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rowohlts monographien

begründet von Kurt Kusenberg

herausgegeben von Uwe Naumann

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2017

Copyright © 2002 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Für das E-Book wurde die Bibliographie aktualisiert, Stand: November 2016

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Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier

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Umschlagabbildung akg-images (Epitaph des Michael Meyenburg [Ausschnitt]. Von Robert Häusler 1927 gefertigte Kopie des Gemäldes von Lucas Cranach d. J. aus dem Jahr 1558. Das Original ist seit 1945 verschollen. V. l.: Martin Luther, Johannes Bugenhagen, Erasmus von Rotterdam, Justus Jonas und Caspar Cruziger)

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ISBN Printausgabe 978-3-499-50615-4 (2. Auflage 2010)

ISBN E-Book 978-3-644-40193-8

www.rowohlt.de

 

ISBN 978-3-644-40193-8

Wurzeln

Scheiterhaufen

«Heute bratet ihr eine Gans [tschech.: husa], aber aus ihrer Asche wird ein Schwan auferstehen.» Ein Scheiterhaufen, vor den Toren der freien Reichsstadt Konstanz, März 1415. In Flammen steht kein Heerführer, kein Revolutionär, vielmehr ein Theologieprofessor, einer, der redet und schreibt, kein Mann der Tat. Ein friedlicher Mensch also, doch ein gefährlicher. Denn er fasst die mächtige Kirche beim Wort – beim Wort Gottes, gegen die Tradition.

Gegen den Ablass hat er gepredigt und gegen die Verweltlichung des Klerus, für eine Kirche, die aus den Entschiedenen, aus den Auserwählten besteht, für den Laienkelch und die Ehe der Priester. Gefährliche Dinge also, für die der Mann mit dem kirchlichen Bann bestraft wird. Doch seine Anhänger übergeben die päpstliche Bannbulle den Flammen.

Jan Hus, der 1369 geborene Theologieprofessor aus Prag, taucht unter, stellt sich dann dem Konzil von Konstanz, in der Tasche Brief und Siegel des mächtigsten Mannes Europas, des deutschen Königs und späteren Kaisers Sigismund, der ihm freies Geleit zusagt.

Der Theologieprofessor ist mutig, er steht zu seinem Reformationswort, verweigert, vom Glauben entflammt, den geforderten Widerruf. Man nimmt ihn in Haft, macht kurzen Prozess, verurteilt ihn zum Tod. Die Strafe wird wirklich vollzogen, das königliche Wort ist das Papier, auf dem es steht, nicht wert. Der Ketzer Hus steht in Flammen.

Sterbend bittet er für seine Gegner und hofft, dass sein Wort ihn selbst überlebt. Die Asche des Toten streut man in den Rhein, der sie weiterträgt …

Vor-Reformatoren

Personen: Petrus Waldes (gest. um 1218), Kaufmann in Lyon; John Wyclif (um 1320–1384), Professor in Oxford; Jan (Johannes) Hus (um 1370–1415), Professor in Prag.

Anliegen: Armut; Laienkirche (Laienkelch und Priesterehe); Rückkehr zu Bibel und Urgemeinde.

Wirkung: Waldenserkirche; Hussitentum (bes. Böhmische Brüder).

Szenenwechsel: Gut ein Jahrhundert später, etwa 300 Kilometer rheinabwärts. Wie sich die Dinge gleichen: Zwar tagt jetzt kein Konzil, doch ein Reichstag. Wiederum steht ein Professor der Theologie vor Gericht, einer, der vom Papst gebannt ist, aus ähnlichen Gründen: Kampf gegen Ablass und Tradition, Berufung auf Gottes Wort, auf die Heilige Schrift: Das Wort sie sollen lassen stahn! Einer, der die Bannandrohungsbulle des Papstes öffentlich verbrannt hat, mit eigener Hand. Einer, der Brief und Siegel mit der Zusage freien Geleits in der Tasche trägt, das Ehrenwort Kaiser Karls V., des mächtigsten Mannes auf Erden. Martin Luther steht vor dem Reichstag zu Worms, am 18. April 1521. Auch er verweigert vor der höchsten weltlichen Instanz den Widerruf, trumpft gar noch, wie erzählt wird, selbstbewusst auf: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Und nimmt sich das Schlusswort: Gott helfe mir! Amen. (LW3, 15)

Nun hängt alles an der Antwort des Kaisers. Wird der mutige Mönch sein Leben retten, wird er verbrannt? In den Köpfen der Menschen ist der Scheiterhaufen schon errichtet: Mittlerweile kamen viele vom Adel in meine Herberge und sagten: «Herr Doktor, wie geht’s? Man sagt, man wolle euch verbrennen […].» (LWE3, 50)

Herren

«Ihr wißt, daß ich von den allerchristlichen Kaisern der edlen deutschen Nation abstamme, von den katholischen Königen Spaniens, den Erzherzögen Österreichs, den Herzögen von Burgund, welche alle bis zum Tode getreue Söhne der römischen Kirche gewesen sind, Verteidiger des katholischen Glaubens […]. Deshalb bin ich entschlossen, an allem festzuhalten, wie meine Vorgänger und ich es bisher getan haben […]. Denn es ist sicher, daß ein einzelner Bruder mit seiner Meinung, die gegen die ganze Christenheit steht, irrt, da nach dieser Meinung die Christenheit tausend Jahre und mehr geirrt haben müßte […]. Nach der halsstarrigen Antwort, die Luther gestern in unser aller Anwesenheit gegeben hat, erkläre ich euch, daß ich bedaure, so lange gezögert zu haben, gegen ihn und seine falsche Lehre vorzugehen, und daß ich nicht gewillt bin, ihn noch einmal anzuhören. Die Zusage freien Geleits werde ich halten […], aber ich werde ihn, wie gesagt, in Zukunft wie einen notorischen Ketzer behandeln und ersuche euch als Christen, euch ebenso zu verhalten.» (KV., 33–35)

Mit dieser Antwort tritt Karl V. am Tag nach Luthers Verhör in Worms an die Öffentlichkeit. Er versteht sich als weltlicher Hüter des Glaubens, als Wahrer der Einheit des christlichen Abendlands, als Kaiser in mittelalterlich-sakralem Sinn. Und er hält Wort: Die Zusage freien Geleits gilt, auch für den Todfeind, für einen Ketzer, der ebendiesen Glauben bedroht. Drei Wochen lässt er ihm Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, dann erst, am 8. Mai, erklärt er über ihn die Acht, veröffentlicht am 26. Mai 1521 im Wormser Edikt. Warum macht der Kaiser nicht kurzen Prozess? Warum hält er sein Wort? Was ist er für ein Mensch?

Karl V., der Einundzwanzigjährige mit den markanten Gesichtszügen, mit der Adlernase und dem Charakterkinn, weit nach vorne geschoben, ist entschlossen und zaudernd in einem, voll kriegerischem Tatendrang und von zarter Konstitution, klug und schlicht, mit widersprüchlichen Seiten.

Im Jahr 1500, exakt zur Jahrhundertwende, geboren, wurde er dank der klugen Heiratspolitik seines Großvaters, des habsburgischen Kaisers Maximilian I., zum Herrscher bedeutender Reiche: der habsburgischen Stammlande in Österreich, Ungarn und Böhmen, weiter Süditaliens sowie der norditalienischen Städte, ferner Burgunds, des Reichs zwischen Deutschland und Frankreich bis hinab in die Niederlande, und schließlich Spaniens, wo er aufwuchs. 1519, nach dem Tod des Großvaters, gewann er, gerade neunzehnjährig, die Wahl zum deutschen Kaiser. Der mächtigste Mann Europas war bald auch der mächtigste Mann der Welt. In den beiden Jahren zwischen der Kaiserwahl und dem Wormser Reichstag erobert Hernán Cortés nach dem Motto «Für Gott die Seelen, das Land für den Kaiser» das Aztekenreich in Mexiko, Anfang des nächsten Jahrzehnts kommt durch Francisco Pizarro das Inkareich in Peru, Ecuador und Chile hinzu. Das christliche Abendland unterwirft einen Kontinent, den Christoph Kolumbus für Europa 1492 wieder «entdeckte». Karl V. herrscht über ein Reich, «in dem die Sonne niemals untergeht», wie er selbstbewusst anmerkt, seinem Lebensmotto getreu: «Plus ultra»!

Und dieser mächtige, gebildete Mann, der neben Spanisch Französisch und Latein beherrscht, betritt 1521 zum ersten Mal Deutschland, dessen Sprache er nicht versteht, und veranstaltet in Worms einen Reichstag. Was hindert ihn daran, Luther sofort zu töten oder nach dem Wormser Edikt den Geächteten verhaften, verurteilen, verbrennen zu lassen, wie dies ein Ketzer nicht anders verdient?

Der mächtige Kaiser hat Feinde. Im Westen Franz I., seit 1515 König von Frankreich. Er sieht sich vom Haus Habsburg umzingelt und erhebt seinerseits Anspruch auf Norditalien und Burgund. Auf der anderen Seite, im Osten, Sultan Suleiman II., der Große, auch der Prächtige genannt. Er führt seit 1520 das Osmanenreich zu ungeahnter Blüte, gewinnt im Mittelmeer die Kontrolle über den venezianischen und den genuesischen Handel, dringt auf dem Balkan vor, 1529 gar bis nahe Wien, ins Herz der habsburgischen Herrschaft. Im Süden den Papst. Er fühlt sich vom Kaiser umklammert, wie Frankreich auch. Im Norden schließlich Heinrich VIII. Er regiert England seit 1509 und setzt sich gegen den habsburgischen Führungsanspruch zur Wehr. Obwohl sich die Gegner in wechselnden Koalitionen verbünden, gelingen Karl überwältigende Siege: Franz I., nach der Niederlage von Pavia 1525 in kaiserliche Gefangenschaft geraten, muss Karl V. ewigen Gehorsam schwören. 1527 plündern kaiserliche Truppen Rom so gründlich, dass dieses «Sacco di Roma» genannte Ereignis die Renaissancekultur in Italien schwer erschüttert, der Papst aber plötzlich bereit ist, Karl V. 1530 in Bologna zum deutschen Kaiser zu krönen. In Nordafrika schließlich erobert der Kaiser 1535 Tunis. Es gelingt Karl, seine zersplitterten Herrschaftsgebiete zu behaupten, mehr aber erreicht er trotz aller Siege nicht. Vor allem wird er der Ketzerei in Deutschland nicht Herr. Hat er außenpolitisch den Rücken frei, kommt er nach Deutschland, beruft einen Reichstag ein und versucht, das Wormser Edikt durchzusetzen. Doch zwingen ihn fünf Kriege mit Frankreich, die Kämpfe gegen die Türken sowie die Primatsquerelen mit dem Papst zur Abwesenheit vom Reich und zu Kompromissen mit den Ketzern, deren Unterstützung er braucht. Das Wormser Edikt wird ausgesetzt, die Religionsfrage aufgeschoben. Zugespitzt formuliert: Muslime, Franzosen, gar der Papst ermöglichen die Reformation in Deutschland.

Zu den äußeren Problemen treten die inneren: die finanzielle Abhängigkeit von Jakob Fugger II., dem Reichen, der mehr als eine halbe Million Goldgulden zu den für die Kaiserwahl notwendigen Bestechungsgeldern vorstreckt und Karl zu gelegener Zeit daran zu erinnern pflegt, «daß Eure Majestät die römische Krone ohne uns nicht hätte erlangen können»; weiter die Unmöglichkeit, ein Reich, das in 300 mehr oder weniger selbständige Herrschaftsgebiete aufgesplittert ist, zu regieren; die Macht der deutschen Fürsten, die Karl V. nach seiner Wahl zur «Reichskapitulation» zwingen, zur Anerkennung der Existenz von «Reichskammergericht» und «Reichsheer», vom Kaiser unabhängigen richterlichen und exekutiven Gewalten für die Zeiten seiner Abwesenheit vom Reich; schließlich die starke Stellung des Kurfürsten Friedrichs des Weisen von Sachsen, des mächtigsten Fürsten im Reich, der diesen Ketzer Luther, seinen Untertan, schützt. Zwar gelingt Karl auch hier ein vernichtender militärischer Schlag. 1547 erobert er Wittenberg, das neue, evangelische Rom. Doch trifft er damit weder den Ketzer, denn der ist bereits tot, noch die Ketzerei, denn die hat sich längst wie eine Seuche verbreitet.

1556, zwei Jahre vor seinem Tod, verzichtet Karl V. auf Amt und Würden, er zieht sich ins Kloster zurück. So sehen wir denn diesen mächtigen, stolzen Mann gegen Ende seines Lebens auf einem Bild von Tizian resigniert, «den Blick ins Unergründliche gerichtet, als sei alles um ihn herum Luft oder Glas, durch das er teilnahmslos hindurchsieht» (Egon Friedell). Er ist gescheitert, an seinen außenpolitischen Feinden und den innenpolitischen Gegnern, an seinem Traum vom abendländischen Kaisertum und an Luthers Reformation.

Im Rückblick bereut der alternde, gichtgeplagte Kaiser sein ehrenhaftes Verhalten von Worms: «Es wäre ein Irrtum, die Ketzer nicht zu verbrennen, wie ich irrte, als ich den Luther nicht umbrachte. Ich irrte, denn ich wäre nicht verpflichtet gewesen, mein Wort zu halten, da ja der Ketzer gegen einen größeren Herrn sündigt, der Gott ist […]; allein ich habe ihn nicht getötet, und so wuchs dieser Irrtum ins Ungeheuerliche.» (KV., 131)

Gärungen

Das kann man aber nicht leugnen, daß Kaufen und Verkaufen ein nötig Ding sind, des man nicht entbehren und wohl christlich brauchen kann […]. Es sind Gottes Gaben, die er aus der Erde gibt und unter die Menschen teilet. (LW5, 115)

Mit diesen Worten charakterisiert Luther die Fruchtbarkeit der deutschen Länder, ihren Reichtum an Bodenschätzen und den aufblühenden Handel dieser Zeit. Und wirklich, die Epoche um 1500 ist eine Phase des Wachstums auf vielen Gebieten. 16 Millionen Einwohner hat das Reich, und die Bevölkerungszahl steigt, trotz hoher Sterblichkeit, vor allem aufgrund der wachsenden Nahrungsmittelproduktion. Der Masse der Bevölkerung geht es um die Jahrhundertwende besser als 50 Jahre später. Bei der Herstellung der Bekleidung dominiert das Verlagswesen, bei dem ein kapitalkräftiger Verleger den kleinen, familiengestützten Handwerksbetrieben Geld oder Rohstoffe vorschießt, «vorlegt». Den wirtschaftlichen Aufschwung aber bringt der «Bergsegen» mit Eisenerz-, Kupfer-, Silber- und Zinnfördermengen, die in den folgenden Jahrhunderten nicht wieder erreicht werden. Der Handel blüht, vor allem der Fernhandel, nach Osten hin gegen Indien, nach Westen zum neu entdeckten Kontinent, von dem riesige Mengen an Gold und Silber nach Europa fließen. Kapitalgesellschaften ermöglichen durch Akkumulation von Geld große Unternehmungen, Monopole in Bergbau und Handel erwirtschaften riesige Gewinne, Geldverleih bringt per annum 10, 15, ja 20 Prozent Zins.

Doch profitieren von dieser rasanten Entwicklung in erster Linie die großen Kaufleute und Bankiers, allen voran der Fugger Jakob II. aus Augsburg, der es mit ostindischem Gewürzhandel und dem Kupfermonopol in Europa vom Nobody bis zum kaiserlichen Finanzier und zum Reichsadligen bringt.

Die mangelnde Verteilungsgerechtigkeit aber schafft Unmut. Martin Luther fordert ein Wirtschaftsrecht: Hier müßte man wahrlich auch den Fuggern und dergleichen Gesellschaften einen Zaum ins Maul legen. Wie ist’s möglich, daß es sollte göttlich und recht zugehen, daß bei eines Menschen Leben sollten auf einen Haufen so große, königliche Güter gebracht werden? Ich weiß die Rechnung nicht. (LW2, 147)

Leidtragende der Entwicklung in der Stadt sind Familienbetriebe, die in die Abhängigkeit der Verleger geraten, einfache Handwerker, die mit der Konkurrenz und den Umstrukturierungen nicht mithalten können, und Arbeiter, die sich mit sinkenden Löhnen zufrieden geben müssen oder arbeitslos werden. Leidtragende sind die Kinder, die von früh auf Schwerstarbeit verrichten, auch unter Tage. Vor allem unter den Bergknappen kommt es zu Unruhen.

Es gärt auch unter der ländlichen Bevölkerung, die mit einem Anteil von 80 Prozent den Großteil der Bewohner des Deutschen Reiches stellt. Auf dem Land leben mit einem Arbeitstag von vierzehn Stunden Leibeigene, Hörige und freie Bauern, deren Rechte im Spätmittelalter zunehmend eingeschränkt, die Abgabenlasten jedoch erhöht werden. Viele Bauernhöfe sind um mehr als die Hälfte ihres Wertes verschuldet. Gärungen gibt es auch im niederen Adel, den Rittern, die militärisch durch die neuen Feuerwaffen und die Söldnerheere, politisch durch die zentralistischen Bestrebungen der Fürsten und wirtschaftlich durch sinkende Nahrungsmittelpreise in Bedrängnis geraten. Der Geldmangel ist bei ihnen chronisch. Ein Morgen Ackerland wird für zwei bis fünf Gulden verkauft, für ein Frauenkleid aber bezahlt man neun bis zehn Gulden.

Was bleibt als Ausweg? Der individuelle macht Ritter zu Verwaltungsangestellten eines Landesherrn oder zu Raubrittern, die Kaufleute überfallen. Hans Luder, der Vater des Reformators, aus Bauerngeschlecht stammend, wird Bergwerkarbeiter und steigt bis zum selbständigen Hüttenteilhaber auf. Die Karriere des Selfmademan soll der Sohn fortsetzen mit einem Studium der Rechte, weil sich als Advokat allemal mehr Geld machen lässt denn als Theologe oder Mediziner, den beiden anderen höheren Studienrichtungen der Zeit. Natürlich gelingt es nicht jedem, so erfolgreich zu sein …

Der andere Weg ist der kollektive zu Neuorientierung, Protest oder Revolution. Bauernunruhen häufen sich im Zeichen des Bundschuhs, des zum Symbol gewordenen Schnürschuhs der Bauern.

Am Vorabend der Reformation schlagen sich diese Gärungen nieder in den «Gravamina», den «Beschwerden», die überall formuliert und verbreitet werden, jetzt, dank der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg, als Drucke oder illustrierte Flugblätter.

Einen nationalen, antiklerikalen Zug erhalten diese Beschwerden, die von einer ausgeprägten Volksfrömmigkeit und von der Hoffnung auf ein Reformkonzil gespeist werden, durch den Hass auf die von Italien und von Rom dominierte Papstkirche. Trotz Nepotismus (Vetternwirtschaft), Simonie (Ämterverkauf), Verweltlichung, Prunksucht und Machtpolitik blüht in Italien um die Jahrhundertwende die Hochrenaissance. Leonardo da Vinci schafft seine Mona Lisa. Michelangelo Buonarroti malt die Sixtinische Kapelle aus. Papst Leo X., ein hochgebildeter Mann, schreibt für den Neubau des Petersdoms, der prächtigsten Kirche der Christenheit, den Peterspfennig aus, einen Ablass, der in Deutschland das Fass zum Überlaufen bringt. Auf dem Reichstag zu Worms beklagen sich 1521 die deutschen Stände beim Kaiser: «[…] darum dem Fiskal zu Rom viele Sachen zustehen, dadurch die Deutschen unbillig von Rom gefordert und mit großen Kosten beschwert werden, was doch nicht zu leiden ist.» (DRII, 717) Und der Kaiser schließt sich dieser Sichtweise an, wenn er 1526 in einem Brief an den Papst beanstandet: «Aus meinen Königreichen und Provinzen werden mehr jährliche Abgaben nach Rom entrichtet als von allen übrigen Völkern zusammen […].» (KV., 61)

Gravamina (Beschwerden)

Doch sie [die geistlichen und weltlichen Häupter] zeigen, mit Verlaub, den Hintern und wollen keine Reformation, und die geistlichen Häupter bedienen sich alle der Simonie [des Ämterverkaufs] mit Gewalt, und die Habgier hat ihren Lauf bei Weltlichen und Geistlichen mannigfach.

Aus der anonymen, 1439 entstandenen, am Vorabend der Reformation weit verbreiteten Schrift «Reformatio Sigismundi»

So spricht Luther den Leuten aus dem Herzen, wenn er 1520 schreibt: Nun Welschland [Italien] ausgesogen ist, kommen sie ins deutsche Land, heben fein säuberlich an, aber sehen wir zu, das deutsche Land soll bald dem Welschen gleich werden. (LW2, 97) Er, der Rom kennen gelernt hat und beim Anblick der Stadt begeistert ausrief: Sei gegrüßt, heiliges Rom!, urteilte später vernichtend: Gibt es eine Hölle, so steht Rom darauf. (LWE3, 21, 24)

«Gott helfe mir, Amen!»
Martin Luther

1. Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus sagt: «Tut Buße», so will er, daß das ganze Leben seiner Gläubigen auf Erden eine stete Buße sein soll. […]

71. Wer wider die Wahrheit des päpstlichen Ablasses redet, der sei verflucht und vermaledeit!

72. Wer aber wider des Ablaßpredigers mutwillige und freche Worte Sorge trägt oder sich bekümmert, der sei gesegnet! […]

75. Des Papstes Ablaß für so wirksam zu halten, daß er einen Menschen von der Sünde lösen könne, selbst wenn er, um von etwas Unmöglichem zu reden, die Mutter Gottes geschwächt hätte, heißt unsinnig sein. (LW1, 31, 36)

Mit wuchtigen Hammerschlägen nagelt ein Mönch 95 Thesen an ein Portal der Schlosskirche zu Wittenberg, so will es die Legende, in Bildern bis zur Gegenwart tausendfach dargestellt. Wir schreiben das Jahr 1517, den 31. Oktober. Noch heute feiert man im Herbst in evangelischen Kirchen alljährlich den Reformationstag.

Der Mönch ist bis dato ein Unbekannter, ein Mönchlein, wie er selbst sagt, doch immerhin Professor der Theologie an der jungen, erst 1502 gegründeten Universität Kursachsens in Wittenberg. Sein Name: Martin Luther, sein Alter: 33 Jahre. Die frühen Porträts zeigen ein ernstes, markantes Gesicht, mit starken, vorspringenden Backenknochen, gewölbter Stirn und schmalen, zusammengepressten Lippen, eine hagere Gestalt mit Kutte und Tonsur, den Attributen eines Mönchs. Ein Mann, dem man ansieht, dass es ihm ernst ist, einer voll Kraft, Trotz, Energie.

Er hat einen Gegner, Johannes Tetzel, einen Ablassprediger, der mit dem legendär gewordenen Spruch Erfolg hat: «Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegfeuer springt.» Das erregt Anstoß: Der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise fürchtet wirtschaftlichen Schaden, wenn seine Landeskinder ihr Geld nicht zur eigenen, deutschlandweit größten Reliquiensammlung bringen, sondern ins benachbarte Halberstadt zu Tetzel. Theologisch sorgt sich der Seelsorger und Beichtvater Luther, dessen Beichtkinder es mit Reue und Buße nicht mehr sehr ernst nehmen, können sie sich doch die Absolution mit klingender Münze erkaufen, auch für die allerschwerste, undenkbare Missetat. Denn Tetzel sagte etwa folgendes: hätte einer die Jungfrau Maria geschändet, so wird ihm mein Ablaß helfen […]. Tetzel machte es so grob, daß man es (mit Händen) greifen musste. (LWE3, 39)

Der Ablassprediger aber handelt in höchstem Auftrag. Hinter ihm steht Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Magdeburg, Administrator des Bistums Halberstadt, seit drei Jahren zudem Erzbischof von Mainz und in dieser Funktion Kurfürst und Erzkanzler des Reichs, gleich hinter dem Kaiser der zweitmächtigste Politiker im Reich. Die Hälfte des durch Tetzel und andere eingetriebenen Ablasses geht an ihn und damit an die Fugger, die die für den Erwerb der Mainzer Erzbischofswürde nötige Summe von über 20000 Gulden vorgestreckt hatten, die andere Hälfte direkt an Papst Leo X. für den Neu- und Ausbau des Petersdoms. Was bei der Kaiserwahl geschah, wiederholt sich hier, zudem sind Ämterhäufung und Ämterkauf (Simonie) nach kirchlichem Recht nicht erlaubt. So schlug Luther denn auch die Thesen wohl nicht an die Kirchentür, sondern schickte sie mit einem Begleitschreiben an besagten Erzbischof Albrecht und dann an zahlreiche Gelehrte: Denn nirgendwo hat Christus befohlen, den Ablaß zu predigen. Aber das Evangelium zu predigen hat er nachdrücklich befohlen. (LD10, 28)

Luther will keine neue Institution, nicht einmal eine Reformation, er erinnert die Kirche nur an ihren Auftrag, fordert Beseitigung der Missstände, kaum eine Reform. Doch die Thesen machen schlagartig Furore, die im Untergrund schwelende Kirchenkritik explodiert. Innerhalb vierzehn Tagen war Luther mit seinen Thesen in den deutschen Ländern eine Berühmtheit. Das hieß nun, den Himmel stürmen und die Welt in Brand setzen. (LW1, 21) Diesen Sturm hatte Luther nicht gewollt. Da dachte ich: Potz Leichnam, will es dahin gelangen, daß die Sache vor den Papst kommt? (LWE3, 41) Der Mönch bekommt vor dem eigenen Mut Angst. Zu jener Zeit war ich noch schwach; ich wollte den Papst nicht angreifen, ich hatte Respekt […]. (LWE3, 42)

 

Martin Luther kannte die Furcht, schon als Kind. Die Furcht vor Gott und dem Jüngsten Gericht, vor Hölle und Teufel, vor Vater und Mutter. Meine Eltern haben mich in strengster Ordnung gehalten, bis zur Verschüchterung. Meine Mutter stäupte mich um einer einzigen Nuß willen bis zum Blutvergießen. […] Mein Vater stäupte mich einmal so sehr, daß ich vor ihm floh und daß ihm bange war, bis er mich wieder zu sich gewöhnt hatte. (LWE3, 12) Nicht anders als die Eltern reagieren die Lehrer: Es sind manche Präzeptoren so grausam wie die Henker. So wurde ich einmal vor Mittag fünfzehnmal geschlagen, ohne jede Schuld, denn ich sollte deklinieren und konjugieren und hatte es noch nicht gelernt. (LWE3, 14) Die Schrecken der Kindheit und Jugend vergaß Luther nie.

Am 10. November 1483 in Eisleben als Sohn der Margarete Lindemann und ihres Ehemanns Hans Luder geboren, beschreibt er später ein wenig romantisierend seine Herkunft: Ich bin eines Bauern Sohn: der Urgroßvater, mein Großvater, der Vater sind richtige Bauern gewesen. (LWE3, 11)

Nach der Schulzeit in Mansfeld, Magdeburg und Eisenach, dem Grundstudium an der Universität Erfurt, dann dem der Jurisprudenz, ereignet sich im Sommer 1505 eine erstaunliche Wende: Bei Stotternheim von einem heftigen Gewitter überrascht, gelobt Luther in Todesangst: Hilf du, hl. Anna, ich will ein Mönch werden! (LWE3, 18) Er hält das Gelübde, geht ins Kloster der Augustinereremiten in Erfurt, gegen den Willen der Freunde und Verwandten: Auch mein Vater war sehr zornig über das Gelübde, doch ich beharrte bei meinem Entschluß. […] Ich war der Welt ganz abgestorben. (LWE3, 19) Nicht nur gegen äußere Widerstände, auch gegen innere: Ich bin nicht gerne ein Mönch geworden. (LWE3, 19)

Probezeit, Profess, Priesterweihe (1507), Studium der Theologie, eigene Vorlesungstätigkeit, Reise nach Rom (1510/11), Promotion zum Doktor, Professor der Bibelwissenschaften an der Universität Wittenberg (1512): von außen betrachtet eine beachtliche und schnelle Karriere. Auch als Mönch hält sich Luther tadellos: Denn ich habe das Gelübde getan nicht um des Bauches, sondern um meiner Seligkeit willen, und habe unsere Regeln peinlich streng gehalten. (LWE3, 19) Armut, Keuschheit, Gehorsam – Luther hat keine Probleme mit den strengen Gelübden: Als Mönch habe ich nicht viel Begierde gespürt. Pollutionen hatte ich aus leiblicher Nötigung. Die Weiber schaute ich nicht einmal an, wenn sie beichteten […]. (LWE3, 24)