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Fridolin Stähli, Peter Gros, Karl Haltiner (Hrsg.)

Die Schweiz – vom Sonderfall zum Normalfall?

Ein Land in der Identitätskrise

Verlag Neue Zürcher Zeitung

Inhalt

Titelei

Vorwort

I Die Schweiz zwischen Globalisierung und Sonderfalldenken
Karl Haltiner, Peter Gros, Fridolin Stähli

Identität und Globalisierung

Kulturelle Homogenisierung und Modernisierung als Bedrohung

Der Nationalstaat als Auslaufmodell?

Wohlstandsgewinn versus Sicherheit

Und die Schweiz – ein Sonderfall?

Konjunkturen im Sonderfalldiskurs

Der Neo-Sonderfalldiskurs – die Schweiz in der sich globalisierenden Welt

Europa als Bedrohung?

Globalisierungszwänge

Schweizer Kerninstitutionen auf dem Prüfstand

Von der Eidgenossenschaft zur Drittelgenossenschaft

«Sonderfallphantasien»?

Identitätskrise – was nun?

II Eigenständige Politik unter befreundeten Staaten
Paul Widmer

Freundschaft zwischen Staaten

Machtpolitik und Diplomatie

Eigenständigkeit der Schweiz

Aussenpolitische Herausforderungen

Mut zum Sonderfall und zur Zusammenarbeit

III Mitten in Europa – Verflechtung und Abgrenzung als «condition d’être» des Kleinstaats Schweiz
André Holenstein

Verflechtung als Überlebensstrategie

Abgrenzung als Identitätsstiftung und Legitimationsstrategie

Schweizer Geschichte als Integrationsgeschichte

Schweizer Geschichte in transnationaler Perspektive

IV Mythos der Unabhängigkeit versus Offenheit als Stärke: das Dilemma der Schweiz
Katja Gentinetta

Der Mythos: die unabhängige Alpenrepublik

Reale Offenheit: die globalisierte Volkswirtschaft

Das Konzept der Souveränität

Souveränität in einer globalisierten Welt

Das Globalisierungstrilemma

Mögliche Auswege aus dem Dilemma

V Eine Willensnation muss wollen! Gedanken zum Erfolgsmodell Schweiz und seinen Anfechtungen
Kaspar Villiger

Die Erfahrungsformel – ein Versuch, komplexe Prozesse zu verstehen

Was ein erfolgreiches Land ausmacht

Bedingungen für Wohlstand

Die politische Kultur der Schweiz

Die direkte Demokratie

Der Föderalismus

Der solide Staat

Politische Kultur als Basis unseres Erfolgs

Die äussere Erosion unserer Stärken

Die innere Erosion unserer Stärken

Was nun?

Weltoffenheit und Anpassung

VI Die Schweiz im europäischen Abseits?
Günter Verheugen

Die EU ist nicht Europa

Das Verhältnis EU – Schweiz heute

Eine neue gesamteuropäische Perspektive

Die EU in der Sinnkrise

Das Subsidiaritätsprinzip ernst nehmen

Schweizer Optionen

VII Zwischen Sonderfall, Lachnummer und Aufmüpfigkeit: La Suisse existe. Ein paar philosophische Anmerkungen über ein gar nicht so leides Thema
Ursula Pia Jauch

Vorbemerkung einer Patriotin

Stefan Zweig an der Schweizer Grenze

Vom Kriegsschauplatz Europa zur Lachnummer Schweiz

Dürrenmatt: Hassliebe zur Schweiz

Die Schweiz ist kein Sonderfall des Witzes

Über sich selbst lachen

VIII Zur «intimen Tragik» der Schweiz
Adolf Muschg

Die Schweiz als tragischer Fall?

Wofür steht die Schweiz?

Die globalisierte Welt ist aus den Angeln

Engagement für das Gemeinwesen

Die Schweiz im Abendlicht einer europäischen Idylle

Und das gelobte Land der Aufklärung

Die bürgerliche Revolution 1848

Gottfried Kellers traurige Diagnose

Friedrich Schillers Tell als Versöhnung

Hegels List der Vernunft

Die Schweiz und die Juden

Gut genug für das Mögliche

Anmerkungen

Herausgeber und Autoren

Dank

Weitere E-Books

Vorwort

 

Die Schweiz befindet sich in einem beschleunigten Umbruch. Mit der Verdichtung der Aussenbeziehungen durch die Globalisierung und einem Europa, das trotz Krisen stetig näher und vereinnahmender zusammengerückt ist, sind dem Land neuartige Herausforderungen erwachsen für die direkte Demokratie, die traditionelle Neutralität, die Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung, den nationalen Zusammenhalt und den zu verfolgenden Kurs im internationalen Umfeld. Wie in anderen europäischen Staaten setzen nationalistische und neo-konservative Strömungen vermehrt auf Ab- und Ausgrenzung. Dass eigene Werte und Traditionen als Reaktion auf die verunsichernde Globalisierung und Migration eine allgemeine Renaissance erfahren, wird politisch erfolgreich inszeniert.

Steht die Schweiz vor einer Zerreissprobe? Wie tief ist die Verunsicherung in den verschiedenen Bevölkerungsschichten? Steckt unser Land in einer eigentlichen Identitätskrise? Bleibt die Schweiz mit ihren besonderen politischen Institutionen der oft beschworene «Sonderfall», oder ist sie auf dem Weg zum europäischen Normalfall?

Diese Fragen bildeten den Ausgangspunkt zum Podium Interface, einer öffentlichen Vorlesungsreihe an der Hochschule für Technik FHNW in Brugg-Windisch, das 2015 – im Jubiläums- und Mythenjahr der Schweiz – sein 20-jähriges Bestehen feierte. Sieben bekannte und prominente Persönlichkeiten haben ihre Überlegungen und Thesen zum Leitthema «Identität Schweiz – Sonderfall oder besonders» vorgetragen: Paul Widmer, André Holenstein, Katja Gentinetta, Kaspar Villiger, Günter Verheugen, Ursula Pia Jauch und Adolf Muschg.

Alle Beiträge sind aufgezeichnet und anschliessend transkribiert worden. Auf dieser Grundlage haben die Autoren eine zweite, leicht überarbeitete Version erstellt, die in diesen Band aufgenommen worden ist. Die Texte sind von den Herausgebern – wo nicht schon vorhanden – mit Zwischentiteln und am Schluss jeweils mit wenigen Literaturverweisen und Anmerkungen versehen worden. Trotz der schriftlichen Überarbeitung haben die Beiträge die Eigenschaften der mündlichen Rede beibehalten und wirken mitunter direkt, spontan und persönlich.

Den Vorträgen vorangestellt ist ein längerer Essay der Herausgeber, der im Kern zum einen die umstrittene «Sonderfall Schweiz»-Debatte thematisiert, zum anderen auf die verschiedenen Beiträge der Autoren verweist.

Im Wesentlichen verfolgt der Essayband zwei Ziele: Zum einen skizziert er die Genese und die Widersprüche verschiedener historischer und gegenwärtiger Schweizbilder; zum anderen versucht er, Perspektiven aufzuzeigen, wie die innenpolitische Polarisierung und Blockierung überwunden werden könnte.

Die Herausgeber

I Die Schweiz zwischen Globalisierung und Sonderfalldenken

Karl Haltiner, Peter Gros, Fridolin Stähli

Im Jubiläumsjahr 2015 gedachte die Schweiz der Schlachten bei Morgarten 1315 und 1515 in Marignano, des Wiener Kongresses von 1815, an dem sie von den europäischen Mächten ihre Neutralität garantiert bekam, und des vor 70 Jahren unversehrt überstandenen Zweiten Weltkriegs. Mehr als 700 Jahre umfasst die Spanne, in der sich die nationale Seele und der Stil des europäischen Kleinstaates Schweiz herausbildeten. Ihre wichtigsten Signaturen sind Alpenidylle und bäuerliche Freiheitslegenden, Abgeschlossenheit und naturnahe Selbstgenügsamkeit, gekammerte Kleinräumigkeit, Selbstbestimmung und landschaftliche Melancholie, regionales Sprachtum und kulturelle Eigenheiten, religiöser Streit, Befreiungskriege und ausgreifende Eroberungszüge, eigene und fremde Richtersprüche, transalpiner Handel und Verkehr, politische Händel und diplomatisches Geschick, frühe Volksmitsprache und Trotz gegenüber Mächtigen von oben und aussen, Nichteinmischung und defensive Abschottung, Selbstgewissheit und gefährdeter Zusammenhalt.

Viele glauben, darin einen europäischen Sonderfall zu erkennen. Wie viel davon ist «Sonderfallphantasie»,1 wie Peter von Matt meint, wie viel hat einen realen Hintergrund? Was verbindet die Begriffe Sonderfall und Identität? Warum steht der Identitätsdiskurs derzeit nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit hoch im Kurs? Welche Wirkungen hat eine beschleunigte Globalisierung generell auf den Nationalstaat und seine Souveränität? Bildet die Schweiz eine Ausnahme? Welche Bedeutung kommt dem Sonderfalldiskurs hierzulande zu und worin unterscheidet sich der aktuelle von früheren? Und schliesslich: Gibt es Gründe anzunehmen, dass das schweizerische Selbstverständnis heute in einer Krise steckt? Wenn ja, was sind die Ursachen und was ist zu tun? Mit den Beiträgen der sieben Autorinnen und Autoren sowie einigen Vorüberlegungen zur Sonderfall- und Identitätsthematik versuchen wir, Antworten auf diese Fragen zu finden.

Identität und Globalisierung

Die Politisierung des Wortes «Identität» hat in den Medien seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert Konjunktur. «Identitätskonstrukt», «Identitätskrise», «Identitätspolitik», «Identitätsgehabe», «Identitätsgeschwätz» sind Beispiele, die sich mühelos in der Wahlkämpfersprache der letzten zehn Jahre finden lassen.

Es ist kein Zufall, dass im politischen Diskurs der Begriff «Globalisierung» fast gleichzeitig mit jenem der «Identität» immer häufiger verwendet wird. Globalisierung bedeutet wachsende weltweite Vernetzung kommunikativer, ökonomischer, politischer, ökologischer und kultureller Handlungsfelder und Lebensbereiche. Wir werden immer grossräumiger miteinander vernetzt und voneinander abhängig. Dies mit doppelter Folge: Einerseits wirkt die Befreiung der Märkte aus lokalen, regionalen und nationalen Fesseln – beispielhaft sichtbar am europäischen Binnenmarkt – unzweifelhaft als Wohlstandsmotor. Das Weltsozialprodukt ist sowohl in der ersten neuzeitlichen Globalisierungswelle im 19. Jahrhundert als auch in der zweiten von 1945 bis heute fast explosionsartig gewachsen. Der Hunger wurde weltweit zurückgedrängt, die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen ist gestiegen; die Kindersterblichkeit, die zwischenstaatlichen Kriege und die zwischenmenschliche Gewalt sind auf ein historisches Minimum gesunken, wiewohl uns die Schlagzeilen der Medien das Gegenteil suggerieren.2 Dieser Trend gilt allgemein, auch wenn die durch diesen Prozess generierten Ungleichheiten zwischen den Menschen, den Gesellschaften und den Regionen nicht zu übersehen sind.

Anderseits lassen innovative Techniken der Kommunikation, dramatisch gesunkene Informationskosten und die schnelle, arbeitsteilig-ökonomische Verdichtung die frühere Distanz zu den anderen rasant schrumpfen: Raum und Zeit werden komprimiert. Wir rücken näher zusammen. Die mediale Integration der Welt über das Internet und die sozialen Medien in ein informationelles globales Netzwerk hat sich in den letzten Jahren fast revolutionär vollzogen. Durch wachsende Nähe, sei sie räumlich, medial oder migratorisch, werden die Differenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen unmittelbarer sichtbar als früher. Kulturelle Verschmelzungsprozesse sind historisch zwar nichts Neuartiges, sie lassen sich über die ganze Menschheitsgeschichte hinweg nachweisen. Neu an ihnen ist das Tempo, mit dem sich die Diffusions- und Homogenisierungsprozesse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und im neuen Millennium mithilfe der modernen Informationstechnologien ausbreiten.

Hier wurzelt die gesteigerte Bedeutung des Identitätsbegriffs, ja seine Transformation in einen Kampfbegriff.3 Denn in dem Masse, in dem wir mit dem Fremden und Andersartigen konfrontiert werden, wird das eigene Selbstverständliche und Unhinterfragte, nämlich das, was man bislang als das begriff, was das eigene Selbst ausmachte, was einem wert und Heimat war, hinterfragbar, «fragwürdig» im Sinne des Wortes. Unser kollektives Selbstbild leitet sich aus der Unterscheidung vom anderen bzw. von den anderen ab. Die Werte und Institutionen, die unsere Identität konstituieren, kontrastieren mit denjenigen der anderen. Jeder Identitätsfall bildet somit definitorisch einen Sonderfall.

Ein Bild, das vor einigen Jahren durch die Weltmedien geisterte, bringt diesen Sachverhalt eindrücklich auf den Punkt: Ein mit einem Bogen bewaffneter Krieger der australischen Aborigines steht mit aufgerissenen Augen vor einem TV-Gerät, auf dem ein Bild einer weissen Frau flimmert, die ihre blonden Haare föhnt. Das Foto gibt einen Eindruck vom Kulturschock, der entstehen kann, wenn unser «Ich» sich einer unerwarteten Andersartigkeit gegenüber sieht. In der Haltung des Aborigine-Mannes manifestieren sich Abwehr und Widerstand. Das Motiv, sich das Eigene nicht einfach so nehmen zu lassen, sich zu behaupten, auf dem Fundament der eigenen Kultur zu beharren, leuchtet reflexartig auf. Statt des Aborigine-Kriegers könnte auch ein anderes Bild erwähnt werden, das in den Schweizer Medien die Runde machte: Ein blonder, etwa zehnjähriger Knabe in einem roten T-Shirt mit weissem Brustkreuz streckte anlässlich des Eidgenössischen Schwingfestes 2013 einem ausländischen Fotografen mit trotzigem Grinsen den Stinkefinger entgegen.

Die Erkenntnis, dass Toleranz gegenüber anderen eine Voraussetzung dafür ist, dass die anderen die eigene Eigenartigkeit tolerieren, dürfte erst als zweiter Gedanke auftauchen. Und dass die in der Erkenntnis des Andersseins steckende kulturelle Offerte womöglich etwas darstellt, das es wert ist, geprüft zu werden, setzt bereits den Individualisten der postmodernen westlichen Gesellschaften voraus, der sich seinen Lebensstil, sprich seine Identität und die Elemente dafür, auch aus einer anderen Kultur eklektisch zusammenstellt.

Kulturelle Homogenisierung und Modernisierung als Bedrohung

Identitäten konstituieren sich über Werte. Werte bilden das ab, was einem Individuum bzw. einem Kollektiv wichtig ist. Zwischen unserer Identität und dem Wert Sicherheit besteht ein enger Zusammenhang. Erst die Wahrnehmung einer Gefährdung dessen, was uns lieb und teuer ist, lässt uns gewahr werden, wer wir sind und was uns wie viel wert ist. Dabei spielt es letztlich keine Rolle, ob die Bedrohung real oder nur imaginiert ist. Es gilt das Thomas-Theorem:4 Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich. In den genannten Bildern des australischen Eingeborenen wie des Schweizer Knaben manifestiert sich die Janusköpfigkeit des weltweiten Modernisierungsprozesses. Während die Handelsschranken zwischen den Nationen fallen und die Welt arbeitsteilig zu einem einzigen Werkplatz zusammenwächst, in dem es immer schwieriger wird, die Heimat eines Produkts auszumachen, verbreiten sich rund um den Erdball westlich geprägte Lebensweisen und Massenprodukte und bedrohen in der Wahrnehmung der betroffenen Menschen und Gesellschaften eigene kulturelle Gewohnheiten und Traditionen. Das Englische wird – auch in der nichtenglischen multikulturellen Schweiz – zur Zweit- und Weltsprache. Die global anschwellenden Migrationsströme, die vorab von den armen Peripherien in die reichen Zentren verlaufen und die Multikulturalisierung der Gesellschaften dieser Welt vorantreiben, bewirken, dass die zwischengesellschaftlichen Unterschiede abflachen, während die innergesellschaftlichen Unterschiede in Teilen der Welt derzeit fast sprunghaft wachsen. Die ethnische Vielfarbigkeit der europäischen Fussballmannschaften, auch der Nationalmannschaften, dokumentiert diese Tendenz eindrücklich. Der Globalisierungsdynamik wohnt offensichtlich eine erhebliche individuelle und kollektive Verunsicherung inne.

Der Nationalstaat als Auslaufmodell?

Die Welt ist staatlich geordnet. Der territorial definierte Nationalstaat hat im Europa des 19. Jahrhunderts seinen Siegeszug angetreten und ist zum Ordnungsprinzip schlechthin avanciert. Dies, obwohl rund ein Drittel der 200 Staaten dieser Welt als fragil oder «failed» zu gelten hat. Von der Geburt bis zum Tod ist der Staat in unseren Breitengraden die determinierende Institution. Dass der einzelne Nationalstaat für die Lösung der grenzüberschreitenden Weltprobleme – sei es die Klimaveränderung, die Migration, kriegerische Konflikte, neuartige Epidemien, Armutsbekämpfung, Terrorismusbekämpfung u. ä. – zunehmend zu klein ist, für die sogenannten grossen Sorgen der kleinen Leute jedoch häufig zu gross, ist eine Banalität. Ob im Zuge der Globalisierung der Nationalstaat obsolet wird oder nicht, ob er sich verändert, und wenn ja, wie, darüber wird in den Sozial- und Politikwissenschaften viel gerätselt und debattiert. Prägend ist das Wort von Jürgen Habermas,5 wonach sich die nationale Konstellation zunehmend in eine postnationale wandeln wird. Die für den Bedarf der Weltsteuerung zwangsläufig stetig enger werdende zwischenstaatliche Kooperation wird das transnationale Element auf Kosten des nationalen verstärken und die Macht des Einzelstaats schwächen. Zumindest drei Funktionen bzw. Aspekte des Nationalstaates sind dabei betroffen:

Erstens: die klassische staatliche Souveränität, wonach kein anderer Staat einem anderen dreinredet und ein Staat keine höhere Herrschaftsinstanz über sich duldet (vgl. dazu Paul Widmer und Katja Gentinetta in diesem Band). Diese Souveränität scheint sich insofern aufzuweichen und «auszufasern», als unter dem Druck internationaler Probleme überstaatliche anstelle von staatlichen Lösungen auch im Eigeninteresse des jeweiligen Staates unausweichlich werden. Der Staat wird «vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager»;6 die frühere Unabhängigkeit vermindert sich durch im eigenen Interesse hingenommene Abhängigkeiten. Vereinte der klassische Staat noch alle Merkmale von Staatlichkeit innerhalb seiner Grenzen, nämlich 1. die Macht, souverän kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen, 2. die dafür notwendige Durchsetzungskompetenz und 3. die politisch zu legitimierende Letztverantwortung dafür, so verlagert sich das erste Staatlichkeitsmerkmal zunehmend auf eine suprastaatliche und zum Teil private Ebene. Sie ist, wie Katja Gentinetta in ihrem Beitrag ausführt, heute Verhandlungsmasse: «Wie viel und welche Souveränität wir wollen, hängt also auch davon ab, was wir dafür zu geben bereit sind.»

Als Modell und als Vorbild dieser Entwicklung für andere Regionen gilt die Europäische Union (EU). An sie wurden von ihren Mitgliedern formell Staatlichkeitskompetenzen abgetreten. Diese erlauben Regulierungen, die bis ins Alltagsleben der Menschen dieser Staaten hineinreichen. Als weitere Institutionen mit supranationalisierter Staatlichkeit wären zu erwähnen die Welthandelsorganisation (WTO) mit ihren Streitschlichtungsverfahren, die Vereinten Nationen (UNO) mit ihren schwachen, weil vetoabhängigen Zwangsmitteln, der Internationale Strafgerichtshof (ICC) und der Internationale Währungsfonds (IWF), der im Zuge der weltweit steigenden Verschuldung wachsenden Einfluss erlangt, sowie die Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Letztere beeinflusst mit ihren PISA-Studien und schwarzen Listen von Steueroasen nachweisbar die Bildungs- und Wirtschaftspolitik ihrer Mitgliedsländer. Die Privatisierung von Staatlichkeit reicht von der Deregulierung öffentlicher Betriebe bis zur Abschwächung des staatlichen Gewaltmonopols durch neu entstehende private Sicherheitsunternehmen. Und schliesslich weiten international ausgehandelte Verträge die Geltung des Völkerrechts aus, sodass die Handlungsspielräume der Einzelstaaten durch die sich verdichtende Internationalisierung immer kleiner werden.

Zweitens: Der Staat als Solidargemeinschaft, d. h. einer Vereinigung, die nicht auf Blut und Nachbarschaft, sondern bestenfalls auf einer gemeinsamen Herkunfts- und Zusammengehörigkeitssymbolik beruht, definiert durch Staatsbürgerschaft die Zugehörigkeiten und die damit verbundenen Rechte und Pflichten. In demokratischen Staaten legitimiert die Staatsbürgerschaft durch Wahlen und Abstimmungen politische Entscheidungen. In dem Masse aber, in dem politische Entscheidungen im Zuge der Globalisierung an nicht gewählte überstaatliche Instanzen delegiert werden, wird die Demokratie ausgehebelt. Mit der Verlagerung von Entscheidungen auf die internationale Ebene werden innerstaatlich die Exekutiven als handelnde Akteure auf Kosten der Parlamente und in direktdemokratischen Systemen auf Kosten der Mitbestimmungsrechte der Bürgerschaft gestärkt. Das trifft ein Land wie die Schweiz mit ihrer weit ausgebauten direktdemokratischen Bürgermitsprache und einer wenig hierarchisch, nur schwach zentralisierten politischen Kultur ohne Mehrheitsregierung besonders. Die internationale Migration verändert die Zusammensetzung und den Zusammenhalt der nationalen Gesellschaften, sei es dadurch, dass sich eine zunehmende Spaltung in mitbestimmungs- und nichtmitbestimmungsberechtigte Bevölkerungsklassen herausbildet, sei es, dass die Ansprüche auf soziale Sicherheit strittig werden oder sich durch wachsende ethnische oder kulturelle Diversität politisch schwerwiegende Spannungen aufbauen.

Drittens: Wie demoskopische Untersuchungen regelmässig belegen, stillen Nationen das tiefsitzende Verlangen nach Identität, obwohl sie als konstruierte «imaginierte Gemeinschaften»7, historisch gesehen, erst jüngeren Datums sind. Gemeinsame Mythen, Herkunftserzählungen, kulturelle Traditionen und häufig eine gemeinsame Sprache und politische Kultur schaffen einen identitätsstiftenden Raum. Der Annahme, mit der Globalisierung verlören nationale Identitätsmuster und Bezugsgrössen ihre Bedeutung, widersprechen die zu beobachtenden Entwicklungen.8 In vielen Teilen der Welt – und in Europa im Besonderen – lodert der totgeglaubte Nationalismus wieder auf. Parolen wie «Grossbritannien den Briten!» fallen in fast allen Staaten der EU auf fruchtbaren Boden. Der Rückzug Grossbritanniens aus der EU wurzelt hauptsächlich in der Angst vor der Immigration und dem Multikulturalismus, ebenso wie das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative in der Schweiz; Russland entdeckt seine slawisch-orthodoxe Tradition und China zelebriert Olympische Spiele als nationalistisches Spektakel. Die Anzeichen für wachsende Xenophobie mit einem Machtzuwachs rechtsnationalistischer Populisten und nationalkonservativer Parteien, die sich im Gefolge der sich verstärkenden transnationalen Migrationsströme bemerkbar machen, finden sich in allen europäischen Staaten. Fremdenhass und EU-Phobie gehen Hand in Hand. Das Europa der sich vereinigenden Nationen droht wieder zum Europa der nationalistischen Sonderfälle zu zerbröseln.

Wohlstandsgewinn versus Sicherheit

Halten wir nach diesem einleitenden Aufriss der Globalisierungstendenzen und den Herausforderungen für die nationale Identität, Sicherheit und Souveränität als Zwischenfazit fest: Die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu beobachtende Verdichtung der wirtschaftlichen Vernetzung brachte der Welt, vor allem der westlichen und der asiatischen, einen enormen Wachstums- und Wohlstandsschub. Zugleich warf die stetig zunehmende Vernetzung der Lebensverhältnisse über die nationalen Grenzen hinaus Fragen auf nach dem Selbstverständnis, der eigenen Herkunft und Zugehörigkeit und der sicherheits- und ordnungsstiftenden Souveränität des Nationalstaates. Das weltweit beobachtbare Reaktionsmuster auf die Globalisierung läuft überall auf die Zuspitzung des Gegensatzes zwischen Wohlstand und Sicherheit hinaus. Wohlstandsvermehrung und Wohlstandserhaltung sind unter den Voraussetzungen der Globalisierung nur noch durch Weltoffenheit, der Bereitschaft zum Risiko, der Abkehr vom Herkömmlichen und der territorialen Gebundenheit zu haben, sowohl auf individueller wie auf staatlicher Ebene.

Demgegenüber fördern fallende physische und mentale Grenzziehungen die Erosion herkömmlicher Traditionen, sowie der Prozess der Denationalisierung Identitätskrisen und Entbettungsängste gebiert. Globalisierung wird von der weltweiten Wirtschaftselite primär als Chance, von grossen Teilen der Weltbevölkerung eher als Bedrohung gesehen. Das Verlangen nach Sicherheit im Sinne von sozialer, kultureller und nationaler Geborgenheit akzentuiert sich. Die Frontlinien zwischen Globalisierungsgegnern und -befürwortern lassen sich unschwer entlang dieser beiden Werte ausmachen. Die Versuchung, die nationalen Schotten wieder dichtzumachen, wird in Europa geschürt von rechtsnationalen Parteien, die derzeit mit enttäuschten Wutbürgern Wahlen gewinnen. Andernorts regt sich der Widerstand durch eine fundamentalistische Auslegung der eigenen religiösen und kulturellen Traditionen.

Und die Schweiz – ein Sonderfall?

Und wie geht die Schweiz mit den Herausforderungen der Globalisierung um? Gemäss dem KOF-Index «Globalisierung» der ETH Zürich, einem ausgefeilten Mass zur Ermittlung des Grades an Offenheit und weltweiter Vernetztheit, ist sie eines der am stärksten globalisierten Länder der Welt. In fast allen globalen Rankings der standortwichtigen Kriterien – ob Reichtum, Wettbewerbsfähigkeit, Innovation oder Globalisierung – belegt sie Spitzenplätze (vgl. Katja Gentinetta in diesem Band). Ihr Wohlstand als rohstoffarmes, vom Export abhängiges Land hängt in hohem Mass von der Bereitschaft ab, mit der Globalisierungsdynamik mitzuhalten, sich den durch sie erzeugten Herausforderungen zu stellen. Diese Frage ist umso drängender, als der Kleinstaat im Herzen Europas gleichsam eine «doppelte Globalisierung» durchlebt. Nicht nur die global wirkenden Kräfte der wirtschaftlichen und kulturellen Vernetzung setzen der Schweiz zu. Durch die Europäisierung, wie sich die Entwicklung zur Europäischen Union vereinfachend benennen lässt, steht sie unter einem intensivierten, durch die regionale Verdichtung erzeugten politischen Aussendruck. Geografisch ein Kernland Europas ohne Meeresanstoss sieht sie sich umgeben von einer Staatenwelt, in der die Nationen gezielt Teile ihrer staatlichen Souveränität an eine überstaatliche Zentralinstanz delegieren und dadurch eine politische Entität schaffen, von der magnetgleiche Anziehungskräfte ausgehen.

Wer sich für die Eigentümlichkeiten schweizerischer Identität interessiert, stösst unweigerlich auf den Schweizer Sonderfalldiskurs und historische Konstanten in der Art, wie das Land auf äusseren Druck zu reagieren pflegt. Die Eingabe «Schweiz als Sonderfall» bei Google ergibt rund 270 000 Einträge, rund 40 000 mehr als 2007.9 Offenbar hat sich das Thema in den letzten zehn Jahren nicht verflüchtigt, sondern an Bedeutung gewonnen. Vorrangig erscheinen beim Googeln Hinweise auf das Werk Die Schweiz als Sonderfall von Paul Widmer, der im vorliegenden Band eine Referatsversion seines Buches vorlegt, der Verweis auf die Website der Schweizerischen Volkspartei (SVP) sowie sonderfallbezogene Medienartikel zum sogenannten Triple-Jubiläumsjahr 1315  1515  1815.

Grundlegendes findet sich im Wikipedia-Artikel «Sonderfall Schweiz», der sich auf den knappen, aber gehaltvollen Übersichtsartikel «Sonderfall» des Basler Historikers Georg Kreis im Historischen Lexikon der Schweiz stützt. Der «analytisch wenig präzise Begriff Sonderfall», so Kreis in diesem Artikel, «geht davon aus, dass der Schweiz aufgrund ihrer Geschichte und Kultur eine einzigartige Stellung mit Vorbildcharakter innerhalb der Staatenwelt zukommt»10 mit dem Zweck, aus dem Vergleich mit den Nachbarstaaten eine eigentümliche und besondere Identität des Landes hervorzustreichen. Nach Kreis und anderen stützt sich der Sonderfalldiskurs auf verschiedene, das Selbstbewusstsein der Landesbevölkerung prägende Dimensionen: politisch auf das Kleinräumige als Gegensatz zum Grossen, auf das Republikanische anstelle des im Umfeld vorherrschend Monarchischen, auf die kulturelle und sprachliche Vielfalt anstelle von Einheitlichkeit, auf die direkte Demokratie mit ihrer Tradition von persönlicher Freiheit und Unabhängigkeit, auf Selbstbestimmung, Föderalismus und den Topos der «Willensnation» sowie die Neutralität als Leitmaxime der Aussenpolitik. Weiter wird die landschaftliche Prägung durch die Alpen und das Klima betont und eine sich daraus angeblich ergebende bäuerliche Mentalität. Dazu kommen überdurchschnittlich ausgeprägte Tugenden der Schweizer Bevölkerung wie etwa Arbeitseifer, Sparsamkeit, Sauberkeit, Pünktlichkeit, Vertragstreue usw. Historisch, so alle konsultierten Quellen, entwickelt sich im 19. Jahrhundert das Bild vom Sonderfall Schweiz zum festen Bestandteil der nationalen Identität mit dem Zweck der «Festigung und Verteidigung» des Bundesstaats. Nach Kreis dient das «ideologische Konstrukt» Sonderfall direkt dazu, sich «abzugrenzen und hervorzuheben und indirekt dazu, internationale oder universale Standards nicht übernehmen zu müssen».11 Für den Historiker und Diplomaten Paul Widmer steht ausser Zweifel: «Sie [die Schweiz] steht, was nur wenigen anderen Staaten gegeben ist, für eine Idee. Mit ihrer direkten Demokratie verkörpert sie ein einzigartiges Gedankengut, eine Alternative zu anderen Staatswesen. Die Welt wäre ärmer ohne den Sonderfall Schweiz.» «Das Gemeinsame ist der Wille zu Freiheit […]. Dabei muss die politische Freiheit in der Schweiz grösser sein als in den Ländern ringsum. Sonst verliert die Schweiz ihre Raison d’Être.» (Vgl. Beitrag in diesem Band.) Auch für alt Bundesrat Kaspar Villiger ist es primär eine politische Idee und nicht die ethnische Homogenität, welche die Willensnation Schweiz zusammenhält (vgl. Beitrag in diesem Band).

Der Soziologe Kurt Imhof vertritt eine Sonderfallthese eigener Art. Wer in der Schweiz politischen Erfolg haben wolle, so seine provokative These, komme nicht darum herum, sich auf die sonderfallgenerierenden Zwänge zu beziehen: Dem eidgenössischen Bauernmilizideal, gegen äussere und innere Herrschaftsansprüche jederzeit widerstandsbereit zu sein, unterliege ein tief sitzender «Bedrohungszwang». Dieser bewirke ein vergleichsweise hohes Mass an Weltorientierung, welche die Basis für die moderne, exportorientierte und weltoffene Seite der Schweiz bilde. Aus dem Bedrohungszwang leitet sich nach Imhof eine weitere Determinante des Sonderfalldenkens ab: den Selbstbestimmungszwang. Aufgrund der stets bedrohten kollektiven Freiheit entstehe die Neigung zur Überbetonung von Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, was wiederum die Widerstandsbereitschaft und Zertrümmerung von Herrschaftsmacht in der eigenen Gemeinschaft begründet und legitimiert. Die dritte Dimension, der Konkordanzzwang, resultiere aus der Notwendigkeit, im multikulturellen Bund eine «Einheit in der Vielfalt» zu finden. Ohne Konkordanz wäre eine nationale Kohäsion nicht möglich, welche die sozio-strukturellen, religiösen und kulturellen Differenzen überwindet. Imhof bilanziert: «Wer in der Schweiz etwas ändern will, muss das mit dem Mythos des selbstbestimmten, aber ständig bedrohten Gemeinwesens verknüpfen.»12 Die Imhof-These versucht, den politischen Aufstieg der Nationalkonservativen zu erklären, die das Thema «Bedrohung» und «Sonderfall» geradezu missionarisch bewirtschaften. Mit dem Konkordanzzwang nehmen sie es indes locker und stossen damit traditionsorientierte Teile der Schweizer Bevölkerung vor den Kopf. Ob die These deshalb für die Verallgemeinerung der Selbstwahrnehmung auf die Schweizer Gesellschaft taugt, ist fraglich. Zudem mobilisieren auch rechte Kreise anderer Länder angebliche identitätsbildende Besonderheiten, um ihre Politik zu rechtfertigen. Die Schweiz ist darin keine Ausnahme, sondern ein europäischer Normalfall.

Den soziologisch begründeten Sonderfallsemantiken stellt der Historiker André Holenstein in diesem Band eine entschieden andere Sicht entgegen. Er sieht das Prägende der Schweizer Geschichte gerade nicht in der Abgrenzung der Schweiz von ihrem Umfeld, sondern in der engen Abhängigkeit von den nachbarlichen Ländern und im stets bedeutsamen ausländischen Einfluss. Er schreibt also keine Abgrenzungs-, sondern eine Verflechtungsgeschichte. In ersterer sieht Holenstein «Sackgassen und tote Winkel eines nationalen Geschichtsverständnisses».13 Kurz: Für ihn ist «die Schweiz das europäischste Land» Europas, und das schon zur Zeit der Alten Eidgenossenschaft. Überzeugend belegt er die schon damals engen Verflechtungen mit dem Umland durch das Söldnerwesen und die zivilen Wanderungsbewegungen, die Übernahme von Agrarproduktionstechnologien, die Finanzströme zwischen Handelshäusern und Städten sowie die engen diplomatischen Beziehungen. Transnationalität sei die richtige Betrachtungsweise für die Schweizer Geschichte. Holenstein hält sie jenen entgegen, die den Souveränitäts- und Neutralitätsaspekt aufwendig bewirtschaften. So sei etwa die Neutralität – sogar die bewaffnete – keineswegs selbst gewählt, sondern der Schweiz von den europäischen Mächten auferlegt, weil ein Pufferstaat zwischen ihren Einflusssphären in ihrem Interesse lag. Ein Land, das dazu verpflichtet werden könne, stets neutral zu sein, so Holenstein, kann kaum als souverän bezeichnet werden. Die Schweiz überlebte als eigenständiger Staat im Kern Europas, weil sie sich stets flexibel anpasste. Die «pragmatische, auf Vernunftüberlegungen basierende Verflechtung brauchte so etwas wie eine kulturelle Antithese, die Identität stiftete. Ausdruck davon war und ist das Bemühen um eine bewusste Abgrenzung.»14

Fassen wir zusammen: Neuere historische Forschungen, wie auch die von Thomas Maissen,1516