Die Geschichten «Das Sommerwunder» von Anna McPartlin, «Ein Mann sieht rot» von Mia Morgowski, «Ein abgefahrener Sommer» von Sofie Cramer und «Sommer für Aussteiger» von Britta Sabbag stammen aus dem Band «Darf’s ein bisschen Sommer sein?», herausgegeben von Carolin Klemenz und Friederike Ney. Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Ein gutes Mädchen» von Juliet Ashton wurde dem Band «Weihnachtsherzen», herausgegeben von Anne Tente, entnommen. Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Ein gutes Mädchen» von Juliet Ashton wurde aus dem Englischen übersetzt von Katharina Naumann. «Das Sommerwunder» von Anna McPartlin wurde aus dem Englischen übersetzt von Karolina Fell.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Februar 2017
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Satz CPI books GmbH, Leck, Germany
ISBN Printausgabe 978-3-499-29113-5 (1. Auflage 2017)
ISBN E-Book 978-3-644-40192-1
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-40192-1
Anna McPartlin
Aus dem Englischen von Karolina Fell
Es war ein heißer, drückender Sommer im Jahr 1988. Patricia wurde von ihrem Platz im Flugzeug gehoben und von einem ehrenamtlichen Helfer namens Gerry die Gangway hinuntergetragen. Dessen Schwester Mary war auch mit dabei. Sie litt an einer Motoneuron-Schädigung und konnte kaum zwei zusammenhängende Worte sagen. Patricia dagegen wurde oft als Partynudel bezeichnet und hatte den Flug damit verbracht, ihre Reisegruppe zum Singen zu animieren, angefangen mit Dublin in the Rare Auld Times über die Klassiker The Fields of Athenry und Molly Mallone bis zu sämtlichen vierzehn Strophen von Willie McBride.
Patricia schlang die Arme um Gerrys Hals und genoss die Wärme der Sonne, als sie über das Rollfeld auf die Flughafenmitarbeiter zugingen, die mit Rollstühlen darauf warteten, ihre neuen Gäste zu empfangen. Tief im Herzen wusste Patricia, dass dies ihre letzte Reise nach Lourdes sein würde, und war deshalb wild entschlossen, sie auszukosten, so gut es irgend ging. Gerry ließ sie in ihren Stuhl plumpsen und zwinkerte ihr zu, bevor er sie ihrer mitgereisten Freundin Sheila überließ, die sie fröhlich pfeifend durch das kleine Flughafengebäude schob. Patricia schloss die Augen und spürte die Wärme bis tief in ihre Knochen vordringen, spürte ihr Haar feucht werden und sich locken, und sie spürte, wie sich im Nacken Schweißtropfen bildeten, die ihr in den Kragen liefen. Es ist schön, am Leben zu sein.
«Da sind Sie ja, Trish», sagte Des. «Sie sind bestimmt als Letzte aus dem Flugzeug gekommen.»
«Nach mir kommen noch Jim und Cathleen», sagte Patricia.
Des hatte Parkinson, und obwohl er an den Rollstuhl gefesselt war, konnte er noch sprechen und singen und lachen. «Und das ist doch die Hauptsache», sagte er oft.
«Da haben Sie vollkommen recht», stimmte ihm Patricia dann zu. Die arme alte Mary aber war lange über das Stadium hinaus, in dem sie sich an irgendetwas beteiligen konnte. Sie saß einfach nur krampfend und spuckend in ihrem Rollstuhl. Immer wieder versuchte jemand, sie mit Floskeln wie «Da sind Sie ja, Mary» oder mit einem Witz einzubeziehen. «Passen Sie auf, wenn Sie Mary was fragen, sie erzählt bloß lauter Lügen.» Mary reagierte dann, indem sie versuchte zu nicken und zu lächeln, was aber leider nur zu ruckartigen Bewegungen und Würgegeräuschen führte. «Wirklich, Mary wird noch buchstäblich vor Lachen sterben», würde dann irgendwer sagen und damit weitere krampfhafte Zuckungen auslösen.
«Heute Abend feiern wir mal so richtig», sagte Des, als sie endlich alle im Bus waren. «Die Franzosen werden sich wundern.» Patricia war einverstanden. Sie war aber schon so müde, dass sie nicht in Des’ Darbietung von Stop the Bus We Want a Wee Wee einstimmte, sondern während der Fahrt in den blauen Himmel hinaufschaute und von den kühlen Laken und weichen Kissen träumte, die sie im Hotel erwarteten.
Sheila half Patricia, sich ins Bett zu legen.
«Aber nur eine Stunde, Sheila», bat Patricia. Sie wollte nicht zu viel verpassen und ärgerte sich, dass sie nicht länger durchhalten konnte.
«Ich hole dich ab», versprach Sheila.
Patricia lag auf dem Rücken, schaute zur Decke hinauf und fragte sich, was diese Woche bringen würde. Ihre letzte Reise nach Lourdes hatte viel Spaß gemacht, und sie hatte ein paar neue Freunde aus der Rollstuhl-Fraktion gefunden. Trotzdem war sie sehr enttäuscht gewesen, wieder ohne ein Wunder nach Hause fahren zu müssen. Dies war Patricias dritter Sommerurlaub in Lourdes, und jedes Mal überzeugte sie sich selbst davon, dass nun ein Wunder für sie fällig war. Die Fahrt an Weihnachten oder Ostern zu unternehmen, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, weil sie immer das Gefühl gehabt hatte, dass – falls sie ein Wunder erleben sollte – es im Sommer geschehen würde. Ihre Mutter hatte sie deswegen oft genug ausgelacht und «Schwindel, alles bloß Schwindel» gesagt. «Du wärst besser dran, wenn du die Gemeinschaft vom blutenden Herzen Christi dazu bringen würdest, dich gleich nach Las Vegas zu verfrachten. Dort verkaufen sie auch Träume, Hirngespinste und billiges Plastikzeug, aber wenigstens sind sie ehrlich dabei.»
Als ihre Mutter noch lebte, hatte Patricia sie geflissentlich ignoriert, aber jetzt, wo sie seit fünf Jahren tot war, hatte sie ziemliche Probleme, sie zum Schweigen zu bringen.
Und wieder mal bist du hierhergefahren, du Riesenschaf, sagte Patricias Mutter in ihrem Kopf.
Verzieh dich, Mutter, erwiderte Patricia in Gedanken. Laut würde sie so etwas niemals sagen, es sei denn, die Umstände wären wirklich äußerst ärgerlich oder frustrierend.
Patricia hatte sich fest vorgenommen, dieses Mal ihr Wunder zu erleben, und es war ihr vollkommen egal, was irgendwer darüber zu sagen hatte, das galt erst recht für ihre tote Mutter. Dieses Mal gehe ich auf meinen zwei Beinen aus dem Flugzeug und führe im Flughafen von Dublin einen Tanz auf, dachte sie. Ihre multiple Sklerose war im vergangenen Jahr sehr schnell fortgeschritten, und weil nichts darauf hinwies, dass sich das ändern würde, hatte Patricia schreckliche Angst. Manchmal betrachtete sie die Menschen, die mit ihr im Pflegeheim lebten, wie sie in ihren Betten lagen und starben, und dann musste sie gegen die Tränen ankämpfen. Die gelähmten, blinden, stummen Zombies mit den faulenden Hautstellen und den künstlichen Darmausgängen waren kaum schlechter dran als die arme alte Mary; eingeschlossen in ihren Körpern, waren sie unfähig, mit anderen zu kommunizieren oder kleinste Freiheiten zu genießen, wie zum Beispiel, allein zur Toilette zu gehen oder in einen klaren, blauen Himmel hinaufzuschauen. Dieses Schicksal ängstigte Patricia am meisten. Sie betete jeden Morgen und jeden Abend zu Gott, sie oder er möge sie vor einem solchen Schicksal bewahren, das sie mehr fürchtete als den Tod. Patricia war nicht voreingenommen. Selbst wenn sich Gott am Ende als asiatische Lesbe entpuppen sollte, würde Patricia vor ihr das Knie genauso beugen wie vor dem langhaarigen Hippie am Kreuz. Und weil Patricia in Lourdes war, fügte sie nach einem «Gegrüßet seist du, Maria» und einem «Ehre sei dem Vater» noch ein paar Extragebete hinzu.
Heilige Maria, sei mir gnädig. Lieber Gott und Jesus, rettet mich vor dem Bösen. Padre Pio, heile mich, und wenn du mich nicht heilen kannst, lass mich schnell sterben. Amen.
Bald schlief sie ein und träumte davon, zusammen mit Bobby Ewing und dem französischen Präsidenten François Mitterrand nackt im Quellwasser der Lourdes-Grotte zu baden.
Schon beim Essen am ersten Abend fielen Patricia ein Junge, dessen Mutter und seine Tante auf. Das Kind war nicht älter als zwölf Jahre und im Rollstuhl festgeschnallt; der Körper zuckte unkontrollierbar, und das Gesicht verzog sich zwanghaft zu Grimassen, die Patricia an eine gähnende Katze erinnerten. Nachdem die Mutter den Jungen gefüttert hatte, brachte sie ihn zu Bett und kam dann wieder, um selbst zu essen. Patricia fiel auf, dass beide Frauen abwechselnd die Treppe hinaufgingen, um nach dem Jungen zu sehen, und dann wieder herunterkamen. Treppen, ich kann es kaum erwarten, wieder Treppen hinaufzugehen. Patricia begegnete der Mutter, als Sheila sie zur Damentoilette brachte, und erkundigte sich nach der Krankheit des Jungen. Die Frau nannte den Namen der Erkrankung, die die ständigen Anfälle verursachte, doch weder Patricia noch Sheila hatten schon einmal davon gehört und konnten sich später auch nicht mehr an die Bezeichnung erinnern.
«Der arme Kleine», sagten sie auf dem Rückweg zur Bar.
Am zweiten Tag war Patricia früh auf, sie wollte die Sonne ausnutzen. Sheila half ihr mit der Sonnencreme, dann gingen sie zum Pool, faulenzten in Badesachen auf den Liegen und genossen die Wärme.
Patricia wurde immer schnell braun, und sie hatte wundervoll weiche Haut. Ihr kurzes Haar war weiß, und sie hatte zugenommen, seit sie jeden Tag von früh bis spät in diesem idiotischen Stuhl sitzen musste. Sobald sie wieder auf den Beinen wäre, so stellte sie sich vor, würde sie gleich beim ersten, sehr langen Spaziergang die Pfunde loswerden, sich eine vollständig neue Garderobe ohne einen einzigen Gummibund kaufen und sich die Haare färben. Patricia sah die Reise nicht nur als Sommerurlaub an: Sie hatte eine Mission zu erfüllen. Sie musste sich ihr Leben zurückholen, bevor es zu spät war.
Als die beiden Frauen von der Sonne ordentlich geröstet waren, stießen Gerry und die arme Mary zu ihnen, und sie gingen zum Mittagessen in ein kleines Café. Während die anderen aßen, schlürfte Mary aus einem Plastikbecher irgendeine Mixbrühe, von der das meiste auf ihrem T-Shirt landete. Nachdem Gerry seiner Schwester das Gesicht und das T-Shirt gesäubert hatte, gingen sie zum Beten und Kerzenanzünden zur Grotte. Suzie Malone war schon vor ihnen dort, sie war teilweise ertaubt und als Folge davon sehr laut.
«Sie kommen jetzt erst? Ich war den ganzen Vormittag da», rief sie.
«Schön für Sie, Suzie», sagte Gerry.
«Schön? Von wegen. Mir tut von all dem Herumsitzen hier der Hintern weh. Wenn ich gehen könnte, wäre ich schon vor Stunden weg, aber die verrückte alte Schachtel, mit der ich hier bin, will sich anscheinend als Heilige bewerben.»
Die ehrenamtliche Helferin, Jean, eine Frau Anfang fünfzig, funkelte Suzie böse an. Patricia, Gerry und Sheila lächelten ihr zu, um Suzies Ausbruch herunterzuspielen, während Mary in ihrem Stuhl einen Anfall bekam, vermutlich, weil sie versuchte zu lachen. Jean dagegen war nicht sonderlich begeistert.
«Sie haben diese Reise zum Beten unternommen», sagte sie.
«Blödsinn», brüllte Suzie. «Ich bin hierhergefahren, um Spaß zu haben, aber solange Sie mir zugeteilt sind, bin ich angeschissen.» Sie wandte sich an die anderen. «Glauben Sie, ich kann sie gegen jemand anderen eintauschen?»
«Wenn das so ist», sagte Jean und packte den Griff von Suzies Rollstuhl. «Wohin wollen Sie?»
«In den Pub», sagte Suzie.
«Das soll vermutlich ein Witz sein», gab Jean zurück.
«Ganz bestimmt nicht. Ich will ein Bier und ein Päckchen Erdnüsse, und ich will draußen sitzen und zwar so lange, bis meine Windel voll ist.»
Gerry, Patricia und Sheila lachten, aber Jean sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Nachdem Jean mit Suzie gegangen war, blieben sie nur eine halbe Stunde. Patricia wusste, dass ihr Wunder nicht davon abhing, was sie in Lourdes tat. Sie würde ihr Wunder bekommen, weil sie es verdiente. Sie entspannte sich einfach und genoss das Geplänkel mit Gerry und Sheila in der lauen Abendluft. Als sich der Himmel rot färbte und die meisten Plastik-Jesus-und-Maria-Verkaufsstände geschlossen waren, wirkte die Stadt nicht mehr so schäbig und war viel idyllischer. Als sie durch die Läden streiften, witzelte Patricia, dass Sheila und Gerry heimlich etwas miteinander laufen hatten, und Mary schien diese Vorstellung sehr zu gefallen, obwohl man ihre Reaktionen schwer einschätzen konnte. Sheila tat entsetzt. «Ich bin eine verheiratete Frau!»
Mary ging immer als Erste zu Bett. Sie wurde etwa um dieselbe Zeit wie John, der Junge mit den zwanghaften Zuckungen, nach oben gebracht. Im Laufe der nächsten Abende freundeten sich Patricia, Sheila und Gerry mit Johns Mutter Una und ihrer Schwester Jess an. Sie saßen gemeinsam im Außenbereich der Bar und redeten über Gott und die Welt. Sie lachten, erzählten Witze, sangen, und Patricia trank an diesen Abenden sogar ein oder zwei Gläser Bier. Sie und Sheila leisteten sich ein paar Zigaretten, und meistens war auch die Musik gut – wenn sie nicht gerade das spielten, was Gerry als «französischen Mist» bezeichnete.