an Seelenverwandtschaft, die ewige Liebe und nicht einmal an die Ewigkeit. Nicht aufgrund metaphysischer Prinzipien, sondern schlicht aus Schamgefühl.
Jedenfalls passiert in seinem Leben seit zehn Jahren nichts, und wenn doch etwas passiert ist, erinnert er sich nicht mehr daran. Kein Initiationsweg, keine Offenbarung hat ihn zu diesem Nachmittag geführt. Doch als Cecilia eintritt, ihn sieht und ihn um Hilfe bittet, beginnt eine Geschichte und prägt sich im Gedächtnis ein. Alles taucht wieder auf, der Tisch aus hellem Holz mit der hellblauen Kunststoffplatte, die aus unerfindlichen Gründen in dieser Ecke des Krankenhauses gelandete Fünfziger-Jahre-Anrichte in Gelb, die Stühle aus Aluminium und die Glasschränkchen voll abgelaufener Arzneimittelmuster, der Kalender der Missionswerke mit einer Gruppe afrikanischer Kinder auf einem grünen Traktor, die naiven Malereien mit riesigen roten und gelben Paprika, die Metallbänke voller Aktenordner fürs Archiv – all das taucht unversehens wieder auf, weil Cecilia der Lichtstrahl ist, der auf die dunkle Szenerie fällt, Cecilia ist die Sonne, die die Himmelskörper erleuchtet, Cecilia erschafft die Dinge ringsum, verleiht ihnen Festigkeit und Farbe und erschafft auch meinen Vater, auch mein Vater erstrahlt in ihrem Widerschein.
Das Pathos der astronomischen Metapher ist ihm gewidmet, der es nicht geschätzt hätte, denn er ließ sich nie gehen, fast nie, selbst wenn er in die Zukunft hätte blicken können und gewusst hätte, wie diese Frau sein Leben verändern würde, hätte er sie nie mit einem Stern verglichen. Du bist ein Feuer, das in der Nacht leuchtet, du bist ein reines Quellwasser, du bist das Herz, das in den Dingen schlägt … Doch warum eigentlich nicht? Wegen der Banalität der Metaphern? Oder weil kein Bild je die Wirklichkeit ersetzen kann? Oder weil wirkliche Frauen unendlich viel kostbarer und begehrenswerter sind als ideale Frauen?
Vielleicht weil nur eins schlimmer ist als der Exzess, und das ist sein verbaler Ausdruck. Darum niemals maßlose Worte aussprechen, sich niemals maßlose Fragen stellen (gibt es die Ewigkeit? Gibt es das Glück?). Sich niemals offenbaren.
Doch am nächsten Tag ging er wieder zu dem Jungen und unterhielt sich mit ihm. Er hieß Mattia. Auf seinem Schoß lag ein großes kariertes Heft, und er zeichnete einen Parkplatz. Er hatte einen länglichen, gewundenen Umriss gezeichnet, in dessen Innerem er so viele Plätze wie möglich zu schaffen versuchte, rechteckige oder trapezförmige, je nachdem, ob es normale oder im Fischgrätmuster angelegte Plätze oder Sonderplätze für Motorräder und Fahrräder waren. Er fragte den Jungen, warum ihm Parkplätze so gefielen, musste er denn viele Spielzeugautos unterbringen?
«Nein, ich will Bauplaner werden», sagte er. Er zeigte ihm andere Seiten mit unregelmäßigen Umrissen und Parkplätzen darin. Mein Vater bemerkte sofort, dass die Formen sich glichen, es mochten verschiedene Versuche sein, einen wirklichen Ort aus dem Gedächtnis zu reproduzieren. Neben jeder Skizze hatte Mattia die Anzahl der geschaffenen Plätze notiert. Manchmal zeichnete er auch die Autos in das Muster hinein, aber von der Seite gesehen.
Und mit welchem Entwurf war er besonders zufrieden? Mattia zeigte ihm einen. Er sah aus wie der Umriss einer Ente oder eines runden Spiegels mit Griff.
«Was ist das? Ein Ort, den du kennst?»
«Das ist der Spielplatz bei unserem Haus.»
«Warum willst du einen Parkplatz daraus machen?»
«Für wenn ich groß bin.»
«Aber dann wird es andere Kinder geben, die dort spielen wollen.»
Mattia sagte nein, es werde keine Kinder mehr geben, das habe ihm seine Schwester gesagt.
«Kein einziges?»
Mattia schüttelte den Kopf. «Das liegt an etwas, was Natalität heißt, glaube ich, aber es ist eigentlich keine Krankheit.»
Mein Vater fuhr sich mit der Hand durch die Haare und murmelte: «Die sinkende Geburtenrate, natürlich, es wird keine Kinder mehr geben … davon habe ich auch schon gehört.» Er hatte davon gehört, und er dachte andauernd darüber nach, als wäre er der Hauptverantwortliche für den Rückgang der Geburten. Wenn er jetzt einen Sohn bekäme, wäre er sechsundfünfzig, wenn der Junge aufs Gymnasium kam, sechzig bei seiner Volljährigkeit und fünfundsechzig bei seinem Hochschulabschluss (ein Medizinstudium oder das Überschreiten der Regelstudienzeit wurden ausgeschlossen). Tatsächlich bestand die Gefahr, dass er die Promotion seines Sohnes nie erleben würde. Mit Sicherheit würde er ihn nie als verheirateten Mann sehen und seine Enkel nie erleben. Denn sein Sohn würde eine gewisse Schwierigkeit erben, sich fortzupflanzen.
Er fürchtete, dass es zu spät war.
Durch die Anwesenheit des Kindes hatte mein Vater einen Grund mehr, sich in der Station aufzuhalten. Mindestens einmal am Tag kam er, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln. In der Schule hatte man ihm Pinocchio zu lesen gegeben, eines der wenigen Bücher, an das mein Vater sich Szene für Szene erinnerte. Ein Gedanke darin hatte ihn immer beeindruckt: Geld säen, damit es wächst. Aber das war doch eine Erfindung von Kater und Fuchs, protestierte Mattia, das Geld wuchs gar nicht wirklich! Stimmt … aber es wäre schön gewesen. Und eines Morgens mit Eselsohren aufwachen? Sie lachten. Versuchten, das Fell an ihren Ohren zu fühlen. Es war wirklich da! Und wie traurig das vorgetäuschte Begräbnis mit den vier schwarzen Kaninchen, die den Sarg tragen; und die Erscheinung des Mädchens mit den dunkelblauen Haaren am Fenster, wie geheimnisvoll sie ist … Warum sagt sie, dass sie tot ist?
«Das hat mich immer beeindruckt», sagte mein Vater, ohne zu ahnen, wie sehr er mit diesem Ausdruck bei dem Jungen ins Schwarze getroffen hatte.
«Hat es dich beeindruckt, als er auf das Wunderfeld geht?», fragte Mattia.
«Ja, das hat mich beeindruckt.»
«Und haben die Eselsohren dich beeindruckt?»
«O ja, sehr, die haben mir immer ein bisschen Angst gemacht.»
«Und was hat dich am meisten beeindruckt?»
Jedes Mal musste er sich an eine andere Stelle im Buch erinnern, die ihn sehr beeindruckt hatte. Bis der Tag kam, an dem mein Vater, dem die Themen ausgegangen waren, ohne zu überlegen, von den Schalen und Kerngehäusen der Birnen erzählte, die Pinocchio schließlich doch essen musste, weil sein Hunger ihn dazu zwang. «Das hat mich wirklich tief beeindruckt», sagte er, und im selben Moment fühlte er sich schon vor Scham im Erdboden versinken. Mattia betrachtete ihn hingerissen und rührte sich nicht, doch mein Vater stellte sich bereits vor, wie die Mutter wütend ins Zimmer kam, ihn beschimpfte und wegjagte. Warum musste er von einer unartigen Holzpuppe reden? Als hätte das Kind nicht schon genug eigene Schuldgefühle. Doch jetzt konnte er nicht mehr aufhören, also beschrieb er all die außergewöhnlichen Nährstoffe, die in den Schalen und Kernen von Birnen stecken, dann sprach er von sonderbaren Dingen, die man nie isst, obwohl sie gesund sind: Schalen, Krusten, Kerne, Strünke, Blüten … Mattia nickte und sagte zum ersten Mal: «Ja, das hat auch mich sehr beeindruckt», und mein Vater konnte sich nicht zurückhalten und umarmte ihn. Die anderen Kinder im Zimmer beobachteten sie, aber Mattia schien es nicht peinlich zu sein.
«Eingelegte Birnen mag ich sehr», sagte er, «ich mag diesen leckeren Saft, der da am Boden zurückbleibt. Solche Birnen oder Pfirsiche habe ich immer mit meinem Opa gegessen. Mama sagt, die frischen sind besser.»
«Mama hat recht», bestätigte mein Vater.
Er sah Cecilia wieder. Doch es bot sich keine Gelegenheit, erneut ein Gespräch anzuknüpfen. Sie sprach mit den Kinderärzten oder spielte mit ihrem Sohn, auf dem Bett sitzend, und mein Vater wagte nicht, sich ihnen zu nähern. Anderen die eigenen Schwierigkeiten zu unterstellen, war eine alte Angewohnheit, vielleicht wusste er insgeheim, wie es sich wirklich verhielt, stellte sich aber lieber vor, dass Cecilia verlegen war, weil sie sich nicht einmal bei ihm bedankt hatte.
Eines Abends stand sie plötzlich vor ihm, und die Anziehung, die sie auf ihn ausübte, verwirrte ihn. Als er ihr in den Ausschnitt schaute, ein mit Sommersprossen übersätes Hautdreieck, begriff er, dass er sie berühren wollte, auf der Stelle, mitten im Flur. Doch die Vorstellung von sich selbst als unanständiger Mann, der eine nahezu Unbekannte anfasste, ließ ihn beiseitetreten, ohne die Augen vom Boden zu heben (so endete er immer, Fußböden musternd). Nachdem er schon den Sohn umarmt hatte, nun auch noch die Mutter umarmen und alle in Verlegenheit bringen?
Ein paar Wochen später begegneten sie sich in einer Bar. Mein Vater aß einen Teller geschmortes Gemüse an einem Tisch hinter einer Säule, dem Platz, wo er jeden Tag zu Mittag aß, von dem aus er den Eingang kontrollieren konnte, ohne gesehen zu werden. Da war sie plötzlich erschienen, war fast auf ihn gefallen, als hätte sie fest damit gerechnet, dass der Stuhl frei war, und sie hatte herzlich gelacht. Später sollte sie ihm anvertrauen, dass auch sie sich immer an abseits stehende Tische setzte, auch sie versteckte sich, doch an dem Tag dachte mein Vater, sie lachte über ihn, sie war die junge Frau, die sich über den hinter einer Säule versteckten, verdrossenen, ein bisschen linkischen Mann lustig machte. Die junge Frau, schön und voller Energie. Überrascht, sie so urplötzlich vor sich auftauchen zu sehen, überrascht, sie zum ersten Mal lachen zu sehen, nicht aus Nervosität oder Höflichkeit, sondern spontan und herzhaft, war mein Vater endlich genötigt und ermächtigt, ihr ins Gesicht zu blicken. Genötigt und ermächtigt senkte er ganze zwei Minuten lang nicht die Augen. Als er der Welt ins Gesicht und in die Augen sehen konnte, geschah einen Moment lang das Wunder: Sein Blick drang durch Menschen und Dinge, der Teil von ihm, der am schwersten zu ertragen war, verteilte sich ringsum, und er fühlte sich leichter.
Cecilia Re ist vierunddreißig, und das Erste, was an ihr auffällt, sind die lockigen braunen Haare, die sie zu kurz geschnitten trägt und mit einem im Nacken zusammengeschnürten Pferdeschwanz zu bändigen versucht, bis die Strähnen sich nach einer Weile befreien, erst die über den Augen, dann die hinter die Ohren gesteckten. Die Augen sind hellbraun und groß und haben fast immer einen beunruhigten oder verärgerten Ausdruck, weshalb Cecilia, wenn sie sich entspannt und sich gehenlässt, vor Glück zu strahlen scheint. Manchmal wirkt das Gesicht kindlich, unter den Zügen der Erwachsenen sieht man noch das Mädchen, das sie war. Als Kind wollte sie Wettschwimmerin werden, verbrachte Stunden im Schwimmbad (daher die Gewohnheit, das Haar kurz zu tragen), doch vor fünfzehn Jahren hat sie alles aufgegeben.
Sie entschuldigte sich lachend, sagte, er habe sie erschreckt, sie habe nicht erwartet, dass … Was, was hat sie nicht erwartet? Als wäre mein Vater nicht in allem, was er tat, der vorhersehbarste Mensch der Welt gewesen. War es das, was sie sagen wollte, dass er sie überraschte?
Sie hatte nicht erwartet, dass der Tisch besetzt war. Die Handtasche war ihr von der Schulter gerutscht, sie hielt ein Sandwich mit Paprika und Sardellen in der einen und ein Glas ACE-Saft in der anderen Hand. Sie stellte das Glas auf den Tisch und hängte sich die Tasche wieder über die Schulter. Dieses Gelächter, dieses Lächeln verflog, wie ließ es sich aufhalten? Wie sie wieder zum Lachen bringen? Mein Vater fand den geeigneten Moment, um zwischen ihren Satzfetzen das Wort zu ergreifen, und bat sie, sich zu setzen.
Sie begannen über den Jungen zu sprechen, dem es besserging, seine Kräfte kehrten zurück. Cecilia war glücklich, denn am Vormittag hatte sie ihn überrascht, als er heimlich Kekse aß. Er hatte ein kleines Loch in die Tüte gebohrt, damit man nicht sah, dass er sie geöffnet hatte. Ein findiges Kind. Mein Vater sagte, es sei schön, ihn lächeln zu sehen. «Ja», sagte sie, «ich glaube, von jetzt an kann es nur besser werden … Und ich habe mich noch nicht bei dir bedankt für den Abend damals, das hast du wirklich gut gemacht …» Die Stimme erstarb ihr in der Kehle.
Um das Thema zu wechseln, gestand mein Vater, dass er anfangs gedacht hatte, sie arbeite in einem anderen Krankenhaus, dann hatte er herausgefunden, dass sie vor kurzem in der Notaufnahme angefangen hatte. Cecilia sagte, sie habe keinen Kittel zum Wechseln und benutze manchmal noch die alten. Mein Vater kannte einen der Chefärzte in dem Krankenhaus, wo sie ihren Facharzt gemacht hatte, der Mann war vor zwanzig Jahren sein Professor gewesen. Lächelnd ahmten sie einige eitle Ausdrücke dieses Chefarztes nach, der so zum ersten Statisten im Film ihrer Gespräche wurde, der erste Vorwand, um zu reden, zusammenzusitzen und Witze zu machen.
Sie sprachen über die verschiedenen Möglichkeiten, wo man in der Mittagspause essen konnte, die für sie keine richtige Pause war, denn ihre Schichten dauerten sechs Stunden, und meistens aß sie gegen zwei Uhr. Mit überraschender Geistesgegenwart gab mein Vater vor, das wäre auch seine gewohnte Zeit, und in gewisser Weise stimmte das sogar, denn er behielt sie für die nächsten zwei Jahre bei, ohne je davon abzuweichen. Sie besprachen auch die ärgerliche Parkplatznot rund um das Krankenhaus, gingen die bequemsten Verkehrsmittel für den Weg zur Arbeit durch und erzählten von den Vierteln, in denen sie wohnten.
Cecilia wohnte neben einer großen Kirche, die der Jungfrau Maria geweiht war und gegen Ende des 19. Jahrhunderts als absurde Nachbildung eines berühmten Bauwerks im alten Rom erbaut worden war. Die Fenster ihrer Wohnung gingen auf den runden Platz, in dessen Mitte dieses Monstrum stand. Man gewöhnt sich an alles. «Stimmt, man gewöhnt sich an alles», pflichtete mein Vater ihr bei.
Und noch bevor ihm bewusst wurde, was er tat, sah er sich mit einer für ihn undenkbaren Selbstverständlichkeit von der eigenartigen Situation berichten, die vor zehn Jahren entstanden war und sein Leben seither prägte. Mein Vater war damals noch nicht mein Vater, er war ein geschiedener Mann und kinderlos (ein Mann, der an sich selbst als an einen kinderlosen Mann dachte, dem es bestimmt war, bis zu seinem Tod kinderlos zu bleiben, heimlich bekümmert über dieses anscheinend ausweglose Schicksal, auch wenn es das Schicksal gar nicht gab): Er wohnte im fünften Stock eines Hauses, wo im zweiten seine alte Mutter und im dritten seine Exfrau Giulia mit ihrem neuen Mann und ihrem sechsjährigen Sohn wohnte. Giulia hing an ihrer ehemaligen Schwiegermutter wie eine Tochter, vielleicht mehr als eine Tochter, und als sie sich nach knapp drei Jahren ohne Streitereien, ohne Bedauern, in aller Freundschaft von meinem Vater getrennt hatte, hatte sie eine Wohnung im selben Haus gemietet. Sie war auch dort wohnen geblieben, als sie wieder geheiratet hatte. In einer Art kurzgeschlossener imaginärer Verwandtschaft nannte Giulias Sohn meinen Vater «Onkel» und meine Großmutter Marta «Oma» (mich gab es noch nicht, ich konnte dieses Possessivpronomen noch nicht anfechten und für mich reklamieren).
Mein Vater hatte an dieser Situation nichts auszusetzen, vierzig Jahre hatte er als Sohn, Junggeselle, Ehemann und Geschiedener in diesem Haus gelebt, es war sein Haus. Es ist deine Entscheidung, du musst entscheiden, ob du alles zusammenhalten oder die Dinge getrennt aufbewahren willst, das Geld, den Ausweis, den Führerschein, die Kreditkarte und die EC-Karte, du kannst eine Brieftasche, einen Terminplaner, eine Ausweistasche besitzen und das Risiko verteilen, alles zusammen bei sich zu tragen, ist gefährlicher, wenn du die Brieftasche verlierst, verlierst du alles, aber das ist ein Scheinrisiko, denn in Wirklichkeit passt du sehr viel besser auf und konzentrierst deine Wachsamkeit auf einen einzigen Gegenstand. Doch im Lauf der Zeit hatte er begonnen, sich dort zwischen den anderen unwohl zu fühlen, als wäre er der Eindringling. «Für mich ist es schwierig geworden, ein Privatleben zu haben», sagte er lächelnd, und in dem Moment, als er das einer fast Fremden erzählte, wurde ihm bewusst, dass es bei der Geschichte recht wenig zu lachen gab.
Tatsächlich hörte Cecilia ihm ernst und aufmerksam zu. Die Augen waren ihr Geheimnis, mit diesen Augen konnte sie jeden erobern, der bereit war, sich erobern zu lassen. Augen in wachsamer, besorgter Bereitschaft, die nie auswichen, die dir bis zur Diagnose folgten. Dann sprachen sie wieder über sich, das Viertel am Fluss, wo sie wohnte, abgesehen von der Kirche war es eine schöne Gegend. Vielleicht erwartete mein Vater, dass Cecilia ihm sofort alles über ihr Leben erzählen würde, wie er es getan hatte. Doch die Zeit war um, und sie sagte, dass sie gehen müsse, sie sei schon zu spät dran. Von Cecilias Augen alleingelassen, folgten ihr die Augen meines Vaters bis zur Tür des Lokals, dann wanderte sein Blick zu dem leeren Glas ACE-Saft, dem halbvollen Teller Schmorgemüse und blieb an dem verlassenen Stuhl ihm gegenüber hängen. Seit langem hatte er sich nicht mehr so allein gefühlt.
Bewegt, beeindruckt, fasziniert nicht nur von der Mutter, auch von dem Kind. Beide waren auf unterschiedliche Weise und aus anderen Gründen faszinierend, Gründe, die aber eindeutig zusammenhingen, auch wenn es sich um eine Sache handelte, die ihm völlig fremd war: familiäre Beziehungen. Nicht dass er noch nie von Essstörungen bei Kindern gehört hatte, doch dieser besondere Fall war ihm unbekannt. Er war nicht einmal sicher, ob es ein besonderer Fall war. Warum hätte er auch mehr darüber wissen sollen? Er hatte fast nur mit alten Menschen zu tun. Sein Freund Antonio, der Kinderarzt, hätte ihm ähnliche Fälle nennen können, aber das war nie geschehen. Antonio hatte zwei Söhne, die wie Scheunendrescher aßen. Blättermagen und Labmagen nannte er sie: «Ihr fresst mir die Haare vom Kopf», sagte er amüsiert und stolz. Der Stolz auf ein Kind, das gerne isst. Als würde das Kind den Eltern eine Note geben. Mein Vater wusste nichts davon. Er erinnerte sich auch nicht mehr, wie er mit acht Jahren gegessen hatte. Aber er erinnerte sich an einen Ausdruck seiner Mutter: «Einen gesunden Appetit haben.»
In einer Erinnerung, die er irrtümlich seiner Pubertät zuordnete, hatte seine Mutter Marta, weil sie von etwas abgelenkt wurde, weil sie aus irgendeinem Grund besorgt oder deprimiert war, aufgehört zu kochen und einzukaufen. Das hatte er irrtümlich in die Zeit nach dem Tod des Vaters gelegt, um diesem Verhalten einen Grund zu geben, und weil etwas Ähnliches auch nach dem Tod des Vaters geschehen war. Er erinnerte sich an eine Zeit des Heißhungers oder glaubte sich daran zu erinnern, damals kaufte er riesige Stücke Pizza beim Bäcker, bevor er von der Schule nach Hause ging, und aß sie mit einem Freund auf einer Bank sitzend. Doch das hatte nicht lange angehalten, und vielleicht war es auch kein längerer Zeitraum gewesen, sondern nur ein oder zwei Mal vorgekommen, was der Groll zu etwas Wiederkehrendem gemacht hatte. Er kannte diese Erinnerungen gut und verwies sie jedes Mal in ihre Schranken, denn es mangelte ihnen an Wahrscheinlichkeit. Wie hätte seine Mutter ihm denn so etwas Schreckliches antun können?
Er dachte an den Jungen. Helle, geschmacksneutrale Speisen begannen ihn immer mehr zu interessieren. Quark, Kochfisch, Gemüsebrühen. Er wollte verstehen, was der Junge auf dem Teller sah. Setzte sich an den Küchentisch vor eine Packung gekochtem Schinken und versuchte, Widerwillen oder Gleichgültigkeit zu empfinden. Er machte kleine Zylinder aus dem Schinken und aß drei, vier Scheiben ohne Brot. Er kochte sich die faden Gerichte, die der Junge in den ersten Tagen im Krankenhaus hatte essen müssen. Grießbrei, Brühe mit Sternchennudeln, geriebener Apfel. Wenn man in Kreisen auf dem Teller rührte, zeichnete der Löffel ein Knäuel aus Linien in den Grießbrei, die sofort verschwanden, wie eine Sonde in einem Abgrund versanken. Das gleiche Knäuel erschien, allerdings mit klareren Linien, wenn man ein Stück Brot in einem kleinen See aus Olivenöl mitten in einem blauen Teller ertränkte.
Es reizte ihn, ein Geschenk für den Jungen zu kaufen, und eines Tages ging er in einen Spielzeugladen in seiner Nähe. Die Spielsachen seiner Kindheit gab es nicht mehr, dieser Laden war eine Art großes Lagerhaus, wo die Waren ausgestellt waren wie in einem Supermarkt, lange Regalreihen und lange Gänge, ein Ort, wo jemand wie mein Vater sich unweigerlich verlaufen musste, zumal er fürchtete, jemand könnte ihn enttarnen. Er hatte keine Kinder, keine Neffen, er war ein Betrüger. Nachdem er zwanzig Minuten orientierungslos herumgelaufen war, gab er auf und fragte eine Verkäuferin, ob sie Parkgaragen hätten. Die Verkäuferin brachte ihn zu einer Parkgarage, mein Vater untersuchte sie eine halbe Stunde lang in allen Einzelheiten, las alles, was auf der Schachtel geschrieben stand, und kaufte sie schließlich aus Verzweiflung. Er wusste, dass dies nicht die Parkgarage war, die er suchte, die Spielzeuggarage, die er mit acht Jahren gehabt hatte, war viel realistischer gewesen, in den Details viel ausgearbeiteter. Zu Hause angekommen, entdeckte er, dass die Aufschrift 3+ bedeutete, dass das Spiel für Kinder über drei Jahren geeignet war, also wahrscheinlich für Kinder, die nicht älter waren als vier oder fünf. Die abgerundeten Formen und reinen Primärfarben hätten ihn misstrauisch machen sollen, und jetzt erschien es ihm so klar und einleuchtend, dass es sich um ein Spiel für viel kleinere Kinder als Mattia handelte, dass er sich fragte, wie er nur einen solchen Fehler begehen konnte. Ein alter Mensch wie seine Mutter hätte so eine Parkgarage kaufen können. Er zog nicht einmal in Betracht, sie zurückzubringen und gegen ein anderes Spielzeug zu tauschen. Er warf die Schachtel in eine Ecke und versuchte, sie zu vergessen.
Es wurde ihnen zur Gewohnheit, drei oder vier Mal in der Woche zusammen zu essen. Anfangs erschien mein Vater gegen viertel vor zwei in der Bar, weil er Cecilia nicht nach den genauen Zeiten ihrer Schichten fragen konnte oder wollte. Wenn sie nachmittags Dienst hatte, war sie schon da und knabberte an einem belegten Brötchen; wenn sie morgens anfangen musste, würde sie in der nächsten halben Stunde eintreffen. Sie blieben nie länger als zwanzig Minuten am Tisch hinter der Säule sitzen. Die Regelmäßigkeit war wichtig, zu festen Zeiten essen, wenig, aber ohne Eile, und über Themen reden, bei denen man sich entspannen konnte. Vielleicht musste Cecilia sich nur wieder daran gewöhnen, eine Bindung zu wollen, eine Freundschaft oder etwas mehr, indem sie jeden Tag ein bisschen davon zu sich nahm, so wie ihr Sohn sich wieder ans Essen gewöhnte. Und obwohl seine Scheidung über zehn Jahre zurücklag, fühlte mein Vater sich in einer ähnlichen Lage.
Unglaublich, dass diese Frau Tag für Tag in dieselbe Bar zurückkehrte und wusste, dass er auch da sein würde. Er hatte von Antonio erfahren, dass Cecilia in Trennung lebte oder fast geschieden oder vielleicht schon ganz geschieden war. Die Nachricht hatte ihn nicht überrascht, er hatte sogar gemurmelt: «Ja, ich weiß», obwohl ihm klar war, dass er es keineswegs wusste, niemand konnte es ihm gesagt haben. Diese Lüge brachte ihn einen ganzen Abend lang zum Nachdenken, und als er Cecilia am nächsten Tag wiedersah, fragte er sich immer noch, was seine schwache Intuitionsgabe so beflügelt haben mochte. Er konnte nicht in Menschen lesen, vor allem nicht ihre Gefühle, und schon gar nicht erkennen, ob sie verheiratet oder verlobt oder in anderer Weise gebunden waren. Vielleicht hatte es nichts mit Intuition zu tun, es war nur die Hoffnung gewesen. Sie musste unbedingt frei sein. Sie war frei. Und tatsächlich, jetzt, wo er die Gewissheit hatte, fühlte er sich nicht besser. Denn jetzt wurde es schwierig, jetzt begann sein Projekt des homöopathischen Sich-Verliebens.
Sie gefiel ihm immer besser. Ihm gefiel, wie sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr steckte, hinter diese kleine, wohlgeformte rosa Muschel. Ihm gefiel, wie sie beim Essen mit zwei Fingern ihre Lippen berührte, auf der Suche nach einem nicht vorhandenen Krümel, oder um ihm zu bedeuten, dass sie gerade nicht sprechen konnte, mit vollem Mund. Ihm gefiel, wie sie einen Augenblick, bevor sie zu lachen begann, die Augen aufriss. Sie hatte ein Muttermal in der Kuhle, wo der Hals endet. Sie hatte einen sehr schönen Hals. Sie hatte einen grünen Fleck in der Iris des rechten Auges (wusste sie, dass sie den hatte?)
Sie sprachen viel über die Arbeit. Mein Vater beklagte sich darüber, dass er einen beträchtlichen Teil seiner Zeit damit zubringen musste, den Kindern seiner Patienten hinterherzulaufen, die immer versuchten, den Tag der Entlassung hinauszuschieben. Töchter, die seit Wochen nicht schliefen, weil ihre neunzigjährigen Mütter die ganze Nacht um Hilfe schrien, ließen sie wegen Verdacht auf Bronchialasthma einliefern und behaupteten dann, sie nicht wieder bei sich zu Hause aufnehmen und sich keine Pflegekraft leisten zu können (Schwestern oder Brüder weigerten sich, zu den Kosten für die Pflege beizutragen, weil die Schwester oder der Bruder in der Eigentumswohnung der Eltern lebte, ohne Miete zu zahlen). Je größer die Anzahl an Kindern und Enkeln, desto größer meist auch die Wahrscheinlichkeit, dass niemand sich um den alten Menschen kümmern wollte. Das andere Extrem war der einzige, unverheiratete, noch bei den Eltern lebende Sohn, der erst Sicherheit bot und dann zur Bedrohung wurde: In jenen Monaten war mein Vater nach dem Tod einer siebenundneunzigjährigen Frau von deren zweiundsiebzigjährigem Sohn wegen Vernachlässigung angezeigt worden. Lieber Herr Doktor, hatte der Mann geschrieben, mit einer riesigen Handschrift, die gefährlich zur Seite kippte, als müssten die Worte im nächsten Moment über den rechten Rand des Blattes stürzen, Sie haben meine Mama umgebracht. Das Leid, das Sie mir zugefügt haben, werde ich nie vergessen. Als ich meine Mama eingeliefert habe, habe ich Sie in Ihre Hände gegeben, und Sie konnten sie nicht kurieren. Meine Mama ist ins Krankenhaus gekommen, um zu sterben, und das werde ich Ihnen nie verzeihen. So ging es über vier Seiten weiter. Dagegen waren die sechs Wochenstunden in der Ambulanz für Endokrinologie eine Oase des Friedens.
Cecilia erzählte von seltsameren, komplizierteren, dramatischen und komischen Fällen, in der Notaufnahme kam alles vor. Viel Lästiges, viele Junkies oder Betrunkene, auf der einen Seite all die verrückten, irreführenden Geschichten, die die Patienten und ihre Angehörigen erfanden, und auf der anderen der Kampf gegen den Tod, ebenfalls endlos. Mein Vater fragte nach, er hörte sie gerne lachen und sprechen, nicht nur wegen der Leidenschaft für diesen Beruf, die man ihren Erzählungen anmerkte, sondern auch wegen ihrer fachlichen Kompetenz. Immer wieder wunderte er sich, wie exakt ihre Diagnosen, wie sinnvoll und ausgewogen ihre Therapien waren. Früher oder später, dachte er, muss ein Arzt wie ich (fleißig, sorgfältig, mittelmäßig) wenigstens einmal im Leben einem echten Naturtalent begegnen. Das war kein Neid, es war reinste Bewunderung. Vielleicht bildete er sich ein, Anteil an Cecilias Fähigkeiten zu haben, er bildete sich ein, sie als Erster entdeckt zu haben. Seine einzige Ressource, die Erfahrung, konnte man am Alter abmessen, sie war weniger geheimnisvoll als das Talent, und sie war bitterer, denn sie verdankte sich zum Gutteil Irrtümern.
Eines Tages kam Cecilia in die Bar und sagte, sie habe keinen Hunger, sie müsse ein paar Schritte gehen und reden, ob mein Vater Lust habe, sie zu begleiten? Sie gingen hinaus, und er fragte, was passiert war, denn man sah, dass etwas passiert war, etwas hatte sie erschüttert. Cecilia erzählte, heute sei ihr ein Patient auf dem Tisch geblieben, was bedeuten sollte: «Er ist mir unter den Händen gestorben», ein gängiger Ausdruck unter Ärzten, auch wenn er brutal klang und vielleicht ein Schuldgeständnis beinhaltete, obwohl es keine Schuld gab. Wenn sie es anders ausgedrückt hätte, wäre meinem Vater nichts aufgefallen, aber «Er ist mir auf dem Tisch geblieben» klang seltsam und anrührend aus ihrem Mund. Nicht dass ihm keine Patienten auf dem Tisch blieben, er schien sogar spezialisiert darin, sie vielfach, ständig auf dem Tisch bleiben zu lassen.
In die Notaufnahme war ein Mann mit Verdacht auf ein rezidives Magengeschwür eingeliefert worden. Doch der Patient hatte starke Schmerzen in der Brust, war blass und verschwitzt und hatte 180 auf einem Arm und 80 auf dem anderen. Also hatte Cecilia an die Aorta gedacht und ihn in die Radiologie zur Computertomographie geschickt. Während der alte Mann, großgewachsen, schlank, der einen verwirrten Eindruck machte, auf der Trage lag und wartete, dass man ihn holte, hatte sie ein paar Worte mit ihm gewechselt. Er hatte Schmerzen und Durst, «Ich sterbe vor Durst», sagte er. Er erinnerte sich an eine Quelle auf dem Land, wo er als kleiner Junge Wasser holen ging, dieses Wasser war so kühl, sagte er, dass das Glas der Flasche beschlug, wenn man sie füllte. Zehn Minuten später hatte man sie aus der Radiologie angerufen, er war bei der Untersuchung gestorben. «Aber ich habe ihn dir doch gerade eben geschickt», hatte sie zum Radiologen gesagt. Dass es so schnell gehen würde, hätte sie nicht gedacht.
Eines Abends, Anfang Mai, kam mein Vater aus dem Umkleideraum im Erdgeschoss und sah eine alte Frau durch den Flur gehen, keuchend, barfuß, in jeder Hand einen Schuh. Zwei Krankenpfleger waren stehen geblieben, um sie zu beobachten, doch sie blickte starr vor sich hin und achtete nicht auf das, was um sie herum geschah. Die großen Fenster auf den Innenhof standen offen, es hatte gerade aufgehört zu regnen, und in der Luft lag der Krankenhausgeruch, der gewöhnlich kaum bemerkbar ist, jetzt aber durch die Feuchtigkeit verstärkt wurde: eine Mischung aus Karbolsäure, Ammoniak mit Duftstoffen und Küchendünsten. Im Hof gab es einen Parkplatz, wo ein paar Bäumchen mit rötlichen Blättern standen, und die Autos wurden zwischen den Baumstämmen geparkt, als wäre von Anfang an statt der weißen Streifen am Boden diese natürliche Methode des Einsperrens vorgesehen gewesen.
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Je näher der Junge an der Hand des Erwachsenen kam, desto mehr ähnelte er Mattia. In diesen Tagen sollte er entlassen werden. Mein Vater hatte keine Zeit gehabt, sich von ihm zu verabschieden, und der Junge fehlte ihm schon jetzt. Die beiden gingen direkt auf den Scénic zu, und mein Vater versuchte verzweifelt, in dem erwachsenen Mann, der das Kind führte, einen Kinderarzt zu erkennen, doch das wurde mit jedem Schritt unwahrscheinlicher. Der Mann war groß und ziemlich attraktiv, trotz des kantigen Gesichts und der großen Nase.
Wie hatte er nur so naiv sein können. Als würde ein Mensch schlagartig aus dem Leben eines anderen verschwinden. Er verschwand nicht. Als würden nicht die Geschichten aller Menschen von Trägheit beherrscht. Sie wurden davon beherrscht.
Mein Vater blieb noch eine ganze Weile stehen und betrachtete den leeren Hof, unschlüssig, ob er seine starke, glühende Eifersucht auf das Kind oder die Mutter konzentrieren sollte. Er hatte immer gedacht, dass er nicht in Menschen lesen konnte, und er hatte sich nicht geirrt. Aber da gab es noch etwas. Es war, als fehlte allen Dingen die Phantasie.
Also: Am Anfang das leere Zimmer wie eine Bühne, in der Mitte ein Mann, hinter einer Säule versteckt, der die Welt belauscht, und zum Schluss ein Fenster. Im Grunde ist die Szene immer die gleiche. Er sitzt im Publikum und beobachtet. Er versteckt sich, steht am Fenster und beobachtet.
Der Sohn, den es damals noch nicht gab und der noch keinen Namen hatte, hat sich für das Schreiben entschieden. Keiner kann mich aufhalten, es gibt keine interessantere Gegenwart als diese ferne Vergangenheit, die ich nicht erlebt habe, von der ich fast nichts weiß, und die ich mir weiterhin vorstelle, indem ich die Erinnerungen anderer Menschen erfinde.