Hans Günther, geboren 1941 in Łódź (Polen), war von 1980 bis 2006 Professor für Slawistik an der Universität Bielefeld. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der russischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Im Vordergrund steht die Literatur und Kultur der sowjetischen Periode von der Avantgarde bis zum sozialistischen Realismus der Stalinzeit. Langjährige Zusammenarbeit mit der russischen und internationalen Forschung über Andrej Platonow und zahlreiche Veröffentlichungen in deutscher und russischer Sprache zum Werk Platonows.
Andrej Platonow
Leben • Werk • Wirkung
Hans Günther
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4737
Originalausgabe
© Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
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Umschlagfoto: Andrej Platonow, 1938, anonym,
© Maria Andreevna Platonova
Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
eISBN 978-3-518-74835-0
www.suhrkamp.de
Leiden an der Revolution
Leben
Woronesh: Kindheit, Jugend und Revolution (1899-1918)
Revolutionärer Publizist und melancholischer Lyriker (1919-1921)
Platonow als Ingenieur für Bewässerung (1922-1926)
Vom Alptraum der Provinz zum Durchbruch als Schriftsteller (1927-1928)
Im Visier Stalins (1929-1931)
Schreiben für die Schublade, Reisen nach Turkmenistan und Rückkehr in die Literatur (1932-1936)
Die »grausam attackierende Macht« (1937-1940)
Krieg und Nachkriegszeit (1941-1951)
Werk
Schreiben als Verausgabung utopischer Energie
Frühe utopische Erzählungen (1921-1927)
Der Satan des Gedankens – Die Erforschung des Mondes – Der Ätherstrom – Die Stadt Gradow – Die Epiphaner Schleusen – Der Antisexus – Ein unerschlossener Mensch – Die Kutschervorstadt – Tschewengur
Dramen
Die Dummköpfe an der Peripherie – Der Leierkasten – 14 Rote Hütten
Satirische Texte (1928-1930)
Tsche-Tsche-O – Makar im Zweifel – Der Staatsbewohner – Zu Nutz und Frommen
Die Baugrube
Der technische Roman
Brot und Lesen – Die Heimat der Elektrizität
Das Juvenilmeer
Die glückliche Moskwa
Müllwind
Turkmenistan-Texte
Der Takyr – Dshan
Der dritte Sohn – Platonow meets Hemingway
Erzählungen über Eisenbahner
Unsterblichkeit – Das Leben in der Familie – Unter Tieren und Pflanzen
Über die Liebe
Fro – Der Fluss Potudan – Juschka
Literatur für Kinder (und Erwachsene)
Das Juligewitter – Die Kuh – Die eiserne Alte – Nikita – Die Blume auf der Erde
Kriegsprosa
Menschen, vom Geiste beseelt – Das Sterben entgelten – Aphrodite – Heimkehr
Wirkung
Das auferstandene Wort – die postume Entdeckung eines Klassikers und die Erforschung seines Werks
Rezeption in Deutschland
Rezeption in anderen Ländern
Aktuelle Repliken auf Platonow – ein fragmentarischer Ausblick
Anhang
Zeittafel
Bibliographie
Personenregister
Werkregister
Bildnachweis
Andrej Platonow ist zu Unrecht in Deutschland weniger bekannt als seine russischen Zeitgenossen Michail Bulgakow, Isaak Babel, Jewgenij Samjatin oder Michail Soschtschenko. Dabei ist er zweifellos ein Prosaiker von Weltrang. Joseph Brodsky stellt ihn auf eine Stufe mit Joyce, Musil oder Kafka, wobei er anmerkt: »Eindeutig ist ihr literarischer Rang auch seiner; doch auf diesen Höhen gibt es keine Hierarchie.« (Brodsky 1988, S. 236) Auch in Russland findet Platonow bisher nicht die Beachtung, die er verdient. Dies hängt damit zusammen, dass seine Hauptwerke dem breiten Publikum erst ab Ende der 1980er Jahre zugänglich wurden. Seine Romane Tschewengur und Die Baugrube wurden offensichtlich in der Sowjetzeit für ebenso gefährlich erachtet wie Solschenizyns Archipel Gulag. Dabei ist Platonow im Vergleich zu den genannten Autoren sehr viel »sowjetischer« und hat – als Ingenieur wie als Schriftsteller – mit großer Anteilnahme die gesellschaftliche Entwicklung seines Landes über drei Jahrzehnte hinweg begleitet. Man könnte sein Schaffen unter das Motto »Leiden an der Revolution« stellen. So gesehen lässt er sich – trotz aller Unterschiedlichkeit – vielleicht mit dem Dichter Friedrich Hölderlin vergleichen, mit dem Unterschied allerdings, dass dieser an seinem Leiden an der Französischen Revolution zerbrach, während Platonow allen Anfeindungen und Schwierigkeiten zum Trotz seinen Weg als Schriftsteller, wenn auch mit vielen Einschränkungen und Kompromissen, fortsetzte.
Platonows Romane Tschewengur und Die Baugrube bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen utopischer Hoffnung und misslingender Realisierung. Die Helden des Romans Tschewengur (1927-1928), der vom nachrevolutionären Russland handelt, stoßen bei ihrer Suche nach dem wahren Sozialismus zufällig auf die gleichnamige Stadt, in der nach der Vertreibung der Bourgeoisie angeblich das kommunistische Ideal verwirklicht wurde. Der auf Armut und Brüderlichkeit gegründete sektiererisch-anarchistische tschewengurer Kommunismus ist jedoch zum Untergang verurteilt. Auch der Roman Die Baugrube (1930), der in der Zeit der Kollektivierung der Landwirtschaft spielt, thematisiert, gewissermaßen das archetypische Schicksal des Turmbaus zu Babel wiederholend, das Misslingen eines utopischen Projekts. Der als Wohnstätte für das Proletariat geplante monumentale Turm kommt nicht zustande, und die Baugrube wird vielen Erbauern zum Grab. Platonows Werk thematisiert die sozialen Verwerfungen und menschlichen Katastrophen eines überwiegend agrarischen Landes, das für eine sozialistische Revolution im eigentlichen Sinn nicht reif war. Der Roman Tschewengur handelt von dem Scheitern im Volk verankerter Vorstellungen, die in der Revolution ein apokalyptisches Ereignis sehen, an dessen Ende ein irdisches Reich Gottes steht. Und die Baugrube schildert die Kollektivierung der Landwirtschaft als einen Vorgang, in dem mehr zerstört als aufgebaut wird. Der Autor Platonow hält indes an den Ideen der Revolution fest, da er in der durch sie in Gang gesetzten Modernisierung des Landes den einzig möglichen Ausweg aus dem Kreislauf von Armut und Hunger sieht, der ihm seit seiner Kindheit in Woronesh wohlvertraut war.
Die Revolution und der anschließende Bürgerkrieg haben ganz Russland in Bewegung versetzt und durcheinandergeschüttelt. Platonows Bruch mit der Sprache der literarischen Tradition spiegelt diesen chaotischen Prozess der Durchmischung wider. Befremdlich ist nicht nur die für Platonow typische Mischung von realistischer und allegorischer Darstellungsweise, sondern die einzigartige Sprache seiner Werke, die selbst dem russischen Leser Schwierigkeiten bereitet und eine große Herausforderung für alle Übersetzer darstellt. Ihre Besonderheit besteht, wie Joseph Brodsky bemerkt, darin, dass sich der Autor der »Sprache der Epoche unterwirft« und die »Philosophie der Sackgasse« (Brodskij 1994, S. 155) auf ihre absurde Spitze treibt. Die »Fehlerhaftigkeit« der Sprache entspringt eher dem Bestreben, den unterschiedlichen sozialen Stimmen seiner Epoche Ausdruck zu verleihen, als einem ästhetischen Kalkül. Die unnachahmliche Eigenständigkeit der Platonowschen Prosa widersetzt sich jeder schematischen Zuordnung. Gefragt, mit welchen Richtungen der russischen Literatur er sympathisiere, entgegnete er: »Mit gar keiner, ich habe meine eigene!«
Platonows Erzählung über die kollektivierte Landwirtschaft Zu Fromm und Nutzen (Vprok) erregte im Jahr 1931 Stalins Zorn. Andrej Bitow, der Vorsitzende der Kommission zur Erforschung des Nachlasses des Schriftstellers, nennt Platonow einen »unerkannten und gleichzeitig doch sofort erkannten« Genius und fügt mit sarkastischem Humor hinzu: »Was für ein genialer Kritiker war doch unser Führer und Lehrer Stalin. Keinen einzigen Genius hat er ausgelassen. Und mit fettem rotem Stift (damals gab es noch keine Marker) hat er Platonows Text mit seinem Urteil versehen: ›Dreckskerl‹!« (S, S. 12) Wie durch ein Wunder überlebt Platonow Stalins Verdikt, führt aber bis zu seinem Tod im Jahr 1951 ein Leben als Outcast am Rande der sowjetischen Literatur. Als seine lange Zeit verbotenen und damit gewissermaßen nichtexistenten Hauptwerke am Ende der Perestrojka zugänglich wurden, empfand die russische Öffentlichkeit dies als Offenbarung, da sie einen neuen, von der offiziellen Lesart abweichenden befreienden Blick auf die Sowjetära eröffneten. Verständlicherweise löste die Übersetzung von Platonows Werken auch in der DDR Ende der 1980er Jahre ein lebhaftes Echo aus.
Andrej Platonowitsch Klimentow – dies ist sein richtiger Name – wurde am 20. August 1899 als ältester Sohn in der kinderreichen Familie des Eisenbahnschlossers Platon Firsowitsch Klimentow und seiner Frau Maria Wassiljewna Klimentowa in der Jamskaja sloboda (Kutschervorstadt) von Woronesh geboren. Sein Schriftstellerpseudonym leitete er vom Vornamen des Vaters ab, den er stets hoch verehrte. Über die Kindheit Platonows ist wenig bekannt, da er, schweigsam und verschlossen, wie er war, sich selten darüber äußerte. Einige Fakten, die für das Verständnis seines späteren Werks bedeutsam sind, beleuchtet ein früher autobiographischer Text Platonows: »Ich wurde in der Jamskaja sloboda geboren, nahe Woronesh. Noch vor zehn Jahren hat sich die Jamskaja kaum von einem Dorf unterschieden. […] In der Jamskaja gab es Flechtzäune, Obstgärten, klettenbewachsene Brachen, keine Häuser, sondern Hütten, Hühner, Schuster und viele Bauern auf der großen Sadonsker Straße. Die Glocke der Tschugunnaja-Kirche war die ganze Musik der Vorstadt, die alten Frauen, Bettler und ich lauschten ihr ergriffen an stillen Sommerabenden […]. Ich vergaß zu sagen, dass ich außer dem Feld, dem Dorf, der Mutter und dem Glockenklang noch (und je länger ich lebe, umso mehr) die Lokomotiven, die Maschinen, ihr klagendes Geräusch und die schweißtreibende Arbeit liebte.« (Sočinenija 1985, Bd. 3, S. 487) Über Lokomotiven sprach Platonow stets mit großer Hingabe: »Die Lok funktioniert, und du fliegst, dir entgegen die Erde und der Himmel, und du bist der Herr über den ganzen Raum der Welt.« (V, S. 123) Das Motiv der Lokomotive, in dem auch das Marxsche Diktum über die Revolutionen als Lokomotiven der Geschichte anklingt, durchzieht das gesamte Schaffen Platonows. Im industriell schwach entwickelten Russland kommt der Lokomotive als Symbol des technischen Fortschritts eine ganz besondere Bedeutung zu. Den Zusammenhang zwischen ländlicher Rückständigkeit und moderner Technik, ein Grundthema von Platonows Werk, führt der Autor in seinem autobiographischen Text auf eindringliche Weise vor Augen: »Zwischen den Kletten, der Bettlerin, dem bäuerlichen Lied und der Elektrizität, der Lokomotive und der Sirene, die die Erde erzittern lässt, gibt es eine Verbindung, eine Verwandtschaft, beide tragen dasselbe Muttermal. Was für eines, weiß ich noch nicht, aber ich weiß, dass der ärmliche Pflüger schon morgen auf der fünfachsigen Lokomotive sitzen und den Regulator bedienen wird. Er wird als Beherrscher der Technik dastehen, so dass man ihn nicht wiedererkennen wird. Das Wachstum der Pflanze und der Wirbel des Dampfes fordern einen Mechaniker ähnlichen Typs.« (Sočinenija 1985, Bd. 3, S. 488)
Andrej Klimentow (Platonow) als Kind, nach 1900
Andrej Platonows Vater Platon Firsowitsch Klimentow und seine Mutter Maria Wassiljewna Klimentow (1927)
Viele Details aus dem Alltag von Platonows Geburtsort sind in die Erzählung Die Kutschervorstadt eingeflossen. Bei dem Woronesher Platonow-Forscher Lasunskij finden sich aufschlussreiche Hinweise zur Jamskaja sloboda, die für den jungen Andrej prägend war: »In der Jamskaja übernachteten (oder wohnten für eine gewisse Zeit) die Pilger, nachdem sie die heiligen Stätten von Sadonsk besucht hatten und nach Woronesh wanderten, um sich vor den Gebeinen des ehrwürdigen Mitrofan zu verneigen – sie kamen in dem Kloster unter, das seinen Namen trug. Andrej hörte sich gern die Erzählungen der Pilger an, die in ihrem Leben viel gesehen hatten. In den frühen Werken Klimentows-Platonows (sie sind in beträchtlichem Maß autobiographisch) tauchen häufig Gestalten von Pilgern auf – von Wallfahrern oder einfach von vagabundierenden Menschen, die es nach neuen Erfahrungen dürstet. Von Jugend an war dem Schriftsteller das Motiv des Weges, der weiten Reise nah, der ununterbrochenen Bewegung im Raum […].« (Lasunskij 2007, S. 18) In der autobiographischen Kurzgeschichte Die Pilger (Stranniki, 1920) wird die große Faszination beschrieben, die die umherstreifenden Pilger auf den jungen Mitja ausüben. Erfüllt von Sehnsucht nach der Ferne, will er in die unbekannten Gegenden und fernen Länder gehen, in die die Bettler und Wallfahrer mit ihren Bettelsäcken ziehen und »niemals nach Hause kommen«. Er beobachtet, wie sie flüsternd ihre Abende und Nächte unter dem Sternenhimmel verbringen, und denkt darüber nach, »wohin ihre Wege führen und wo das Ende der Welt ist«. (S 1, S. 262-263) Das unstete Umherstreifen entwurzelter heimat- und besitzloser Menschen ist kennzeichnend für viele Werke Platonows und stellt insbesondere ein zentrales Thema des Romans Tschewengur dar.
Woronesh. Blick auf die Tschishowskaja sloboda, Anfang des 20. Jahrhunderts (Postkarte)
Obwohl die Familie der Klimentows ärmlich lebte, erhielten alle Kinder eine gute Ausbildung. Andrej besucht die örtliche kirchliche Schule und anschließend eine kostenpflichtige städtische Knabenschule. Dann muss er im Alter von 16 Jahren als ältester Sohn bereits zum Unterhalt der Familie beitragen, arbeitet an verschiedenen Stellen u. a. als Angestellter bei der Eisenbahn und in einer Stahlgießerei. Nach der Oktoberrevolution studiert Platonow zunächst an der Historisch-Philologischen Universität von Woronesh, wechselt jedoch kurz darauf an die Elektrotechnische Abteilung des Woronesher Eisenbahn-Polytechnikums über. Zwischendurch arbeitet er als Gehilfe eines Lokomotivführers und ist an Gefechten mit konterrevolutionären Kosaken beteiligt. Die Revolution verändert Platonows Leben grundlegend: »Ich lebte und quälte mich ab, weil das Leben mich aus einem Kind in einen Erwachsenen verwandelt hatte. Vor der Revolution war ich ein Junge, und danach hatte ich nicht einmal Zeit, ein Jugendlicher zu werden, keine Zeit zu reifen, man musste eine finstere Miene machen und kämpfen […]. Ich stand damals am Scheideweg – der Geschichte und meines persönlichen Lebens: Ich war 19 Jahre alt ebenso wie das 20. Jahrhundert, ich war als Altersgenosse meines Jahrhunderts geboren, das im gleichen Takt mit meinem Lebensalter wuchs – in mir fühlte ich Jugend, die Anspannung des persönlichen Schicksals, und in der Welt war gleichzeitig Revolution.« (zit. nach Varlamov, S. 16)
»Drei Dinge haben mich im Leben beeindruckt – der weite Weg über das karge russische Feld, der Wind und die Liebe. Der weite Weg – als der Drang des Lebens, die Landschaften, die einem in der Welt begegnen, und das Umherstreifen (stranničestvo), erfüllt von lebendigem historischem Sinn. Der Wind – als Bote des unruhigen Universums, der dem unermüdlichen Wanderer ins offene Gesicht schlägt […]. Schließlich die Liebe, die Wunde unseres Herzens, die uns zu klugen, starken, eigenartigen und außergewöhnlichen Wesen macht.«
(Andrej Platonow in der Erzählung in Briefen Die einst liebten (1925); P, S. 649)
Platonow beschließt, als Journalist in den Dienst der Revolution zu treten, und beginnt im Dezember 1919 seine Tätigkeit an der Zeitung Die Woronesher Kommune (Voronežskaja kommuna), in der er zahlreiche Artikel veröffentlicht. Zudem hält er Vorträge über die Technisierung der Landwirtschaft und über proletarische Kultur und ist in der Leitung des örtlichen Verbands der proletarischen Schriftsteller aktiv. Wenig Glück hat Platonow mit seiner Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei. Wegen unzuverlässigen Verhaltens verliert er 1921 seinen Kandidatenstatus. In seinem Denken erweist sich der junge Publizist ohnehin als unabhängig. Er schreibt: »Wir sind Kommunisten, aber keine Fanatiker des Kommunismus. Und wir wissen, dass der Kommunismus nur eine Welle im Ozean der Ewigkeit der Geschichte ist. Wir sind Kommunisten unserer Natur nach, aus innerer Notwendigkeit, nicht aber aufgrund der Zugehörigkeit zur Russischen Kommunistischen Partei.« (SNI, Bd. 1/2, S. 108) In der Sowjetmacht sieht er nur eine Etappe auf dem Weg zum Kommunismus und ist überzeugt, dass die Macht bald unmittelbar auf die Massen übergehen werde, ohne auf Parteien und Losungen angewiesen zu sein. Auch nach der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik im Jahr 1921, die dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land durch begrenzte Zulassung privatwirtschaftlicher Initiative wieder auf die Beine helfen sollte, vertritt er eine eigenständige Meinung. Von einer »linken« Position aus lehnt er die von Lenin herbeigeführte Wende ab, da sie nach seiner Ansicht den Schwung der Revolution unnötig abbremse.
Die Zeitung Die Woronesher Kommune, in der Platonow zahlreiche Artikel veröffentlichte
Die publizistischen Texte des jungen Platonow zeichnen sich durch ihre außergewöhnliche Radikalität aus, die nicht selten auf heftige Ablehnung stieß. Ein flammendes pathetisches Bekenntnis zur Revolution stellt z. B. der Artikel Christus und wir (1920) dar, der auf einer klassenkämpferischen Umdeutung der Christus-Gestalt beruht. Derartige Gedanken wurden nach der Jahrhundertwende von den sogenannten »Gotterbauern« (bogostroiteli) vertreten. Diese Richtung der proletarischen Kultur, die u. a. von Maxim Gorki und Anatoli Lunatscharski, dem späteren sowjetischen Volkskommissar für Bildung, propagiert wurde, verschmolz marxistische, christliche und nietzscheanische Vorstellungen zu einer – von Lenin als häretisch bekämpften – Ideologie. Christus erscheint bei Platonow als Prophet des Zorns und der Rache, der von der Kirche fälschlicherweise zum Prediger der Demut umgedeutet wurde. Sein wahres Vermächtnis laute indes: »Das Reich Gottes wird mit Gewalt erreicht.« (SNI, Bd. 1/2, S. 27) Wie Christus die Händler aus dem Tempel vertrieben habe, so verjage das Proletariat seine Unterdrücker mit Maschinengewehren aus dem Tempel des Lebens. Nicht die hilflose himmlische Liebe, sondern der flammende Zorn des aus der finsteren Tiefe emporsteigenden Proletariats werde die »Welt und die Seele in Brand setzen« und das Reich Christi auf Erden herbeiführen.
Platonow als Gouvernements-Meliorator, 1923
»Christus stand sein ganzes Leben auf der letzten Stufe vor einem vollkommenen, nicht lebbaren Leben. Das Kreuz stieß ihn über diese Stufe hinaus – der Tote kehrte ins Leben zurück, starb erneut und verschwand, jedoch nicht wegen der Schwäche seines Körpers, sondern aus dem Übermaß an Kraft – weil das ihn erfüllende unendliche feurige Leben nicht in seinen Körper hineinpasste. Der Mensch ist der Vater Gottes. Der Mensch, das in ihm pulsierende Leben ist die einheitliche Macht des Universums vom Anfang bis zum Ende der Zeiten. Gott ist das Bild, das der Mensch mit eigener Hand gezeichnet hat in seinem Wunsch, das Leben mit der Freude des Schöpfertums zu erfüllen.« (Andrej Platonow, Über unsere Religion; zit. nach SNI, Bd. 1/2, S. 75-76)
Ein weiteres Thema, das den jungen Platonow brennend beschäftigt, ist das Verhältnis von Revolution und Sexualität. Während die Kultur der Bourgeoisie um die Frau und die Sexualität kreise, sei die soziale Revolution das »Tor zum Reich des Bewusstseins, zur Welt des Gedankens und der triumphierenden Wissenschaft«. (SNI, Bd. 1/2, S. 147) An die Stelle der betörenden weiblichen Schönheit werde der Gedanke als keusche Braut des Menschen treten. Im Reich der Zukunft werde es keine Liebe zwischen den Geschlechtern geben, da die Frau als Überbleibsel der alten Gesellschaft verschwunden, ja »vernichtet« sein werde. Ohne Zweifel hat die Lektüre von Otto Weiningers Buch Geschlecht und Charakter (1903, Übersetzung ins Russische 1907), das sich in Russland einer großen Popularität erfreute, zu Platonows damaliger gynäkophober Einstellung beigetragen. Nach Weininger verfügt die Frau als ausschließlich sexuell bestimmtes Wesen über keine kulturell schöpferischen Potenzen. Platonows rigorose Position ist nicht nur auf eine Abwehrhaltung des unerfahrenen jungen Autors gegenüber der Sexualität zurückzuführen. Vielmehr wurde in der Sowjetunion der 1920er Jahre ausführlich über die Rolle der geschlechtlichen Liebe im Sozialismus diskutiert. Einer bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Tradition der revolutionären Askese zufolge ist die Sublimierung der Libido, ihre »Verschiebung« in den gesellschaftlichen Bereich geeignet, starke soziale Energien freizusetzen. Alexandra Kollontai vertrat in dieser Debatte die Ansicht, dass der Eros die soziale Aktivität des Menschen beflügele. In Platonows literarischen Werken taucht das Thema der Sexualität in den verschiedensten Variationen auf.
Es verwundert nicht, dass Platonow, der ein Studium als Elektroingenieur absolviert hatte, sich in seinen frühen journalistischen Artikeln immer wieder Fragen des technischen Fortschritts zuwandte. Zeit seines Lebens war er der Meinung, dass der Schriftsteller im Sozialismus einen zweiten Beruf haben müsse. In Gesprächen über neue Entwicklungen der Technik pflegte er von sich zu sagen: »Ich bin ein technischer Mensch.« (V, S. 35) Als 1920 der Staatsplan zur Elektrifizierung Russlands (GOELRO) verkündet wurde, der seinen Niederschlag in der bekannten Losung fand: »Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes«, reagierte Platonow mit begeisterter Zustimmung. Er hielt Vorträge über dieses Thema und veröffentlichte eine Broschüre mit dem Titel Elektrifizierung (Elektrofikacija, 1921). Dass er seinen Gegenstand in utopischer Überhöhung darstellte, entsprach dem Geist der Zeit, der die Rolle der Technik bei der Überwindung der Rückständigkeit des Landes glorifizierte. Die Elektrizität wird nach Platonow den Menschen in ein neues Zeitalter führen und »sein inneres Wesen verändern«. (V, S. 161) Die für die Vorstellungswelt der proletarischen Kultur der Revolutionszeit charakteristische Identifizierung von Leben und Kunst kommt in der Äußerung zum Ausdruck: »Die Elektrifizierung – das ist der erste proletarische Roman, unser großes Buch im eisernen Einband. Die Maschinen sind unsere Verse, und die Arbeit der Maschinen – der Beginn unserer proletarischen Poesie, die den Aufstand des Menschen gegen den Kosmos um des Menschen selbst willen darstellt.« (SNI, Bd. 1/2, S. 167) Platonow bleibt aber nicht bei der »Poesie« der Elektrizität stehen, sondern wird sich bald an die praktische Umsetzung seiner Ideen machen. 1923 entwirft er den Plan für ein Wasserkraftwerk am Fluss Woronesh, der jedoch wegen fehlender finanzieller Mittel nicht realisiert wird.
Elektrofikacija: Titelseite der Broschüre Platonows: Elektrifizierung, 1921
Zur gleichen Zeit, als Platonow seine revolutionären Artikel veröffentlicht, offenbart seine Lyrik der frühen 1920er Jahre einen entgegengesetzten Grundzug seines Weltempfindens, der sein gesamtes literarisches Werk prägen sollte – die Melancholie. Das Russische hält dafür das schwer übersetzbare und in seinem Bedeutungsumfang sehr weite Wort toská bereit, das je nach Kontext mit Trauer, Schwermut, Melancholie, Beklemmung, Gram, Kummer, Langeweile, Sehnsucht, Weltschmerz oder Trostlosigkeit übersetzt wird und als ein Schlüsselwort des gesamten Schaffens Platonows verstanden werden kann. Die toská tritt ihm zufolge bereits im jugendlichen Alter auf: »Man spürt den Überdruss des Lebens in der Kindheit, und dem Menschen, der sechs oder sieben Jahre lang gelebt hat, scheint es letztlich, dass er sinnlos lebt und sein Herz voller Schwermut ist, aber er kennt nicht alle Worte und kann andere nicht fragen, ob sie verstehen, weshalb ihm so traurig zumute ist.« (Z, S. 269) Revolutionärer Enthusiasmus und Melancholie liegen bei Platonow in ständigem Widerstreit miteinander und durchdringen einander mitunter auf paradoxe Weise. Man könnte sogar vermuten, dass sein Engagement für die Revolution und die Entwicklung des Landes ein Ge