Bill Clegg
Fast eine Familie
Roman
Aus dem Amerikanischen von Adelheid Zöfel
FISCHER E-Books
›Fast eine Familie‹ ist Bill Cleggs erster Roman. Er stand auf der Bestsellerliste der »New York Times«, wurde von der amerikanischen Presse gefeiert und für die zwei wichtigsten Literaturpreise der englischsprachigen Welt nominiert: den Man Booker Prize und den National Book Award. Bill Clegg wuchs an der Ostküste der USA auf und arbeitet heute als Literaturagent in New York City.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Es gibt Schicksalsschläge, die kann man nicht überstehen … zumindest nicht allein. Am Morgen der Hochzeit ihrer Tochter geht June Reids Haus in Flammen auf und reißt ihre ganze Familie in den Tod. Nur June überlebt. Taub vor Schmerz zieht sie sich in ein kleines Motel an der Westküste zurück – sie kann nicht weiterleben, doch sterben kann sie auch nicht. Während aus dem Kleinstadtgerede, das June hinter sich gelassen hat, langsam die Wahrheit über das verheerende Feuer hervorbricht, begegnet June wahrer menschlicher Güte, wo sie sie am wenigsten erwartet.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
›Did you ever have a familiy‹ bei Scout Press, an imprint
of Simon & Schuster, Inc. in New York
© 2015 Bill Clegg
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Das Zitat von Alan Shapiro stammt aus ›Song and Dance‹ und wurde von Adelheid Zöfel übersetzt.
Covergestaltung: Schiller Design, Frankfurt
Coverabbildung: David Arsenault/Bridgeman Images
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403459-1
Für Van und für unsere Familien
Du hättest ihn
hören sollen,
seine Stimme war
unvergesslich, unwiderstehlich, seine Stimme
war ein imaginärer Garten, von Duft durchwoben.
Hattest du je eine Familie?
Ihre Augen sind geschlossen.
Deshalb weiß ich,
wir sind da,
innen drin,
Sie besteht aus Klang und Dampf,
der sich bewegt zwischen dem dunklen
Esszimmer, der hellen Küche.
Wir sind da, weil ich Hunger habe,
und bald essen wir alle
gemeinsam, und der Hunger ist süß.
Aus Alan Shapiros Song and Dance
Er wacht auf vom Heulen der Sirenen. Viele, schrill und ganz in der Nähe. Dann: dieses kurze, aggressive Tröten, wie das Time-out-Signal bei den Basketballspielen in der Schule, bei denen er nur zuschaut, nie mitmacht. Sein Handy zeigt 6.11, aber das Haus ist schon wach, laute Stimmen unten, und an der heiseren Morgenstimme seiner Mutter, die seinen Vater und seine Schwestern übertönt, merkt er, dass irgendetwas nicht stimmt.
Ehe er die Bettdecke wegkickt, zieht Silas seinen gelben Rucksack unterm Bett vor. Er holt die kleine rote Bong heraus, die ihm sein Freund Ethan zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt hat, letzten Monat, samt einer Tüte Gras, das er in weniger als einer Woche geraucht hat, meistens bei der Arbeit, während er für reiche New Yorker aus Blumenbeeten und Terrassen Unkraut rupfte. Er nimmt eine grüne Knospe aus der kleinen grauen Tupperdose, in der er seinen Vorrat aufbewahrt, zerteilt sie behutsam und bröselt das größere Stück in das Metallköpfchen. Auf seinem Nachttisch steht eine halbvolle Wasserflasche, und er füllt die Bong ein paar Zentimeter hoch mit Wasser, dann zündet er das Gras an und inhaliert. Beim Einatmen schaut er zu, wie sich der Rauch zu seinem Mund hin kräuselt und sich mit langsamen Drehbewegungen in der roten Röhre verdichtet. Sieht fast aus wie ein Laken unter Wasser. Dabei blubbert es unten in der Bong, und er zieht bewusst vorsichtig, damit das Gegurgel nicht zu laut wird. Nachdem die Knospe sich größtenteils in Asche verwandelt hat, entfernt er das Chillum aus der Bong und lässt den Rauch in seine Lunge strömen. Er öffnet das Fenster, klappt das Fliegengitter weg und beugt sich nach draußen, atmet ganz tief aus, bläst den Rauch in die Luft.
Er schaut ihm nach, wie er vom Wind ergriffen wird und verschwindet. Er spürt die kühle Luft auf Gesicht und Hals und wartet darauf, dass das Gras seine magische Wirkung tut. Der Himmel ist rosa und hellblau. Mit den Augen folgt Silas einem langen Kondensstreifen hoch oben, der hinter dem Dach der Garage verschwindet. Der Streifen ist aufgeplustert, deshalb vermutete er, dass das Flugzeug schon vor ein paar Stunden dort entlanggeflogen ist. Vor Tagesanbruch. Wohin? Das Gras beginnt, seine Gedanken aufzuweichen.
Vor ihm landen vier kräftige Krähen unelegant auf dem Rasen. Sie hüpfen und trippeln und legen die Flügel an ihren gewölbten Körper. Sie sind so groß wie Hauskatzen, denkt Silas, während er ihre raschen, mechanischen Bewegungen beobachtet. Nach einer Weile bleiben sie, ohne ersichtlichen Grund, abrupt stehen und rühren sich nicht mehr vom Fleck. Er kann ihre Augen nicht erkennen, aber er spürt, dass sie zu ihm heraufstarren. Er starrt zurück. Die Krähen legen die Köpfe schief, abwechselnd nach rechts und nach links, als würden sie mühsam versuchen, das, was sie da sehen, zu begreifen. Der Wind pustet von hinten in ihr Gefieder, und nach ein paar weiteren Hüpfern fliegen sie davon. In der Luft wirken sie noch größer, und zum ersten Mal kommt ihm der Gedanke, es könnten ja auch Habichte sein oder Geier. Dann, als wären sie alle plötzlich von ihrem Stummsein befreit, fangen verschiedene Vögel an zu krächzen, zu kreischen, zu zwitschern. Aus sämtlichen Himmelsrichtungen. Vor Schreck stößt Silas mit dem Hinterkopf gegen den oberen Fensterrahmen. Er reibt die Stelle und beugt sich weiter hinaus. Noch eine Sirene heult in der Ferne, anders als die anderen – höher, schriller, panischer. Er versucht, die Krähen wiederzufinden, die im komplizierten Morgenhimmel verschwunden sind. Stattdessen sieht er in den Streifen und Schwaden vertraute Formen: ein Paar schwellende Brüste, eine Katzenaugen-Sonnenbrille, einen Feuervogel mit gewaltigen Schwingen. Dann entdeckt er etwas, das nur nach dem aussieht, was es ist: Rauch. Pechschwarz und undurchdringlich steigt er hinter dem Dachfirst auf. Zuerst denkt Silas, das Haus brennt, aber als er sich noch weiter hinauslehnt und nach hinten schaut, merkt er, dass der Rauch hinter den Bäumen entsteht, auf der anderen Seite des Grundstücks. Jetzt riecht er etwas – es ist der ölige Gestank eines Feuers, in dem noch etwas anderes brennt als nur Holz. Er kann den Rauch auch schmecken, und als er einatmet, vermischt sich der Geschmack mit dem des Dope-Rauchs, der ihm noch auf der Zunge liegt. Die Vögel lärmen immer lauter. Sie schreien und zetern, es klingt, als würden sie sprechen. Geh! Du! Geh!, glaubt er zu verstehen, aber er weiß, das kann nicht sein. Er blinzelt, um klarer sehen zu können, versucht, jedes Detail zu erfassen: den Rauch, den Gestank, die Vögel, die Sirenen, den phantastischen Himmel. Träumt er? Ist es ein Albtraum? Ist es das Gras? Er hat es von Tess, vom Gemüsestand die Straße hoch, und ihr Stoff ist normalerweise harmlos, nicht wie die trippigen Knospen, die er und seine Freunde nur in Yonkers kriegen, wofür sie allerdings immer anderthalb Stunden fahren müssen. Er wäre froh, wenn sich herausstellen würde, dass es ein Albtraum ist oder dass er halluziniert, aber er weiß genau, er ist wach, und was er sieht, ist Wirklichkeit.
Hinter den Bäumen auf der anderen Seite des Hauses quillt immer mehr Rauch in den Himmel, wie schwarze Schwaden aus einem Comic-Schornstein. Der Rauch ballt sich, wird schmal, ballt sich wieder und wird wieder schmal. Dann dringt aus der unsichtbaren Quelle eine ganz entsetzliche Wolke nach oben und bläht sich auf, größer als die anderen. Sie ist kompakt, kohlschwarz, mit einem blasssilbernen Rand. Während sie höher steigt, wird sie immer breiter, wird grünlich grau und verwandelt sich in eine lange, gekrümmte Schwade, die sich in den Himmel reckt wie der Finger des Grauens.
Silas geht weg vom Fenster. Er hat noch die Boxershorts und das T-Shirt vom Abend vorher an und schlüpft jetzt in die alten, grauweißen New-Balance-Laufschuhe, die er bei seinem Gärtnerjob immer anzieht oder wenn er für seinen Vater Brennholz stapelt. Er schaut in den Spiegel über der Kommode. Seine Augen sind gerötet und ein bisschen verquollen, die Pupillen erweitert. Die blonden Haare hat er seit Tagen nicht gewaschen, sie sind zerdrückt und fettig – an manchen Stellen liegen sie ganz dicht am Kopf an, an anderen stehen sie ab. Er streicht mit seinem Deo-Stick über die Achselhöhlen und setzt seine schwarzsamtene Mohawk-Mountain-Skimütze auf. Dann trinkt er schnell das restliche Wasser aus der Flasche am Bett und steckt sich ein paar Big-Red-Kaugummis in den Mund. Die Bong, das Feuerzeug und die kleine Tupperdose verstaut er in dem gelben Rucksack, reibt sich mit beiden Fäusten die Augen, holt tief Luft, atmet aus und geht zur Tür.
Daumen und Zeigefinger umschließen den Türknauf, und er denkt an den vergangenen Abend. Wo er war und was passiert ist. Er geht wieder einen Schritt zurück, rekonstruiert, was er als Letztes getan hat, bevor er eingeschlafen ist, geht alles noch einmal durch, dann noch einmal, um sich zu versichern, dass er das, woran er sich erinnert, nicht geträumt hat. Er überlegt, ob er noch eine Bong rauchen soll, bevor er das Zimmer verlässt, entscheidet sich aber dagegen. Reglos steht er da und flüstert: Ich bin okay. Alles ist okay. Es ist nichts passiert.
Unten klingelt unschuldig das iPhone seiner Mutter, wie ein altmodisches Telefon. Nach dem dritten Klingeln geht sie ran, und es wird still im Haus. Man hört nur noch die gnadenlosen Sirenen, die trötenden Hörner und in der Ferne das Geknatter von Helikoptern in der Luft. Aus der Küche ruft sein Vater seinen Namen. Silas entfernt sich langsam von der Tür.
Sie wird gehen. In ihren Subaru Kombi steigen und die kurvigen Landstraßen mit den vielen Schlaglöchern entlangfahren, bis zum Highway, dann weiter, nach Westen, weg von hier. Sie wird so lange und so weit fahren, wie sie kann, ohne Pass, denn ihren Pass gibt es nicht mehr. Den Führerschein auch nicht. Alles, was sich im Haus befunden hat, gibt es nicht mehr. Aber sie geht davon aus, dass sie den Führerschein nicht braucht, es sei denn, sie fährt zu schnell und wird deswegen angehalten. Sie hat nicht geplant, ausgerechnet heute aufzubrechen, aber dann steht sie auf, duscht und zieht die Jeans an, dazu den blauweißgestreiften Baumwollpulli mit U-Boot-Ausschnitt, den sie seit Wochen anhat, und da weiß sie, es ist Zeit.
Das bisschen Geschirr, das sie benutzt hat, seit sie in diesem geliehenen Haus wohnt, spült sie und trocknet es ab: den angeschlagenen Kaffeebecher, die Keramikschüssel und den alten Silberlöffel. Sie spürt das Gewicht jedes einzelnen Gegenstands, den sie sorgfältig in den Schrank oder die Schublade räumt. Sie muss nichts packen, nichts organisieren, nichts vorbereiten. Sie nimmt nichts mit, nur die Sachen, die sie jetzt anhat, dazu die Leinenjacke, die sie vor achtzehn Nächten getragen hat, als sie aus dem Haus gelaufen ist. Langsam steckt sie die Arme durch die abgetragenen Ärmel und versucht sich daran zu erinnern, weshalb sie die Jacke eigentlich angezogen hat in dieser Nacht. War es kalt in der Küche? Hat sie die Jacke von der vollgehängten Garderobe neben der Verandatür genommen, bevor sie hinaus zur Wiese gerannt ist, ängstlich darauf bedacht, nur ja niemanden im Obergeschoss aufzuwecken? Sie weiß es nicht mehr, und schon fängt sie wieder an, den Ablauf der Ereignisse am Abend und in der Nacht und am Morgen danach noch einmal Schritt für Schritt durchzugehen, mit forensischer Genauigkeit. Sie zwingt sich, damit aufzuhören.
Dass sie ihre Bankkarte und die Autoschlüssel dabei hatte, war reines Glück – sie steckten zufällig in der Jackentasche. Wobei es absurd ist, in diesem Zusammenhang von Glück zu reden. Kein Mensch würde sagen, sie habe Glück gehabt. Aber diese blinden Passagiere aus ihrem alten Leben ermöglichen ihr immerhin, jetzt einfach wegzufahren, und mehr will sie nicht. Nicht aus Ruhelosigkeit oder weil sie gern woanders sein möchte. Nein, nur aus der banalen Einsicht heraus, dass ihre Zeit hier abgelaufen ist. Okay, seufzt sie, als würde sie sich nach einem langen Streit sieglos geschlagen geben. Durchs Küchenfenster betrachtet sie die Gelbroten Taglilien, die hinter dem Haus, das nicht ihres ist, blühen. Sie presst die Handflächen gegen den Rand der Spüle, und der Wäschetrockner, den sie vor einer Stunde mit nassen Laken gefüllt hat, meldet aus dem Keller mit einem langgezogenen, mürrischen Blöken, dass er seine Pflicht getan hat. Das Porzellan fühlt sich kühl an unter ihren Händen. Der Wäschetrockner verstummt, und dann dröhnt das stille Haus von Nichts und Niemandem. Der Schmerz kehrt zurück, wie geschmolzene Lava wälzt er sich durch ihre Brust, schürft nach und nach alles auf. Draußen wedeln die Taglilien im Morgenwind.
Sie hat nicht geweint, nicht an dem Tag selbst, nicht bei den Beerdigungen, nicht danach. Sie hat wenig geredet, hat kaum Worte zur Verfügung, wenn sie welche braucht, eigentlich kann sie immer nur nicken, den Kopf schütteln und die besorgten und neugierigen Menschen mit einer Handbewegung abwehren wie lästige Fliegen. Die Einsatzleiter von Feuerwehr und Polizei stellten im Grunde keine Fragen, sondern gaben Antworten – der alte Herd, die ganze Nacht strömte Gas aus und füllte das Erdgeschoss wie eine Flüssigkeit, ein Funke, wahrscheinlich von einem Lichtschalter oder von einem Feuerzeug, allerdings wurde keines gefunden, die Explosion, die Flammen, augenblicklich und alles verzehrend. Sie wurde nicht gefragt, warum sie als Einzige nicht im Haus war, morgens um fünf Uhr fünfundvierzig. Aber als der Polizist wissen wollte, ob ihr Freund Luke irgendeinen Grund gehabt haben könnte, ihrer Familie Schaden zufügen zu wollen, stand sie auf und verließ den Gemeindesaal, in dem behelfsmäßig ein Krisenzentrum eingerichtet worden war. Der Saal gehört zu der Kirche, in der ihre Tochter Lolly an eben dem Tag getraut worden wäre, nicht weit entfernt von ihrem Haus, auf der anderen Straßenseite. Gegen ein Uhr trafen die Gäste ein, die eine Hochzeit erwarteten, aber stattdessen einen Parkplatz mit lauter Polizeiwagen, Krankenwagen, Feuerwehrautos und Ü-Wagen vorfanden. June weiß noch genau, wie sie auf den Platz hinausgegangen ist, zu ihrer Freundin Liz, die im Auto wartete. Sie weiß auch noch genau, wie alle Gespräche verstummten und die Leute vor ihr zurückwichen. Sie hat gehört, wie jemand ihren Namen rief – zaghaft, verunsichert –, aber sie reagierte nicht, blieb nicht stehen, drehte sich nicht um. Sie war, das spürte sie überdeutlich, als sie das andere Ende des Parkplatzes erreichte, eine Unberührbare geworden. Nicht weil man sie verachtete oder Angst vor ihr hatte, sondern wegen der grotesken Obszönität des Verlusts. Da gab es keinen Trost, und die vernichtende Vollständigkeit – alle weg, alle, alle – ließ selbst Menschen, die im Umgang mit Katastrophen geübt waren, verstummen. Sie spürte, dass sämtliche Blicke auf sie gerichtet waren, als sie die Wagentür öffnete, um einzusteigen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie eine Frau von der anderen Seite des Parkplatzes auf sie zu eilte, mit erhobener Hand. Erst im Auto merkte sie, dass es Lydia war, Lukes Mutter – vollbusig, in einer bunten Bluse, die langen braunen Haare irgendwie hochgesteckt. Schon vorher war sie Lydia begegnet, und wie bei dem ersten Zusammentreffen schaffte sie es auch jetzt nicht, ihr in die Augen zu sehen, obwohl sie das dringende Bedürfnis verspürte, zu ihr zu laufen. Fahr los, war alles, was sie zu Liz sagen konnte, die am Steuer saß, benommen und stumm wie alle auf dem Parkplatz.
Die Polizei befragte sie nie wieder zu den Ereignissen der Nacht und des folgenden Morgens. Ihre Freunde hörten irgendwann auf, ihr ständig die gleichen unverfänglichen Fragen zu stellen – wie es ihr gehe, ob sie irgendetwas brauche –, als sie nicht darauf einging. Ein schmales Lächeln, ein leerer Blick, eine abweisende Kopfbewegung – das entmutigte selbst die hartnäckigsten Frager. Eine Nachrichtensprecherin des TV-Morgenmagazins war besonders aufdringlich. Die Menschen möchten wissen, wie Sie es schaffen, das alles zu überleben, sagte diese Frau zu ihr, die seit den siebziger Jahren im Fernsehen war und deren Gesicht keine einzige Falte oder Unebenheit aufwies. Sie standen vor der Leichenhalle. Niemand hat überlebt, antwortete June und fügte leise hinzu: Aufhören. Und die Frau hörte auf. Schließlich waren die ganzen Leute, die wegen Lollys Hochzeit gekommen waren, wieder abgereist, die Fragerei hörte auf, und June war – mit zweiundfünfzig und zum ersten Mal in ihrem Leben – allein. Während der ersten Woche und auch danach weigerte sie sich, zu klagen oder zusammenzubrechen oder irgendetwas zu unternehmen, was sie mit der neuen und jetzt leeren Welt in Kontakt bringen könnte oder einen Neubeginn zu wagen, wozu jemand sie ermunterte, auf einer gutgemeinten Karte ohne Absender, die in einem der unzähligen Beileidssträuße steckte.
Sie knöpft ihre Jacke zu und verriegelt die Fenster des kleinen Cottage, das ihr eine Malerin zur Verfügung gestellt hat, die sie früher vertreten hat. So lange du es brauchst, hat ihr Maxine an dem Tag über Liz’ Handy angeboten, kannst du das Häuschen haben. Maxine war in Minneapolis, als es passierte. Wie sie es so schnell erfahren hat und warum sie dann gleich wusste, was zu tun war, hat June bis heute nicht herausgefunden. Manche Menschen, beschließt sie, tauchen in solchen grauenvollen Situationen auf wie von Zauberhand, und sie wissen genau, was nötig ist und wo sie gebraucht werden. Das Cottage befand sich am anderen Ende von Wells, dieser kleinen Stadt in Litchfield County, Connecticut, in der sich auch ihr Haus befunden hat. Neunzehn Jahre lang ist sie immer am Wochenende hingefahren, und die letzten drei Jahre hat sie dann richtig dort gewohnt. Maxines verstaubtes kleines Häuschen ist weit genug weg und fremd genug, um diese Wochen einigermaßen erträglich zu machen. Dass überhaupt etwas erträglich sein konnte, war eine beschämende, wiederkehrende Erkenntnis. Wieso bin ich hier? Warum? Diese Fragen lässt sie zu, aber andere schiebt sie sofort weg. Es ist weniger gefährlich, Fragen zu stellen, auf die sie sowieso keine Antwort hat.
Sie hat sich geweigert, ins Krankenhaus zu gehen oder irgendwelche Beruhigungsmittel und Stimmungsstabilisierer zu nehmen – die wenigen Leute um sie herum haben sie gedrängt, sich vom Arzt welche verschreiben zu lassen. Hier gibt es nichts zu stabilisieren, denkt sie. Nichts, wofür man stabil sein müsste. Im Cottage hat sie jeden Tag bis nach zwölf Uhr mittags geschlafen, und nach dem Aufwachen hat sie sich vom Bett zum Sessel, zum Küchentisch, zum Sofa und schließlich wieder zurück zum Bett geschleppt. Sie war räumlich anwesend, hat die Minuten ertragen, eine nach der anderen.
Sie löscht das Küchenlicht, schließt die Haustür ab und schiebt den Schlüssel unter den Geranientopf, der schief und verloren am Rand der Eingangsstufe steht. Widerstrebend begibt sie sich vom Haus zum Auto. Ihr ist klar, dass dies vermutlich die letzten Schritte sind in dem, was von ihrem Leben hier noch übrig ist. Sie horcht, ob Vögel singen. Was will sie von ihnen hören? Abschiedsgrüße? Verwünschungen? Die Vögel sehen alles, denkt sie, und im Moment schweigen sie. Unter dem hohen Baldachin der Scheinakazien, die den Weg vom Cottage zur Einfahrt säumen, wo ihr Auto steht, ist kaum ein Ton zu vernehmen, außer dem leisen Flöten der dahinschwindenden Singzikaden, die vor ein paar Wochen aus ihrem siebzehnjährigen Schlummer erwacht sind, um sich zu paaren, die Welt mit ihrem elektrischen Sirren zu erfüllen und dann zu sterben. Dass sie in der Woche vor Lollys Hochzeit plötzlich auftauchten, schien ein glorioses Omen zu sein, und in der öden Nachrichtenwelt des Frühsommers wurde über fast nichts anderes berichtet. Der letzte Seufzer der Singzikaden passt jetzt genauso ins Bild wie vorher ihr Erscheinen.
Auf den letzten Metern beschleunigt June ihren Schritt und reißt die Fahrertür auf, knallt sie dann hinter sich zu. Sie fummelt mit den Schlüsseln herum und hat erst mal Schwierigkeiten, den richtigen zu finden. Sie starrt auf die vier Schlüssel an dem Ring, als hätte jeder einzelne von ihnen sie betrogen: der für den Subaru, der für die Haustür, der für Lukes Laster und der alte, den sie noch von ihrer letzten Mietwohnung in New York City hat. Außer dem Subaru-Schlüssel dreht sie alle aus dem Ring heraus und lässt sie in den Getränkehalter neben ihrem Sitz plumpsen. Sie dreht den Zündschlüssel, der Motor springt an, vibriert unter ihr und um sie herum, und ihr wird wieder bewusst, dass sie wach ist und ein Teil der Welt. Dass sie nicht durch einen wirren Albtraum taumelt. Das hier ist die Welt, murmelt sie mit grimmigem Staunen und berührt das Lenkrad mit den Fingern, wie betäubt.
Sie steuert den schwarzen Subaru rückwärts aus der Einfahrt heraus, schaltet vom Rückwärtsgang auf Drive und fährt dann langsam den schmalen, nicht asphaltierten Weg entlang, bis zur Route 4. An der Fullservice-Tankstelle in Cornwall lässt sie volltanken, fährt weiter, um dann in die Route 7 einzubiegen, eine Straße mit unzähligen Kurven und Biegungen und steilen, grasbewachsenen Rändern. Auf einem quasi leeren Stück Straße fischt sie die drei Schlüssel aus dem Getränkehalter, öffnet das Fenster auf der Beifahrerseite und wirft die Schlüssel mit einer schnellen Bewegung aus dem Wagen. Sie schließt das Fenster wieder, tritt entschlossener aufs Gaspedal und passiert blitzschnell zwei gefleckte Rehkitze, die ein paar Meter von ihrer Mutter entfernt herumstaksen. Als sie noch zwischen Connecticut und Manhattan hin- und hergependelt ist, haben auf dieser Strecke oft Dutzende von Rehen am Straßenrand gegrast, ohne die Autos zu beachten, die ein paar Meter weiter an ihnen vorbeisausten. Wie oft war eins der Tiere auf die Straße gerannt, denkt sie jetzt und stellt sich die vielen Beinahe-Unfälle vor – diejenigen, die sie selbst hatte und die zahlreichen anderen, die jeder, der auf dieser Straße fuhr, überlebt hatte und dann Gott sei Dank seufzte, erleichtert durchatmete und wohlbehalten weiterfuhr. Sie denkt an die unglücklichen Seelen, die nicht weiterrasen konnten, und an die gigantischen Katastrophen, die diese dummen, wunderschönen Geschöpfe verursacht hatten. Sie beschleunigt, überschreitet die Geschwindigkeitsbegrenzung … 83, 93, 106 km/h … der Kombi zittert, und sie überlegt sich, wie viele Verkehrsteilnehmer hier tatsächlich ums Leben gekommen sind, wie viele Leichen aus dem zerquetschten Metall gezerrt wurden, verkohlt zu etwas, das nicht mehr aussah wie ein Mensch. Ihre Hände werden feucht am Lenkrad, sie reibt sie an ihrer Jeans ab. Die leichte Jacke engt sie ein, aber sie will nicht anhalten, um sie auszuziehen. Sie fährt wieder an einer Gruppe Rehe vorbei – eine Rehkuh und ein junger Bock mit ihrem dürrbeinigen Kitz –, im Vorbeifahren stellt sie sich das Autowrack vor: zersplittertes Glas, qualmende Reifen, und die Überlebenden müssen die Leichen identifizieren. Ihr Atem wird schneller, flacher, und sie kocht in ihren Kleidern. Südlich des Städtchens Kent kommt eine längere offene Strecke, auf beiden Seiten dichte Felder mit Sommermais. Der Tachometer geht auf 112, die Fenster klirren in ihren Rahmen. Sie malt sich die Szene aus, detaillierter, als ihr selbst lieb ist – ein Meer aus gelbem Absperrband, die flackernden Lichter von Polizei und Feuerwehr, die Funken und der Qualm der Warnfackeln, eine Reihe von Krankenwagen, Rettungssanitäter, die unnütz herumstehen.
Sie stellt sich die Überlebenden vor, die ziellos herumstolpern, unter Schock. Sie umkreist jeden einzelnen in Gedanken, nervös vor lauter Fragen. Wer saß am Steuer? Wer hat im falschen Augenblick weggeschaut? Wer hat am Radio gedreht, statt aufzupassen? Wer hat sich hinübergebeugt, um ein Pfefferminzbonbon aus der Handtasche zu angeln oder ein Feuerzeug, und wer hat dadurch alle wichtigen Menschen verloren? Wie viele Personen, möchte sie wissen, sind ohne Prellung oder Kratzer davongekommen? Und wer von denen, die Glück hatten und weiterlebten, war kurz vor dem Aufprall in eine Auseinandersetzung verwickelt? Wer hat sich mit einem geliebten Menschen gestritten? Lang genug, um die unwiderruflichen Worte auszusprechen, die nur ausgesprochen wurden, weil man wusste, dass sie am meisten weh tun. Worte, die schnell und tief verletzen und einen Schmerz zufügen, den nur die Zeit heilen kann, aber nun bleibt keine Zeit mehr. Diese Menschen, murmelt sie, wie irgendetwas zwischen Fluch und Trost. Sie sieht sie vor sich, wie sie am Straßenrand kauern, zusammengekrümmt und allein.
Ihre Kleider werden feucht vom Schweiß, und ihre Hände zittern am Lenkrad. Ein entgegenkommender Wagen blinkt sie mit den Frontscheinwerfern an, und ihr fällt ein, dass ein Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung das Ende ihrer Flucht bedeuten würde. Sie kann sich nicht ausweisen, hat keine Social-Security-Card, nicht mal eine Geburtsurkunde, was die Mindestvoraussetzung für einen neuen Führerschein wäre. Sie drosselt das Tempo auf 90 und lässt sich von einem grünen Pick-up-Truck überholen. Hat der Fahrer die blinkenden Scheinwerfer gesehen? Nach seinem Tempo zu urteilen, würde sie es bezweifeln. Wir achten nie auf das Richtige, denkt sie, während sie dem Truck hinterherschaut, bis er hinter der nächsten Biegung verschwindet. Bis es zu spät ist.
Sie öffnet das Seitenfenster. Frische Luft strömt in den Wagen, kühlt die feuchte Haut und weht durch ihre schulterlangen silberblonden Haare, die sie jetzt immer zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammenbindet und seit Wochen nicht mehr gewaschen hat. Rechts von ihr schlängelt sich der Housatonic River dicht neben der widerspenstigen Straße, und die Sonne funkelt in seinem gemächlich fließenden Wasser. June entspannt sich, nicht nur, weil die Luft so schön kühl ist, sondern vor allem wegen des Wirbels, den sie verursacht. Sie öffnet jetzt auch das Beifahrerfenster, und als sie das zusätzliche Chaos spürt, macht sie auch die beiden Fenster hinten auf. Es entsteht ein explosiver Durchzug. Sie muss an Lollys Zaubertafel von früher denken, und daran, wie sauer Lolly war, als eine Freundin sie einmal schüttelte und das mysteriöse sandige Innenleben sich verschob und die von ihr so sorgfältig gezeichneten Linien verschwanden. June erinnert sich genau, wie Lolly geschrien hat – durchdringend, wild, wütend – und wie sie sich dagegen sperrte, getröstet oder berührt zu werden. Es dauerte über ein Jahr, bis sie dieser Freundin gestattete, wieder zum Spielen zu kommen. Schon als Kind war ihre Tochter nachtragend gewesen.
June schließt die Augen und stellt sich den vom Wind durchgepusteten Wagen als rasende Zaubertafel vor, und sie selbst würde vom Luftzug weggewischt. Sie hört das dazugehörige Geräusch, Sand wird gegen Plastik und Metall geschüttelt, und einen Augenblick lang funktioniert der Trick. Ihr Kopf wird leer. Die Bilder der Autounfälle und ihrer selbstmitleidigen Verursacher verflüchtigen sich. Sogar Lolly – tränenüberströmt und aufgebracht – verschwindet.
June lässt sich tiefer in den Fahrersitz sinken und verlangsamt das Tempo bis knapp unter das vorgeschriebene Limit. Sie passiert einen Gemüsestand, eine ziemlich neue CVS-Drogerie – früher war da ein Videoladen –, dann meilenlang bröckelnde Steinmauern und schließlich das staubige weiße Haus, vor dem, seit sie denken kann, ein pinkfarbenes Schild steht. Unter schwarzen Buchstaben, die das Wort ROCK SHOP ergeben, die blassblaue Aufschrift CRYSTALS. All diese Markierungen hat sie jahrelang auf dieser Strecke gesehen – jede kennzeichnete die Entfernung zwischen ihren beiden Leben, die so lange als eines durchgegangen waren. Sie versucht, sich noch einmal die Zaubertafel ins Gedächtnis zu rufen – diesmal, weil sie Erinnerungen vertreiben will, die Erinnerungen an die vielen aufregenden Freitagnachmittag-Flüge von New York und an die immer viel zu frühen Rückfahrten am Sonntagabend, mit Lolly auf dem Rücksitz und Adam am Steuer, und er fährt zu schnell, wie immer, June dreht sich zwischen den beiden hin und her, redet über die Lehrer an der Schule und darüber, welchen Film sie abends anschauen könnten und was es zu essen gibt. Diese Autofahrten vergingen immer wie im Flug, und sie waren der unkomplizierteste Teil ihres Lebens. Der Gedanke daran raubt ihr den Atem, und sie wundert sich, dass sie sich nach einer Zeit sehnt, an die sie eigentlich nie mit positiven Gefühlen zurückdenkt. Wenn es nur immer so einfach gewesen wäre: zu dritt im Auto, auf dem Weg nach Hause.
Der Fluss verschwindet aus ihrem Blickfeld, und sie drosselt die Geschwindigkeit auf 30 km/h. Gleich kommt nämlich das kurze Stück, von dem jeder, der regelmäßig hier entlangfährt, weiß, dass da geblitzt wird. Von Kent geht es weiter nach New Milford, wo sie den McDonald’s erreicht, den sie immer als die inoffizielle Grenze zwischen Landleben und Vorstadt betrachtet hat. Auf dem Parkplatz klettern Kinder aus den offenen Türen eines dunkelgrünen Vans, wie Clowns aus einem Zirkuswagen, und stehen zappelig vor einer Reihe kunstvoller Motorräder, die dort parken. Hinter den Motorrädern joggt ein junger Mann, an seiner Seite trabt ein kompakter schokoladenbrauner Labrador in perfektem Gleichtakt. Sie laufen an einer alten Tankstelle vorbei, die mit Brettern vernagelt ist; die Zapfsäulen wurden entfernt. June erinnert sich, dass sie zweimal dort angehalten hat, vielleicht auch dreimal, als sie diese Straße immer entlanggefahren ist, aber dass die Tankstelle zumachen musste, hat sie nicht mitgekriegt. Unkraut wuchert aus dem rissigen Pflaster des dazugehörigen Parkplatzes, und June beobachtet, wie der Labrador ein schmuddeliges Büschel aus Löwenzahn und Gras schnüffelnd umkreist, bis er schließlich das Bein hebt und daraufpinkelt. Ein paar Meter entfernt joggt sein Herrchen geduldig auf der Stelle.
Die Ampel vorne schaltet auf Rot, und June hält. Der Wagen vor ihr ist ebenfalls ein Subaru, nur dunkelgrün, neuer und voller Menschen, die alle aussehen wie Teenager. June will sie nicht anschauen und konzentriert sich lieber auf das blaue Connecticut-Nummernschild und die abblätternden Aufkleber der Nantucket-Fähre auf der Rückscheibe. Von einer Feuerwehrstation in der Nähe hört man eine Sirene: Zwölf Uhr mittags. Sie beginnt leise und sanft, wie ein Waldhorn, steigert sich dann aber nach und nach zu einem hohen, schrillen Geheul, so laut und durchdringend, dass June sich mit ihren dünnen Jackenärmeln die Ohren zuhält. Endlich wird die Ampel grün, und sie schließt alle Fenster. Der Busfahrer hinter ihr hupt – einmal, höflich –, und sie nimmt vorsichtig den Fuß von der Bremse, bis der Wagen vorwärtsrollt.
Die Sirene verstummt. Die Luft im Auto ist wieder ruhig. June passiert Restaurants und Kleiderläden und Supermärkte, an denen sie jahrzehntelang vorbeigefahren ist, die sie aber nie betreten hat. In den Fenstern hängen GEÖFFNET-Schilder; Girlanden aus winzigen bunten Fähnchen flattern über einem Cadillac-Händler im Wind. Im Rückspiegel verfolgt June, wie alles immer kleiner wird.
Sie wollten Gänseblümchen in Weckgläsern. Gänseblümchen von hier, in etwa fünfzig Gläsern, die sie seit ihrer Verlobung gesammelt hatten. Fand ich kindisch, vor allem, weil June Reid bei der Hochzeit ihrer Tochter nicht unbedingt knausern musste. Aber es ging mich ja nichts an. Gänseblümchen in Gläser zu stecken ist nicht gerade eine anspruchsvolle Beschäftigung, eher blöde Routine, ehrlich gesagt. Aber trotzdem, Arbeit ist Arbeit, und für Floristen sind Aufträge hier in der Gegend spärlich gesät, also muss man nehmen, was man kriegt.
Die Kartons mit den Gläsern waren bei June gelagert, in dem alten Steinschuppen neben der Küche. Ich sollte die Gänseblümchen am Morgen bringen und die gefüllten Gläser dann in dem Zelt hinterm Haus aufstellen, nachdem Tischtücher und Gedecke ausgelegt waren. Ich hatte die Blumen am Tag vorher gepflückt, auf der großen Wiese hinter dem Haus meiner Schwester. Da blühen massenhaft welche. Ich war noch nie ein großer Fan von Gänseblümchen – für mich sind sie hübsches Unkraut, keine richtigen Blumen. Dass sie billig sind, war mir egal, aber für eine Hochzeit passen sie einfach nicht. Rosen und Lilien und Chrysanthemen, meinetwegen auch Tulpen und Flieder, wenn man was weniger Edles möchte – aber doch keine Gänseblümchen.
Ich weiß noch, wie die zwei in den Laden gekommen sind. Hand in Hand, irgendwie taufrisch. Die Braut sah aus wie ihre Mutter, nur etwas üppiger. June hat, soweit ich mich erinnern kann, eine eher knabenhafte Figur. Und der junge Mann war total okay. Sah gut aus. Ich würde sagen, ein typischer College-Student, nett, höflich, ordentlich.
Sie waren sehr jung. Das fand ich am eindrücklichsten. Ich habe nicht gedacht, dass man heute noch so jung heiratet. Schon gar nicht in wohlhabenden Familien. Die Mädchen von hier, die keine großen Pläne haben und sofort schwanger werden – das ist was anderes. Aber ein Mädchen, das am Vassar College studiert hat, und dann in New York ein Job bei einer Zeitschrift! Und ein Jurastudent von der Columbia University. Solche Leute rennen doch nicht hopplahopp zum Altar. Aber die beiden waren echt süß miteinander und eingehüllt in eine Wolke aus Glück und Liebe – was für eine verbitterte alte Jungfer wie mich nicht nur ein bisschen schmerzhaft war, sondern auch irgendwie verblüffend. Diese Art von Zuneigung sieht man hier in der Gegend eher selten. Hier sind die Paare, auch die jungen, kaputt von zwei Jobs, von Schulterminen, Familienverpflichtungen und von zu vielen Schulden. Und die älteren Paare müssen ihren verspäteten Hypothekenzahlungen hinterherhecheln und ihre Propangastanks auffüllen, während ihre Söhne und Töchter die Schule schwänzen, Autos zu Schrott fahren und im Tap Schlägereien anfangen. Sie sind völlig übermüdet, und dann müssen sie auch noch an den Wochenenden die munteren Dorfbewohner spielen für die verwöhnten und anspruchsvollen New Yorker, das heißt, sie verschwenden ihr letztes bisschen Höflichkeit und Geduld an fremde Leute, so dass für die Ehefrau beziehungsweise den Ehemann nichts übrig bleibt. Die Wochenendpendler aus der Stadt krallen sich nicht nur die besten Häuser, Aussichten, Speisen und, ja, auch die besten Blumen, die unsere kleine Stadt zu bieten hat, sie nehmen uns auch das Beste von uns selbst weg. Am Ende jeder Woche kreuzen sie auf, nachdem sie uns vorher aus Zügen und Autos per SMS oder telefonisch ihre Forderungen und Wünsche durchgegeben haben – Einfahrt richten, Holz stapeln, Rasen mähen, Abflüsse reinigen, außerdem sollen wir Kinder hüten, Lebensmittel kaufen, Häuser putzen, Kissen aufschütteln. Für manche stellen wir auch nach Thanksgiving ihre Weihnachtsbäume auf und räumen sie nach Silvester wieder weg. Diese Menschen machen sich nie die Hände schmutzig. Das müssen wir anderen tun. Sie nehmen buchstäblich keinerlei Last auf sich. Wir können sie nicht aushalten, aber wir werden von ihnen ausgehalten. Es ist ein ziemlich nerviger Pakt, der aber meistens funktioniert. Nur hin und wieder gibt es einen Ausrutscher. Zum Beispiel, als Cindy Showalter, die Bedienung im Owl Inn, einer alten Frau ins Gesicht gespuckt hat, weil diese etwas sehr Beleidigendes murmelte – Cindy hatte nämlich nicht verstanden, was für eine Käsesorte die Frau verlangte. Wer hat denn schon mal was von einem Explorer-Käse gehört?, fragte mich Cindy dann in der Kirche. Ich habe den Kopf geschüttelt und bin dann später ins Internet gegangen, wo ich einen Käse namens Explorateur gefunden habe, den es hier in der Gegend garantiert in keinem einzigen Restaurant je gegeben hat. Und einmal brannte es in der Scheune der Holly Farm, und drei Pferde sind umgekommen. Niemand konnte es beweisen, aber wir wissen alle, es war Mac Ellis, der ehemalige Hausmeister, der das Feuer gelegt hat. Noreen Schiff hat ihn nämlich rausgeschmissen, weil er jeden Monat die Quittungen ausgepolstert hat. Offenbar ging das schon seit Jahren so, und schließlich hat ihr New Yorker Steuerberater es gemerkt. Mac Ellis wurde nie verhaftet, aber es hat sich herumgesprochen, und er hat mehrere Jobs verloren. Unter dem Lächeln und dem ewigen Schön, Sie zu sehen und dem Kein Problem, mach ich gern brodelt hier viel Wut. Und wenn dann jemand eine Grenze überschreitet, kann das ziemlich unerfreulich werden.
Viele Leute, vor allem die jungen Mädchen, fanden, dass June Reid eine Grenze überschritten hat, als sie sich mit Luke Morey einließ. Sie haben nämlich immer ein großes Getue um ihn gemacht. Er sah gut aus, das muss ich zugeben. Nicht weiter erstaunlich, denn Lydias Vater war zu seiner Zeit ein verdammt attraktiver Kerl, und Lydia war schon immer eine Frau, zu der die Männer sich offenbar hingezogen fühlen. Aber bei Luke kam noch dazu, dass er anders aussah als die anderen Leute hier in der Gegend. Er war die wilde Orchidee in einer Heuwiese. Niemand hat je erfahren, wer sein Vater war, aber jeder konnte sehen, dass er schwarz gewesen sein musste. Und was sagt das über unsere Stadt, dass hier keiner wohnt, der als Vater in Frage kam? Ich will gar nicht darüber reden. Es gab hier mal ein älteres Paar in Cornwall – beide leben nicht mehr, sie waren Naturwissenschaftler im Ruhestand und gemischt, sie schwarz, er weiß. Außerdem ist der Adoptivsohn des Schulleiters, Seth, schwarz, aber als Luke auf die Welt kam, war Seth erst sechs oder sieben. So sah’s damals bei uns aus. Keiner hat groß darüber nachgedacht, ehrlich gesagt, außer wenn es plötzlich ein Thema wurde, wie zum Beispiel, als Lydia Morey ihr Kind bekommen hat. Inzwischen ist es mindestens dreißig Jahre her, dass dieser Junge auf die Welt gekommen ist, aber geändert hat sich seither nicht viel – jedenfalls in der Hinsicht. Noch mehr Wochenendpendler, klar, und weniger einheimische Familien, weil eine nach der anderen ihre Farm und ihren Grundbesitz und ihr Haus an Leute verkauft, die insgesamt höchstens ein paar Wochen im Jahr hier verbringen. Samstage und Sonntage, eine oder zwei Wochen im Sommer. Im Grunde stehen die meisten Häuser leer. Überall blinken Sicherheitsanlagen und solches Zeug, die Zimmer sind blitzsauber geschrubbt, der Staub ist gewischt, die Häuser sind vollgestopft mit superschönen Möbeln, aber ein Zuhause sind sie nicht. Ich bin vor ein paar Monaten die South Main Street entlanggefahren – mitten in der Woche, neun Uhr abends, nachdem ich bei meiner Schwester zum Essen war –, und nirgends brannte Licht. Der Mond schien, und ich konnte die Schornsteine sehen und die Dachgauben, aber alles dunkel, ein Haus wie das andere, bis hinunter zum Park, dunkel. An dem Abend ist mir klargeworden, dass wir nicht mehr in einer Stadt wohnen, jedenfalls in keiner richtigen. Wir wohnen in einem ziemlich teuren Museum, das nur am Wochenende geöffnet ist, und wir sind die Portiers.
Früher gehörten die meisten großen, alten Häuser in Wells hiesigen Familien, und die haben auch da gewohnt. Ich muss das wissen, denn schließlich bin ich in einem dieser Häuser aufgewachsen. Zugegeben, es war das Pfarrhaus von St. David, wo mein Vater mehr als dreißig Jahre Pfarrer war, aber damals gehörte zu diesem Job ein Haus mit sechs Schlafzimmern und vier offenen Kaminen und mit einer Scheune dahinter. Der jetzige Pfarrer ist eine Frau namens Jesse, ob man’s glaubt oder nicht. Diese Jesse muss sich ihre Zeit zwischen drei Gemeinden aufteilen und wohnt in einem Apartment in Litchfield. Die Kirchenverwaltung vermietet das Haus an eine junge Familie aus New York, und die ist, wie man sich denken kann, immer nur am Wochenende hier. Meines Wissens hat kein einziges Mitglied dieser Familie je einen Fuß in die St. David gesetzt. Was nicht weiter verwunderlich ist, denn wir sind am Sonntagmorgen immer nur fünfzehn Personen oder so. Wie die Häuser um den Park herum steht auch die alte Kirche leer, außer ein paar Stunden am Wochenende. Mein Vater ist vor vielen Jahren in den Ruhestand gegangen und dann ziemlich bald gestorben. Aber ich gehe immer noch jeden Sonntag in die Kirche. Ich habe seinen alten Schlüssel behalten, also kann ich schon vorher rein, und dann stelle ich Blumen auf den Altar, Sträuße, die ich im Laden nicht verkauft habe und die sonst im Müll landen würden. Von den Kirchenbänken aus kann kein Mensch die schlaffen Blütenblätter sehen.
Vielleicht schockiert es manche der alten Hasen von St. David, wenn sie erfahren, dass ich mit Gott schon seit langer Zeit abgeschlossen habe – spätestens als meine Mutter nach und nach in der Alzheimerwelt verschwand. Das ist wirklich der langsamste, grausamste Weg ins Jenseits, den es gibt. Sie fing an, sich zu verabschieden, als ich noch in der Highschool war, und gestorben ist sie nach meinem vierzigsten Geburtstag. Aber da war sie schon längst nicht wiederzuerkennen. Wütend, gemein und komplett auf mich angewiesen. Meine Schwester ging aufs College, und ich bin zu Hause geblieben, um zu tun, wofür mein Vater keinen anderen einstellen wollte – aus Stolz und weil er geizig war. Wenn man als unbezahlte Vollzeit-Krankenschwester im Haus seiner Eltern wohnt, findet man nicht so leicht einen Freund, geschweige denn einen Ehemann. Nicht dass ich einen gebraucht hätte, aber trotzdem. Ich verplempere allerdings meine Zeit nicht damit, mir zu wünschen, alles wäre anders gelaufen, und ich bilde mir auch nicht ein, dass es etwas genutzt hätte, wenn ich mit mehr Nachdruck gebetet hätte. Ich bin jetzt schon sehr lang allein, ohne Gottes Beistand und auch ohne den eines Ehemanns.
Die meisten Leute, mit denen ich aufgewachsen bin, sind nach Torrington gezogen oder aus Connecticut weg, nach Millerton oder Amenia, und selbst diese Ortschaften werden immer teurer. Aber manche schaffen es, sich in den Nischen von Wells einzurichten, sich in den Falten zu verkriechen, und bleiben, so wie ich. Lydia Morey ist auch geblieben, aber man kann sich nicht recht erklären, warum. Sie ist das letzte Mitglied ihrer Familie hier in der Gegend, und mit Familie meine ich nicht die Moreys. Ich finde es sowieso komisch, dass sie den Nachnamen behalten hat. Sie ist eine Hannafin, und sie weiß es. Kein Mensch ahnt, was diese Frau denkt, also ist ihre Entscheidung, den Namen zu behalten, auch nicht verwunderlicher als die Tatsache, dass sie nach der Geburt ihres schwarzen Babys hiergeblieben ist. Als Luke auf die Welt kam, wusste jeder, dass Lydias Mann, der rothaarige Earl Morey mit seinem Gesicht voller Sommersprossen, nicht der Vater sein konnte. Earl hat noch am selben Abend Lydias Sachen gepackt und ihr mitgeteilt, sie soll nicht zurückkommen. Sie ist also direkt von der Entbindungsstation zum Sofa ihrer Mama gegangen. Die lebte damals noch und hat Mutter und Kind eine Zeitlang bei sich aufgenommen. Hat aber keinen Hehl daraus gemacht, dass sie das alles ganz übel findet. Sie arbeitete als Kassiererin bei der Bank, und am Autoschalter hörte man immer, wie sie bei jedem, der vorfuhr, über ihre geistesgestörte Tochter herzog. Ihrer Meinung nach gab sich diese Tochter mit irgendwelchen Sekten ab und mit schwarzen Männern und Gott weiß was. Die Leute waren alle auf Earls Seite. Er kommt aus einer riesigen Familie, die schon immer hier lebt, und Lydia Morey wurde zeitweilig konsequent geschnitten, so wie man nur in einer Ortschaft geschnitten werden kann, die fünfzehnhundert Einwohner hat, von denen die Hälfte nie da ist.
Mit der Zeit beruhigten sich die Leute wieder einigermaßen. Luke war immer beliebt, vor allem dann in der Highschool, weil er die staatlichen Schwimmrekorde gebrochen hat und man sogar munkelte, er würde für die olympischen Spiele nominiert. Aber Lydia blieb eine Einzelgängerin, abgesehen von ein paar unglücklichen Männergeschichten. Fairerweise muss man dazu sagen, dass die Auswahl hier ziemlich mickrig ist, und die arme Frau, die ja echt attraktiv ist, hat ihr Bestes getan. Bei einem dermaßen spärlichen Angebot wurde so jemand wie Luke Morey, als er sein Leben wieder einigermaßen im Griff hatte, für die Frauen eine Art Hauptgewinn bei der Tombola. Die Hautfarbe hatte er eindeutig von seinem Vater, wer immer es war, aber dazu kamen bei ihm die weit auseinanderliegenden grünen Augen der Mutter und ihre hohen Wangenknochen. Außerdem war er einsneunzig groß und hatte eine gutgehende Landschaftsgärtnerei – das reicht ja schon, um angestarrt zu werden. Sein ganzes Leben lang ist er angestarrt worden, und natürlich ganz besonders, als er ins Gefängnis kam. Das war ein paar Monate nach seinem Highschoolabschluss. Und dann später, als er mit June Reid zusammengezogen ist, die über zwanzig Jahre älter war als er und aus New York kam. Vom Tag seiner Geburt an war dieser Junge das Stadtgespräch, und wenn man bedenkt, wie er von uns gegangen ist und wie viele er mitgenommen hat, wird das immer so bleiben.
Als ich an dem Morgen mit den Gänseblümchen zu June Reid gefahren bin und den Albtraum mit eigenen Augen gesehen habe – überall Rauch, das alte Steinhaus vom Feuer völlig zerstört, das leere Zelt –, hielt ich gar nicht an, sondern bin einfach weitergefahren. Ohne zu überlegen, fuhr ich direkt zu meiner Schwester, und da saßen wir dann und haben eine Kanne Pfefferminztee getrunken, mit frischer Minze aus ihrem Garten. Jemand