Eines Morgens wird Sheriff Wing zu einem kuriosen Einsatz gerufen. Ein nackter Russe wurde an einen Baum gefesselt aufgefunden, er flucht und randaliert, will aber nicht erzählen, was passiert ist. Nach und nach findet Wing heraus, dass der Russe auf Sean Duke angesetzt wurde, den jungen notorischen Troublemaker im Städtchen Ulster. Denn Duke ist in eine abseits stehende Villa eingebrochen und hat etwas gestohlen, das der Eigentümer wiederhaben will – ein russischer Oligarch, der Probleme auf Oligarchenart zu lösen pflegt. Aber auch Wing will das Problem auf seine Art lösen: er übt sich in Geduld, um die Ereignisse abzuwarten. Dagegen will sein übereifriger Deputy unbedingt rasch und hart durchgreifen, und weil er das für eine Einstellung hält, die sich auch gut in der Öffentlichkeit macht, beschließt er, bei der nächsten Wahl zum Sheriff gegen seinen Vorgesetzten Wing anzutreten. Währenddessen lassen die Russen nicht locker, und Wing gerät mit seinen Grundsätzen arg in Bedrängnis. Genaue Beobachtungen mischen sich bei Castle Freeman mit einem hintersinnigen Humor – zusammen mit einem konstant hohen Tempo machen sie den Roman zu einem unvergesslichen Lesevergnügen.

 

Nagel & Kimche E-Book

 

Castle Freeman

 

AUF DIE SANFTE TOUR

 

Roman

 

Aus dem Englischen von

Dirk van Gunsteren

 

 

Nagel & Kimche

 

Titel der Originalausgabe: All That I Have

Steerforth Press, Hanover (NH), USA

© 2009 Castle Freeman

 

 

© 2017 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Herstellung: Rainald Schwarz

Satz: Satz für Satz

ISBN 978-3-312-01024-0

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

 

Er aber antwortete und sprach zum Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten; und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist, der sein Gut mit Dirnen verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein.

 

Lukas 15:29–31

INHALT

Der Macker und der Morgenrücken

Russen in Disneyland

Sheriffsein

Das Schätzchen der Studentenverbindung

Es ist, was es ist

Dunkle Lady

Das Problem

Sheriffsein II

Kehrseite

Die Kosaken

Die Seans dieser Welt

Negativ

Sechs Karren vor dem Ethan Allen

Da war sie

Noch mehr Kosaken

Der Star

Jeder mag Honig

Eine andere Welt

Ein Erforscher der menschlichen Natur

Da war sie (wieder)

Epilog: Der Macker und das Ende

Dank

DER MACKER UND DER MORGENRÜCKEN

Am Dienstagmorgen um sieben stand Clemmie barfuß und im Bademantel an der Küchentheke und gab Milch in ihren Kaffee, als das Funkgerät krächzte. Clemmie hörte zu. Sie nahm einen Schluck Kaffee. Das Funkgerät verstummte. Clemmie wandte sich von der Theke ab.

«Was hat er gesagt? Ein Macker?», fragte sie.

Ich saß hinter ihr am Frühstückstisch. Ich sah ihren Rücken. Ihren Morgenrücken. Am Abend zuvor hatten wir uns mal wieder ein bisschen in die Haare gekriegt – nichts Ernstes, bloß ein kleines Sparringsmatch, ein Schaukampf. Trotzdem bekam ich nur ihren Rücken zu sehen. Wenn sie will, kann ihr Rücken so einladend sein wie die Nordflanke des Mount Nebo.

Die Meldung kam von Trooper Timberlake. Er war irgendwo am Ende der Welt, an der Diamond Mountain Road in Ulster, und er klang verwirrt.

«Das war Timberlake», sagte ich. «Ich werd dann mal.»

«Er hat was von einem Macker gesagt», sagte Clemmie. «Das hat er doch gesagt, oder? Was hat er damit gemeint?»

«Macker sind harte Männer», sagte ich. «So wie ich.»

«Na klar, so wie du», sagte Clemmie.

Das klang ganz gut, fand ich. Wenn ich es schaffte, die Tür ein Stück aufzustoßen, würde ich Clemmie vielleicht dazu kriegen hindurchzugehen. Ich legte noch ein bisschen nach.

«Es gibt Männer, die Macker sind», sagte ich, «und einer davon bin ich.»

«Wenn du ein Macker bist», sagte Clemmie, «ist alles ja noch viel schlimmer, als ich gedacht habe.»

Und weg war sie, hinter der Barrikade, wo sie Pflastersteine sammelte – nicht für jetzt vielleicht, aber für später. Ich trank meinen Kaffee und stand auf.

«Ich muss los», sagte ich.

«Willst du nicht erst frühstücken?», fragte Clemmie. «Iss wenigstens einen Toast.»

«Macker frühstücken nicht», sagte ich, ging zur Küchentür und nahm den Pick-up-Schlüssel vom Haken.

«Jetzt mal im Ernst», sagte Clemmie, «er hat doch was von einem Macker gesagt, oder? Was hat er damit gemeint?»

«Ich glaube nicht, dass er das gesagt hat», antwortete ich.

 

Trooper Timberlake war an der Ausweichstelle für den Schneepflug, kurz vor der Gemeindegrenze von Ulster. Ich hielt hinter seinem Wagen und konnte sehen, dass auf dem Rücksitz des Streifenwagens, hinter dem Gitter, jemand saß. Timberlake stieg aus und kam zu mir.

Timberlake war ungefähr fünfundzwanzig und wie gemacht für die State Police: mindestens eins fünfundneunzig, durchtrainiert, das Haar blond, aber so kurz geschnitten, dass die Haut durchschimmerte. Er sah aus wie das größte Baby der Welt, ein Baby, das, kaum geboren, schon einarmige Liegestütze gemacht hatte. Timberlake war, wie viele seiner Kollegen, vom Marine Corps zur State Police gekommen. Man muss nicht unbedingt der von den Toten auferstandene General Patton sein, um es dort zu etwas zu bringen, aber schaden kann es nicht.

«Der Mann war in einen Kampf verwickelt, Sheriff», sagte Timberlake. «Jemand hat ihn im Vorbeifahren gesehen und es gemeldet. Er war da drüben an einen Baum gebunden. Hat eine dicke Beule am Kopf und ein blaues Auge. Sein Arm ist auch irgendwie verletzt. Rettungswagen ist unterwegs.»

«Ihnen auch einen schönen guten Morgen, Trooper», sagte ich.

«Nicht viel aus ihm rauszukriegen», fuhr Timberlake fort. «Nur so viel ist klar: Er ist nicht aus der Gegend. Kann nicht mal Englisch – kann nicht oder will nicht. Schreit in irgendeiner Sprache herum, aus der ich nicht schlau werde. Irgendein Kauderwelsch.»

«Keine Kleider?»

«Korrekt, Sheriff. Keinen Faden am Leib.»

«Und an einen Baum gebunden?»

«Korrekt, Sheriff. An einen Baum gebunden, übel zugerichtet und splitternackt.»

«Dann wollen wir ihn uns mal ansehen», sagte ich.

Timberlake trat einen Schritt zurück, und ich stieg aus. Wir gingen zu Timberlakes Streifenwagen, auf dessen Rücksitz die Umrisse eines Mannes auszumachen waren.

«Halten Sie lieber ein bisschen Abstand, Sheriff», sagte Timberlake.

Die Hände des Mannes waren auf dem Rücken gefesselt. Er hatte eine Decke um die Schultern, deren Zipfel über dem Schoß gefaltet waren. Er war klein und mager und hatte langes, fettiges blondes Haar. Seine Haut war so bleich, als hätte er in einem Keller oder auf dem Grund eines Brunnens gelebt. Er hatte nichts an, überhaupt nichts, nicht mal Strümpfe. Als Timberlake und ich an den Streifenwagen traten, spuckte er durch das halbgeöffnete Fenster.

«Vorsicht, Sheriff, er spuckt», sagte Timberlake.

Der Nackte begann zu wüten und gegen die Lehne des Vordersitzes zu treten. Er schlug den Kopf an das Fenster. Er schrie und fluchte. Es klang, als würde man mit der Motorsäge durch einen dicken Zuckerahornstamm gehen und plötzlich auf eine eingewachsene eiserne Saftrinne stoßen.

«Was für eine Sprache ist das, Sheriff?», fragte Timberlake.

«Das ist Russisch.»

«Russisch?»

«Klar», sagte ich. «Erkennen Sie das nicht, Trooper?»

«Negativ, Sheriff», sagte Timberlake.

«Ich dachte, heutzutage bringt man euch Jungfüchsen was bei», sagte ich.

«Nicht alles, Sheriff», sagte Timberlake.

«Und wer hat das Ganze gemeldet?»

«Kann ich nicht sagen, Sheriff. Er hat keinen Namen genannt.»

«Da sind die Sanis.»

Der Rettungswagen aus Cumberland hielt hinter meinem Pick-up, und die Assistenten stiegen aus und kamen zum Streifenwagen. Sie warfen einen Blick auf Trooper Timberlakes Passagier, der ihnen unverständliche Flüche entgegenschleuderte und sich auf dem Rücksitz gebärdete wie eine wütende Schlange, und weigerten sich, ihm zu nahe zu kommen. Doch der Fahrer war ein großer, starker Bursche wie Timberlake, und zu dritt gelang es uns, dem Mann einen Sack über den Kopf zu stülpen und aus dem Wagen zu zerren. Trotzdem wäre er uns beinahe entwischt, denn er rammte dem Rettungswagenfahrer den Kopf in den Bauch, trat Timberlake dahin, wo man es am wenigsten gern hat, und rannte los, die Straße entlang. Allerdings musste er an mir vorbei, und so ging ich einen Schritt beiseite und stellte ihm ein Bein. Der Russe flog hart auf den Bauch, und dann griffen Timberlake und der Fahrer zu und waren nicht mehr sehr gut auf ihn zu sprechen. Sie packten ihn auf die Rollbahre und schnallten ihn fest, und dann schoben wir ihn in den Rettungswagen. Sie brachten ihn nach Brattleboro. Timberlakes Schichtführer sagte, an der Internationalen Schule gebe es vielleicht jemanden, der sich mit ihm verständigen könne.

 

Die Sache ist: Clemmie sagt, ich mag ihren Vater nicht. Sie hat recht. Ich mag ihn nicht. Er mag mich auch nicht – also ist alles okay, und wir sind quitt. Man muss seinen Schwiegervater nicht mögen. Und der muss seinen Schwiegersohn nicht mögen. Es ist wirklich kein Problem, aber Clemmie sieht das anders. Und dann sagt sie, ich mag ihren Vater nicht und habe ihn noch nie gemocht. Und das stimmt nicht. Ich mochte ihn. Nachdem Clemmie uns miteinander bekannt gemacht hatte, mochte ich ihn für ungefähr fünf oder zehn Minuten. So lange brauchte ich, um zu merken, dass Addison Jessup mich missbilligte, dass er fand, ich sei nicht annähernd gut genug für seine einzige Tochter, und dass ihm der Gedanke an eine Verbindung mit einem halbgaren Hinterwäldlerbullen durch und durch zuwider war – mit einem Wort: dass ihm die ganze Sache mit Clemmie und mir missfiel.

Die Tatsache, dass ich Addison eine Woche zuvor wegen Trunkenheit am Steuer einkassiert hatte, stand der Entwicklung eines herzlichen Verhältnisses wahrscheinlich ein bisschen im Weg. Aber auch das hätte nicht unbedingt ein Problem sein müssen. Für mich war es keins. Die Arbeit eines Sheriffs unterscheidet sich in mancherlei Hinsicht von der anderer Polizisten – ich werde das noch näher erläutern –, nur in einem Punkt nicht: Die Leute wollen, dass man seinen Job macht und dass man ihn nicht macht. Sie wollen, dass man seinen Job macht, aber nicht bei ihnen.

«Wenn du dich nur ein kleines bisschen bemühen würdest», sagte Clemmie. «Wenn du ihm wenigstens ein einziges Mal entgegenkommen würdest. Er ist nicht mehr der Jüngste. Es geht ihm nicht gut. Er wird nicht ewig leben.»

«Nicht?», sagte ich. «Bist du sicher?»

«Ich kann nicht auf deiner und seiner Seite sein», sagte Clemmie. «Ich stehe die ganze Zeit in der Mitte.»

«Du stehst überhaupt nicht in der Mitte», sagte ich. «Ich bin der ungebildete Hinterwäldler, der deinem Vater seine einzige Tochter, sein kleines Mädel, weggenommen hat. Das gefällt ihm nicht. Ich kann nicht machen, dass es ihm gefällt. Und du auch nicht. Hör auf, dir darüber den Kopf zu zerbrechen.»

«Er hält dich nicht für einen ungebildeten Hinterwäldler.»

«Doch, tut er. Und er hat recht.»

«Wenn er recht hat – was bin dann ich?»

«Die Frau eines ungebildeten Hinterwäldlers, würde ich sagen.»

«Genau. Verstehst du? Daran denkst du nicht.»

«Nicht?»

«Nein. Nie. Du ziehst einfach deine Bahn, wie du es immer tust, wie du es immer getan hast. Du bist dir deiner so sicher. Du siehst mich gar nicht.»

«Ich sehe dich sehr gut.»

«Nein, tust du nicht. Du siehst mich nicht. Du siehst niemanden.»

«Ich sehe dich. Ich sehe deinen Vater. Und willst du wissen, was ich da sehe?»

«Nein. Vergiss es.»

«Willst du es wissen?»

«Vergiss es einfach.»

«Wenn du willst, sag ich’s dir.»

«Nein, ich will es nicht wissen. Herrgott. Soll ich dir sagen, was ich will? Was ich mir wünsche? Ich möchte wie du sein. Lach nicht – das möchte ich wirklich. Ruhig. Gelassen. Immer im Recht. Das wäre großartig. Das würde mir gefallen, wirklich. Wie machst du das bloß? Wie bist du so geworden?»

«Ich hab einen Kurs belegt.»

In jener Nacht schlief ich auf dem Sofa, und am nächsten Morgen zeigte Clemmie mir ihren Morgenrücken. Natürlich. Wenn es nicht so gewesen wäre, hätte ich mir Sorgen gemacht. Ihr Morgenrücken hätte mir gefehlt. Was Addison von mir hielt, was ich von Addison hielt, was das für Clemmie bedeutete und was dies wiederum für mich bedeutete und wie sich das alles unaufhörlich im Kreis drehte, war für Clemmie und mich ein nie versiegender Quell reinster Freude. In diesem Revier hatten wir oft gejagt. Wir hatten viele Federn und Haare gelassen und jede Menge Pulver verschossen.

Aber mit dem Morgen kommt die Freude, wie es in der Kirche immer heißt – und wenn sie nicht kommt, kann man immer noch aus dem Haus und zur Arbeit gehen. Gott sei Dank gibt es Macker.

RUSSEN IN DISNEYLAND

Kann ich Russisch?

Nein, kann ich nicht, ebenso wenig wie Trooper Timberlake. Natürlich nicht. Mit meiner Bemerkung über seine mangelnde Ausbildung hatte ich ihn bloß ein bisschen auf den Arm nehmen wollen. Ich wollte ihn foppen. Na klar. Die Timberlakes dieser Welt muss man einfach foppen, sobald sich eine Gelegenheit bietet. Timberlake macht das nichts aus. Er ist … wie nennt man das noch, wenn einer rundherum so gepolstert ist, dass man gar nicht zu ihm durchdringt? Unverwundbar. Timberlake zu foppen ist, als würde man einem Elefanten mit dem Luftgewehr in den Hintern schießen: Er ist nicht nur unversehrt – man weiß nicht mal, ob er überhaupt was gemerkt hat.

Also: nein. Ich wusste nicht, dass das, was Timberlakes allzu spärlich bekleideter Kunde da oben am Diamond Mountain von sich gab, Russisch war. Ich wusste es nicht, und zugleich wusste ich es doch. Denn sobald Timberlake mich gefragt hatte und ich mich hatte antworten hören: «Russisch», wusste ich, dass ich recht hatte, und ich wusste auch, warum. Ein Stromkreis hatte sich geschlossen, und mit einem Mal fiel ein Licht auf einen ganz anderen Teil des Spielfelds. Ein Russe. Ein nackter Russe. Noch ein nackter Russe.

 

An dem Freitag, bevor Timberlakes Russe auftauchte, hatten wir einen automatischen Alarm aus einem Ferienhaus in Grenada bekommen. Die Benachrichtigung kam von einem privaten Sicherheitsdienst, von dem ich noch nie gehört hatte. Das war nichts Ungewöhnliches. Viele der neuen Anwesen wurden von Firmen betreut, die ihren Sitz sonst wo hatten; man hätte meinen können: Je größer und teurer das Haus, desto weiter entfernt der Sicherheitsdienst.

Das Haus, von dem der Alarm gekommen war, lag fast eine Stunde vom Sheriffbüro entfernt, aber Lyle Keen, einer meiner Deputys, fuhr an diesem Morgen in Grenada Streife, und so ließ ich ihn von Beverly anfunken und ihm sagen, er solle mal dort vorbeischauen. Dann ging ich wieder an die Arbeit. Ich hatte gerade einen strengen Brief von einem Stadtrat in Ambrose bekommen. Jemand hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass einer meiner Deputys einen Raser beinahe einen Kilometer weit bis in die Nachbargemeinde Gilead verfolgt hatte. Warum also, wollte der Stadtrat wissen, wurden die Kosten für diese Aktion der Gemeinde Ambrose aufgebürdet? Warum übernahm die Gemeinde Gilead nicht ihren gerechten Anteil? War mir eigentlich nicht klar, dass die mir bewilligten Mittel aus den Taschen der steuerlich ohnehin stark belasteten Bürger stammten? Begriff ich nicht, wie umsichtig und korrekt ich diese mir anvertrauten Mittel zu verwalten hatte? War ich nicht praktisch ein Veruntreuer, kaum besser als ein Pirat? Als Sheriff kriegt man solche Briefe, und wenn man Sheriff bleiben will, beantwortet man sie. Aber sie haben etwas Zermürbendes, so viel ist sicher.

Eine halbe Stunde später rief Beverly mir vom Funktisch zu: «Lyle ist dran. Haben Sie kurz Zeit?»

Ich nahm das Funkgerät. «Deputy?», sagte ich.

«Sheriff?», sagte Deputy Keen. Er klang, als könne er mich nicht gut hören. Unsere Funkgeräte stammen aus Armeebeständen – aus denen von George Washingtons Armee.

«Ich höre Sie gut, Deputy.»

«Können Sie mal raufkommen?», fragte Keen. «Ich bin bei dem automatischen Alarm in Grenada.»

«Was ist denn los?»

«Einbruch», sagte Keen. «Können Sie mal kommen? Das sollten Sie sich ansehen.»

«Wozu?», sagte ich. «War jemand da?»

«Nein. Das Haus ist leer. Es gibt einen Hausmeister. Ich hab ihn angerufen, er ist unterwegs. Können Sie kommen?»

«Warum?»

«Ihr Junge war mal wieder tätig», sagte Lyle. «Sie sollten es sich ansehen.»

«Mein Junge?»

«Würde ich sagen», antwortete Keen. «Ich zeig’s Ihnen. Mal sehen, was Sie davon halten.»

Deputy Keen beschrieb mir den Weg, und ich fuhr gegen elf Uhr los. Ich trat aufs Gas und schaltete die Einsatzlichter ein. «Ihr Junge», hatte der Deputy gesagt. Ich wusste, wen er meinte.

 

Als ich in Grenada von der Hauptstraße auf die kleine Nebenstraße abbog, die sich zwischen den Hügeln hindurchwindet, wurde mir klar, dass es sich bei dem Haus, zu dem ich unterwegs war, um Disneyland handeln musste.

Wenn man nachts auf der Schnellstraße am Mount Stratton vorbei nach Süden hinunter ins Tal fährt, kommt man über einen Hügel und sieht rechts in der Ferne, auf dem Bergkamm im Westen, ein hell beleuchtetes Haus. Der Besitzer muss Aktien eines Stromversorgers haben, denkt man, denn nicht nur drinnen brennen alle Lampen – nein, auch draußen sind sämtliche Flutlichter eingeschaltet. Er hat anscheinend ein ganzes Lampengeschäft leergekauft. Das Haus steht ganz allein auf dem Kamm und leuchtet im Dunkeln wie ein ganzes Stadion. Die Leute hier nennen es Disneyland.

Nach sieben, acht Kilometern auf der Nebenstraße kam ich an die Zufahrt zum Haus. Sie war mit einer Schranke versehen, wie man sie von Bahnübergängen kennt: eine Stange, die von einem Elektromotor im Torpfeiler hinauf- oder hinuntergeklappt wurde. Jetzt war die Schranke geöffnet. Jemand hatte den richtigen Code eingegeben. Manche Ferienhausbesitzer hinterlegen ihren Code beim Sheriff oder bei der Feuerwehr, aber für dieses Haus hatten wir keinen. Nie gehabt. Das fiel mir ein, als ich durch die Zufahrt fuhr.

Es war eine bemerkenswerte Zufahrt. Sie führte in einer weiten Kurve durch den Wald bergauf und dann bergab, auf einer Betonbrücke über einen Bach und schließlich noch ein Stück bergauf. Ich erinnerte mich, dass Beverly gesagt hatte, die Zufahrt sei fast einen halben Kilometer lang. Ihr Schwiegersohn arbeitete für die Firma, die das Ding gebaut hatte. Ich hatte Beverly gefragt, ob ihr Schwiegersohn ihr auch verraten habe, wie viel man für einen halben Kilometer Straße mit einer Brücke eigentlich hinlegen musste, und sie hatte «Ja» gesagt, die Zahl aber nicht nennen wollen. «Sie sind mein Boss. Wenn ich’s Ihnen sagen würde, würden Sie denken, ich bin betrunken oder verrückt oder beides. Und dann müssten Sie mich rausschmeißen.»

Die Straße endete in einer Rotunde vor dem Haus. Nach dieser Anfahrt wirkte es für ein paar Sekunden ein bisschen enttäuschend. Aber nur für ein paar Sekunden. Es bestand aus Glas und irgendeinem dunklen Holz, und anscheinend gab es zwar keine richtige erste Etage, dafür aber jede Menge Türmchen, Giebel, Balkone, Veranden und Erker. Es hörte gar nicht mehr auf.

Deputy Keens Streifenwagen stand in der Rotunde. Als ich ausstieg, trat er aus dem Haus. Er war allein.

«Ist der Hausmeister noch nicht da?», fragte ich ihn.

«Nein.»

Wir gingen nebeneinander zum Haus.

«Die Schranke war offen», sagte Keen. Er sah mich von der Seite an.

«Hab ich gesehen», sagte ich.

«Und was schließen Sie daraus?»

«Wo ist der Einbruch?», fragte ich ihn.

«Hinten», sagte er. «War wohl nicht schwer.»

«Nein?»

«Kinderleicht, Sheriff», sagte Deputy Keen.

Er führte mich um das Haus herum zu einer breiten Veranda an der Rückseite. Von hier aus überblickte man eine etwa fünf Hektar große Rasenfläche, die sich sanft abfallend bis zum Waldrand erstreckte. Links sah ich einen Tennisplatz, rechts einen Swimmingpool. Es gab sogar eine Driving Range: Auf einer kleinen Erhöhung standen vier Tees, und im Rasen steckten gelbe Fähnchen, damit man sehen konnte, wie weit man den Ball geschlagen hatte.

In einer Ecke der Veranda lagen ein paar Rollen Dachpappe, gebündelte Schindeln und diverses Werkzeug. Dort stand auch eines jener langen Gestelle, die Dachdecker brauchen, um Bleche zu biegen oder zuzuschneiden.

Deputy Keen blieb an der Glastür stehen, die von der Veranda ins Haus führte.

«Da», sagte er.

Die Tür war nicht einfach aufgebrochen, sondern regelrecht zerstört: Drinnen wie draußen war der Boden mit Glas- und Holzsplittern übersät. Neben der Tür standen aufgereiht vier Betonkübel, die mit irgendwelchen Farnen bepflanzt waren. Die Kübel waren etwa einen Meter hoch und mit Erde gefüllt – jeder wog mindestens fünfzig Kilo. Jemand hatte einen der Kübel hochgehoben und durch die Tür geschleudert. Er hatte nicht bloß die Scheibe eingeworfen, sondern die ganze Tür mitsamt der oberen Angel aus dem Rahmen gerissen.

«Scheint sich um einen Gentleman-Einbrecher zu handeln», sagte ich.

Deputy Keen sah mich an. «Das muss so ziemlich jeden Einbruchsalarm im ganzen Staat ausgelöst haben», sagte er.

«Da hatte es jemand eilig.»

«Und wen kennen wir, der es immer eilig hat?», fragte Deputy Keen.

«Da ist der Hausmeister», sagte ich.

Ein stämmiger Mann in mittleren Jahren und mit einer Red-Sox-Kappe kam die Veranda entlang auf uns zu. Ich kannte ihn nicht.

«Buster Mayhew», sagte er. Er schüttelte mir die Hand und nickte dem Deputy zu. Dann musterte er die demolierte Tür und schüttelte den Kopf.

«Mein lieber Mann», sagte er.

«Wollen Sie reingehen und nachsehen, ob was fehlt?», fragte ich ihn.

«Was?»

«Wollen Sie reingehen und nachsehen, ob was gestohlen ist?»

«Oh», sagte Buster Mayhew. «Ja. Klar. Sollte ich wohl.»

Er trat ins Haus. Der Deputy und ich folgten ihm.

Der Raum, den wir betraten, war eine Art Wohnzimmer. Es gab einen offenen Kamin und einen schönen Hartholzboden, einen riesigen Fernseher, Ledersofas und niedrige Tischchen. Abgesehen von den Glassplittern, dem Pflanzkübel und dem Farn, der in einem Haufen Blumenerde lag, war der Raum sauber und aufgeräumt. Zeitungen und Zeitschriften lagen ordentlich gefaltet auf den Tischen. Deputy Keen nahm eine der Zeitschriften und warf einen Blick darauf. Er legte sie wieder hin, nahm eine andere und zeigte sie mir. Auf dem Titelbild war ein Foto von drei üppigen jungen Damen, die vor einem Birkenhain im Schnee standen. Sie trugen große Pelzmützen und sonst nichts. Gar nichts. Sie lächelten und winkten, die drei üppigen Damen im Schnee. Und dabei machten sie nicht den Eindruck, als wäre ihnen kalt. Die Schrift auf dem Titel war russisch. Sämtliche Zeitungen und Zeitschriften waren russisch, mit diesen seltsamen Buchstaben, bei denen man erst nach einer Weile merkt, dass man kein bisschen schlau daraus wird.

«Sind das Russinnen?», fragte Deputy Keen mich.

«Sieht so aus», sagte ich.

Er wandte sich an den Hausmeister. «Wem gehört das Haus?», fragte er ihn.

«Weiß ich auch nicht so genau», sagte Buster Mayhew. «Die sind nicht oft hier.»

«Und wer ist hier, wenn sie hier sind?», fragte ich ihn.

«Ausländer. Von irgendwoher. Sie sprechen kein Englisch. Deutsche vielleicht? Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Ich glaube nicht, dass es Deutsche sind, aber ich weiß es nicht. Könnte sein. Ich weiß eigentlich gar nichts über sie. Ich sehe hier bloß nach dem Rechten.»

«Und für welche Firma arbeiten Sie?»

«Eine Hausverwaltung in Manchester.»

«Welche?»

«O’Connor.»

«Wie lange sehen Sie hier schon nach dem Rechten?»

«Gott, ich weiß nicht. Ein Jahr? Weniger? Weniger.»

«Sehen Sie sich mal um», sagte ich. «Nur zu.»

Buster Mayhew ließ uns im Wohnzimmer zurück und durchsuchte das Haus. Als wir allein waren, wandte Deputy Keen sich wieder zu mir.

«Haben Sie gesehen, dass die Dachdecker hier waren?», sagte er.

«Ich hab das Werkzeug gesehen.»

«Da stand kein Firmenname drauf.»

«Ich hab keinen gesehen.»

«Aber ich wette, ich weiß, wem es gehört», sagte er.

«Ich nicht», sagte ich. «Wem denn?»

«Timmy Russell. Wollen wir wetten?»

«Ich wette nicht so gern», sagte ich.

Mayhew erschien in der Tür. «Die waren im Haus», sagte er.

«Können Sie uns sagen, ob etwas fehlt?», fragte Deputy Keen.

«Sieht so aus, als wären Dachdecker hier gewesen», sagte Deputy Keen.

«Aber heute sind sie nicht da», sagte ich.

«Dann haben Sie ihnen den Code für die Schranke gegeben?», sagte Deputy Keen.

«Für die Schranke an der Straße. Die elektrische Schranke.»

«Haben Sie ihnen den Auftrag gegeben?»

«Und wer ist gekommen?»

«Wir kennen einen von ihnen», sagte Deputy Keen. Wieder wandte er sich zu mir. «Oder?», sagte er.

Ich wollte wieder zurück ins Büro, aber als ich in den Wagen steigen wollte, hielt Deputy Keen mich auf.

Ich sah ihn an.

«Stimmt», sagte ich.

«Vielleicht», sagte ich. «Vielleicht auch nicht.»

«Vielleicht.»

«Wie Sie gesagt haben.»

«Das mache ich», sagte ich.

«Ich werde mit ihm reden», sagte ich.

«Ach nein?»

«Die Van-Horn-Sache war gar nichts.»

«Kann schon sein», sagte ich. «Okay, Deputy, vielen Dank für Ihre Einschätzung. Und jetzt sehen Sie mal, ob Sie einen finden, der zu schnell fährt, ja?»

«Würde ich sagen.»

«In Ihrer Freizeit können Sie tun, was Sie wollen, Deputy», sagte ich.