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Luise Rinser und Ernst Jünger

Briefwechsel 1939 - 1944

© der Zusammenstellung: Aufgang Verlag Augsburg 2015
© Wem sonst als Ihnen?: Benedikt Maria Trappen
© Adrienne: Christoph Rinser

Briefe von Luise Rinser: Christoph Rinser

Briefe von Ernst Jünger: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH

Umschlagentwurf: Gil Ziner Express-Graphic Caleta de Vélez

ISBN 978-3-945732-09-0 (Hardcover)
978-3-945732-10-6 (Paperback)
978-3-945732-11-3 (eBook)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Luise Rinser und Ernst Jünger

Briefwechsel 1939-1944

Mit einem einführenden Essay von
Benedikt Maria Trappen

Enthält die Erzählung
Adrienne
aus dem Nachlass von Luise Rinser

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorbemerkung

Benedikt Maria Trappen

Wem sonst als Ihnen?
Der Briefwechsel zwischen Luise Rinser und Ernst Jünger

Die Briefe

Adrienne

Eine Erzählung

Benedikt Maria Trappen

„Wem sonst als Ihnen?“
Der Briefwechsel zwischen Luise Rinser und Ernst Jünger

„Doch eines Tages richtet sich die Vergangenheit vor einem auf und erweist sich als ein Engpaß, durch den – und nirgendwo sonst – der Weg in die Zukunft führt. Scheut man die enge Pforte, gewinnt man nie das Freie. Man muß den Mut haben, seine Vergangenheit anzuschauen, auch wenn sie einem nicht gefällt und gerade dann, und in dem Augenblick, in dem man erkennt und sich gesteht, wie schlecht sie war, tut sich die Tür zur besseren Zukunft auf.“1

„Der Philosoph Kierkegaard sagt, geistige Gesundheit bestehe darin, mit und in Widersprüchen leben zu können. Das scheint uns begreifbar, denn wir leben alle mit unseren innerpersönlichen Widersprüchlichkeiten (…) Wir arrangieren uns mit den Widersprüchen, wir schließen Kompromisse, wir überbrücken Abgründe. Verlieren wir diese Fähigkeit, stürzen wir in die Psychose, in den Wahnsinn.“2

Vorbemerkung

Die Einheit des Ich ist eine scheinbare. In den verschiedenen Lebensbereichen – Familie, Beruf, Freundeskreise – erleben, handeln und gestalten wir uns in oft sehr unterschiedlichen Rollen. In künstlerischen Werken bringen wir uns anders zum Ausdruck als in Tagebuchaufzeichnungen und in Briefen. Briefe vor allem weisen die Besonderheit auf, auf ein Du bezogen zu sein, das in der Entfernung immer Bild bleibt und als dieses in besonderer Weise geeignet ist, schöpferische Prozesse in Gang zu setzen. Dass wir es im Leben vornehmlich mit Bildern zu tun haben – Vorurteilen und Projektionen –, ist uns dabei selten bewusst, solange wir uns hinreichend wahrgenommen und beantwortet, in unserem Selbstbild bestätigt fühlen. Erst das Misslingen dieser Kommunikationsprozesse stört den Lebenstraum, den wir für Wirklichkeit halten, und macht uns schmerzlich die Andersheit der andern, aber auch unseres vermeinten Selbst bewusst. Diese Grundbedingung unseres Daseins reicht hin, jede Biografie – mehr oder weniger – als „ein Leben in Widersprüchen“ zu verstehen und nachzuvollziehen, wie José Sánchez de Murillo dies im Untertitel seiner Biografie der Schriftstellerin Luise Rinser treffend getan hat. Sich zur Einheit zu gestalten ist daher lebenslange Aufgabe, zu welcher sich schöpferische Menschen in besonderer Weise berufen wissen. Was den Einzelnen solche Berufung vernehmen lässt und zu solcher Verwirklichung treibt, bleibt rätselhaft. Manches spricht dafür, dass wir nicht als unbeschriebene Blätter in diese Welt kommen und unsere Freiheit darin beruht, dem zu entsprechen, was im Buch des Lebens geschrieben steht.3

Die Frage nach Herkunft und Bestimmung eines schöpferischen Denkens und Schaffens stellt sich umso dringender bei epochal bedeutsamen Personen. Als solche kann Luise Rinser durchaus verstanden werden, deren Leben und Werk exemplarisch die Möglichkeit der Verwirklichung des Menschlichen vom Weiblichen her zu erforschen und zu beantworten sucht. Zu den Grundbedingungen dieses Versuches gehört es, Geist und Eros in eine fruchtbare Spannung, eine lebbare Beziehung zu bringen.4 Bedeutende geistvolle Männer spielen daher im Leben Luise Rinsers immer wieder eine wichtige Rolle, einige von ihnen vor allem als Briefpartner. Zu letzteren zählen Franz Seitz, Hermann Hesse, Ernst Jünger, Karl Rahner und José Sánchez de Murillo. Die posthume Veröffentlichung dieser Briefwechsel soll zur Erhellung des Tiefenphänomens Luise Rinser beitragen. Die umstrittene Herausgabe ihrer Briefe an Karl Rahner noch zu Lebzeiten der Schriftstellerin lässt sich ebenso begründen, wenn dabei auch weitere Motive mitgewirkt haben können. Mit wem, wie, warum, zu welchem Zeitpunkt, zu welchem Zweck sucht Luise Rinser brieflich Kontakt? Was weiß sie von ihren Briefpartnern? Welches Bild hat sie von ihnen? Was wissen diese von ihr? Was erhoffen sie? Was befürchten sie? Was bewirkt der Austausch – bei ihr und bei ihren Briefpartnern? Wie verhalten sich Alltagsrealität, Briefwirklichkeit und Schriftstellerei zu einander? Welche Bedeutung kommt der Zeitgeschichte zu? – Dies sind Leitfragen, die im Folgenden dazu dienen sollen, den Briefwechsel zwischen Luise Rinser und Ernst Jünger zu erhellen, um das Tiefenphänomen dieses schöpferischen Lebens sichtbarer werden zu lassen. Ebenso, wie es möglich, ja wahrscheinlich ist, dass Wesentliches sich dem Selbstverständnis der Schriftstellerin entzogen hat, müssen allerdings auch wir uns damit bescheiden, dass – trotz der zeitlichen Entfernung und des Überblicks über das Ganze dieses Lebens – uns endgültige Antworten verwehrt bleiben.

Die Briefe

Der Briefwechsel umfasst 20 Briefe Luise Rinsers und zwei Briefe ihres ersten Mannes, Horst-Günther Schnell, an Ernst Jünger sowie zwölf Antwortbriefe Ernst Jüngers. Er beginnt mit einem Brief Luise Rinsers vom 23.08.1940 und endet mit der Anzeige ihrer Vermählung mit dem Schriftsteller Klaus Herrmann im Januar 1944. Alle Briefe befinden sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach und konnten dort eingesehen werden. Gleichzeitig lag mir eine digitalisierte Abschrift der Briefe vor, die von Christoph Rinser zur Verfügung gestellt wurde. Persönliche Aufzeichnungen über das einzige Treffen der beiden Briefpartner am 14.11.1940 in Hannover konnten weder in den Veröffentlichungen, noch in den Nachlässen Luise Rinsers und Ernst Jüngers gefunden werden. Nach Auskunft ihres Biografen José Sánchez hat Luise Rinser sich in den letzten sieben Jahren ihres Lebens ihm gegenüber nie über Ernst Jünger geäußert. Auch in ihren veröffentlichten und unveröffentlichten Werken finden sich – soweit diese mir bekannt sind – außer in Briefen an Hermann Hesse keine Hinweise. Dies gilt offensichtlich auch für Ernst Jünger. Da dieser allerdings die Gewohnheit hatte, Biographisches literarisch zu destillieren und zu verallgemeinern, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Begegnung mit Luise Rinser in Bemerkungen nachwirkt, die sich verstreut im Werk Ernst Jüngers finden. So liest man etwa in Autor und Autorschaft: „Es gibt Frauen, deren Biographie an eine Walhalla erinnert; schon der Wechsel verrät, daß sie anregen, ohne zu befriedigen. Dem bleibt immerhin noch vorzuziehen, was Nietzsche befürchtete: „daß man in die schwülen Träume eines Weibes fällt“.“5 Ähnlich hatte sich Ernst Jünger 1986 in einem Gespräch über Luise Rinser seinem Biographen Heimo Schwilk gegenüber geäußert.6

Auf den großen Ehrgeiz Luise Rinsers, ihr Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe, ihr Bestreben, am Ruhm berühmter Männer teilzuhaben, ihre Suche nach Führung und ihr eigenwilliger Umgang mit der eigenen Geschichte wurde wiederholt aufmerksam gemacht.7 Von daher ist ihren Erinnerungen und ihren Selbstinterpretationen gegenüber Skepsis angebracht. Dies gilt sicher auch für die Schilderung ihrer Begegnung mit Ernst Jünger gegenüber Heimo Schwilk 8 : Jünger habe überhaupt keine erotische Ausstrahlung gehabt, allein seine geistige Gestalt habe sie interessiert. „Er war kein Mann, auf den ich mich eingelassen hätte. […] Er war komischerweise sehr klein, hatte eine hohe Stimme und sah nach nichts aus.“ Es sei das unterkühlte Treffen mit einem Verstandesmenschen gewesen. Als besonders unheimlich habe sie in Erinnerung, dass beim Spazieren durch die zum Teil bereits von Bomben getroffene Stadt plötzlich ein Ziegelstein zwischen ihren Köpfen hindurch geflogen sei – er hätte beide treffen können. Sie habe das als Zeichen genommen: Lass ab von diesem Mann.“9 Schwilk weist zu Recht darauf hin, dass der Fortgang des Briefwechsels entschieden gegen diese späte Umdeutung spricht. Auch eine rückblickende Analyse ihrer Lebenssituation, die sich vor allem in ihren Briefen vom 28.06.1942, vom 13.09.1942 und vom 24.03.1942 findet, widerspricht dieser Darstellung. Aufschlussreich ist zudem eine Erzählung, die sie Ernst Jünger am 28.11.1940 handschriftlich zukommen ließ 10 – „nicht zur Korrektur. Sie ist für Sie abgeschrieben. (…) Sie brauchen zu mir weder darüber zu sprechen noch sie mir zurückzugeben. Sie gehört Ihnen.“ – und über der – hätte Hölderlin diese Widmung nicht schon gebraucht – stehen müsste: „Wem sonst als Ihnen“. „Denn ohne die Begegnung mit Ihren Büchern, also mit Ihnen (stimmt dieses „also“ überhaupt?) hätte ich sie nicht schreiben können.“ Als Datum der Niederschrift gibt sie den 16.10.1940 an. Die Erzählung liegt dem Brief Rinsers vom 26.11.1940 bei. Christoph Rinser stellte mir eine digitalisierte Fassung zur Verfügung, die – von Luise Rinser ohne Titel belassen – nach der weiblichen Hauptfigur hier „Adrienne“ genannt wird.

Offenbar hat Ernst Jünger, auch wenn er sich über Luise Rinser und deren Werk nicht weiter geäußert hat, ihre Entwicklung in den Medien verfolgt. Ihren Briefen in seinem Archiv beigefügt sind neben einem Foto, das Luise Rinser mit ihrem Sohn Christoph 1940 zeigt, zahlreiche Presseberichte und Rezensionen aus den Jahren 1968 bis 1996 sowie ihr Selbstportrait Wagnis und Wandel. Immer wieder geht es in den archivierten Ausschnitten um Luise Rinsers Hitler-Gedichte, ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus und ihre wiederholten Versuche, diese zu verharmlosen und zu leugnen, aber auch um ihre Mitwirkung an einer „Schule des Schreibens“, ihr parteipolitisches Engagement und ihre Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten. Einer mit einem Foto Luise Rinsers versehenen Anzeige der Sozialdemokratischen Wählerinitiative Baden-Württembergs aus dem Jahr 1972 ist handschriftlich hinzugefügt: „Photo mindestens 20 Jahre alt, und dann noch geschmeichelt.“ Einem Leserbrief der FAZ vom 02.11.1977 über ihre vergebliche Klage gegen die Bezeichnung „Nazipoetin“ wurde handschriftlich hinzugefügt: „Revolutionsziege“. Interessant ist auch ein Auszug aus dem 1979 von Hans Daiber herausgegebenen Buch Wie ich anfing. 24 Autoren berichten von ihren Anfängen, eine Selbstinterpretation Luise Rinsers, die mit dem handschriftlichen Zusatz versehen ist: „Lieber Ernesto, wußtest du, daß du so Vorbild warst? Herzliche Grüße Inge.“ Auf diesen Text werde ich zum Schluss noch ausführlicher eingehen.11

Die Tatsache, dass Ernst Jünger Luise Rinsers weitere politische und literarische Entwicklung verfolgt hat, verleiht auch dem Briefwechsel eine politisch-zeitgeschichtliche Dimension, deren sich Luise Rinser offensichtlich überhaupt nicht bewusst war. Bedenkt man zudem, dass Ernst Jünger bereits 1942 mit der Konzeption seiner „Friedensschrift“ begonnen hatte und zahlreichen Beteiligten des späteren Hitler-Attentates vom 20. Juli 1944 nahe stand, gewinnt diese Dimension weiter an Bedeutung. Politische Naivität, Befangenheit im eigenen Ich und seinen schöpferischen Antrieben und die damit verbundene Kurzsichtigkeit – um nicht zu sagen: Blindheit – kann auch für die Tatsache geltend gemacht werden, dass Luise Rinser zur gleichen Zeit mit zwei bedeutenden Schriftstellern korrespondierte, deren künstolf und Peter Härtling. – Aus einem noch unveröffentlichten Brief an Franz Seitz vom 24.10.1934 geht ihre Autorschaft zweifelsfrei hervor. lerische, menschliche und politische Grundhaltungen damals weit auseinander lagen: Hermann Hesse und Ernst Jünger.

Die Lebenssituationen

Luise Rinser ist 29 Jahre alt, als sie zum ersten Mal an Ernst Jünger schreibt. Sie ist verheiratet mit dem Komponisten Horst-Günther Schnell, hat einen acht Monate alten Sohn, wohnt in Braunschweig und arbeitet nicht mehr als Lehrerin. In den zurückliegenden Jahren hatte sie sich mühsam von ihrem ihre Sexualität und ihre Kreativität unterdrückenden katholischen Elternhaus gelöst. Noch mit 23 Jahren, gesteht sie Hermann Hesse, dem sie erstmals 1935 zum Geburtstag geschrieben hatte, in einem Brief vom 30.06.1943, habe sie „von den Vorgängen der Liebe“ nichts gewusst – „buchstäblich“. Sie war als Ausbilderin beim Bund Deutscher Mädel (BDM) tätig und hat, nachdem sie bereits früher schon geschrieben, das meiste davon allerdings verbrannt hat, in der Zeitschrift „Herdfeuer“ ein Gedicht veröffentlicht, von dem sie später, damit konfrontiert, nichts wissen will und von dem sie sich gleich mit mehreren Varianten distanziert: „Wir sind Deutschlands brennendes Blut“, heißt es dort, „des großen Führers verschwiegene Gesandte.“ Doch die Künstlerehe ist schwierig. Ihr Mann lebt in seiner Welt und betrügt sie. Zuvor jedoch hat er sie auf Ernst Jünger aufmerksam gemacht. Luise Rinser liest Auf den Marmorklippen, Das abenteuerliche Herz und andere Werke und ist fasziniert. Angeregt von Jüngers Beschreibung einer Tigerlilie versucht sie sich selbst an der Beschreibung einer Lilie und wird dabei zur Dichterin. Horst-Günther Schnell entdeckt die literarische Qualität des Textes und ermuntert sie, ihn an Peter Suhrkamp zu schicken für eine Veröffentlichung in der „Neuen Rundschau“. Peter Suhrkamp antwortet ihr und empfiehlt ihr, weiter zu schreiben. „Die Lilie“ erscheint tatsächlich in der „Neuen Rundschau“, und Luise Rinser beginnt mit der Niederschrift von Die gläsernen Ringe. Im Sommer 1939 ist das Manuskript abgeschlossen.

Ernst Jünger ist 45 Jahre alt, als Luise Rinser ihm schreibt. Für seine Tapferkeit im ersten Weltkrieg hoch ausgezeichnet, ist er als Autor mehrerer Kriegsbücher international berühmt. Mit seinen auch von Martin Heidegger gerühmten Büchern Der Arbeiter und Die totale Mobilmachung hat er die sich vollziehende Vollendung des naturwissenschaftlich-technischen Geschicks der abendländischen Metaphysik und des ihr zugehörenden Menschenbildes eindringlich zur Sprache gebracht. Blätter und Steine (1934) enthält neben anderen kleineren Schriften auch die sprachphilosophische Betrachtung Lob der Vokale. Die 1938 erschienene zweite Fassung von Das abenteuerliche Herz versammelt 63 faszinierende, sprachlich dichte traumartig-surrealistische Texte. Und seine 1939 erschienene sprachgewaltige Erzählung Auf den Marmorklippen wird vor allem im Ausland als Warnung vor dem kulturellen Niedergang und der aufkommenden Tyrannei und Barbarei verstanden. Jünger ist seit 15 Jahren verheiratet und hat einen vierzehn Jahre alten Sohn. Auch wenn der damals noch überzeugte Nationalist Jünger 1926 dem „nationalen Führer Adolf Hitler“ ein signiertes Exemplar seines Buches Feuer und Blut übersandt hatte, entzieht er sich beharrlich den wiederholten Vereinnahmungsversuchen der Nationalsozialisten. 1933 wird sein Haus durchsucht, da er sich durch seinen Kontakt zu dem sich öffentlich gegen Hitler wendenden nationalbolschewistischen Politiker und Schriftsteller Ernst Niekisch verdächtig gemacht hat. Nach seinem Umzug aus Überlingen wohnt Jünger in Kirchhorst bei Hannover. Am 29.05.41 hatte er als Besatzungsoffizier die Exekution eines Deserteurs in Paris zu leiten, die ihn eindringlich mit der Realität des Todes und seiner Verantwortung konfrontiert.12

Der zeitgeschichtliche Hintergrund

Die Jugendbewegung hatte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dem von der zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung entzauberten Lebensgefühl die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, einem Leben in Einheit mit der Natur und Gemeinschaft entgegengesetzt. Wanderbewegungen und die Erneuerung des Volksliedgutes begleiteten diese neuromantische Strömung, die auch die Reformpädagogik nachhaltig beeinflusst hat. Nach dem ersten Weltkrieg strömten deutliche nationalistische Züge in diese ursprünglich unpolitische Bewegung ein. Die mächtige lebendige Grundbewegung, die sich nach Aufbruch und Veränderung sehnte, wurde zunehmend instrumentalisiert. Die Sehnsucht nach dem Ursprung, nach Lebendigkeit und Wandlung vermischte sich auf gefährliche, vor allem für junge Menschen nur schwer zu durchschauende und zu unterscheidende Weise mit nationalistischen und ideologischen Elementen, woraus ein Teil der Faszination des Nationalsozialismus verständlich wird. Dass das Hakenkreuz, welches die Nationalsozialisten mit sicherem Instinkt als Symbol wählten, ein in Indien, China, Japan und Tibet seit Jahrtausenden verbreitetes archaisches Symbol (Swastika) ist, das mit Aufgang, Leben, Heil, aber auch Festigkeit, Dauer und Beständigkeit in Verbindung gebracht wird, dürfte auch heute noch den wenigsten bewusst sein.13 Es ist dies aber ein sicheres Anzeichen dafür, dass die unmenschliche nationalistische rassistische Ideologie des Faschismus die irrsinnige und pervertierte Oberfläche einer mächtigen, das Leben und seine schöpferischen Wandlungen tragenden Tiefendimension darstellte, deren Anspruch zu entsprechen Aufgabe und Sinn östlicher wie westlicher Weisheitstraditionen ist. Während Ernst Jünger die Trennung institutionalisierter politischer Macht vom Existentiellen in seinem Leben und Werk bewusst vollzogen hat, erlag Luise Rinser der Verführung der Macht und war Zeit ihres Lebens – trotz ihrer ernüchternden Hafterfahrung – nicht fähig, diese Verstrickung einzusehen und einzugestehen1415Über Autobiographie schreibt, muss daher bezweifelt werden. Vielmehr gilt, was sie ebenfalls dort geschrieben hat, auch für sie selbst: „Tatsächlich sind Autobiographien oft Selbstverteidigungs-Reden vor einem imaginierten Gerichtshof, dessen Richter und Geschworene die Leser sind. Anders gesagt: Autobiographien sind öffentliche Versuche, das Portrait, das andere malen, zu korrigieren. (…) Jede Autobiographie ist Werben um Verständnis und Liebe.“