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Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2017

Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Susanne Herbert, Andy Hartard, Amanda Mock, Rolf Degen

Gestaltung & Illustration Jörg Asselborn

Graphiken S. 60, 177, 261, 304/305, 502 Dirk von Manteuffel

Pinguin-Illustration Jörg Pelka

Umschlaggestaltung die basis, Wiesbaden, unter Verwendung eines Entwurfs von Änni Perner

Coverfotos Michael Zargarinejad

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN Printausgabe 978-3-499-63229-7 (1. Auflage 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-00108-4

www.rowohlt.de

 

Alle Seitenzahlangaben beziehen sich auf die Seitenzahlen der Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00108-4

Für Ulla

Auch Supermänner brauchen Erdung. Sie bekommen einen handlichen Koffer voller Ideen: von Superfood bis Bäume umarmen, von Superspezialisten bis Hühnersuppe, um zwischen beiden Welten mit Freude wechseln zu können, je nach Bedarf. Guten Flug!

Wenn ich als Kind hingefallen war, tröstete mich meine Mutter. Sie pustete und sprach die magischen Worte: «Schau mal, Eckart, da fliegt das Aua durchs Fenster!» Und ich habe es wirklich fliegen sehen. Sogar durch geschlossene Fenster. Mein ganzes Medizinstudium habe ich darauf gewartet, dass mir ein gelehrter Professor erklärt, warum das Aua fliegen kann. Denn ich wusste ja seit meinem vierten Lebensjahr, dass es geht. Diese Phänomene werden aber in der langen und teuren Ausbildung mit keiner Silbe erwähnt. Und je länger ich darüber nachdenke, desto beschränkter finde ich das. Ich bin heilfroh über alles, was es heute an Wissen und Möglichkeiten gibt, von der Schmerztablette bis zur Palliativmedizin. Aber manchmal braucht es nur jemanden, der dich einfach in den Arm nimmt und pustet!

Und selbst wenn ich als erwachsener Mensch irgendwann so aufgeklärt, so abgeklärt, so zynisch geworden bin, dass ich an die Flugfähigkeit von Schmerz nicht mehr glauben kann oder mag … Kurz gesagt: Es wäre dem Kind gegenüber immer noch eine unterlassene Hilfeleistung, aus Klugscheißerei NICHT zu pusten!

 

Wissen ohne Zuwendung bleibt kalt. Und Zuwendung ohne Wissen bleibt manchmal unter unseren Möglichkeiten.

 

Deshalb schreibe ich dieses Buch.

Für Sie und für alle, die außer Puste sind.

 

Ihr

Wenn es bei uns zu Hause Vanilleeis mit heißen Himbeeren gab, freuten sich alle. Nur mein Vater kommentiert das bis heute lachend mit dem immer gleichen Spruch: «Das ist doch thermodynamischer Unsinn.» Als Naturwissenschaftler ist es ihm ein Gräuel, dass man die eine Substanz erhitzt und die andere mühsam kühlt, um dann beides zusammen auf einen Teller zu tun. Gegessen hat er es trotzdem sehr gerne. Auch mit Nachschlag, selbst wenn sich die verschiedenen Temperaturzonen der Beeren und des Eises angenähert hatten – so wie die Grundsätze der Wärmelehre das vorhersagen.

Meine Mutter war und ist der Herzensmensch der Familie, sie hält alle Kontakte, Freundschaften und Planungen zusammen und weiß immer, wie es gerade wem geht. Auch am Telefon reicht ein «Hallo», und sie spürt, ob etwas los ist. Ich bin dankbar für diese beiden Prägungen. Und dafür, dass meine Eltern mich gefördert haben, einen ganz eigenen Weg zu gehen. Keiner ahnte, wohin das einmal führen würde, als ich mit acht Jahren meinen ersten Zauberkasten geschenkt bekam und anfing, Witze zu sammeln. Was ich über Täuschung und Komik von der Pike auf gelernt habe, prägt mein Denken bis heute. Genauso wie all die Jahre, in denen ich Medizin studieren und die Welt der Gesundheit kennenlernen durfte.

Von dieser Mischung leben dieses Buch und ich. Es ist anders als meine bisherigen, weil es um mehr geht als um Leber, Glück oder Liebe. Es geht ums Leben, Lachen und Weinen, um Krankheit und Heilung, Erklärliches und Wundersames und den Tod. Es ist mein persönlichstes Buch. Gesundheit – und die verschiedenen Wege zu ihr – sind mein Lebensthema.

Wir leben in einer seltsamen Übergangszeit mit vielen Umbrüchen, mit unglaublichen Möglichkeiten und gleichzeitig einem tiefen Vertrauensverlust gegenüber der Medizin. Wir können heute im Internet per Mausklick alles Wissen abrufen, und gleichzeitig geht viel Wissen darüber, was uns guttut, in der digitalen Welt und der Logik der Ökonomie verloren.

Deshalb bin ich inzwischen bescheidener geworden. Es ist unmöglich, alle Heilmethoden und ihr Für und Wider zu kennen, geschweige denn zu beschreiben. Vor Ihnen liegt das Beste, was ich Ihnen geben kann.

Ich habe viel Zeit und Mühe in die Recherche gesteckt, und ich ziehe aus allem meine persönlichen Schlüsse und Konsequenzen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Dies Buch soll ja auf Ihrem Nachttisch Platz finden, so kompakt sein, dass es ohne fremde Hilfe bewegt werden kann. Aber jeder wird etwas vermissen, ein Verfahren, eine Theorie oder einen Guru.

Ich wünsche mir, dass Sie möglichst viel aus diesem Buch schöpfen können: Einsichten, Lesefreude, Aha-Erlebnisse, Dinge zum Schmunzeln, Ideen für Ihr Leben und Orientierung im komplexen Gesundheitswesen.

 

Ich möchte Prinzipien aufzeigen, die Sie im besten Fall so noch nicht im Zusammenhang gesehen haben. Ich bin den Streit zwischen Schul- und Alternativmedizinern leid, die in endlosen

Die Texte in den Kapiteln sind unterschiedlich, mal kurz, mal lang, mal faktenorientiert, mal persönlich. Lesen Sie, was Ihnen gefällt.

Mein Freund Paul bestellt zum Beispiel immer beim Universum seine Parkplätze, fährt aber Fahrrad, was für ihn und das Universum sowieso das Beste ist. Wir kennen uns schon lange. Wir mögen uns. Und wir haben manchmal sehr unterschiedliche Sichtweisen auf die Dinge. Neulich frühstückten wir zusammen, da fiel sein Toast vom Tisch auf den Teppich – natürlich auf die Butterseite. Sofort rief er aus: «Murphy’s law!» Ich überlegte kurz und hielt dagegen: «Nee, Newton!»

Da prallten sie wieder aufeinander, unsere Weltsichten. Für ihn war der Toast ein Beleg dafür, dass ihm immer das Blödeste passiert, was überhaupt möglich ist, eben Murphys Gesetz. Ich entgegnete: «Lieber Paul, es kann gut sein, dass du so eine zentrale Figur im Universum darstellst, dass es da dunkle Mächte gibt, die sich rund um die Uhr damit beschäftigen, wie sie dir persönlich das Leben schwermachen können. Aber eine Grundannahme des wissenschaftlichen Denkens lautet: Nimm nicht mehr Dinge zur Erklärung eines Phänomens an, als du brauchst. Und mir reichen an Kräften die Rotation und die Gravitation. Der Toast hat gar keine andere Wahl, denn wenn er von der Höhe der Tischkante fällt, kann er sich nur genau ein halbes Mal drehen, bevor er auf dem Erdboden landet, und deshalb liegt er folgerichtig auf der Seite, die vorher oben war.»

Paul mochte es nicht, von mir belehrt zu werden, und grantelte: «Du immer mit deiner Wissenschaft.» Ich kam aber gerade erst in

«Dein Pech, aber was hat das mit meinem Toast zu tun?»

«Wir können ein Experiment machen, wer von uns beiden recht hat. Du lässt den Toast fallen, aber aus doppelter Höhe. Und wenn er immer noch auf der Butterseite landet, und das immer wieder, dann stimmt Murphys Gesetz.»

Widerwillig willigte Paul ein und ließ den Toast fallen. Was passierte? Dank Erdanziehung und Schwung machte die Scheibe eine ganze Drehung und landete auf der Seite ohne Butter.

Ich war so stolz und dachte, Paul wäre jetzt restlos überzeugt. Pustekuchen. Paul schrie mich an: «Gib doch zu, du hast mit Absicht die Butter auf die falsche Seite gestrichen!»

An dieser Geschichte ist vieles wahr. Jeder Mensch bastelt sich seine Weltsicht, die mal besser, mal schlechter zur Realität passt. Der Gedanke, dass es das Universum gut oder böse mit uns meint, scheint uns leichter erträglich zu sein als der, dass wir womöglich dem Universum persönlich gar nicht so wichtig sind. Wenn jemand kommt, der unsere liebgewonnenen Überzeugungen nicht teilt und in Frage stellt, fühlen wir uns schnell angegriffen statt um eine Sichtweise bereichert. Die Idee, zwischen einer hinreichenden Erklärung (Rotation, Gravitation) und darüber hinausgehenden Spekulationen (es gibt noch zusätzliche Kräfte, die da wirken) zu unterscheiden, wird uns in diesem Buch noch oft begegnen.

Kein Mensch denkt nur auf eine Art. Bei den allermeisten von uns existieren mehrere Denk- und Glaubenssysteme munter nebeneinander: das intuitive Bauchgefühl und das kühle Kopfsystem, das die Dinge systematisch hinterfragt. Ein Bauchgefühl haben wir sofort, und oft liegen wir damit richtig, vor allem, wenn es sich um einen Bereich handelt, in dem wir viel Erfahrung haben. Wenn es um

Deshalb wundern Sie sich nicht, wenn ich nicht alles nur von einer Warte aus beschreibe. Wenn ich berichte, wie es mir als Patienten und Angehörigem ergangen ist, bin ich persönlich und privat betroffen und damit automatisch weniger objektiv. Auch wenn ich von charismatischen Begegnungen erzähle, bin ich natürlich kein kritischer Beobachter von außen. Als Zauberkünstler befinde ich mich wieder in einer anderen Rolle und lasse Sie hier auch gerne hinter die Kulissen der Täuschungskunst blicken.

Wenn ich als Arzt Dinge beschreibe, halte ich mich an feste Spielregeln: Wenn ich etwas behaupte, erkläre ich auch, wie ich darauf komme. Hinter vielen flapsigen Formulierungen stecken Studien, Interviews mit Forschern und Heilern und andere Quellen.

Jeder darf die Schritte und die Resultate in Frage stellen oder mit eigenen Ergebnissen bessere Erklärungen vorschlagen. In der Wissenschaft hat keiner die Wahrheit mit Löffeln gefressen. Wir sprechen über den Stand des Wissens – und gleichzeitig über den aktuellen Stand des kollektiven Irrtums.

In diesem Sinne lade ich Sie ein, nicht immer meiner Meinung zu sein. Wir sind alle viele! In jedem gibt es verschiedene Sichtweisen und Persönlichkeitsanteile, die mal durcheinanderquatschen, mal unsicher, mal beleidigt sind oder streiten wollen. Das ist normal. Und es birgt Potenzial für Missverständnisse.

Ich habe auch einen inneren «Paul». Wenn ich schildere, was für ein Wunder ich erlebt habe, bin ich davon überzeugt, dass es «echt» war. Und Sie halten mich vielleicht für naiv und bekloppt. Rational kann ich das verstehen: Wenn mir jemand anderes dieselbe Geschichte erzählen würde, hätte ich auch sofort Nachfragen, Zweifel und würde sagen: «Anekdoten beweisen gar nichts.» Andersherum kann es passieren, dass ich an etwas überhaupt nicht glauben kann oder mag, was für Sie «echt» und Ihnen «heilig» ist.

Ursprung der Wunder

Wunder gibt es immer wieder

In diesem Kapitel geht es um Wunder und Zufälle. Wie erklärt sich das Unerklärliche? Kann man sich krank denken – und wieder gesund? Warum wirken Placebos, auch wenn man nicht an sie glaubt? Der Mensch ist weniger vernünftig, als er glaubt, was aber nicht bedeutet, dass Glauben unvernünftig sein muss. Das Irrationale kann uns Halt geben, doch auch dazu führen, dass wir an Dingen festhalten, die nicht gut für uns sind. Der Streit zwischen Schul- und Alternativmedizin ist nicht neu, sondern jeder von uns trägt zwei Seelen in der Brust – mindestens. Los geht es mit Wundern, die ich selbst erlebt habe.

«Alle warten auf Wunder, aber keiner schaut mal vor die Tür.»

Klaus Klages

Meine erste Begegnung mit einer wundersamen Heilung hatte ich in London, wo ich ein Jahr lang als Austauschstudent die dortige Medizinpraxis kennenlernen durfte. Hätte sich die Geschichte 2000 Jahre früher zugetragen, hätte sie das Zeug zum biblischen Wunder gehabt, denn eine gelähmte Frau konnte plötzlich wieder gehen. Fairerweise muss man dazusagen, dass die Lähmung nicht etwa auf einer neurologischen Tatsache wie einem durchtrennten Nervenstrang beruhte; die Symptome waren «psychogen». Früher nannte man das hysterisch.

Ein erfahrener Mediziner bekommt in der Regel schnell heraus, dass die Nerven und Muskeln nicht das Problem sind, sondern der Krampfanfall oder die Lähmung Ausdruck eines seelischen Leidens ist. Wir aber waren Anfänger und sollten die Patientin untersuchen – eine junge Frau in ihren Zwanzigern, die recht dünn war, in ihrem Bett lag und überzeugt davon war, nicht mehr laufen zu können. Wir Studenten prüften die Reflexe, die Sensibilität und die Muskelkraft im Liegen. Alles erschien so weit in Ordnung, aber sobald man versuchte, die Patientin auf die eigenen Beine zu stellen, sackte sie in sich zusammen. Nun war unter uns keiner, der sich traute zu sagen: «Steh auf und geh, aber lass das Bett hier.» Das hätte auch nichts gebracht, denn nach aller klinischen Erfahrung ist es wichtig, diese Patienten behutsam therapeutisch dahin zu führen, dass sie sich und ihrer Kraft wieder trauen. Sie sind keine Hypochonder oder

Mein zweites Aha-Erlebnis hatte ich in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in München. Vor über 20 Jahren war ich Kandidat in Jürgen von der Lippes Sendung Geld oder Liebe und führte mein damaliges Hobby vor: die Zauberei. Damals arbeitete ich noch an der Uniklinik in der Kinderneurologie. Und ich sagte in die laufende Kamera, ich würde gern Medizin und Humor verbinden, hätte aber noch keine konkreten Ideen. Daraufhin wurde ich eingeladen, mit meiner Zaubershow eine kleine Tour durch Kinderkrankenhäuser zu machen. Und bei einer dieser Shows passierte es. Alle Kinder und Jugendlichen kamen in der Turnhalle zusammen. Ich führte durch mein Programm, bei dem die Kinder mitmachen, pusten, lachen und laut zählen durften. Nach der Show kam ein Arzt auf mich zu und sagte, er müsse mir erzählen, was er beobachtet hatte: «In der ersten Reihe saß ein Junge, ich weiß nicht, ob er Ihnen aufgefallen ist. Der ist hier seit Wochen stationär, weil er mit keinem Menschen spricht. Er ist verstummt.» Diese Störung kannte ich, sie nennt sich Mutismus; obwohl neurologisch alles intakt ist, hören die Betroffenen aus innerer Not auf zu kommunizieren, entweder komplett oder selektiv. Der Arzt sagte mir: «Ich habe den Jungen beobachtet. Er hat in Ihrer Show seine Störung vergessen! Er hat einfach so mit allen anderen gelacht, Quatsch gemacht und erzählt.»

In diesem Moment war ich kurz sprachlos. Dann wurde mir klar: Nicht ich habe den Jungen geheilt, sondern die Gruppe. Ich habe vielleicht ein Umfeld geschaffen, aber das Miteinander war das eigentlich Wirksame. Die Ansteckungskraft von positiven Gefühlen, von Kunst, von Verzauberung, von Staunen und Lachen. Wo drei oder mehr versammelt sind, passiert mehr als im Eins-zu-eins-

So weit, so verständlich. Aber ich möchte nicht verschweigen, dass ich auch etwas erlebt habe, was mir bis heute unbegreiflich ist.

Der Rahmen für die unerklärlichste Erfahrung hätte nicht unfrommer sein können. Es war in Berlin, kurz nach der Wende, in einem Plattenbauviertel in Hohenschönhausen. Dort fand ein Dreitagesseminar eines amerikanischen Trainers mit indianischen Wurzeln statt. Aus beiden Teilen der Stadt strömten ungefähr 200 Suchende in die karge Mehrzweckhalle, um sich ihrer persönlichen Entwicklung zu widmen. Ich war gerade mit meinem Studium fertig geworden, steckte also in einer typischen Übergangsphase, in der ich offen für Neues war.

Ich mochte die klare Art des Trainers, grundlegende Themen des Lebens zu sortieren und uns mit viel Humor an unsere eigene Kreativität und Verantwortung heranzuführen. Wie oft in Gruppen, lernt man allein schon durch die Erkenntnis, dass Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen und mit völlig verschiedenen Lebensentwürfen im Grunde ähnliche Fragen und Marotten oder Beschwerden mit sich herumschleppen.

Am Abend des dritten Tages gab es ein Ritual, bei dem sich jeder in einem Entspannungszustand auf eine innere Reise begeben sollte. Ich kannte das Prinzip der Traumreisen aus dem Studium, wo ich Seminare in medizinischer Psychologie belegt hatte. Meine Erfahrung war bisher gewesen, dass ich sehr leicht entspannen konnte, dann aber Schwierigkeiten hatte, der Stimme des Anleitenden in die Welt der inneren Bilder zu folgen, weil ich schnell einschlief. Auf dem Turnhallenboden war es anders. Ich hatte mir fest vorgenommen, wach zu bleiben. Und das blieb ich auch, dank Walter.

Walter war ein besonderer Teilnehmer; er genoss das Privileg, ganz vorne zu sitzen, weil er von den Lippen ablas. Er war nach einem Autounfall schwerhörig geworden, auf einem Ohr wohl richtig

Er lachte ungläubig und war sichtlich ergriffen. Allen anderen fiel die Kinnlade herunter, ein Stein vom Herzen und nicht mehr viel ein. Auch der Seminarleiter und sein Team schienen bis ins Mark getroffen, denn solche Dinge erlebten sie trotz vieler Jahre Erfahrung nicht oft und nicht so unmittelbar. Walter schilderte es so, als wäre ein großer Wattepfropf, der ihn von der Welt getrennt hatte, mit einem Mal verschwunden.

Was war da passiert?

Ich weiß es nicht. Ich habe keine Veranlassung zu glauben, dass Walter sich das eingebildet hat oder gar ein williger Mitspieler war, der alle anderen überzeugen wollte. Diese Geschichte ist über 25 Jahre her, und sie hat mich nicht losgelassen. Ich ärgere mich bis heute, dass ich vor lauter Ergriffenheit nicht die Gelegenheit und Walter ergriffen habe, um in der nächsten HNO-Ambulanz einen Hörtest zu machen und seine Ärzte mit den Vorbefunden und dem neuen Befund aufzusuchen.

Ich habe in den letzten Jahren auf allen möglichen Kanälen versucht, Walter in Berlin ausfindig zu machen, aber selbst über Radioaufrufe konnte ich nicht herausfinden, was aus ihm geworden ist. Aber wer weiß, vielleicht liest er dieses Buch und meldet sich.

So verhält es sich vorerst mit dieser Geschichte wie mit vielen Fällen von Spontanheilungen oder wundersamen

Immerhin habe ich den Trainer nach vielen Jahren wiedergetroffen und befragen können. Eine ähnliche Geschichte wie mit Walter hat er in Jahrzehnten intensiver Gruppenarbeit nicht noch einmal erlebt. Immer wieder schilderten ihm aber Seminarteilnehmer, wie sich auch schwere Erkrankungen positiv entwickelt hätten. War er der Heiler? Nein, er selbst sieht sich als Werkzeug. Er habe die Gabe, Menschen zu erreichen, mit seiner Art, in ihnen Muster und Talente zu erkennen und sie ihnen zu spiegeln, und durch das, was er «Universum» oder «Gott» nennt.

Er verstand seine Seminare nicht als Entweder-oder, sondern als klares Zusatzangebot zur wissenschaftlichen Medizin. Auch wenn wir in einigen Punkten unterschiedlicher Meinung darüber sind, wie sehr Menschen ihre Krankheiten «erschaffen», hat der Trainer nie versprochen, dass alles mit den richtigen Gedanken allein wieder gut werden könne. Aber ausschließen muss man es deshalb ja auch nicht.

Drei Beispiele aus meiner Erfahrung. Kein Toter ist auferstanden, kein abgetrenntes Bein wieder angewachsen, aber dennoch reichen diese Erlebnisse aus, um mich und hoffentlich auch Sie neugierig zu machen. Was macht uns krank, was hilft beim Heilen? Welche Macht können Gedanken über den Körper haben? Und ist die Trennung von Körper und Geist nicht sowieso überholt?

Vieles, was heute möglich ist, wäre jeder Generation vor uns wie ein Wunder vorgekommen. Der Kirchenvater Augustinus sagte vor 1600 Jahren: «Wunder geschehen nicht im Widerspruch zur Natur, sondern nur im Widerspruch zu dem, was uns über die Natur

Wunder wirken Wunder. Wir haben viel über die Verbindungen zwischen Gefühlen, Gehirn und Hormonen, über unser Abwehrsystem und unsere Selbstheilungskräfte gelernt. Aber vieles ist nach wie vor unklar. Und selbst wenn wir alles verstehen würden, stünde uns bei genauerer Betrachtung der Mund offen angesichts dessen, was menschenmöglich ist.

Die Kraft des Staunens, des Erwartens, des Wunderns löst wundersame Dinge in uns aus, in alle Richtungen. Diese Kräfte nicht ernst zu nehmen, sie nicht näher zu untersuchen und sie vor allem nicht systematisch positiv für die Gesundheit zu nutzen, war ein großes Versäumnis der akademischen Medizin der letzten 100 Jahre. Wir können mehr Magie und Wissenschaft wagen, das muss kein Widerspruch sein.

Was Menschen in Deutschland glauben
(sofern man an Umfragen glaubt)

52 Prozent glauben, dass es Wunder gibt.

54 Prozent glauben, dass es etwas Göttliches gibt (alte Bundesländer).

23 Prozent glauben, dass es etwas Göttliches gibt (neue Bundesländer).

38 Prozent glauben, manchmal in die Zukunft zu sehen.

33 Prozent hatten gefühlt schon mit Verstorbenen Kontakt.

26 Prozent glauben, dass eine schwarze Katze Unglück bringt.

24 Prozent glauben an Wiedergeburt.

23 Prozent glauben, dass die Zahl 13 Unglück bringt.

13 Prozent wähnen «magische Kräfte» in sich, z.B. heilende Hände.

Zum internationalen Vergleich:
77 Prozent der US-Amerikaner glauben, dass Aliens die Erde besucht haben (Umfrage von 2012, also vor Donald Trump).

Hinfallen. Aufstehen. Krone richten. Weitergehen.

Wie tief das magische Denken in uns allen steckt, zeigte mir meine Patentochter. Marie tanzte mit vier Jahren durch das Wohnzimmer und stieß mit dem Schienbein gegen den Couchtisch. Das tat weh, aber sie tanzte weiter. Auf dem Rückweg hielt sie an dem Tisch, haute ihn einmal kräftig mit der flachen Hand und sagte ganz streng: «Mach das nicht noch mal, du blöder Tisch!»

Als Erwachsener denkt man: Ach, wie niedlich, die glaubt also noch daran, dass alle Dinge eine Seele haben. Aber dieser kindliche Glaube bietet psychologisch enorme Vorteile: Die Schuldfrage war sofort geklärt! Marie war mit sich im Reinen, der Tisch war schuld. Sie hatte ihr Gesicht gewahrt und konnte unbeschwert von Selbstvorwürfen weitertanzen.

Wie hätte ein Erwachsener reagiert? Er wäre gegen den Tisch gedonnert, hätte sich erst mal auf das Sofa gesetzt und sich selbst bemitleidet: «Ach, heute ist nicht mein Tag, ich hatte gleich so ein komisches Gefühl, ich sollte nicht einfach so durch das Wohnzimmer tanzen, ich bleibe besser hier sitzen, esse Chips und schau mir in der Glotze das Fernsehballett an.» Das finde ich viel unvernünftiger, als auf den Tisch zu hauen und mit Freude weiterzutanzen.

Magisches Denken kann uns motivieren. Und auch schützen. Wenn sich ein Gebüsch bewegte, war es evolutionär sinnvoll, dahinter ein böses Tier zu vermuten und sich in Sicherheit zu bringen. Mal war es ein böses Tier, mal aber auch nur der Wind. Wenn sich ein Vorhang im Schlafzimmer bewegt, vermuten Kinder eher einen Einbrecher oder einen Geist als den Wind. Ältere Kinder

Eltern wissen: Die einfache Erklärung «Monster gibt es nicht» zieht bei Kindern nicht. Sie glauben vielmehr ihrer Phantasie und sind nicht davon abzubringen, dass sich nachts fürchterliche Wesen unter ihrem Bett verstecken. Dann kommt der lösungsorientierte Papa, sägt die Beine des Betts ab und sagt: «So, Kind, jetzt kann da gar kein Monster mehr sein!» Doch in der nächsten Nacht versteckt sich das Monster hinter dem Vorhang. Man unterschätze nie die Kraft der Phantasie!

Besser als die vernünftige Argumentation funktioniert ein Spray, das die schauerlichen Monster verjagt und von phantasiebegabten Eltern entwickelt wurde. Mit dem Monsterschreckspray erfanden sie eine Einschlafhilfe, die mit natürlichen Inhaltsstoffen von Orange, Limette und Lavendel in Kombination mit elterlicher Zuwendung gut funktioniert. Das Etikett leuchtet im Dunkeln, das Kind bekommt gegen seine diffuse Angst etwas Konkretes in die Hand und sprüht dem Monster direkt ins Gesicht oder dorthin, wo es sich versteckt. Danach riecht es gut, Lavendel ist tatsächlich schlaffördernd, eine runde Sache. Das Prinzip bleibt aber auch im Erwachsenenalter gültig: Was hilft gegen Ohnmacht? Etwas machen, egal was. Hauptsache, man wird aktiv. Magie und Macht haben

Gegen unsichtbare Gefahren helfen am besten sichtbare Handlungen. Eine Flasche reicht für 700 Sprühattacken, also bis zur Pubertät. Dann kommen andere Sprays. Und andere Monster.

Viele Phänomene sind schlicht zu komplex, um sie zu beeinflussen – das hören auch Erwachsene nicht gerne. Schutzlos ausgeliefert sind wir dem Wetter, manchen Krankheiten und der Willkür der Deutschen Bahn. Deshalb gibt es für alle drei Bereiche eine Fülle von Beschwörungen, Gegenzaubern und Apps.

Wir amüsieren uns gerne über «primitive» Völker, die trommeln, damit es regnet. Und was macht der aufgeklärte Deutsche? Er sagt: «Ich nehme besser mal einen Schirm mit, denn wenn ich einen Schirm dabeihabe, regnet es garantiert nicht!» Glauben Sie ernsthaft daran, dass die Wolke die Fähigkeit hat, in Ihre Tasche zu schauen, nach dem Schirm zu suchen und sich dann aus freien Stücken zu entscheiden, weiterzuziehen und woanders abzuregnen? Also, mir erscheint Trommeln genauso plausibel.

Wie magisch Menschen ticken, erlebt man auch beim Würfeln. Wer eine hohe Zahl braucht, schüttelt den Becher gern mit viel Kraft und so lange, bis der Würfel gar nicht mehr weiß, was von ihm erwartet wird. Jeder hat dabei so seine «Tricks», die «immer funktionieren», also fast immer oder, um genau zu sein: nicht öfter als der Zufall. Am ekligsten finde ich die Angewohnheit, in den Würfelbecher zu spucken. Da kann man froh sein, wenn sich am Ende des Kniffelabends nicht mehr Würfel im Becher befinden als zu Beginn. Der Würfel hat kein Gedächtnis. Der Zufall auch nicht. Aber wir. Und deshalb merken wir uns die Male, bei denen unser Trick geklappt hat.

Wenn man beim Segeln eine Flasche Bier aufmacht, kippt man den ersten Schluck nicht in die eigene Kehle, sondern über Bord, damit die Götter der Meere auch etwas davon haben und einem gnädig gestimmt sind. Wenn das Boot anfängt zu schwanken, hofft man, dass das am eigenen Alkoholpegel liegt und nicht an einem aufziehenden Unwetter. Was Neptun und andere Meereswesen von

Auch ein befreundeter Raucher erzählte mir von einem lustigen magischen Ritual: «Immer wenn ich auf den Bus warten muss, mache ich mir eine Zigarette an, denn dann kommt der Bus schneller.»

Das erinnert an Winnetou. Wahrscheinlich sieht der Busfahrer drei Ecken weiter die aufsteigenden Rauchzeichen und gibt seinem Gefährt die Sporen. Offenbar hat auch die Bahn von diesem Ritual gehört und daraufhin diese Raucherbereiche auf den Bahnsteigen eingeführt. Alle, die in dem magischen gelben Quadrat stehen und dabei gelbe Finger und gelbe Zähne bekommen, sollen gleichzeitig kollektive Rauchzeichen in den Himmel schicken und damit die zeitige Ankunft des nächsten ICE beschwören. Aber Vorsicht: Wenn Sie aus Versehen die Zigarette am Filter anzünden, kommt der Zug in umgekehrter Wagenreihung!

Babys lernen bereits im Mutterleib, ohne dass man sie dazu auffordern muss. Wie auch …? Sie prägen sich die Stimme der Mutter ein, ihre Vorlieben für bestimmte Gewürze und haben sogar die Fähigkeit, so abstrakte Dinge wie Muttersprache und Fremdsprache zu unterscheiden. Angeboren? Nein, was das Kind durch das Fruchtwasser an Worten und Melodien aufgeschnappt hat, reicht, damit es sich nach der Geburt auch einem Lautsprecher zuwendet, aus dem seine «eigene» Sprache von einer unbekannten Stimme zu hören ist.

Angeboren ist nur das Muster, nach dem wir uns Wissen aneignen: Wir basteln uns unser Weltbild nach der Wahrscheinlichkeit, mit der Dinge zusammengehören. Ein Kind muss annehmen, dass ein Sinnzusammenhang besteht, wenn bestimmte Wörter zeitgleich mit bestimmten Situationen auftauchen. Immer wenn Mutti auf den wuscheligen, bellenden Mitbewohner zeigt, sagt sie «Hund». Und auch, wenn Papa auf das Tier zeigt, sagt er «Hund». Das muss also ein

Wir finden es süß, wenn sich Kinder mit einer Annahme vertun. Wenn sie zum Beispiel davon ausgehen, dass Windräder den Wind machen. Schließlich haben sie ja beobachtet, dass es immer windig ist, wenn sich die Räder drehen. Aber mal ehrlich: Auf dem Niveau bewegen sich auch die meisten Analysen von Kursgewinnen.

Kinder lernen, indem sie ständig «Verschwörungstheorien» aufstellen, also Vermutungen, wie die Dinge gesteuert werden, die um sie herum passieren. Ihre Welt ist erst einmal magisch und beseelt. Und sie testen ihren Einfluss auf den Lauf der Dinge, genauer gesagt, wann jemand angelaufen kommt. Babys finden sehr schnell raus: Schreien wirkt. Und mit den Jahren wird es ausgeklügelter.

Kurz vor Ostern erlebte ich mit Maries Bruder Carl einen ähnlichen Fall. Die Mutter hatte Schokoladenosterhasen gekauft und gut versteckt, damit sie der Osterhase am Sonntag noch mal verstecken konnte. Doch Carl war dem Osterhasen zuvorgekommen, hatte das Versteck der Mutter heimlich ausgeräumt und sein eigenes unter dem Sofa angelegt. Am Sonntagmorgen lief seine Mutter etwas kopflos durch die Gegend, weil ihr Überraschungsplan nicht recht aufging. Erst beim Verstecken der anderen Süßigkeiten stieß sie unter dem Sofa auf den Schokoladenosterhasen. Der war inzwischen ebenfalls kopflos. Carl stand daneben und wusste nicht, was ihn jetzt erwartete. Die Mutter zog den Resthasen hervor und fragte den Dreijährigen: «Weißt du, wie das passiert ist?» Er sah sie lange an und sagte: «Vielleicht ein Erdbeben?»

«Für mich gibt es nur entweder – oder. Entweder voll oder ganz.»

Toni Polster

Wo stehen Sie? Haben Sie sich schon entschieden? Anscheinend teilt sich die Welt der Gesundheit und der Medizin in zwei große Lager: die Schulmedizin und die Alternativmedizin. Im Gesundheitswesen tobt ein Glaubenskrieg, und die Frage, zu welchem Lager man gehört, scheint vielen wichtiger zu sein als die Frage, ob man evangelisch oder katholisch, Schalke- oder Bayernfan ist. Beim Abendessen mit Freunden kippt schnell die Stimmung, sobald die Rede auf heiße Themen wie Impfen, Gluten oder Globuli kommt. Dann rette sich, wer kann.

Dabei gibt es nicht die Schulmedizin, ebenso wenig die Alternativmedizin. Zwei Ärzte sind grundsätzlich nie derselben Meinung. Zwei Heilpraktiker auch nicht. Ein Arzt für Psychosomatik denkt ganz anders als ein Mikrobiologe. Beide sind wichtig, wenn es um Magenbeschwerden geht. Ein Naturheilkundler, der den Kreislauf mit Kniegüssen anregt und hilft, mit Tipps für einen gesünderen Lebensstil Krankheiten zu verhindern, hat mit jemandem, der Irisdiagnostik betreibt oder mit Bioresonanzapparaten hantiert, nichts gemeinsam. In Lagern zu denken, ist Unsinn und hilft niemandem weiter.

Schulmedizin oder Alternativmedizin – was steckt hinter diesen Begriffen, die unser Denken prägen?

«Schulmedizin» ist seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Kampfbegriff, der ursprünglich von Vertretern der Homöopathie geprägt wurde, ein Schimpfwort, das sich so etabliert hat, dass der

Daraus wird gern geschlussfolgert, dass alternativ gleichbedeutend sei mit einer Entscheidung für oder gegen etwas. Und «natürlich» ist immer besser als «unnatürlich». Kann sein, muss aber nicht. Wenn ich zu viele naturbelassene Schimmelpilzsporen esse, kann ich daran sterben. Wenn ich die gleiche Menge Legosteine aus künstlichem Plastik esse, kommen die Steine auf natürlichem Weg wieder heraus, ohne dass sie Schaden anrichten. Es tut höchstens ein bisschen weh. Wenn zwei sich streiten, lohnt sich die Frage: Gibt es noch eine dritte Möglichkeit? Meine Antwort: Ja.

Denn eine therapeutische Frage, die mich immer wieder in ihrer schlichten Direktheit begeistert, lautet: Wer genau hat das Problem? Die meisten Menschen zögern nicht, sich das Beste aus beiden Welten zu organisieren. Zu dem einen Arzt geht man, wenn man etwas hat. Zum anderen, wenn einem etwas fehlt. Wenn ich Gemüse möchte, gehe ich nicht zum Metzger. Wenn ich reden will, nicht zum Radiologen. Röntgenärzte kommen mit zwei Sätzen durch 40 Berufsjahre: «Tief einatmen» und «Nicht atmen». Wer «Weiteratmen» sagt, ist Internist. Oder Atemtherapeut. Jedenfalls gehört er zu einer ganz anderen Gruppe.

Es ist kompliziert geworden, sich in der Medizin zurechtzufinden, und der Mensch liebt einfache Erklärungen. Manchmal gibt es die, oft leider nicht. Der berechtigte Vorwurf der Wissenschaft gegenüber ist, dass sie sich von den Bedürfnissen der Menschen entfernt hat und eine statistische Wahrscheinlichkeit nichts über einen konkreten Einzelfall aussagt. Das stimmt beides. Und genau dieser Frust ist der Motor für eine Gegenbewegung, die nicht von «oben», sondern von «unten» kommt, die nicht mit abgeleiteten Gesetzen und

Die Auswirkungen dieser Vertrauenskrise erlebe ich in meinem direkten Umfeld. Die Tochter von Bekannten hat seit langem einen tastbaren Knoten in der Brust, der wächst. Aber ihre Ablehnung der Medizin sitzt so tief, dass sie sich strikt weigert, auch nur eine Diagnostik vornehmen zu lassen. Stattdessen setzt sie auf «Energiebehandlungen». Sie riskiert damit ihr Leben. Wenn es sich tatsächlich um Brustkrebs handeln sollte, hätte dieser je nach Befund und Stadium gute Heilungschancen.

Die «Schulmedizin» hat viele von uns offenbar derart vor den Kopf gestoßen, dass sie nicht mehr als Segen, sondern als Bedrohung wahrgenommen wird. Die Patienten gehen lieber dorthin, wo mehr zugehört, mehr berührt und mehr versprochen wird – in die schillernden Gefilde der Alternativmedizin, wo sich alles von seriösen Naturheilkundlern bis zu esoterischen Pendlern tummelt. Wie alt ist dieser Streit eigentlich? Seit wann gehen Magie und Medizin getrennte Wege?

Mich hat als Student die Vorlesung Geschichte der Medizin fasziniert. Ich staunte, dass die alten Ägypter schon wussten, dass Leber gegen Augenleiden half (durch das darin enthaltene Vitamin A). Und dass sie Ameisen als «Teststreifen» für eine Urinprobe nutzten: Bei Zuckerkranken verweilten die Insekten länger. Intelligenter, als den Finger reinzuhalten und abzuschlecken.

Ich fand es beruhigend, dass die Geschichte der Medizin immer

Auch die Magenspiegelung entstand aus einem Geistesblitz heraus, der sich in einer Weinstube in Freiburg im Jahre 1868 ereignet haben soll. In der Universitätsstadt fand eine Tagung von Medizinern statt. Was machten die abends? Natürlich einen trinken gehen. Unter ihnen war Adolf Kußmaul, einer der vielseitigsten Mediziner seiner Zeit. Es trat fahrendes Volk auf, und unter den Akrobaten befand sich auch ein Schwertschlucker. Kußmaul dachte sich: Wenn ein Mensch ein Schwert durch seine Speiseröhre bis in den Magen schieben kann, ohne sich zu verletzen – warum nicht auch ein Rohr einführen, um damit in den Magen zu gucken? Er lud den Schwertschlucker aus der Weinstube in die Klinik ein. Die Grundidee der Magenspiegelung war geboren!

Die Psychotherapie hat ebenfalls magische Wurzeln. Friedrich Anton Mesmer war zunächst Arzt in Wien und führte später «magnetische» Kuren durch. Bis heute gibt es im Englischen den Begriff «to mesmerize», wenn man jemanden verzaubert, hypnotisiert oder begeistert. Mesmer glaubte an eine unsichtbare Lebensenergie im Körper. Er behandelte im Jahr 1774 eine junge Patientin, die an Zahn- und Ohrenschmerzen litt, indem er Stahlmagnete bedeutsam über ihrem Körper hin und her bewegte. Für eine Weile verschwanden die Symptome. Mesmer löste damit bei den Patienten viel

Die Kunst des Schwertschluckens: Vorsichtig am Kehlkopf vorbei durch die Speiseröhre mit der Schwertspitze bis an den Boden des Magens. Beim Applaus nicht verbeugen, bevor das Schwert wieder raus ist.

Die beste Geschichte für mich als Freund der Komik ist aber die Entdeckung der Narkose! Wieder gab es keine systematische Forschung – entscheidend waren Gaukler. Sie experimentierten zur

Krankheiten zu heilen, ist nicht immer möglich, aber im Leidenlindern sind wir heute viel besser als jemals zuvor. Der Siegeszug der Morphine als effizienter Schmerzmittel begann in der deutschen Provinz, in Paderborn. Jahrtausendelang wurde zuvor rohes Opium verwendet, um Schmerzen zu mindern, aber da die Konzentrationen in der Mohnpflanze stark schwanken, war die Anwendung mit hohen Risiken verbunden, von Wirkungslosigkeit bis Tod durch Atemstillstand war alles möglich. Der Apothekergehilfe Friedrich Wilhelm Sertürner isolierte 1804 nach vielen Versuchen die Grundsubstanz und nannte sie nach Morpheus, dem Gott des Traumes, Morphin.

Mit dem Morphin lag erstmals ein hochwirksamer pflanzlicher Arzneistoff in Reinsubstanz vor. Und seine Gewinnung war der Beginn der Pharmaindustrie, denn bis dato stellte jeder Apotheker seine Präparate selbst her. Aber die Nachfrage nach Morphium und seinen Ablegern stieg rasant und gab der industriellen Herstellung von Fertigpräparaten enormen Aufschub. Übrigens: Als der Firma Bayer zeitgleich die neuen Substanzen Heroin (ein Abkömmling des Morphins) sowie Aspirin angeboten wurden, entschied sich die Geschäftsleitung, Heroin in die Apotheken zu bringen – als Hustenmittel. Aspirin dagegen lehnte sie zunächst ab. Es war ihr zu gefährlich.