Cover

Helene Arnet – Die Brückenbauerin | Die Geschichte und die Geschichten der Hélène Vuille – WÖRTERSEH

 

Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe

© 2016 Wörterseh, Gockhausen

Herstellerische Koordination und Cheflektorat: Andrea Leuthold, Zürich
Lektorat und Korrektorat: Claudia Bislin und Lydia Zeller, Zürich
Foto Umschlag vorn: Lukas Fink, Bronschhofen
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen
Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Print ISBN 978-3-03763-070-9
E-Book ISBN 978-3-03763-602-2

www.woerterseh.ch

 
Dieses Buch hat zwei Autorinnen.
Helene Arnets Text über Hélène Vuille erscheint in Schwarz.
Alles, was Hélène Vuille geschrieben hat, ist in Farbe abgebildet und durch eine begleitende Linie kenntlich gemacht.
 
Die beiden widmen dieses Buch:

Christoph, Ueli, Bruno, Edi, Markus, Bella, Alois, Theo, Lisa, Walti, Silvana, Hampi, Michi, Pema, David, Reto, Aitor, Fränzi, den Bewohnern der Bahnhofstoilette, Pierre, Karli, Paul, Tenu, Alfred, Lee, Luciano, Khan, Ronni, der Frau im Tramhäuschen, Kurt, Pietro, Artschu, Theresa, Dominique, Silvia, Simona, dem Mann auf dem Bänkli, Nino, Paula, Herrn Brunner, Gertrud, Christian, Andy, Lydia, Miritta, Antonio, Carolina, Hansjörg, René, Amir, Daniel, der Frau im Pärkli hinter dem Hauptbahnhof, Denise, Sepp, Erich, Messinio

 
»Die Haut darf nicht zu dick sein.«

Hélène Vuille

Inhalt

Über das Buch

Über die Autorinnen

Vorwort

Baumnüsse und Geschichten

AM FLUSS

Nervensäge

DER MANN AUF DEM BÄNKLI

Der Schlaraffenland-Express

CHRISTIAN

Die Schulklasse

David gegen Goliath

Christophs Sicht: Das Wunderauto

BRIEF AN SELINA

Christophs Sicht: Eine innere Kraft

LORENZO

Eine Tür blieb verschlossen

Zahlen und Schicksale

FRAU KLEMATIS

Schreiben

Bärendreck

SAMY

Weder Kläger noch Richter

FLORINA

Die Haut darf nicht zu dick sein

Obdach

MANUEL

ALBAN

Ihnen ein Gesicht geben

FERNANDO

Schutzengel

MILENA

PRINZESSIN DER NACHT

Christkind und Kröte

Um halb neun wird das Buffet eröffnet

Hartnäckigkeit

Einsiedeln

HÉLÈNES GESCHICHTE

Weiterleben

LUKI

XENIA

Nachwort

GEDANKEN UND DANK

 

Über das Buch

Dieses Buch erzählt vom Werdegang einer Frau, der es immer wieder gelingt, tiefe Gräben zu überwinden und fremde Welten zu verbinden. Von einer Frau, die unablässig Brücken baut, weil sie der Überzeugung ist, dass sich viel Leid vermeiden liesse, wenn wir Menschen ohne Berührungsängste aufeinander zugehen würden. Von einer Frau, die uns einlädt, mehr hin- und weniger wegzusehen. Auch weil sie davon überzeugt ist, dass dadurch nicht nur die Welt der anderen, sondern auch unsere eigene lebenswerter wird.

»Hélène Vuille ist für uns wie eine Mutter, die immer zuhört und einem hilft. Und einen so nimmt, wie man ist. Sie will einen nicht verändern, sie will uns helfen, ein besseres Leben zu haben. Dafür tut sie alles.«

Christoph

 

Über die Autorinnen

Helene Arnet
© Lukas Fink

HELENE ARNET ist in Schlieren ZH aufgewachsen und schloss ihr Geschichts- und Germanistik-Studium mit einer Dissertation über das Kloster Fahr im Mittelalter ab. Deren Untertitel – »Die Welt im Tropfen« – zeigt, welche Art von Geschichte und Geschichten sie besonders interessiert. Für sie war schon früh klar, dass das, was die Welt und uns selbst bewegt, sich oft und unmittelbar erfahrbar in der Nähe und im Kleinen spiegelt. Nach einigen Jahren als Mittelschullehrerin wechselte Helene Arnet in den Journalismus. Seit 2001 arbeitet sie Teilzeit als Redaktorin beim »Tages-Anzeiger«. Dort und daneben schreibt sie nach wie vor am liebsten über »Welten im Tropfen« und hat bei der Recherche für einen Artikel Hélène Vuille kennen gelernt, deren Mission sie vom ersten Augenblick an faszinierte. Als sie angefragt wurde, ein Buch über sie zu schreiben, in dem auch Hélène Vuilles selbst geschriebene Geschichten über Menschen am Rande Platz finden, sagte sie sofort zu. Denn sie glaubt, dass solche Geschichten das Potenzial haben, jene Bretter vor unseren Köpfen zu entfernen, die uns den Blick für das Wesentliche und das Richtige viel zu oft versperren. Helene Arnet lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Dietikon.

HÉLÈNE VUILLE, die in Einsiedeln aufgewachsen ist, sieht dorthin, wo wir alle lieber nicht hinschauen wollen. Sie erzählt uns – zwischen den Texten von Helene Arnet, die über Hélène Vuilles persönliche Geschichte schreibt – die Geschichten von Luki und Xenia, von Fernando und Christian, von Lorenzo und Frau Klematis, von Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen und die sie durch ihren Kampf gegen Food-Waste kennen gelernt hat. Aufschreiben konnte Hélène Vuille diese Geschichten, weil sie keinerlei Berührungsängste kennt, vor allem aber auch, weil sie eine ehrlich interessierte Zuhörerin ist. Und wohl auch, weil ihr eigenes Schicksal sie einst lehrte, wie wenig es braucht, um aus der Bahn geworfen zu werden. Als Siebzehnjährige erlitt sie einen Unfall, der sie um ein Haar das Leben kostete und sie, die seit ihrer Kindheit davon geträumt hatte, Pianistin zu werden, dazu zwang, in all ihrer Hoffnungslosigkeit mehr als neuen Lebensmut zu finden. Sie musste von Grund auf alles neu erlernen. Wieder Tritt fassen konnte sie vor allem, weil sie erkannte, dass sie es ebenso liebt, Buchstaben aneinanderzureihen wie Töne. Hélène Vuille ist verheiratet, hat einen erwachsenen Sohn und lebt im Zürcher Limmattal.

 

Vorwort

Vor vier Jahren hat Hélène Vuille das Buch »Im Himmel gestrandet« herausgegeben. Sie skizziert darin die Lebensgeschichten von Menschen, denen sonst kaum jemand Beachtung schenkt. Und die ihrerseits kaum einem Menschen so viel Vertrauen schenken, dass sie ihm ihre Lebensgeschichte erzählen würden. Indem Hélène Vuille Menschen, die an den Rand der Gesellschaft geraten sind, ein Gesicht gibt, hilft sie, Berührungsängste abzubauen. Wir Leserinnen und Leser erfahren dadurch die Geschichten »dahinter« und können beurteilen, was wir sonst oft vorschnell verurteilen. Hélène Vuille baut damit eine Brücke zwischen Menschen, die gestrandet, und Menschen, die gelandet sind.

Das Buch »Im Himmel gestrandet« hat viele berührt, ist aber nicht der Anfang der Geschichte. Am Anfang stand der Kampf von David gegen Goliath, von Hélène Vuille gegen den »orangen Riesen« Migros: der Kampf gegen die Verschwendung von Lebensmitteln. Er dauerte vierzehn Jahre, kostete Nerven und ging an die Substanz. Wie der Kampf zwischen David und Goliath endet auch diese Geschichte mit dem Sieg des Kleinen gegen den Grossen – wobei Goliath nicht erschlagen, sondern einsichtig wurde. Denn auch hier gelang es Hélène Vuille, dass sich das Verbindende gegen das Trennende durchsetzte. Ein Kampf mit lauter Siegern also.

Für Hélène Vuille führte dieser Brückenschlag nicht nur zum vordergründigen Ziel, nämlich dass sie und ihr Team bis Ladenschluss nicht verkaufte Brötchen und Cremeschnitten an Obdachlose oder Asylbewerber verteilen dürfen. Die Brücke eröffnete ihr auch den Weg in eine andere Welt. Bei der Verteilung der Lebensmittel lernte sie »Menschen auf der Rückseite des Lebens« kennen, wie der Untertitel ihres ersten Buches lautet. Für die Frau, die wohlbehütet aufgewachsen ist, waren diese Begegnungen bedrückend und bereichernd zugleich.

Dieses Buch will die zwei Handlungsstränge verflechten. Es will aufzeigen, wie es dazu kam, dass heute in einer wachsenden Zahl von Gemeinden übrig gebliebene Tagesfrischprodukte bei Ladenschluss nicht mehr im Abfall entsorgt, sondern an bedürftige Menschen verteilt werden. Es will aber auch dem Wunsch dieser Menschen »auf der Rückseite des Lebens« nachkommen, eine Stimme in unserer Gesellschaft zu erhalten. Hélène Vuille hat diese Lebensgeschichten in der ihr eigenen anschaulichen und berührenden Erzählweise verfasst.

Nicht zuletzt will dieses Buch sich aber auch dieser erstaunlichen, liebenswürdigen Frau annähern, die – wenn es ihr Gewissen erfordert – mit dem Kopf durch die Wand geht.

Helene Arnet

 

Baumnüsse und Geschichten

Von Hélène Vuille geht niemand mit leeren Händen weg. Nach unserem ersten Treffen habe ich eine riesige Tasche voller Baumnüsse und ein Glas selbst gemachte Beerenkonfitüre in meiner Umhängetasche. Und gleich noch einige Geschichten dazu im Kopf.

Ich werde ab jetzt Hélène einfach nur beim Vornamen nennen, obwohl dies gegen die journalistischen Gepflogenheiten verstösst. Aber anders geht es nicht. Nicht weil sie etwas Kumpelhaftes hat, ganz und gar nicht. Aber sie hat etwas so Unmittelbares und Verbindendes, dass es schwer ist, professionellen Abstand zu wahren.

Die Stube ist hell, ich sehe hinaus in den Garten; ein halbes Dutzend farbiger Vogelhäuschen hängt an den Goldulmen und am Maulbeerbaum, am Nussbaum und an der Tränenkiefer. An einer Wand steht ein antiker Bündner Hochzeitsschrank, die zwei Stühle mit reich verzierter Lehne aus Arvenholz hat ihr Vater geschnitzt. Mitten im Raum und in einer eigens dafür eingelassenen Wandnische sind Marmorskulpturen ausgestellt, die ihr Grossvater gemeisselt hat.

Hélène stellt einen noch warmen Apfelkuchen auf den Tisch und muss schnell noch ein Heftpflaster auf den Handrücken kleben, denn sie hat sich am Ofen verbrannt. Das passiere ihr ständig, sagt sie. Weil sie immer alles gleichzeitig tue: kochen, Schrank aufräumen, Mails beantworten, und dann sei eben noch ein Telefonanruf gekommen.

Die ersten Geschichten, die sie erzählt, sind heiter. Sie handeln von den Eichhörnchen, die in ihrem Garten ein Paradies gefunden haben und dort Junge aufziehen. »Ihre feinen, auf dem Kopf aufstehenden Härchen lassen sie wie kleine Punks aussehen«, sagt sie. Sie erzählt von den Nachbarn, von denen viele auch Freunde sind. Vor mehr als dreissig Jahren ist sie mit ihrem Mann René und ihrem Sohn Raphael in diese gepflegte Einfamilienhaussiedlung in Birmensdorf bei Zürich gezogen. Der Garten grenzt an den Wald. Sie sagt: »Wir wohnen hier wirklich im Paradies.«

Unvermittelt wechselt die Farbe ihrer Rede. Von heiter zu bedeckt. Denn sie schaut hin, wo andere wegschauen. Zum Beispiel beim herbstlichen Sonntagsspaziergang einem Bach entlang, bei dem sie einen halb nackten alten Mann entdeckt, der anscheinend dort wohnt. Dutzende von Spaziergängern sind schon an ihm vorbeigegangen. Niemand hat sich für ihn interessiert. Niemand hat sich Sorgen gemacht, obwohl die Nächte schon bitterkalt sind.

Und schon beginnt sie, eine Brücke zu bauen. Erst ist es eine »Versorgungsbrücke«: Schnurstracks geht Hélène nach Hause und packt eine Reisetasche voll mit Lebensmitteln. Dazu kommen von Freundinnen und Bekannten gestrickte Wollsocken, von denen sie immer mehrere Paare bereithält, und ein warmer Trainingsanzug, den eine Nachbarin vorbeibringt. Und so bepackt, besucht sie den Mann, der ihr erzählt, dass er sich wohlfühle so allein im Wald. Nur wenn es ganz bitterkalt sei, schlafe er nicht draussen. »Er kam mir sehr geborgen vor in dieser Umgebung«, sagt sie. Nun verbindet die Brücke Menschen.

 

AM FLUSS

Ich lebe da unten am Fluss zwischen den verschiedenen Ahornarten, Eichen, Weiden, Birken und Sträuchern mit ihren weitverzweigten Wurzeln, die bis zum Flussufer reichen – ich lebe mit den unterschiedlichen Vogelarten, die mich tagsüber mit ihrem Gesang und ihren Stimmen unterhalten – ich lebe mit den Eichhörnchen und den Fledermäusen, welche sich in ihren Baumhöhlen ausruhen, um erst während der Dämmerung ihr Versteck zu verlassen und mit ihrer Jagd auf Nachtfalter, Fliegen, Mücken und Käfer zu beginnen.

Ich sehe die Feuerstelle, die grosse Holzbeige neben dem fein säuberlich zusammengetragenen Haufen Anfeuerholz, den uralten wackeligen Stuhl mit den schwarzen, vom Feuer angesengten Beinen – ich sehe die lang gezogene Biotoplandschaft mit dem Wasserdurchlauf, eine durchdachte und von Hand angelegte Oase, in der die kleineren Wasserbewohner geschützt vor den grösseren Jägern aufwachsen können. Und ich sehe die nackten Füsse des alten Mannes neben den feingliedrigen Wurzelausläufern – sie heben sich nicht ab, gerade so, als würden sich Wurzeln von Baum und Mensch in einer Symbiose ineinanderfügen. Für alle Flusslandschaftsbewohner zeigen sich unweigerlich die Regeln des Miteinanders und nicht des Nebeneinanders, und alle scheinen sich ihrer Zusammengehörigkeit bewusst zu sein.

Seit zwanzig Jahren betrachte ich das hier als mein Wohnzimmer – mein Zuhause. Nur zum Schlafen, wenn es kalt ist, habe ich ein Zimmer. Ich fühle mich eins hier mit der Einsamkeit, der Ruhe, der Flusslandschaft und ihren Bewohnern – mehr möchte ich nicht.

Sein furchiges Gesicht erinnert mich an eine liebevoll und verschmitzt lächelnde knorrige Wurzel. Als hätte er nie woanders gestanden, so steht er da, der kleine alte Mann, nur mit Unterhosen bekleidet – braun gebrannt und gegerbt seine Haut, als wäre er von der Natur gekleidet.

Er freut sich sichtlich über die Tasche mit den warmen Kleidern, Socken und Lebensmitteln, die ich ihm dalasse – auch darüber, dass ich ihn wieder besuchen werde. Und er hat gespürt, dass ich sein Gefühl, in dieser Flusslandschaft zu Hause zu sein, verstehe.

 

Nervensäge

Hélène ist heute noch entrüstet, wenn sie davon erzählt. Sie wollte kurz vor Ladenschluss in dieser Migros am Rande der Stadt Zürich ein Brot einkaufen. Und beobachtete dann, wie die Verkäuferin all die unverkauften Tagesfrischprodukte, die nicht lange haltbar sind, in diesen grünen Container kippte. Da lagen dann Cremeschnitten und Schinkenbrötli, Früchtebecher und Erdbeertörtchen wie Kraut und Rüebli durcheinander. Das sei so Vorschrift, antwortete die Verkäuferin und zuckte mit den Schultern, als Hélène sie entsetzt fragte, was sie denn da mit all den schönen Lebensmitteln mache. Hélène verlangte nach dem Chef.

Der Migros-Filialleiter wurde von einer zierlichen Frau mit dunkler Pagenfrisur erwartet. Neben ihr eine verdattert schauende Verkäuferin. Eines war ihm bald klar: Sein Feierabend würde sich hinauszögern. Hélène sah natürlich, dass er immer demonstrativer auf die Uhr schaute. Und sie merkte, dass sie ihm unsäglich auf die Nerven ging. Fast tat er ihr leid. Doch dann schaute sie wieder in das grüne Fass, in dem es aussah, als ob ein Erdbeben das Schlaraffenland verwüstet hätte. Und sie liess nicht locker.

Man kann sich gut vorstellen, wie der Mann sich fühlte: Das Anliegen dieser Frau war eigentlich sympathisch, aber nicht regelkonform. Ihm gingen die Argumente aus. Er war verunsichert, wurde ungeduldig, rang nach Worten – und gab schliesslich nach, um sie endlich loszuwerden. Und so ging sie an diesem Abend mit der Zusage des Filialleiters nach Hause, sie könne am nächsten Abend die übrig gebliebenen Tagesfrischprodukte abholen, um sie an Obdachlose zu verteilen.

Der Filialleiter war sichtlich erleichtert, als die kleine energische Frau endlich abzog. Und er war überzeugt, dass das gerade Erlebte nur eine kurzfristige Laune einer Kundin war, die sich Luft gemacht hat. Dass er sie mit Sicherheit nicht mehr sehen werde. Dass es ausgestanden war.

Das war am 3. Dezember 1998. Und das war der Anfang.

Der Filialleiter kam durch sein Einlenken in Teufels Küche, weil er ja nur der Chef dieser Filiale war, aber viele Chefs über sich hatte, die nicht wussten, wie es ist, wenn man Hélène begegnet, die sich gegen einen Missstand wehrt. Die es noch nicht wussten.

Hélène sagt: »Wenn du etwas siehst, was nicht in Ordnung ist, dann ist es deine menschliche Pflicht, zu versuchen, das zu ändern.« Und sie sagt auch: »Ich bin diesem Filialleiter mein Leben lang dankbar, dass er eingelenkt hat.« Er wurde später fast zu einem Freund, freute sich, wenn sie kam. Er plauderte mit ihr, erzählte von seinen Plänen, ein Restaurant zu eröffnen, wo er sein eigener Chef wäre. Er hat diesen Plan verwirklicht.

Hélène ging an diesem Abend vor achtzehn Jahren nach Hause und war über sich selbst erstaunt. Und etwas besorgt darüber, was sie sich da eingebrockt hatte. »Mir war überhaupt nicht klar, was ich jetzt machen sollte.« Denn eigentlich hatte sie sich bis anhin keine Gedanken über Lebensmittelverschwendung gemacht – Food-Waste war für sie ein Fremdwort. Und sie kannte auch kein einziges Obdachlosenheim. So rief sie am gleichen Abend die Auskunftsnummer 111 an – die gab es damals noch – und fragte nach sämtlichen Obdachlosenheimen in der Stadt Zürich. Man dürfe pro Anruf nur zehn Adressen angeben, sagte das Fräulein vom Dienst. »Macht nichts«, entgegnete Hélène, dann rufe sie eben mehrmals an.

Beim zweiten Zehnerpaket fand Hélène, was sie suchte. Ein Hospiz, das am Weg lag, also eine Tour von der Migros am Stadtrand zu ihrem Wohnort ergab. In ihrem ersten Buch nennt sie es Wohnheim an der Mondostrasse. Dort traf sie Manuel, Gabriel, Zeno … Ihnen begegnen wir später wieder.

Nun fuhr Hélène dreimal die Woche bei Ladenschluss zur Migros-Filiale am Stadtrand, packte alle übrig gebliebenen Frischprodukte ein und brachte sie zum Hospiz.

Noch heute macht sie regelmässig die Schlaraffenland-Fuhr an die Mondostrasse. Wenn ihr etwas dazwischenkommt, springen ihr Mann oder ihr Sohn ein.

Es ist kurz vor acht, kurz vor Ladenschluss. Hélène wartet im Hintergrund, mustert den Aushang der Zeitungen, wo die Schlagzeile um eine Milliardärsgattin die Nachrichten über das Flüchtlingselend an den Rand drängt. Noch deckt sich ein Kunde an der Gourmessa-Bar mit einem schnellen Znacht ein. Hélène zeigt auf eine Gartenbank, die in dieser Umgebung exotisch wirkt. »Hier sass jeweils Bella«, sagt sie. Das Schicksal der älteren Frau, die immer hier anzutreffen war – blond gefärbte Haare und pinkfarbene Lippen, zerschlissene Strümpfe – und sich jeweils in Mülltonnen ihr Essen zusammensuchte, beschäftigt sie stark. Bella, die plötzlich nicht mehr auf der Bank sass. Später nahm ein anderer ihren Platz ein.

 

DER MANN AUF DEM BÄNKLI

Ich denke an Bella, wenn ich den Mann so dasitzen sehe.

Wie oft habe ich mich gefragt, ob ich Bella wohl je wieder einmal sehen werde. An demselben Ort und auf derselben Bank ist sie gesessen – mit denselben zerrissenen Kleidern und denselben viel zu grossen Männerturnschuhen. »Mein Hab und Gut«, hat sie mir lächelnd erklärt und auf ihren Einkaufswagen gezeigt. Immer hat sie auf mich gewartet. Eines Tages ist sie nicht mehr gekommen. »Wo nur kann Bella sein?«, habe ich überall gefragt, und alle haben sie mir die gleiche Antwort gegeben. Gesehen haben sie sie schon – aber nicht gekannt.

Seit Wochen sitzt der Mann auf dieser Bank. Immer auf der linken Seite und immer zur gleichen Zeit, mit denselben abgetragenen, zerlöcherten Hosen, die nur noch entfernt an Flanell erinnern. Mit dem schmutzigen, abgenutzten und zu kleinen Hemd, das sich nicht mehr schliessen lässt, mit der ausgedünnten grünen Lodenjacke, die nicht mehr warm geben kann, in den verbrauchten, kaputten Wanderschuhen. Meistens schläft er – auch heute. Eine geöffnete, verlotterte Tasche, die wohl früher eine schwarze Reisetasche war, neben sich. Ich sehe alte vergilbte Zeitungen, das »20 Minuten«-Blatt zuoberst, ein paar zerfetzte Lumpen, eine Flasche Wein, ein Glas. Es ist kurz vor Ladenschluss. Ich setze mich neben ihn.

»Haben Sie gut geschlafen?«, frage ich, nachdem der Mann aufgewacht ist. Er gibt mir keine Antwort. Mit grossen erstaunten Augen schaut er mich an. »Es ist frostig kalt draussen. Es regnet und stürmt, und der Laden wird bald schliessen«, sage ich.

»Das Leben ist hart – ich habe kein Zuhause«, meint er jetzt leise, mehr an sich als an mich gerichtet und bevor ich ihn danach gefragt habe.

Beide sitzen wir da, und beide sagen wir nichts.

»Zu viel zum Sterben – zu wenig zum Leben«, sinniert der Mann, zu sich selbst wieder, doch so, dass ich es verstehen kann, während er sich das leere Glas mit Rotwein füllt. Dann beginnt er zu erzählen.

Mobbing und Hierarchiedenken tötet vieles. Reichtum stumpft ab – darüber könnte ich berichten. Ich wurde in eine der reichsten, wohlhabendsten Familien hineingeboren. Nur verschwiegenes und ausgewiesenes Personal durfte sich bei unserer Familie vorstellen. Und nur die beste und teuerste Ausbildung war gut genug für mich. Wir hatten eine eigene Security-Firma, um all das, was wir unseren Besitz nannten, zu überwachen. Ich hatte Firmen an den teuersten Adressen in Zürich. Viele hundert Arbeitsplätze habe ich geschaffen, und nur in der allerobersten Liga habe ich mitgespielt. Nie habe ich etwas anderes gekannt.

Ich werde Ihnen meinen Namen nicht nennen, weil er zu bekannt ist. Ich werde niemandem meinen Namen nennen. Früher war ich stolz darauf, ihn zu tragen. Er hat mir viele Türen geöffnet. An alle wichtigen Anlässe war ich eingeladen. Die unwichtigen habe ich ausgelassen. Man hat sich geehrt gefühlt, aufgebläht und gebrüstet, jemanden wie mich aus dieser Familie dabeizuhaben. Heute belastet mich mein Name. Mein Sohn ist Dozent und Universitätsprofessor, meine Tochter mit einem Multimillionär verheiratet.

Meine Familie diagnostizierte bei mir Verfolgungswahn und will nichts mehr mit mir zu tun haben. So einfach macht man es sich in gewissen Kreisen, gerade wenn es um sehr viel Geld, Macht, Ehre, Ruhm und Ansehen geht. Mein Sohn und meine Tochter haben sich von mir abgewendet, obwohl vieles heute noch auf meinen Namen lautet. Einen Schandfleck kann man in diesen Kreisen nicht gebrauchen. Zu viel steht auf dem Spiel.

Der Mann hat sich Wein nachgeschenkt, er lächelt und weint zugleich. »Vielleicht ist das Leben ein Spiel, bei dem die Karten jeweils neu gemischt werden und sich die Ausgangslage verschiebt«, meint er, jetzt wieder mehr zu sich selbst gewandt.

»Das möchte ich nicht«, sagt er und bedankt sich trotzdem, als ich ihm vorschlage, für ihn ein freies Zimmer in einem Heim zu suchen. »Ich kenne sie alle, die Heime und die Notschlafstellen – das ist unter meiner Würde –, ich bevorzuge die Strasse.

 

Der Schlaraffenland-Express

Heute begleite ich Hélène auf ihrer Tour. Der letzte Kunde hat das Geschäft verlassen. Hélène drückt der Verkäuferin herzlich die Hand, fragt nach den Kindern, sie plaudern kurz, während sie zusammen geschäftig die übrig gebliebenen Esswaren einpacken. Die Verkäuferin trägt alles in Listen ein, stellt einige Vermicelles in die Kühle, weil die morgen noch verkauft werden dürfen. Wähenstücke, Ofenchüechli, Diplomats, Birchermüesli, Kanapees und Chäschüechli stellt sie vorsichtig in kleine Harasse, Süsses und Salziges getrennt. Brötchen und schliesslich auch die Gritibänzen verpackt sie in Papiertaschen. Es ist genau geregelt, was sie mitgeben darf und was nicht. Alles geht schnell vonstatten. Was vor einigen Jahren noch den normalen Ablauf störte, ist jetzt Routine. »Ich bin froh, wenn ich die Lebensmittel nicht wegwerfen muss«, sagt die Verkäuferin und winkt zum Abschied.

In Hélènes kleinem Wagen riecht es wie in einer Bäckerei. Während wir durch die Langstrasse fahren, erinnert sie sich, wie ihr das am Anfang zu schaffen machte. Diese Welt hier war ihr fremd. Sie war gar nicht sicher, ob das gut kommt. »Aber versuchen musste ich es wenigstens.« Als sie in die Strasse einbiegt, wo das Hospiz liegt, erzählt sie, wie dunkel und düster es hier einst gewesen ist. Und wie sich das Quartier verändert hat – zum Guten und zum Schlechten. Manche Wohnungen seien renoviert worden, die Strassen jetzt gut ausgeleuchtet. Doch an der Ecke dort sei derzeit der Umschlagplatz für Drogen.

Im Obdachlosenheim verkündet ein Zettel am Anschlagbrett: »Heute Abend Süsses«, und Jan und Beni stehen schon vor der Haustür, als Hélène um 20 Uhr 20 in die schmale Vorfahrt zur Mondostrasse 79 einbiegt. Sie wollen beim Tragen helfen, eilen rein und raus. »Lass mich das tragen«, sagt Jan und erschrickt kurz, weil er mich, die er noch nie gesehen hat, einfach so geduzt hat. Hélène duzen alle. Später wird er mir sein Zimmer zeigen, es ist bescheiden, aber eines der grösseren im Hospiz. Badezimmer und Toilette sind auf der Etage – auch eine kleine Küche kann von den Bewohnern benutzt werden. Sie ist aufgeräumt, und Jan freut sich, als ich sage, sie sei sauberer als meine zu Hause. »Siehst du«, sagt er später zu Margrit, die seit vielen Jahren in der Mondostrasse arbeitet. »Es ist gar nicht so schlimm mit der Ordnung, wie ihr immer sagt.«

Einige Bewohner tauchen nur kurz auf, lassen sich von Margrit ein Stück Kuchen oder ein Sandwich geben und verschwinden wieder. Manche bleiben etwas und plaudern. Ein noch junger, zappliger Mann zückt sein Handy und zeigt Fotos von Bildern, die er selber gemalt hat. Er wurde in Südamerika auf der Strasse geboren und zeichnet lauter Tiere mit grossen Augen und lächelnden Mäulern. Als ihn Hélène dazu auffordert, zeigt er einen kurzen Film, in dem er mit seiner achtjährigen Tochter eine Street-Dance-Show einübt. Ein stolzer Vater. Dann nimmt er einen Gritibänz, sagt mit einer lässigen Handbewegung in unsere Richtung »Ladys, wünsche einen schönen Abend«, und verschwindet.

Ein Mann sitzt hinten in der Ecke und gibt zu verstehen, er komme erst nach vorn, wenn die anderen weg seien. In der Zwischenzeit erzählt er uns von seinen Schwierigkeiten mit IV- und Zusatzleistungen und einem Job, den er gehabt und ohne eigenes Verschulden verloren habe. »Sparmassnahme.«

Als es an der Theke etwas ruhiger wird, ruft ihn Margrit. »Kannst jetzt kommen!« Margrit kocht Tee, wenn ein Bewohner erkältet ist, hört zu, wenn einer etwas auf dem Herzen hat. Im Moment ist sie daran, im Aufenthaltsraum die Esswaren auf Platten anzurichten. Einiges hält sie zurück, damit es für diejenigen, die später herunter- oder heimkommen, auch noch etwas hat.

Beni steht schon mit einem Silbertablett bereit. Er mag vor allem Süsses, ein Stück Schwedentorte, ein Ofenchüechli, eine Apfelwähe – schade, hat es heute keine Vermicelles. »Schau, da ist etwas für dich!«, ruft Beni einem hageren Mann zu, der abwartend am Tisch sitzt. »Ein Schoggidiplomat, das ist ganz weich, das kannst du auch ohne Zähne essen.«

Margrit ist die gute Seele des Hospizes – »und Hélène ist unser Christkind«, sagt Jan. Und lächelnd fährt er fort: »Wir haben hier das ganze Jahr durch ein Christkind.«