Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2018
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ISBN Printausgabe 978-3-499-27285-1 (1. Auflage 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-12451-6
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ISBN 978-3-644-12451-6
Reiche, weiße Menschen haben auch Probleme. Wobei Viktors Sorgen im Moment noch gering waren, verglichen mit später an diesem Tag. Viktor war auf dem Weg in eine Arztpraxis im ersten Stock, und da dort der Status seines Fit- und Gesundseins festgestellt werden sollte, entschied er sich gegen den Aufzug und ging zu Fuß. Natürlich hätte Viktor aus der hellen, hohen, Jugendstil-gekachelten Eingangshalle des Gründerzeitbaus schließen können, dass der erste Stock nicht im ersten Stock lag, aber tja, reingefallen, schon wieder, denn wie in jedem typischen Wiener Altbau aus einer Zeit, in der die Häuser nur eine bestimmte Anzahl von Stockwerken haben durften oder jedes Stockwerk besteuert wurde, Viktor wusste es nicht so genau, war auch hier getrickst und eine Etage mehr herausgeschwindelt worden, die man eben nicht Stockwerk nannte. Hoffentlich nicht gleich zwei, auch das gab es.
Viktor stieg die weite, geschwungene Treppe mit den blau-weiß gemusterten Zementfliesen hoch, die Fenster gaben den Blick frei in einen schmalen, von Veitschi überwucherten Innenhof. (Veitschi: Viktor kannte das jetzt, seit Magda den Schrebergarten hatte. Also korrekt, seit sie den Schrebergarten hatten, Magda, er, die Kinder. Aber Fakt war nun mal: Magda hatte den Garten und die kleine Hütte darauf – Magda nannte es: das Hausi –, Magda kümmerte sich darum, Magda war mit den Kindern und mit Freundinnen und deren Kindern dort, sobald das Wetter es zuließ; Viktor kam, man musste es so sagen, zu Besuch. Seltener, als Magda es wünschte, öfter, als es ihm gefiel. Er hatte das Hausi nicht gewollt. Wegen Viktor hätte man das Hausi nicht mieten müssen, noch mehr Arbeit, noch mehr Verpflichtungen, aber wie so oft hatte seine Meinung keinen interessiert. Immerhin, die Wohnung hatte er jetzt öfter mal für sich allein, manchmal für Tage, zum ersten Mal, seit er achtzehn war oder neunzehn, und er konnte nicht behaupten, dass es ihm nicht gefiel.)
Unter zusehends nötigerer Zuhilfenahme des hölzernen Handlaufs erreichte Viktor das Mezzanin und zog sich dann in den ersten, also eigentlich zweiten Stock hinauf, stark keuchend, was im Kontext mit dem Betreten einer Arztpraxis zum Zwecke eines Gesundheitschecks jetzt vielleicht nicht so günstig war.
Das ging schon länger so. Alles war viel anstrengender als früher. Er hätte doch den Lift nehmen sollen, aber das könnte einen falschen Eindruck erwecken, nämlich jenen, dass Viktor unfit sei. Wie es Magda zu seinem Unvergnügen permanent behauptete: Schau, Viktor, hier bist du zu mager, hier gehören Muskeln her und hier auch, dafür hast du viel Bauch, zu viel für deine Größe, Viktor, aber schöne, feste Waden hast du.
Viktor hasste das, denn Viktor war der Meinung, dass er, trotz Glatze, insgesamt wesentlich besser und jünger aussah als alle anderen Fünfzigjährigen, die er so kannte, und auch wesentlich fitter, er selbst hätte sich, erblickte er sich zum ersten Mal, so grob auf Anfang vierzig geschätzt. Erst am Abend zuvor hatte er das seinem Spiegelbild wieder erklärt, zweiundvierzig, höchstens dreiundvierzig, und hey, Augenringe hat doch jeder. Speziell in einer Position wie der seinen. Viktor hielt sich zudem für ganz schön sehnig und zäh, also für sein Alter. Tatsächlich war er vor allem mager und verfügte über entschieden zu wenig Muskelmasse, was er schon sehr bald erfahren würde, zu seiner erheblichen Verblüffung und zu seinem Ärger, denn es gab Magda recht.
Jetzt wusste er erst mal sicher, dass er unbedingt besser den Aufzug genommen hätte. Und er sollte weniger rauchen. Viel weniger. Viel, viel, viel weniger. Und er überlegte, wie lange eigentlich MDMA im Blut nachweisbar ist, länger als zwei Tage? Das wäre nicht so gut, wenn das noch nachweisbar wäre. Daran hätte er auch denken können, am Montagabend, was für ein Mann in seinem Alter und in seiner Position machte überhaupt so was? So eine Blödheit. Aber dann halt eben auch wieder gut und lässig. (Nora: Sie war Künstlerin, und sie kannten sich schon lange. Aber diesmal hatte sie zugelassen, dass er übrig blieb bei ihrer Party. Sie hatte MDMA und VH1, und der Sex war unglaublich, selbst für einen Sexmenschen wie Viktor war der Sex ziemlich toll, wegen ihr, und wegen dem MDMA, das das Knutschen verstärkte und das Fühlen und Festhalten und das In-die-Augen-Schauen, alles war stark und echt, endlos und großartig; Liebe machen. Und auf VH1 liefen die unglaublichste Musik und die unvorstellbarsten Videos, was Nora gar nicht sehen konnte, weil sie ihre Brille nicht trug, aber Viktor schon, Boney M., Dolly Parton und Kenny Rogers, Eurythmics, John Denver und Whitney Houston, Simon and Garfunkel und Marvin Gaye. John Farnhams «You are the Voice» sang er den ganzen nächsten Tag vor sich hin, We’re all someone’s daughter, we’re all someone’s son, und ihren Geruch auf seiner Haut, er musste sie dringend wiedersehen, dringend wieder Liebe machen mit ihr. Das war nur das MDMA, hatte sie gesagt, das MDMA und das VH1, und als er sie am Tag danach anrief, hob sie nicht ab.) Es hielt einen jung, wenn man sich hin und wieder so richtig deppert aufführte. Alt wurde man vom Bravsein, vom Daheim-vorm-Fernseher-Sitzen. Nur die Kinder brauchten nichts davon erfahren, also, die älteren nicht. Und die Ärztin brauchte es auch nicht unbedingt zu wissen. Allerdings fand man Spuren solcher Mittel bei einer Blutuntersuchung vermutlich ohnehin nur, wenn man eigens danach suchte, und er glaubte nicht, dass die Ärztin danach suchen würde. Doktor Haider. Was für ein Name. Er war schon gespannt, wie sie aussah.
Seine Akut-Erschöpfung kam allerdings nicht von dem bisschen MDMA und den paar Nasen am Montag, auch nicht vom Gras am Dienstag und dem Wein am Mittwoch, nicht einmal von den vielen Zigaretten, sondern resultierte wohl hauptsächlich aus dem Umstand, dass diese Haider ihn bei der Terminvereinbarung ausdrücklich ermahnt hatte, nüchtern zu der Untersuchung zu erscheinen, nein, keine einzige Tasse Kaffee, nein, auch nicht, wenn Viktor ihn ohne Milch trank. Kein Kaffee, das war nun eine für Viktor beinahe unüberwindliche Hürde, er konnte für gewöhnlich kaum aufstehen ohne Kaffee, und obgleich er wusste, wie umweltböse und verantwortungslos das war, hatte er kürzlich auf die Anschaffung einer Kapsel-Espressomaschine bestanden, gegen Magdas ausdrücklichen Willen, einfach weil er in der Früh ohne Kaffee nicht einmal Kaffee machen konnte. Schon aufstehen und einen Knopf drücken zu müssen, war eine kaum packbare Zumutung, aber da die stets morgengrantige Magda sich weigerte, ihm Kaffee ans Bett zu bringen, blieb ihm nichts anderes übrig. Wenn Viktor dann endlich aus dem Bett kroch, war Magda meistens schon munter, hatte die Kinder geweckt und befrühstückt und die älteren in die Schule geschickt. Aber bitte, Viktor war nun einmal ein Nachtarbeiter, ein Kulturbetriebsnachtarbeiter, und die Nächte, die er mit Mitarbeiterinnen, Kollegen und anderen Kulturbetriebsnachtarbeitern verbrachte, ressortierten bei ihm auch unter Arbeit, er hatte da Besprechungen, das war Socializing, Fact-Finding-Mission, kreativer Input. Er würde seinen Job nicht gut, nein: würde ihn nicht machen, wenn er abends daheim vor dem Fernseher säße, mit einem Kind und einer Katze auf dem Schoß. Okay, Katze hatten sie keine, aber Kinder.
Viktor stand nun vor der Tür der Praxis, die Hände auf die Knie gestützt, leicht keuchend, in der großen Hoffnung, dass in diesem Moment keiner durch die Tür kam, vielleicht sollte er besser da vorne um die Ecke verschnaufen. Und ja, er sollte definitiv weniger rauchen. Und wenn bei diesem Vorsorgecheck alles okay war, würde er das auch, nein: Er würde aufhören, er würde endlich mit dem Rauchen aufhören, und diesmal endgültig, nicht wie die letzten drei, nein, vier, fünf Male, da er es versucht hatte. Aber es wurde ihm auch wirklich nicht leichtgemacht in dieser Stadt, in der absolut jeder rauchte, immer und überall. Viktor ging zurück zur Eingangstür der Praxis und schnaufte noch einmal durch. Neben ihm kam der Lift knarzend zum Stehen, die Tür ging auf und eine mittelalte Frau trat heraus, sie kam genau auf Viktor zu, mit einem etwas belustigten Blick, sie drückte auf die Klingel, und als der Summer ertönte, drückte sie die Tür auf. Auch für Viktor, der ihr bedeutete, sie solle ruhig vorgehen, er brauche noch einen Moment. Er fischte sein Handy aus der Tasche, um diesen benötigten Moment mit Sinn zu füllen, aber sie sah es schon gar nicht mehr. Viktor allerdings sah auf seinem Handy eine SMS. Die Tür fiel schon wieder zu, Viktor gab, während er seine Atmung beruhigte, schnell seinen Code ein. Von Lisbeth, einer abgelegten Affäre, schon ein paar Monate her. Aha. Was wollte die jetzt. Merkwürdig, aber: jetzt nicht, später. Viktor straffte sich und drückte auf die Klingel, die sofort einen Summer auslöste. Viktor stieß die Tür auf.
Helligkeit schlug ihm entgegen, der Raum war viel größer, als das Haus hatte vermuten lassen, und viel moderner: durchzogenes, lackiertes Schiffsholz überall an den Wänden und an der Decke, ein glänzender, ozeanfarbener Fußboden. Rechts standen bequem aussehende Sessel mit gelben Polstern, auf denen nun die Frau saß und Zeitung las, Typ Anwaltsgattin. Links entdeckte Viktor den Empfangstresen, ebenfalls aus Holz. Er musste fünf oder sechs große Schritte machen, um ihn zu erreichen, der Bodenbelag fühlte sich weich an und dämpfte seine Schritte, und Viktor schritt mit bewusster Gelassenheit durch den Raum, langsam und federnd. Denn er hatte hier nichts zu befürchten, das war jedenfalls der Eindruck, den er zu machen trachtete, der aber leider durch die Rötung seines kahlen Schädels etwas gestört wurde. Die junge Frau hinter dem Pult blickte erst auf, als Viktor direkt vor ihr stand, mit einem professionell fragenden Blick.
«Viktor Kirchner. Ich habe einen Termin mit Frau Doktor …»
«Ihre e-Card bitte, Herr Kirchner.»
Viktor nestelte die grüne Karte aus seinem Portemonnaie, es dauerte länger, als es sollte, das Mädel nahm sie, zog sie durch ein Lesegerät, zog sie noch mal und energischer durch und gab sie Viktor zurück. Dann tippte sie konzentriert in den Computer, während Viktor sich unauffällig umsah: hinter ihr ein großes Regal mit Broschüren und ein paar …
«Waren Sie schon einmal bei uns?»
«Nein.»
… Medikamentenpackungen, daneben stand ein bequem …
«Ihre Adresse bitte.»
… aussehender Sessel mit Beistelltischchen, Viktor nannte seine Anschrift, langsam und deutlich, die Frau tippte. Auf dem Tischchen erkannte Viktor ein Blutdruckmessgerät und ein Fieberthermometer, und er stellte sich vor, wie dort die Greise hinsanken und erst einmal festgestellt wurde, ob sie überhaupt noch am Leben seien. Er war überrascht, als die Frau ihm bedeutete, auf dem Sessel Platz zu nehmen. Er zog seine Jacke aus und krempelte – das Blutdruckmessgerät – schon mal seinen Ärmel hoch, aber die Frau ignorierte das und maß seinen Blutdruck am Handgelenk. Aha, so machte man das heutzutage, Viktor war schon länger nicht beim Arzt gewesen. Beziehungsweise: Er war ein alter Sack, der mit der technischen Entwicklung im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht mehr nachkam, hier der Beweis. Die Frau schrieb etwas in ein Formular, ohne Kommentar. Viktor krempelte seinen Ärmel herunter, lautes Amselgezwitscher ertönte aus seiner Tasche. Die Frau blickte missbilligend.
«Bitte das Telefon ausschalten.»
«Sorry», sagte Viktor, obwohl es ihm gar nicht leidtat. Das Handy zwitscherte weiter, es schien lauter zu werden, bis Viktor es endlich aus seiner Tasche gewühlt hatte. Lisbeth. Jetzt rief sie auch noch an. Sehr ungewöhnlich. Sehr beunruhigend. Er schob den Regler auf lautlos. Er hätte jetzt doch gern ihre SMS gelesen, wagte es aber nicht in der Gegenwart der strengen Frau vor ihm. Die Sache machte ihm langsam Sorgen.
Die Arzthelferin drückte ihm, als Viktor seinen Ärmel wieder heruntergerollt hatte, einen Kugelschreiber und zwei Zettel in die Hand, die er bitte drüben im Wartebereich ausfüllen sollte, wo die Anwaltsgattin gerade aus einer geöffneten Tür aufgerufen wurde, von einer schlanken Frau in einem gut geschnittenen, schneeweißen Kittel. Sie nickte auch Viktor zu, und Viktor, bepackt mit Jacke und Tasche, iPhone, Zetteln und Kugelschreibern, nickte hilflos grinsend und heftig unterkoffeiniert zurück und ließ sich dann auf den nächsten Sessel und seine Sachen auf das Tischchen vor ihm fallen, auf die Zeitschriften, die dort lagen. Geo. Zwei alte Vogues, eine Jagdzeitschrift, eine Brigitte (Brigitte: lange her, unvergesslich. Sie war eine junge Schauspielerin in Viktors erstem Stück gewesen, Viktor also selber noch jung. Sie hatte in einer schmutzigen, überfüllten WG gewohnt, mit strangen Mädchen und merkwürdigen Kerlen, einer von ihnen war Tätowierer gewesen und hatte Viktor sein erstes Peckerl verpasst, einen nicht ganz exakten Barcode. Sie hatten hin und wieder in ihrem Hochbett gevögelt, bis sie eines Nachts nach tüchtig Flaschenbier abgestürzt waren, Viktor unten, sie oben, er brach sich zwei Rippen. Hätte auch sein Hals sein können, Glück gehabt. Seither hat er eine strikte No-Hochbett-Klausel. Brigitte hatte er kürzlich wiedergetroffen, sie sah immer noch gut aus und spielte jetzt eine kleine Rolle in einer nicht besonders hochwertigen Vorabendserie, die sie aber wohl über Wasser hielt).
Viktor fand Platz für die Formulare und begann mit dem Ausfüllen. Er war müde. Er hätte so dringend einen Kaffee gebraucht. Der eine Zettel fragte Viktors medizinische Historie ab, Operationen, Allergien, nein, nein, ja, nein, sein Handy leuchtete auf, eine Erinnerung an die Vorsorgeuntersuchung, jaja, danke, er war ja eh da. Viktor füllte den Zettel ohne Energie, aber routiniert aus. Er hatte erst kürzlich, wegen anhaltender Magenschmerzen, eine Magenspiegelung im Krankenhaus gehabt, er kannte das schon. Diagnose: chronische Gastritis, Reflux, die üblichen Stresskrankheiten, nichts Schlimmes, zum Glück, außer dass er sein Leben ändern sollte, aber. Das Handy leuchtete wieder auf, diesmal war es Lisa, seine Assistentin, er blickte sich kurz nach der Arzthelferin um, aber die hatte ihren Platz verlassen und war nicht zu sehen.
«Ich bin beim Arzt, Lisa. Ich ruf dich gleich an.» Viktor flüsterte trotzdem.
«Okay», sagte Lisa, «ist dringend», und Viktor fühlte, wie sich in seinem Nacken ein Muskel verkrampfte, noch einer, und er öffnete schnell die Nachricht von Lisbeth.
Ich glaube, wir können das besser, Viktor.
Das stand da, sonst nichts. Merkwürdig. Was meinte sie? Er hatte ewig nichts von ihr gehört, jetzt das, sehr merkwürdig war das, in der Tat.
Aber jetzt musste Viktor erst einmal diese Formulare fertig ausfüllen. Das zweite war anders, hellblau, ein sehr zartes, mit den Sesseln in diesem Raum korrespondierendes Babyblau, auch darauf gab es Antworten anzukreuzen, na gut, noch mal, seinetwegen. Viktor las gar nicht erst, worum es ging, sondern setzte sofort den Stift an. Erste Frage: Wie oft trinken Sie Alkohol? Viktor kreuzte bei «zwei- bis viermal in der Woche» an, obwohl siebenmal in der Woche vermutlich zutreffender gewesen wäre, aber Viktor war zu müde, um sich auf eine hundertprozentige Antwort konzentrieren zu können. Auch die nächste Frage drehte sich um Alkohol, und nun wurde Viktor misstrauisch, was war denn da los, wieso wurde er hier so ausgefragt? Viktor fühlte seinen Lebensstil unhöflich ins Licht gezerrt und überflog den Rest des Bogens: Ach, da ging es überhaupt nur ums Trinken. Hier sollten wohl Alkoholiker überführt werden, aha.
Das weckte Viktor ein wenig aus seiner entkoffeinierten Apathie, vielleicht sollte er doch ein bisschen besser aufpassen beim Beantworten, das ging vermutlich direkt an seine Versicherung, und wer weiß, wo so was letztlich landete und welche unangenehmen Folgen das dann haben könnte. Da saß vielleicht irgendein trauriger grauer Spießer an einem traurigen grauen Laminatschreibtisch und legte Viktor in die Alkoholikerschublade, weil sein eigenes Spießerleben so freudlos war und er anderen auch keinen Spaß gönnen wollte. Aufpassen, Viktor, dachte Viktor, aufpassen. Bei den restlichen Fragen kreuzte er nun also immer die bravste Antwort an, so unwahr war das ja jetzt auch nicht. Wenn er zu Hause war, trank er zum Beispiel kaum etwas, ein Glas Wein zum Abendessen, manchmal danach noch eins oder zwei, drei auf dem winzigen Balkon mit Magda, höchstens vier. Gut, er war nicht oft daheim, aber dafür konnte er ja nichts, das war sein Beruf, und in seinem Beruf gehörte Trinken nun mal zur Jobanforderung, was sollte er machen. Es war Schicksal.
Allerdings störte ihn das jetzt, was er zu Beginn angekreuzt hatte. Auf einen Laien, auf jemanden, der mit dem Kulturbetrieb, seinen Anforderungen und Gepflogenheiten nicht vertraut war, auf eine Ärztin oder auf den Spießer an seinem grauen Schreibtisch könnte viermaliges Trinken pro Woche vielleicht einen falschen Eindruck machen, so als würde Viktor den Alkohol benötigen, was selbstverständlich nicht der Fall war. Viktor übermalte das angekreuzte Kasterl der ersten Frage mit seinem Kugelschreiber und kreuzte ordentlich die zweite Antwort an: «Zwei- bis viermal pro Monat», das klang doch moderat und erwachsen. Auch bei der zweiten Frage verfuhr Viktor in dieser Weise, bei der dritten ebenso, gut, das passte. Aber das Blatt sah natürlich jetzt etwas lädiert und bearbeitet aus, unordentlich und nicht besonders überzeugend. Drei gedokterte Fragen, das könnte wirken, als hätte er aus taktischen Gründen günstigere Antworten gewählt. Das könnte den Verdacht auf Viktor werfen, ein versteckter Alkoholiker zu sein, der gerade noch klar genug im Kopf war, diesen Umstand vor seiner Ärztin und seiner Versicherung verbergen zu wollen, allerdings nicht besonders professionell. Diese drei mühsam ausgestrichenen Antworten, das sah doch erst recht und ganz besonders so aus, als habe Viktor ein Problem. Gar nicht gut sah das aus. Wenn einer drei Fragen noch einmal neu beantwortete, da würde doch jeder misstrauisch, ganz besonders aber eine Medizinerin, die würde einen Blick auf den Fragebogen werfen und vermutlich nichts sagen, aber Viktor würde schon wissen, was sie dachte. Und Viktor wollte nicht, dass diese Ärztin, bei der er nie zuvor war, die ihm nur empfohlen worden war, sich so was dachte. Etwas Falsches nämlich. Er war ja kein Alkoholiker, er nicht. Paul hatte vielleicht ein bisschen ein Problem, auch der Kühn schlug gerade ziemlich heftig über die Stränge. Und dass dem Ratzinger ein Zahn nach dem anderen ausfiel, ohne dass der Ratzinger Anstalten machte, diese Zähne zu ersetzen, setzte ihn in ein wenig positives Licht. Und wie der Miller, der Nachbarin von nebenan, die Hände immer schon in der Früh zitterten, war auch nicht mehr schön. Aber er nicht. Viktor nicht. Und deshalb konnte er diesen Fragebogen so nicht abgeben, so viel war ihm jetzt auch in seiner koffeinentzugsbedingten Semidämmerung klar.
Viktor nahm das Blatt und faltete es vorsichtig und unauffällig zusammen, dann stand er auf und ging über den ozeanfarbenen Boden zum Empfangstresen. Die Arzthelferin saß wieder an ihrem Platz und war auf irgendwas im Computer fixiert, jedenfalls tat sie so, wahrscheinlich aktualisierte sie gerade ihren Facebook-Status, twitterte oder schickte ihrem Freund Nacktfotos. (Ursel: Sie hatte so einen unglaublichen Körper. Und sie hatte ihm erlaubt, sie zu fotografieren, hatte ihm auch selber ganz schön versaute Fotos geschickt. Erstaunlicherweise war der Sex mit ihr trotzdem nicht gut, mechanisch, kantig, unsinnlich, und sie beendeten die Sache schnell und in gegenseitigem Einvernehmen. Die Fotos hatte Viktor allerdings behalten.) Sie blickte auf, als Viktor seine Hand auf den Tresen legte, ungerührt: «Ja, bitte?»
«Können Sie mir bitte noch mal den blauen Fragebogen geben? Ich habe da was falsch verstanden. Hatte heute noch keinen Kaffee.»
Viktor lächelte sein Verführerlächeln, beziehungsweise das, was er dafür hielt. Die Arzthelferin lächelte nicht zurück.
«Bitte, gerne. Hier.»
Sie reichte Viktor ein neues blaues Formular. Falls seine Bitte sie mit Misstrauen erfüllte, ließ sie sich das nicht anmerken.
«Ich danke Ihnen.»
«Sie können mir den alten Bogen geben, ich werfe ihn gleich weg.»
«Danke, kein Problem», sagte Viktor und ging langsam vom Tresen weg, mit dem neuen und dem alten Fragebogen in der Hand, weil hahaha, darauf fiel er nicht rein, sicher nicht, aber gewiss nicht. Guter Versuch, aber. Die würde das doch nachher aus dem Papierkübel fischen und mit dem korrigierten Blatt der Ärztin übergeben, Triumph im Blick: Sehen Sie, den hab ich gerade noch erwischt. Eben nicht. Nicht mit ihm, mit ihm nicht, mit Viktor sicher nicht.
Später, nachdem er zunächst in einem nach altem Rauch stinkenden Café zwei doppelte Espressi geext und so zurück ins Leben gefunden hatte, blinzelte Viktor auf dem Sessel in der Probebühne von seinem Smartphone hoch, auf dem er noch mal Lisbeths Nachricht gelesen hatte. Ich glaube, wir können das besser, Viktor. Was meinte sie damit? Sollte er alarmiert sein? Sie war eine seltsame Person, immer gewesen, viel zu anhänglich, viel zu verliebt. Er war alarmiert. Scheiße. Endlich hatte Viktor sich in Sicherheit gefühlt, und jetzt: Was sollte das bedeuten? Und war sie nicht in Griechenland, hatte er das nicht auf Facebook gelesen? Hatte er doch. Das war nicht gut, dass die ihn anrief, anrufen war überhaupt nie gut. Überhaupt: alles Scheiße.
Das Smartphone leuchtete, dann verlöschte es, während Viktor seinen Blick auf die Bühne fokussierte: Es war alles überhaupt nicht gut, nichts heute, Dreckstag das. Viktor strich sich über den kahlen Schädel, vom Nacken nach vorne. Er bemerkte es gar nicht, es war eine unwillkürliche Bewegung und voller Gram, erstens weil ihn Lisbeths SMS beunruhigte, zweitens weil ihm nicht aus dem Kopf ging, was die Ärztin über den Zustand seines fast fünfzigjährigen Organismus, speziell seines Blutdrucks, gesagt hatte, also, so viel sie wissen konnte, bevor sie seine Blutwerte aus dem Labor bekam, in drei Tagen wahrscheinlich, sie würde ihn umgehend informieren. Drittens wollte ihn, wie Lisa ihm vorhin mitgeteilt hatte, die Referentin des Ministers sprechen, viertens hatte Magda in der Früh schon wieder das Hochzeitsthema angesprochen.
Und dann dieses Drama, das sich da gerade auf der improvisierten Bühne vor ihm abspielte: Wäre Viktor hier der Regisseur, würde er jetzt die beiden Schauspieler, die sich da vorne abmühten, kurz einmal zur Ordnung rufen. Aber das würde a) nichts besser machen, und b) war Viktor nicht der Regisseur. Nicht diesmal, nicht mehr. Viktor war hier jetzt der Intendant. Allein der Gedanke machte Viktor breiter, öffnete seinen Brustkorb, zog seine von der Haider’schen Diagnose eingekrampften Schultern auseinander, drückte ihn schwer in die Lehne des Sessels, auf dem er sich niedergelassen hatte. Er war Intendant jetzt, er war der Intendant dieses Festivals, dieses gesamten Festivals, und sein erstes Programm hatte selbstverständlich Flucht zum Thema, Fluchtbewegungen, die Flüchtlingskrise in ihren Ursprüngen und ihren Auswirkungen auf das große Politische und das kleine Private. Attentate. Amokläufe. Angst. Das Erstarken der extremen Rechten. Die totale Verunsicherung der Öffentlichkeit. Seine Schultern verkrampften sich wieder, als er an den wohl unvermeidlichen Termin mit der Referentin dachte. Er konnte sich schon vorstellen, um was es ging, es standen Wahlen an, in wenigen Monaten.
Erst am Abend zuvor hatte er sich bei Kühn lange mit dem Schrader über die Flüchtlingsproblematik und ihre Rezeption in der Kunst unterhalten, dann gestritten: Schrader war ein großer, kompromissloser Politisierer, der nach ein paar Bier immer laut und radikal wurde, in seinem schrecklichen Tiroler Dialekt, wobei Schrader diese Radikalität ausschließlich von anderen einforderte, diesfalls von Viktor und seinem Festival. Das müsse krachen, hatte Schrader gebrüllt, da muss Leuten in die Goschen gehaut werden, buchstäblich, deine Sprache muss rohe Gewalt sein, nicht umgekehrt! Was willst du dem ganzen Internethass, den Hatern, der ganzen rechten Dummheit sonst entgegensetzen? Einen künstlerischen Diskurs, eine intellektuelle Auseinandersetzung? Das hat sich doch komplett überholt! Schrader schrie, es war Viktor unangenehm, selbst in diesem vertrauten Kreis, aber er wollte sich von so einem Großmaul nicht diktieren lassen, wie er seine Arbeit, sein Festival zu gestalten habe. Das hat, schrie Schrader, doch überhaupt nicht funktioniert und wird auch nicht mehr funktionieren, das Internet hat den gesamten Diskurs doch längst inhaliert, da kommt die Kunst doch schon lange nicht mehr mit. Wie willst du mit Kunst ankommen gegen Selbstmordattentate? Gegen das Grauen in Aleppo und die Kalifate des IS? Vor allem auch gegen diese subjektive, aber massiv einbetonierte Fremdenfeindlichkeit? Du musst was anderes machen, Viktor, das muss krachen, Viktor, enttäusche mich bloß nicht mit kümmerlichen Kunstinstallationen, mit mageren Manifesten oder traurigen Performances mit ein paar herumhupferten Nackerten, Viktor! Das muss weh tun, Viktor, körperlich, Viktor, ich erwarte Großes von dir, mein Freund, Bahnbrechendes! Und wenn du das nicht bringst, kannst du gleich hinschmeißen, ja, schmeiß besser gleich hin, tritt es in die Tonne, hier und jetzt, und werd Investmentbanker. Oder Pfarrer. Hausmann. Oder, und an dieser Stelle blickte Kühn hinterm Tresen böse, Wirt! Oder geh heim, kümmere dich um deine Kinder! Was sich Viktor wiederum von einem, der seinen Lebensunterhalt mit dem Produzieren von, wie Viktor fand, ganz, ganz seichter Musik verdiente, nicht erklären lassen brauchte, Sakrament, und das tat er auch nicht. Der Abend war eskaliert, beinahe wäre Viktor körperlich geworden, gegen Schrader, aber der hatte ihn ausgelacht und einen polnischen Abgang gemacht, einfach weg, die feige Sau.
Auch in dem, was er da jetzt auf der Probebühne sah, erkannte Viktor ein großes, fundamentales Missverstehen seiner Ursprungsintention. So konnte das nicht gezeigt werden, so konnte man das nicht erzählen. Allerdings würde Viktor sich hier keinesfalls in die Niederungen der direkten Kritik begeben, er machte sich höchstens für alle gut sichtbar ein paar Notizen. Denn seine Kritik setzte jetzt höher an, grundsätzlicher. Leider konnte Viktor den Theater-Regisseur in sich, der er so lange war und von dem Viktor noch immer glaubte, dass er für das nationale Theatergeschehen, ja für die Identität und die Gesundheit dieser Republik eigentlich unverzichtbar und nicht zu ersetzen war, nicht vollständig zum Schweigen bringen. Dieser Regisseur rumorte in Viktor wie ein Zweit-Viktor, vernachlässigt, beleidigt, missverstanden, verletzt, übergangen, wie eine seiner abgelegten Geliebten, wie Lisbeth. Nachdem Viktor sie so vorsichtig wie möglich abserviert hatte, hatte er erst regelmäßig, dann seltener Nachrichten von ihr bekommen, stets zärtlich und verständnisvoll. Dann, nachdem er nur noch einsilbig und schließlich nicht mehr geantwortet hatte, hatte er wochenlang nichts mehr von ihr gehört, was ihn zunächst beunruhigt hatte, aber letztlich war er zu dem Schluss gekommen, sie habe seinen Abgang akzeptiert und sich anderem oder einem anderen zugewandt. Jetzt meldete sie sich auf einmal aus Griechenland, mit so einer kryptischen Nachricht, was ihn ernstlich beunruhigte. Denn sie war ja schon seltsam, als er sie noch traf. Ihre Aufmerksamkeit Viktor gegenüber war zu stabil gewesen; eine konsequente Zugeneigtheit, unbeirrbar auch von Viktors Launen. Eine fast hündische Treue. Das sei so bei Steinböcken, hatte Lisbeth gesagt, wenn Steinböcke einmal liebten (Liebe: Das Wort hörte Viktor im Kontext mit Lisbeth und allen anderen seiner Affären ungern, um Liebe ging es hier nicht und durfte es nicht gehen, wann würde sie das endlich begreifen), blieben Steinböcke treu, immer treu, treu bis in den Tod. Was für ein Scheiß! Und genau das hatte er nie gewollt, diese klebrige Anhänglichkeit, und jetzt wollte er es schon gar nicht.
Das fand Viktor schon damals, als sie es sagte, während sie nackt auf dem Rücken lag (ihre langen, steifen Nippel zeigten wie Pfeile zur Decke, gerade und parallel nach oben, diese Nippel würden sich auch in der Unendlichkeit nicht treffen, wirklich bemerkenswerte Nippel hatte sie). Ihre Worte waren keine besonders vertrauenerweckende Botschaft, die nachklang, über die Wochen, die seit ihrer letzten Begegnung vergangen waren, Wochen ohne eine der kleinen, ziselierten Textnachrichten von Lisbeth, in denen immer irgendeine Botschaft versteckt gewesen war, wobei Viktor sich allerdings selten die Mühe gemacht hatte, diese Botschaft zu dechiffrieren. Keine Facebook-Nachrichten mehr, nicht einmal mehr ein Like hatte Viktor von Lisbeth noch bekommen; mehrmals hatte Viktor kontrolliert, ob sie überhaupt noch befreundet waren oder ob Lisbeth ihn entfreundet hatte, aber das hatte sie nicht. Doch die immense Erleichterung, die er verspürt hatte, als ihre dauernde Betextung weniger wurde, als sie allmählich verebbte und dann ganz abriss, wich schnell anderen Gefühlen: der dumpfen, unsinnigen Gekränktheit des plötzlich nicht mehr Umschwärmten, nicht mehr Wichtigsten, des schieren Unglaubens darüber, dass er tatsächlich aus Lisbeths Gunst gefallen sein könnte, vollständig und definitiv. Was Viktor natürlich misstrauisch machte: Was machte sie, wenn nicht mit ihm? Was tat sie, wenn sie ihm nicht mehr textete? Und nebenbei: Wem gab sie sich hin? Wo ragten jetzt ihre Nippel in den Weltraum? Was dachte sie von ihm? Was erzählte sie über ihn, und wem? Glaubte sie seine Ausflüchte, oder war ihr klar, dass er sie einfach loswerden wollte, gleich nachdem sie getrennt, Single und damit eine Gefahr für Viktor war? Und machte sie das wütend? Hasste sie ihn vielleicht jetzt? Von wo drohte Ungemach? Wollte sie Viktor etwas antun? Jetzt war sie also wieder da, und er bekam noch mehr Angst.
Er hatte schon vor ein paar Wochen angefangen, Lisbeth aus naheliegenden, durch und durch verständlichen Gründen ein wenig hinterherzuspionieren, ihre Facebook-Posts zu checken, ihre Freundesliste zu kontrollieren. Er analysierte Lisbeths Likes und die Likes, die Lisbeth bekam, und ob sich welche überschnitten, mit Schrader zum Beispiel, wo hatte sie nun den her, das war doch gar nicht ihr Freundeskreis. Viktor las jetzt regelmäßig die Kommentare unter ihren Postings. Es war ihm zu einer fast täglichen Routine geworden, Lisbeths Namen, so ihre Aktualisierungen nicht sowieso gleich beim Öffnen in seiner Timeline erschienen, ins Suchfeld einzugeben und schnell einmal durchzuscrollen, was sie neu gepostet hatte. Alles zu seiner Sicherheit und der seiner Familie.
Viktor hatte sich aus Lisbeths Leben entfernt, als sie sich von Jakob getrennt hatte. Nicht wegen Viktor, hatte Lisbeth gesagt, aber Viktor war sich da nicht so sicher. Es hatte seinen Fluchtimpuls ausgelöst, und von da an hatte er sie und ihre eifrige Anteilnahme an allen Viktor’schen Belangen abgewimmelt. Er fühlte sich schuldig deswegen. Nicht sehr, ein bisschen. Ganz wenig; gerade genug. Denn eigentlich war es ja Lisbeth gewesen, die das innere Gleichgewicht ihres Verhältnisses ruiniert hatte. Das bequeme, harmonische Einverständnis, das sich in den Stunden mit ihr in geschmeidigem, mühelosem Sex ausgedrückt hatte. Überraschend unkompliziertem, geilem und absolut parallel schwingendem Vögeln, umso bemerkenswerter bei einer so komplizierten, neurotischen, zickigen Frau wie Lisbeth. Viktor hatte, das musste er sich eingestehen, einen Hang zu zickigen Frauen, er sollte das vielleicht einmal mit Professor Serafin besprechen. Jedenfalls hatte Viktor die schummerigen Nachmittage mit ihr hinter den dicken Vorhängen durchaus gemocht, auch wenn er nun ganz froh war, dass er mit den anderen Frauen keine derartig verhirnten, beziehungsvollen Gespräche führen musste.
Aber wenn Lisbeth dann endlich die Klappe gehalten hatte, erfasste sie eine überraschende Gelöstheit. Beim Sex war sie locker und unkompliziert. Und diese luftige Einigkeit, diese einvernehmliche Leichtigkeit hatte sie dann zerstört, ohne Not, wie Viktor fand. Sie hatte das Unaussprechliche getan, sich von ihrem Freund getrennt und damit eine zwar nur vage Möglichkeit in den Raum gestellt, aus der aber ganz schnell ein konkreter Wunsch, ein Wollen, ein Beharren, eine Drohung, eine echte Gefahr für Viktor erwachsen konnte. Erwachsen würde, Viktor kannte so was doch. Zumindest aus Filmen kannte er das. Und er fühlte hinter Lisbeths oberflächlichem Schmerz, hinter ihrem mit Viktor vermeintlich überhaupt nicht zusammenhängenden Schritt der Trennung ein zielgerichtetes Kalkül, das Viktors Existenz in wenigen Zügen ruinieren konnte. (In Verfolgungswahn und Verschwörungsangst war Viktor Number One: Man musste immer wachsam sein; immer schauen, wer hinter einem her war, wer einem schaden wollte; und als Alltagsradfahrer hatte man das ja, wie Viktor gern betonte, besonders gut drauf, das ging einem quasi in Fleisch und Blut über: dass man nicht nur für sich selber denken musste, sondern auch für andere, für die Autofahrer. Was könnte der jetzt vorhaben, und der da drüben? Wurde Viktor gesehen oder gleich gerammt? Immer Blickkontakt herstellen nach allen Seiten, immer ganz schnell alle Gefahren abschätzen. Das machte Radfahrer zu flexiblen und wendigen Denkern, fand und betonte Viktor stets, wahrscheinlich um einiges flexibler und geschmeidiger als andere Leute, Autofahrer im Speziellen, das sollte mal untersucht werden, fand Viktor, da sollte wirklich dringend mal jemand eine Studie machen.)
Und weil er sich auf diese Weise eben auch sofort in Lisbeth hineinversetzen konnte, oder es zumindest glaubte, floh Viktor. Und sie hatte ihn fliehen lassen, anfangs jedenfalls. Dabei war sie aber eine Zeitlang hinter ihm geblieben, in großem, angemessenem Abstand, doch in Sichtweite: Wenn Viktor es wollte, hatte er sie quasi immer sehen können, freundlich winkend aus der Ferne, wie eine fürsorgliche Mutter; dann irgendwann nicht mehr. Im Prinzip alles paletti. Bis jetzt.
Er würde sich mit Lisbeths merkwürdiger Nachricht auseinandersetzen müssen: sobald er Zeit dazu haben würde und genug Luft und die notwendigen Nerven. Was in Viktors prallem, überfülltem Leben nicht oft vorkam. Sowieso gar nicht mehr, seit er diesen Intendantenjob angenommen hatte. Und jetzt, wo Magda heiraten wollte, plötzlich und immer vehementer, und er sich mit einem Mal für etwas entscheiden musste, für das er sich, so sah es jedenfalls Viktor, doch eh schon lange entschieden hatte. Aber sie wollte, dass er sich festlegte, endgültig, mit Dokument und Unterschrift und vor Zeugen. Und einen Ring, sie wollte endlich einen Ring, alle ihre Freundinnen hatten Ringe, nur sie nicht. Wieso habe ich keinen Ring, Viktor, hab ich keinen Ring verdient? Sie wollte ihn an die Kette legen, final, so banal war es. Gewiss keine weltbewegenden Probleme, die er da hatte, aber sie rührten sich in ihm und nervten Viktor: Bruder von drei Schwestern, Vater von fünf Töchtern, Lebensgefährte von Magda, Ex-Lebensabschnittspartner von Edith und dann Natalie, gebenedeit unter den Frauen, Kulturmanager, Lebemann und demnächst fünfzig.
Genau, darum musste er sich ja auch noch kümmern, um diesen blöden Geburtstag. Alle erwarteten das, ständig kam eine an und sagte, na, Viktor, du hast ja auch bald einen runden. Ein Runder. Was war bitte rund am Altwerden? Viktor machte es unrund. Er fühlte sich krank, wenn er nur daran dachte, dass er bald fünfzig sein würde, Viktor Kirchner, fünfzig, er fand nicht, dass es ein Grund zum Feiern sei, definitiv nein. Aber alle anderen fanden es offenbar schon und erwarteten von Viktor eine erstklassige und extravagante Feierlichkeit, um sich auf seine Kosten zu betrinken, satt zu fressen und tüchtig gehenzulassen. Er hatte eh schon keine Kohle, die wurde eh schon verteilt unter all den Frauen in seinem Leben. Jetzt sollte er auch noch feiern, als habe er nichts Besseres zu tun. Als hätte er sich um nichts zu kümmern, außer um eine, wie Viktor fand, völlig unnötige Hochzeit und einen noch viel, viel unnötigeren fünfzigsten Geburtstag. Himmel, Heiliger, Fuck; ständig musste er irgendwas.
Dieses Festival. Als Viktor den Ruf bekam, das Festival zu leiten, ein kleines, nicht erstrangiges, aber doch gut beleumundetes und von der Kritik fast durchgehend mit Wohlwollen bedachtes Festival, zögerte er nicht lange, diesem Ruf zu folgen. Erstens und wichtigstens zum Vorteil der hiesigen Kultur im Allgemeinen und des in den Jahren zuvor etwas vernachlässigten und in die Bedeutungslosigkeit abgerutschten Festivals im Speziellen. Zweitens zum Wohle seines Kontostandes, der unter anderem von Alimentationszahlungen für die beiden Töchter aus den Verbindungen mit Edith und Natalie seit je stark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Drittens, und stark im Kontext mit zweitens, im Dienste seiner Selbstachtung. Denn auch wenn Viktor das stets mit innerem Achselzucken vorgegeben hatte, hatte es ihn doch nie ganz gleichgültig gelassen, dass Magda, seine Lebensgefährtin, jeden Monat mehr Geld nach Hause gebracht hatte als er, der von der Kritik gefeierte Regisseur.
Magda verdiente ihr Geld mit einem kleinen, gänzlich prosaischen Hausbetreuungs-Unternehmen, bestehend aus einer wachsenden Armada vor allem tschechischer, aber auch ukrainischer und serbischer Großmütter, die Magda befehligte. Die Firma war Magda eher passiert, als dass sie sie tatsächlich gewollt und gegründet hatte, das passte zu ihr, das war ihr doch mit Viktor ganz ähnlich gegangen. Magda hatte, als sie nach Wien übersiedelt war, selbst geputzt, gemeinsam mit einer Tante, in verschiedenen Häusern, und sie hatte auf kleine Kinder aufgepasst, während sie Kunst studiert und fotografiert und so oft wie möglich bei verschiedenen Fotografen assistiert hatte, fast immer ohne Honorar. Als ihr das Fotografieren allmählich genug Geld einbrachte, um ihren Lebensunterhalt einigermaßen bestreiten zu können, hatte sie die Putzjobs reduziert.
Bis auf diesen letzten, von dem sie, wenn sie etwas mehr Bier getrunken hatte (Magda war Tschechin, Magda trank Bier) und keine Kinder in der Nähe waren, gerne den Freunden erzählte. Denn es hatte sich um die Wohnung eines steinalten Kerls gehandelt, der ihr einen ungewöhnlich hohen Stundenlohn dafür bezahlte, dass er ihr beim Putzen zuschauen durfte, bevorzugt, wenn es sich um Bereiche in der Wohnung handelte, die man nur auf Knien erreichen konnte. Handgreiflich, sagte Magda, sei er nie geworden, aber während er ihr auf den Hintern starrte, habe er merkwürdige Sachen erzählt.
«Was für Sachen?»
«Sachen von anderen Haushaltshilfen.» Magda wusste, wie man eine Geschichte erzählt, jedenfalls diese.
«Was genau?»
«Die wurden dann seine Geliebten. Hat er erzählt. Und was er dann so für Sachen mit ihnen gemacht hat, detailliert. Und was sie davon hatten.»
«Echt jetzt?»
«Ja, echt.» Magda erzählte die Geschichte gern, zog die Vokale lang. Die Backen ganz rot. Und sie wusste natürlich, welche Frage sich nun zuverlässig anschloss.
«Was für Sachen, Magda? Details, Magda, Details!» Und Magda grinste glücklich.
«Erzähl ich lieber nicht.» Und sie sagte nichts mehr, trotz der Proteste, die zuverlässig vorgebracht wurden.
«He!»
«Gemein!»
«Jetzt komm!»
«Und du, Magda? Wurdest du auch seine Geliebte, Magda? Magda!»
Nein, wurde Magda nicht. Sie gab den Job bei dem geilen alten Knacker schließlich ab. An eine jüngere Cousine, von der