Alfred Lansing
635 Tage
im Eis
Die Shackleton-Expedition
Aus dem Amerikanischen
von Franca Fritz, Heinrich Koop
und Kristian Lutze
Ich könnte nie all den Menschen in angemessener Weise meinen Dank aussprechen, die zu diesem Buch beigetragen haben. Aber hier sind, in alphabetischer Reihenfolge, all jene aufgeführt, denen ich besonders dankbar bin:
William Bakewell aus Dukes, Michigan.
Charles W. Ferguson aus Chappaqua, New York.
Margery und James Fisher aus Northampton, England, Co-Autoren von Shackleton and the Antarctic, die mir großzügig einen großen Teil des Materials zur Verfügung stellten, das sie zur Vorbereitung ihres ausgezeichneten und gründlich recherchierten Buches über das Leben Shackletons gesammelt haben.
Charles J. Green aus Hull, England.
Commander Lionel Greenstreet aus Brixham, England, vor allem dafür, daß er mir so viele Stunden seiner Zeit opferte, mir gestattete, zwei seiner sehr ausführlichen Tagebücher zu benutzen, und viele meiner Fragen brieflich beantwortete.
Miss Evelyn Harvey aus New York City für ihre geduldige Kritik und ihren Rat.
Walter How aus London, England.
Dr. Leonard D.A. Hussey aus Chorley Wood, Hertfordshire, England, der mir viele hilfreiche Informationen gab, sowohl persönlich als auch brieflich.
Miss Joan Ogle Isaacs aus London, die mit mir zusammen viele Wochen recherchiert hat.
Dr. Reginald W. James aus Kapstadt, Südafrika.
A.J. Kerr aus Ilford, Essex, England.
James Marr aus Surrey, England, dem ich besonderen Dank dafür schulde, daß er mir das Tagebuch von Frank Worsley über die Fahrt der Caird zur Verfügung gestellt hat.
Dem Verlag The McGraw-Hill Book Company, insbesondere Edward Kuhn, Jr.
Dr. J.A. McIlroy aus Aberystwyth, Wales.
Miss Edna O’Brien aus Scarborough, New York.
Maurice T. Ragsdale aus Chappaqua, New York, der das Manuskript gelesen und mir wertvolle Ratschläge gegeben hat.
Die verstorbene Miss Cecily Shackleton, die mir vor ihrem Tod die Erlaubnis zur Verwendung des Tagebuchs ihres Vaters und vieler seiner persönlichen Unterlagen gab.
Das Scott Polar Research Institute in Cambridge, England, das mir die folgenden Manuskripte zur Verfügung stellte:
Besonders danke ich Harry G.R. King und Miss Ann M. Savours vom Scott Polar Research Institute für die vielen Stunden der Unterstützung und für ihr Interesse an diesem Projekt.
Arnt Wegger von der Framnaes-Schiffswerft in Sandefjord, Norwegen, sowie Lars Christensen, Aanderud Larsen, Mathias Andersen und vielen anderen in Sandefjord, die mir Pläne, Photographien und alle verfügbaren Informationen über die Endurance selbst besorgten und mir viele Informationen über Südgeorgien gaben.
Sir James Wordie aus Cambridge, England.
Schließlich möchte ich drei Personen hervorheben, denen ich zu besonderem Dank verpflichtet bin.
Erstens Paul Palmer aus Ridgefield, Conneticut, ohne dessen Begeisterung, Ermutigung und Hilfe dieses Buch niemals zustande gekommen wäre.
Zweitens Dr. Alexander H. Macklin aus Cults, Aberdeenshire, Schottland, dem ich gar nicht genug danken kann. Er stellte mir nicht nur seine eigenen und andere Tagebücher zur Verfügung, sondern gab mir auch einen detaillierten Bericht über die Bootsfahrt nach Elephant Island. Seine Großzügigkeit, seine Objektivität und vor allem seine Geduld über einen Zeitraum von vielen Monaten, in denen er gewissenhaft meine zahlreichen Fragen beantwortete, waren unerschöpflich.
Schließlich meiner Frau, von der ich nur sagen kann, daß ihr Beitrag über jedes Soll weit hinausreichte.
Südgeorgien ist bis heute nur von einer einzigen weiteren Gruppe durchquert worden. Fast vierzig Jahre später, 1955, besuchte ein britisches Landvermessungsteam unter der fähigen Führung von Duncan Carse die Insel. Die Gruppe bestand aus ausgezeichneten Bergsteigern und trug alles an Ausrüstung mit sich, was für ein solches Unternehmen notwendig war. Trotzdem empfanden die Männer die Zeit als große Strapaze.
Als er im Oktober 1955 vor Ort über das Gebiet schrieb, erklärte Carse, daß es für die Durchquerung zwei mögliche Routen gäbe – den »sicheren Weg« und den »riskanten Weg«.
»Der Unterschied in der Entfernung«, so Carse, »beträgt nur zehn Meilen, aber ihr Schwierigkeitsgrad ist kaum miteinander vergleichbar.
Wir bewegen uns heutzutage mit Leichtigkeit und ohne Eile fort. Wir sind gut ausgerüstet mit unseren Schlitten und Zelten und verfügen über reichlich Lebensmittel und genügend Zeit. Zwar erschließen wir unbekannte Gebiete, aber mit der Muße und den Möglichkeiten, sie gründlich zu erforschen. Wir wählen unsere Gefahren selbst und akzeptieren nur das kalkulierte Risiko. Von unserem Erfolg hängt kein Leben ab – außer unser eigenes. Wir wählen den sicheren Weg.
Sie – Shackleton, Worsley und Crean – nahmen den riskanten Weg.
Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, nur, daß sie es schaffen mußten – drei Männer des heroischen Zeitalters der Antarktisexpeditionen, mit fünfzehn Metern Seil und einem Zimmermannsbeil.«
Jeder Komfort, den die Walfangstation zu bieten hatte, wurde Shackleton, Worsley und Crean zur Verfügung gestellt. Zuerst genossen sie den herrlichen Luxus eines langen, heißen Bades, gefolgt von einer Rasur. Dann bekamen sie neue Kleidung aus dem Magazin der Station.
Nach einem ausgiebigen Essen ging Worsley noch am selben Abend an Bord des Walfängers Samson und fuhr die Küste von Südgeorgien entlang zum Peggotty Camp, wo McNeish, McCarthy und Vincent warteten. Die Samson erreichte am nächsten Morgen King Haakon Bay. Über das Zusammentreffen ist nur wenig bekannt, außer daß die drei Schiffbrüchigen Worsley zunächst kaum erkannten, weil er rasiert war und saubere Kleidung trug. McNeish, McCarthy und Vincent wurden an Bord genommen, und auch die Caird wurde aufgeladen. Am folgenden Tag, dem 22. Mai, kehrte die Samson nach Stromness zurück.
Shackleton hatte inzwischen ein großes hölzernes Walfangschiff, die Southern Sky, gechartert, um damit nach Elephant Island zurückzukehren und die dort zurückgelassene Mannschaft zu retten.
An diesem Abend wurde eine Art primitiver Empfang in einem, so Worsley, »großen, vom Tabakrauch dunsterfüllten Klubraum voller Kapitäne, Offiziere und Matrosen« abgehalten. Vier weißhaarige norwegische Skipper traten vor. Ihr Sprecher, dessen Rede Sørlle übersetzte, sagte, sie seien vierzig Jahre durch das antarktische Meer gesegelt und wollten den Männern die Hand schütteln, die es geschafft hatten, in einem offenen, sieben Meter langen Boot von Elephant Island durch die Drake-Passage nach Südgeorgien zu gelangen.
Dann erhoben sich alle Männer im Raum, und die vier Veteranen schüttelten Shackleton, Worsley und Crean die Hand und gratulierten ihnen zu ihrer Leistung.
Viele der Walfänger trugen Bärte, schwere Pullover und Seestiefel. Es gab keine Formalitäten und keine weiteren Reden. Sie hatten keine Orden zu verleihen – nur ihre tiefempfundene Bewunderung für eine Leistung, die wahrscheinlich nur diese Männer wirklich einzuschätzen wußten. Und ihre Aufrichtigkeit verlieh der Szene eine einfache, aber sehr bewegende Feierlichkeit. Von den Ehrungen, die folgten – und es waren viele –, reichte vermutlich keine an die der Nacht des 22. Mai 1916 heran, als die Walfänger des südlichen Ozeans in einem schäbigen Lagerhausschuppen auf Südgeorgien, in dem es nach Walkadavern roch, einer nach dem anderen vortraten, um Shackleton, Worsley und Crean schweigend die Hand zu schütteln.
Am folgenden Morgen, weniger als zweiundsiebzig Stunden nach ihrer Ankunft in Stromness, stachen Shackleton und seine beiden Kameraden nach Elephant Island in See.
Es war der Beginn einer unendlich frustrierenden Abfolge von Rettungsversuchen, die über drei Monate dauerten und in denen das Packeis um Elephant Island fest entschlossen schien, kein Rettungsschiff durchzulassen, damit die Schiffbrüchigen befreit würden.
Die Southern Sky stieß schon drei Tage nach ihrem Ablegen von Südgeorgien auf Eis und war knapp eine Woche später gezwungen, in den Hafen zurückzukehren. Aber innerhalb von zehn Tagen gelang es Shackleton, von der Regierung in Uruguay das Vermessungsschiff Instituto de Pesca No. 1 für einen zweiten Rettungsversuch zu leihen. Sie kroch sechs Tage später wieder nach Hause, schwer beschädigt vom Eis, durch das Shackleton sie zu treiben versucht hatte.
Ein dritter Versuch wurde mit dem störrischen Schoner Emma unternommen. In den drei Wochen, die sie auf See war, kämpfte die Besatzung nur darum, sie über Wasser zu halten; an einen erfolgreichen Rettungsversuch war überhaupt nicht zu denken. Die Emma kam nie näher als hundert Meilen an Elephant Island heran.
Inzwischen schrieb man den 3. August, fast dreieinhalb Monate, seitdem die Caird nach Südgeorgien aufgebrochen war. Mit jedem gescheiterten Rettungsversuch stieg Shackletons Besorgnis; Worsley sagte, er habe ihn noch nie so verzweifelt gesehen. Immer wieder hatte er sich an die englische Regierung gewandt, sie möge ihm ein geeignetes Schiff schicken, mit dem man das Packeis durchbrechen könnte. Dann erreichte sie die Nachricht, daß die Discovery, die Scott 1901 in die Antarktis gebracht hatte, sich auf dem Weg von England befand. Aber es würde Wochen dauern, bis sie eintraf, und Shackleton war nicht dazu fähig, untätig zu warten.
Statt dessen bat er die chilenische Regierung, den alten Schleppdampfer Yelcho für die Fahrt benutzen zu dürfen. Shackleton versprach, nicht damit ins Eis zu fahren, denn da das Schiff einen Stahlrumpf hatte, war fraglich, ob es der See und erst recht dem Packeis trotzen konnte. Der Bitte wurde stattgegeben, und am 25. August stach die Yelcho in See. Dieses Mal war das Schicksal ihnen wohlgesonnen.
Fünf Tage später, am 30. August, schrieb Worsley in das Logbuch: »5.25 Uhr. Volle Kraft … 11.10 Uhr … endlich Land in Sicht. Schlängeln uns durch Treibeis, Riffe und Eisberge. 13.10 Uhr. Camp im Südwesten gesichtet.«
Für die zweiundzwanzig Schiffbrüchigen auf Elephant Island begann der 30. August fast wie jeder andere Tag. Bei Sonnenaufgang war das Wetter klar und kalt und versprach einen schönen Tag. Aber schon bald zogen schwere Wolken auf, und es herrschte wieder einmal, wie Orde-Lees schrieb, »jene düstere Stimmung, an die wir uns schon so sehr gewöhnt haben«.
Wie immer stieg jeder von ihnen allein auf die Spitze des Aussichtsfelsens, um sich ein weiteres Mal davon zu überzeugen, daß kein Schiff in Sicht war. Inzwischen taten sie es mehr aus Gewohnheit als aus Hoffnung. Es war einfach ein Ritual, an das sie sich gewöhnt hatten; ohne Erwartung kletterten sie auf den Felsen, und ohne Enttäuschung gingen sie wieder zur Hütte zurück. Seitdem die Caird abgelegt hatte, waren vier Monate und sechs Tage vergangen, und es gab nicht einen Mann unter ihnen, der noch immer ernsthaft daran glaubte, daß sie die Fahrt nach Südgeorgien überstanden hatte. Es war jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis eine Mannschaft mit der Wills auf die gefährliche Reise nach Deception Island geschickt würde.
Nach dem Frühstück machten sich alle daran, den Schnee um die Hütte herum fortzuschaufeln. Aber am späten Vormittag herrschte Ebbe, und sie beschlossen, das Schaufeln zu verschieben, um Napfschnecken zu sammeln, die zahlreich im Wasser hinter der Bucht zu finden waren. Wally How verdingte sich als Koch und bereitete ein Mittagessen aus gekochtem Seehundrücken zu – ein Gericht, das alle sehr mochten.
Der Eintopf war etwa um 12.45 Uhr fertig, und die Männer versammelten sich in der Hütte, bis auf Marston, der auf den Aussichtsfelsen gestiegen war, um ein paar kleine Skizzen zu zeichnen.
Ein paar Minuten später hörten sie, wie er den Pfad hinunterrannte. Aber keiner schenkte dem viel Beachtung. Er war einfach zu spät zum Essen. Dann steckte er seinen Kopf in die Hütte und sprach so atemlos mit Wild, daß einige der Männer dachten, er rede Unsinn.
»Sollten wir nicht besser ein Rauchsignal setzen?« fragte er.
Einen Augenblick herrschte Schweigen; dann begriffen plötzlich alle, was Marston sagte.
»Bevor Wild noch antworten konnte«, berichtete Orde-Lees, »stürzten alle hinaus. Es war ein Gewirr von Männern, die noch ihre Dosen mit Seehundeintopf in den Händen hatten. Das Tuch vor dem Ausgang wurde sofort in Fetzen gerissen, so daß diejenigen, die nicht hindurchpaßten, durch die ›Wand‹ oder das, was von ihr übrigblieb, hinausliefen.«
Einige zogen ihre Stiefel an – andere machten sich nicht die Mühe. James streifte sein Paar verkehrt herum über.
Tatsächlich, dort war ein kleines Schiff, nur etwa eine Meile vor der Küste.
Macklin rannte zum Aussichtsfelsen und zog sich im Laufen seine Burberry-Jacke aus. Oben angekommen, band er sie an die Falleine des Ruders, das ihnen als Fahnenmast diente. Aber er konnte sie nur ein Stück weit hissen, da die Falleine klemmte. (Shackleton sagte später, als er das Signal auf Halbmast gesehen habe, sei sein Mut gesunken, weil er es als ein Zeichen dafür nahm, daß einige Männer gestorben waren.)
Hurley sammelte alles Bültgras, das er finden konnte, und goß etwas Tranöl und die zwei Gallonen Paraffin darüber, die sie noch besaßen. Er hatte Mühe, es anzuzünden, und als es endlich Feuer fing – fast mit einer Explosion –, entstanden mehr Flammen als Rauch.
Aber das machte nichts mehr aus. Das Schiff steuerte auf die Bucht zu.
Inzwischen war Wild zum Ufer gelaufen und signalisierte von dort aus den besten Anlegeplatz für ein Boot. Und How hatte eine Dose des kostbaren Zwiebacks geöffnet, den er jetzt allen anderen anbot. Aber nur wenige nahmen davon, denn selbst ein so seltener Genuß übte in diesem aufregenden Augenblick kaum einen Reiz aus.
Macklin ging zur Hütte zurück, hob Blackboro auf seine Schultern und brachte ihn an eine Stelle auf den Felsen in der Nähe von Wild, wo er den erregenden Anblick besser sehen konnte.
Das Schiff kam auf wenige hundert Meter heran und stoppte dann. Die Männer am Strand sahen, wie ein Boot zu Wasser gelassen wurde. Vier Männer stiegen hinein, gefolgt von einer kräftigen, breitschultrigen Gestalt, die sie so gut kannten – Shackleton. Ein spontaner Jubelruf ertönte. Die Aufregung am Ufer war so groß, daß viele Männer sogar kicherten.
Innerhalb weniger Minuten war das Boot nahe genug, daß Shackleton gehört werden konnte.
»Seid ihr in Ordnung?« rief er.
»Alle wohlauf!« kam die Antwort.
Wild dirigierte das Boot an eine sichere Stelle zwischen den Felsen, aber da das Boot wegen des Eises rund um die Bucht nicht landen konnte, drehte es ein paar Meter vor dem Ufer bei.
Wild drängte Shackleton, kurz an Land zu kommen, um sich die Hütte anzusehen, in der sie vier lange Monate gewartet hatten. Aber Shackleton, der zwar lächelte und sichtlich erleichtert war, schien noch immer besorgt und wollte nur schnell fortkommen. Er lehnte Wilds Angebot ab und drängte die Männer, so schnell wie möglich an Bord zu kommen.
Er mußte sie nicht zur Eile anhalten, und einer nach dem anderen sprangen sie von den Felsen ins Boot. Sie ließen Dutzende kleiner persönlicher Dinge zurück, die noch eine Stunde zuvor als unentbehrlich gegolten hatten.
Eine Ladung wurde zur Yelcho hinausgerudert, und dann eine zweite.
Die ganze Zeit über hatte Worsley gespannt von der Brücke des Schiffs aus zugesehen.
Schließlich notierte er: »14.10 Uhr. Alles in Ordnung. Endlich! 14.15 Uhr volle Kraft voraus.«
Macklin schrieb: »Ich blieb an Deck, um zu sehen, wie Elephant Island in der Ferne verschwand. … Ich konnte noch immer meine Burberry[-Jacke] in der Brise auf dem Hügel flattern sehen – sie wird dort sicher zur Verwunderung der Möwen und Pinguine weiterflattern, bis einer unserer vertrauten [Stürme] sie in Fetzen reißt.«
Der Befehl, das Schiff zu verlassen, erging um 17 Uhr. Doch die meisten der Männer hätten keinen Befehl gebraucht, weil jeder das Schiff längst verloren wußte und es an der Zeit war, die Rettungsversuche einzustellen. Niemand zeigte Furcht oder auch nur Besorgnis. Drei Tage lang hatten sie ununterbrochen gekämpft, und sie hatten verloren. Sie nahmen ihre Niederlage beinahe apathisch hin. Sie waren schlicht zu müde, um sich Sorgen zu machen.
Frank Wild, Shackletons Stellvertreter, kämpfte sich über das verbogene Deck zum Mannschaftsquartier vor, wo zwei Matrosen, Walter How und William Bakewell, in den unteren Kojen lagen. Beide waren nahe an der Erschöpfung, nachdem sie drei Tage lang an den Pumpen gestanden hatten; trotzdem war wegen der Geräusche, die das Schiff von sich gab, an Schlaf nicht zu denken.
Es wurde zermalmt. Nicht auf einen Schlag, sondern langsam, Stück für Stück. Die Kraft von zehn Millionen Tonnen Eis drückte gegen die Bordwände. Und es schrie im Todeskampf. Spant und Beplankung, die größtenteils mehr als einen Fuß dicken Balken – sie ächzten unter dem stetig zunehmenden mörderischen Druck. Und wo die Planken die Anspannung nicht mehr aushielten, brachen sie mit einem Knall wie von Artilleriefeuer. Die meisten Balken des Vorderdecks waren schon im Laufe des Tages geborsten, so daß das Deck nach oben geschoben wurde und sich je nach Zu- oder Abnahme des Drucks langsam auf und ab bewegte.
Wild steckte seinen Kopf in die Mannschaftskajüten und sagte leise: »Sie ist am Ende, Männer. Ich denke, es ist Zeit, von Bord zu gehen.« How und Bakewell erhoben sich aus ihren Kojen, nahmen zwei Kissenbezüge, in die sie ihre persönliche Ausrüstung gepackt hatten, und folgten Wild zurück an Deck.
Als nächstes stieg Wild in den winzigen Maschinenraum des Schiffes. Kerr, Zweiter Maschinist, stand am Fuß der Leiter, neben ihm Rickenson, der Erste Maschinist. Sie waren fast zweiundsiebzig Stunden unter Deck gewesen, um den Dampfdruck in den Kesseln zu halten, damit die Pumpen im Maschinenraum arbeiten konnten. Obwohl sie in dieser Zeit die Bewegung des Eises nicht wirklich hatten beobachten können, waren ihnen die Auswirkungen auf das Schiff nur allzu spürbar gegenwärtig. Auch wenn die Schiffsseiten fast überall zwei Fuß dick waren, bogen sie sich hier und da bis zu zwanzig Zentimetern nach innen. Gleichzeitig wurden die stählernen Bodenplanken kreischend zusammengepreßt, bis ihre Kanten gegeneinander stießen, nach oben gedrückt wurden und sich mit einem metallischen Knall übereinanderschoben.
Wild hielt sich nicht lange auf. »Befeuerung einstellen«, sagte er. »Sie ist am Ende.« Kerr wirkte erleichtert.
Wild wandte sich nach achtern zum Stevenrohr, wo McNeish, der alte Schiffszimmermann, und McLeod, ein Matrose, mit Deckenfetzen einen Kofferdamm kalfaterten, den McNeish am Vortag gebaut hatte, um das Eindringen des Wassers an der Stelle zu dämmen, wo Ruder und Achtersteven durch das Eis herausgerissen worden waren. Doch inzwischen stand das Wasser schon fast bis zu den Bodenplatten und floß schneller nach, als man es durch den Kofferdamm aufhalten oder abpumpen konnte. Jedesmal wenn der Druck einen Moment lang nachließ, hörte man das Geräusch von fließendem Wasser, das in den Frachtraum strömte.
Wild machte den beiden Männern ein Zeichen aufzugeben, bevor er über die Leiter aufs Hauptdeck stieg.
Clark, Hussey, James und Wordie hatten an den Pumpen gestanden, jedoch aus eigenem Entschluß aufgegeben, als sie die Nutzlosigkeit ihres Unterfangens erkannt hatten. Jetzt saßen sie auf Vorratskisten oder auf dem Deck und lehnten sich an das Schanzkleid. In ihren Gesichtern spiegelten sich die unsagbaren Strapazen der vergangenen drei Tage an den Pumpen.
Weiter vorne hatten die Schlittenführer ein großes Stück Segeltuch an der Backbordreling befestigt und eine Art Rutsche auf das Eis neben dem Schiff gebaut. Sie holten die neunundvierzig Huskies aus ihrem Zwinger und ließen sie nacheinander hinunter in die Arme auf dem Eis wartender Männer gleiten. Normalerweise hätte jede derartige Aktivität die Hunde vor Aufregung verrückt werden lassen, doch auch sie schienen zu spüren, daß etwas sehr Außergewöhnliches vonstatten ging. Weder brach ein Kampf unter ihnen aus noch versuchte auch nur ein einziger Hund auszubrechen.
Vielleicht lag es an der Haltung der Männer. Sie arbeiteten mit besonnener Eile und wechselten kaum ein Wort miteinander. Sie zeigten jedoch auch keinerlei Anzeichen von Panik. Bis auf die Bewegung des Eises und die Geräusche aus dem Schiff war die Szenerie tatsächlich relativ ruhig. Es war zweiundzwanzig Grad unter Null, ein leichter Südwind wehte. Der dämmrige Himmel war klar.
Doch irgendwo weit entfernt im Süden wehte ein Sturm in ihre Richtung. Obwohl er ihre Position wahrscheinlich erst in frühestens drei Tagen erreichen würde, ließ sich sein Nahen an der Bewegung des Eises erkennen, das sich erstreckte, soweit das Auge blickte, und noch Hunderte von Meilen darüber hinaus. So gewaltig und dick war das Packeis, daß der entfernte Druck des Windes die Eisschollen bereits zusammendrückte, obwohl der Sturm sie noch lange nicht erreicht hatte.
Die gesamte Eisoberfläche war ein Chaos aus Bewegung. Sie sah wie ein riesiges Puzzle aus, dessen Teile sich in die Unendlichkeit erstreckten und von einer unsichtbaren, aber unwiderstehlichen Macht übereinandergeschoben und zermalmt wurden. Der Eindruck titanenhafter Kraft wurde durch die Bedachtsamkeit der Bewegungen noch verstärkt. Wo zwei dicke Schollen aneinanderstießen, schlugen und knirschten ihre Kanten für eine Weile gegeneinander. Wenn dann keine von beiden ein Zeichen des Nachgebens gab, hoben sie sich langsam und oft auch zitternd, getrieben von der unnachgiebigen Kraft hinter ihnen. Manchmal verharrten sie unvermittelt, als die unsichtbare Kraft, die das Eis bewegte, rätselhafterweise das Interesse zu verlieren schien. Häufiger jedoch schoben sich die oft mehr als drei Meter dicken Schollen weiter nach oben und richteten sich auf, bis eine oder beide brachen, hinabstürzten und sich zu einem Druckgrat auftürmten.
Man hörte die Bewegung des Packeises – die Grundgeräusche, das Ächzen und Jammern der Schollen, begleitet von einem gelegentlichen dumpfen Aufprall, wenn ein schwerer Block in sich zusammenbrach. Doch darüber hinaus schien das Packeis über ein schier grenzenloses Repertoire an Geräuschen zu verfügen, von denen viele in nichts an Eismassen unter Druck erinnerten. Manchmal hörte man einen Lärm wie von einem riesigen Zug mit quietschenden Achsen, der unter großem Geklapper und Gepolter umherrangiert wurde. Gleichzeitig blies eine gigantische Schiffspfeife, begleitet von krähenden Hähnen, dem Dröhnen einer entfernten Brandung, dem leisen Brummen eines Motors in weiter Ferne und den klagenden Schreien einer alten Frau. In den seltenen Ruhephasen, wenn die Bewegung des Packeises für eine Weile nachließ, trieben gedämpfte Trommelwirbel durch die Luft.
In diesem Universum aus Eis waren die Bewegung und der Druck nirgendwo intensiver als bei den Schollen, die das Schiff attackierten. Auch hätte seine Position nicht ungünstiger sein können. Eine Scholle war fest gegen den Bug auf der Steuerbordseite geklemmt, eine weitere drückte weiter achtern gegen dieselbe Seite, eine dritte preßte von Backbord gegen den Rumpf, so daß das Eis drohte, den Rumpf mittschiffs zu zerbrechen. Mehrmals neigte sich das ganze Schiff nach Steuerbord.
Weiter vorn, wo sich die schlimmste Angriffswelle konzentrierte, wurde das Schiff vom Eis überschwemmt. Es schichtete sich höher und höher gegen den Bug, während der Rumpf jede neue Welle abwehrte, bis die Brocken sich über das Schanzkleid türmten, auf Deck krachten und das Schiff noch tiefer drückten, so daß es den gegen seine Flanken pressenden Schollen noch schutzloser ausgeliefert war.
Das Schiff reagierte auf jede neue Druckwelle anders. Manchmal zitterte es nur kurz wie ein Mensch, der von einer stechenden Schmerzattacke erfaßt wurde. Dann wieder würgte es in einer Reihe zuckender Stöße, begleitet von Schmerzensschreien, wobei die drei Masten heftig vor und zurück federten, so daß die Takelage sich spannte wie die Saiten einer Harfe. Doch als am quälendsten empfanden die Männer die Momente, in denen das Schiff wie eine riesenhafte Kreatur würgend nach Luft zu ringen schien, während seine Flanken unter dem erstickenden Druck bebten.
Es bäumte sich auf wie ein gewaltiges Untier im Todeskampf, ein Anblick, der die Männer mehr als alle anderen Eindrücke aus jenen letzten Stunden entsetzte.
Bis 19 Uhr waren alle wesentlichen Ausrüstungsgegenstände auf das Eis herabgelassen worden, auf einer großen festen Scholle auf der Steuerbordseite hatte man ein Behelfslager errichtet. Die Rettungsboote waren schon am Vorabend abgelassen worden. Als sie über die Reling auf das Eis stiegen, empfanden die meisten Männer eine ungeheure Erleichterung, das dem Untergang geweihte Schiff zu verlassen, und wohl kaum einer unter ihnen wäre freiwillig an Bord zurückgekehrt.
Trotzdem wurden einige Unglückliche zurückbeordert, um diverse Gegenstände zu bergen. Einer von ihnen war Alexander Macklin, ein untersetzter junger Schiffsarzt, der auch Führer eines Hundeschlitten-Gespanns war. Er hatte seine Hunde gerade unweit des Lagers angebunden, als er den Befehl erhielt, zusammen mit Wild an Bord zurückzukehren, um Holz aus dem vorderen Laderaum des Schiffes zu holen.
Die beiden Männer waren gerade aufgebrochen und hatten das Schiff fast erreicht, als sich beim Lager ein großes Geschrei erhob. Die Scholle, auf der die Zelte aufgeschlagen worden waren, brach. Wild und Macklin eilten zurück. Die Hunde wurden angespannt und Zelte, Vorräte, Schlitten und die komplette Ausrüstung eilig auf eine andere, knapp hundert Meter entfernte Scholle verlegt.
Als der Umzug erledigt war, schien das Schiff kurz vor dem endgültigen Untergang, so daß die beiden Männer sich beeilten, an Bord zu kommen. Sie bahnten sich einen Weg zwischen den Eisblöcken, die sich auf dem Vordeck türmten, und öffneten eine Luke, die in die Vorpiek hinunterführte. Die Leiter war aus ihrer Verankerung gerissen worden und zur Seite gefallen, so daß sie sich in die Dunkelheit hinabhangeln mußten.
Der Lärm im Innern war unbeschreiblich. Das halbleere Schott verstärkte jeden brechenden Bolzen und jede berstende Planke wie ein riesiger Resonanzkasten. Die beiden Männer standen nur wenige Schritte von den Bordwänden entfernt und konnten hören, wie das Eis von außen dagegendrückte.
Sie warteten, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Was sie dann sahen, war schrecklich. Die aufrecht stehenden Stützen gaben nach, die Querbalken über ihnen drohten jeden Moment einzubrechen, als ob das Schiff in einen riesigen Schraubstock gespannt worden wäre, der langsam zugedreht wurde, bis es dem Druck nicht mehr standhalten konnte.
Das Holz, das sie bergen sollten, war in den stockfinsteren Nischen der seitlichen Spantfächer im Schiffsbug verstaut, so daß sie durch ein querschiffs verlaufendes Schott kriechen mußten. Sie sahen, daß das Schott sich ausdehnte, als würde es augenblicklich platzen und das gesamte Vordeck zum Einsturz bringen.
Macklin zögerte einen Moment. Wild spürte seine Angst und rief ihm über den Lärm des Schiffes hinweg zu, daß er bleiben solle, wo er war. Dann stürzte er sich in die Öffnung und begann ein paar Minuten später Macklin die Bretter anzureichen.
Die beiden Männer arbeiteten in fieberhafter Eile, doch ihr Tun schien kein Ende zu nehmen. Macklin war sich sicher, daß sie das letzte Brett nie rechtzeitig von Bord befördern würden. Doch schließlich tauchte Wilds Kopf wieder in der Öffnung auf. Sie hievten das Holz an Deck, wo sie lange wortlos stehen blieben und das kostbare Gefühl der Sicherheit genossen. Später vertraute Macklin seinem Tagebuch an: »Ich glaube nicht, daß ich je in meinem Leben ein derartig widerwärtiges Gefühl der Angst erlebt habe wie im Laderaum dieses berstenden Schiffes.«
Eine Stunde nachdem der letzte Mann von Bord war, durchbrach das Eis die Bordwände. Zuerst wurden sie von scharfen Speerspitzen durchbohrt, die klaffende Wunden rissen, durch die ganze Eisblöcke und Schollenstücke eindrangen. Vom Mittschiff an vorwärts wurde alles von den Eismassen begraben. Die gesamte Steuerbordseite des Deckhauses war mit solcher Wucht eingedrückt worden, daß einige leere, auf Deck gelagerte Benzintonnen durch die Wand des Deckhauses bis halb auf die andere Seite des Schiffes geschoben worden waren und das große gerahmte Bild, das an der Wand gehangen hatte, vor sich her getragen hatten, wobei das Glas aus irgendeinem Grund heil geblieben war.
Nachdem das Lager eingerichtet war, kehrten einige Männer zurück, um das Wrack zu betrachten, das ihr Schiff gewesen war. Doch es waren nicht viele. Die meisten drängten sich in ihren Zelten, durchgefroren, müde und fürs erste gleichgültig, was ihr weiteres Schicksal anging.
Doch es gab einen Mann, der das allgemeine Gefühl der Erleichterung darüber, das Schiff verlassen zu haben, nicht teilte – zumindest im tieferen Sinne nicht. Er war ein stämmiger Mann mit einem breiten Gesicht und einer kräftigen Nase, der mit einem leichten irischen Akzent sprach. Bei der Räumung des Schiffes hatte er sich mehr oder weniger abseits gehalten, während Ausrüstung, Hunde und Mannschaft von Bord geschafft worden waren.
Sein Name war Sir Ernest Shackleton, und die siebenundzwanzig Männer, die unter seinen Augen so ruhmlos ihr angeschlagenes Schiff verlassen hatten, waren die Mitglieder seiner Imperial Trans-Antarctic Expedition.
Es war der 27. Oktober 1915. Der Name des Schiffes lautete Endurance. Ihre Position betrug 69° 5’ Süd, 51° 30’ West – tief im eisigen Ödland des tückischen Weddellmeeres in der Antarktis, ziemlich genau auf halber Strecke zwischen dem Südpol und dem nächsten bekannten Außenposten der Zivilisation, gut 1200 Meilen entfernt.
Nur wenige Menschen haben je eine Verantwortung getragen wie Shackleton in jenem Augenblick. Und auch wenn er sich zweifelsohne bewußt war, daß ihre Situation verzweifelt war, so kann er doch unmöglich die ihnen noch auferlegten physischen und emotionalen Strapazen und Torturen vorhergesehen haben.
Sie waren praktisch allein in den gefrorenen Meeren der Antarktis. Vor fast einem Jahr hatten sie zum letzten Mal mit der Zivilisation Kontakt gehabt. Niemand in der Außenwelt wußte, daß sie in Schwierigkeiten steckten, geschweige denn, wo sie waren. Sie hatten keine Funkgeräte, mit denen sie mögliche Retter herbeirufen konnten, und es ist zweifelhaft, ob irgendwelche Rettungsmannschaften zu ihnen vorgedrungen wären, wenn sie ein SOS hätten senden können. Im Jahr 1915 gab es keine Helikopter, Amphibienfahrzeuge, Motorschlitten oder für einen derartigen Einsatz geeignete Flugzeuge.
Ihre Notlage war also von unverhüllter, erschreckender Simplizität. Wenn sie überleben wollten, mußten sie es aus eigener Kraft schaffen.
Shackleton schätzte, daß das Schelfeis vor dem Palmer-Land – dem nächsten bekannten Landfall – etwa 182 Meilen westsüdwestlich lag. Das 210 Meilen entfernte Festland wurde jedoch weder von Menschen noch von Tieren bewohnt und bot keinerlei Aussicht auf Beistand oder Rettung.
Der nächste bekannte Ort, wo sie möglicherweise zumindest Nahrung und Schutz finden konnten, war die winzige Paulet-Insel. Sie hatte einen Durchmesser von weniger als eineinhalb Meilen und lag 346 Meilen nordwestlich jenseits des schwankenden Packeises. Dort hatte 1903, vor zwölf Jahren, die Mannschaft eines schwedischen Schiffes den Winter verbracht, nachdem ihr Schiff, die Antarctic, vom Eis des Weddellmeeres zermalmt worden war. Das Schiff, das die Männer schließlich gerettet hatte, hatte für mögliche spätere Schiffbrüchige einen Teil seiner Vorräte auf der Paulet-Insel deponiert. Es war eine Ironie des Schicksals, daß es Shackleton persönlich gewesen war, der damals mit dem Kauf jener Vorräte beauftragt worden war, die er jetzt, ein Dutzend Jahre später, selbst brauchen sollte.