Für
Betty Barnes
Miss Isobel Seton vergrub das Kinn im Kragen ihres Zobelmantels und entwarf, wie sie es in Momenten großer Anspannung gewöhnlich tat, im Geiste einen gepfefferten Brief. Ihre Lippen bewegten sich leise, während sie nach einem guten, kraftvollen Anfang suchte.
Sehr geehrte Herren Abercrombie & Fitch,
ich bin von Ihrer angeblich so renommierten Firma gnadenlos betrogen worden. Letzte Woche kaufte ich in Ihrem Geschäft ein Paar Ski für die Summe von fünfundsiebzig Dollar. Dabei vertraute ich dem Manne, der mich beriet, an, daß ich noch nie auf Skiern gestanden habe. Aber er versicherte mir, das sei alles nur eine Sache gebeugt gehaltener Knie. Falls dieser Mann typisch für Ihr Team ist, na, dann kann ich nur sagen, dem möchte ich mal die Knie beugen …
»Zu persönlich«, murmelte Miss Seton selbstkritisch in ihren Kragen. »Ich muß knapper sein.«
Meine Herren,
per Hundeschlitten sende ich Ihnen ein Paar Ski zurück, für das ich am vierzehnten Januar unüberlegterweise fünfundsiebzig Dollar bezahlt habe. Ich finde, Ihre Angestellten müßten der Allgemeinheit gegenüber mehr Verantwortung zeigen und nicht einfach an jedermann Ski verkaufen, der danach fragt. Es macht mir, nachdem {6}ich zehn Jahre lang in New York gelebt habe, ja nichts mehr aus, hemmungslos betrogen zu werden, aber gegen den Mangel an Bürgerverantwortung habe ich sehr wohl etwas.
Bloß weil einer Ihrer unverantwortlichen Angestellten mich nicht daran gehindert hat, mir ein Paar Ski zu kaufen, sitze ich hier in etwas, das diese verdammten Kanadier Schneebus nennen, was bedeutet, daß ein Bus einen an einem Schneezug abholt und einen zu einem Schneehotel befördert. Und hier sitze ich nun, verraten und verkauft in der Wildnis von Quebec inmitten eines rasenden Schneesturms. Meine Nase ist rot, ich bin fünfunddreißig – kein Alter für Zugeständnisse –, ich habe Hunger, der Busfahrer hat Pickel im Genick, die Fenster sind dichtgefroren, und ich sitze zusammengepfercht mit diversen anderen Unglücklichen, von denen keiner die Umsicht besessen hat, etwas Alkoholisch-Belebendes mitzubringen …
»Bei Gott«, murmelte Miss Seton, »und ob ich persönlich werden will!«
Auf der Bank hinter ihr nahm das Flitterwochenpärchen den Streit wieder auf, den sie auf dem Bahnhof in Montreal begonnen hatten. Die Stimme der Frau war laut, aber den Tränen nahe.
»Flitterwochen auf Skiern! Warum nicht gar auf dem Motorrad? Oder in einem U-Boot?«
»Aber mein Engel«, sagte der Mann, »aber Maudie!«
»Zum Teufel mit dem Engel«, zischte Maudie.
»Aber …«
»Zum Teufel auch mit dir!«
Miss Seton, ihrerseits just in einer Bausch-und-Bogen-Verdammnis befangen, verspürte einen Hauch Mitleid. Sie {7}bewegte ihr Ohr ein ganz klein wenig näher an die Oberkante der Sitzbank heran.
»Dies sind die schlimmsten Flitterwochen, die ich je hatte, Herbert«, klagte Maudie. »Sieh dir doch bloß diese Leute an, mit denen ich mich hier abgeben muß. Sieh dich doch bloß mal um, Herbert.«
Miss Seton schrumpfte wieder in ihren Zobel, während Herbert sich vermutlich umsah.
»Diese Sportskanonen«, fuhr Maudie fort. »Ich wette, die können’s gar nicht abwarten, bis sie ihre Vitamine kriegen.«
»Vitamine«, meinte Herbert vorsichtig, »sind doch ganz in Ordnung.«
»Mit Tom die Riviera, mit dem armen Jack die Bermudas, und ein Schneebus mit dir, Herbert. Also, weiter sag ich nichts – das spricht für sich selbst.«
Unter dem Vorwand, sich in eine bequemere Stellung zu räkeln, manövrierte Miss Seton ihren Kopf so, daß sie die Oberkante der Lehne in Augenhöhe hatte.
Herbert tat, als sei er angelegentlich damit beschäftigt, die Landschaft zu bewundern, obgleich die Scheiben wie Milchglas waren. Selbst unter Seelenqualen trug sein Gesicht den Stempel der Gutmütigkeit. Es war dick und rosig, wie frisch gescheuert, und schien unentschlossen, ob es weinen oder lachen sollte. Er trug eine Schirmmütze aus Cordsamt, die Kopf und Ohren bedeckte.
Ich wette, der ist kahl wie ein Ei, dachte Miss Seton und wandte ihre Aufmerksamkeit Maudie zu.
Maudie schniefte in ein feuchtes, halbgefrorenes Taschentuch. Miss Seton warf einen raschen Blick in ein winziges, tränenüberströmtes Gesicht mit großen, traurigen blauen Augen und auf ein paar blaßgoldene Haarsträhnen, {8}die unter dem weißen Pelz ihrer Anorakkapuze hervorlugten. Anscheinend hatte Maudie irgendwann in letzter Zeit durchaus nichts gegen Skiflitterwochen einzuwenden gehabt, denn sie hatte keine Mühe gescheut, sich so elegant wie möglich herauszuputzen. Ihr Skianzug war aus hellblauem Wildleder, auf dem weißer Pelzbesatz sprießte.
Tief beschämt über ihren Zobelmantel und ihren Sally-Victor-Hut, lächelte Miss Seton Herbert zu und zog den Kopf ein. Über das Heulen des Windes hinweg hörte sie Herberts hoffnungsvolle Stimme: »Siehst du, Maudie? Ich wette, die da ist nicht voller Vitamine.«
»Die ist voller Backpflaumen«, sagte Maudie entschieden.
Miss Seton war zutiefst befremdet von dieser Ungerechtigkeit. »Ich hab keine Backpflaumen mehr gegessen, seit ich vor fünfzehn Jahren das Internat verlassen habe«, murmelte sie vor sich hin. »Fünfzehn Jahre, o mein Gott!«
Sie war durch diesen Gedanken so deprimiert, daß sie neuerlich die Stellung wechselte. Diesmal rückte sie in ihrem Sitz geschickt nach vorn. Es war weit schwieriger, etwas von dem aufzuschnappen, was das Paar vor ihr sagte. Wenn sie überhaupt etwas sagten, so geschah es im Flüsterton. Gewöhnlich war es der Mann, der redete, und das Mädchen blickte ihn nicht mal an. Sie fummelte an ihrer Handtasche herum oder schob die Hände abwechselnd in ihre Jackentaschen hinein oder wieder heraus.
Ihre nervösen Bewegungen paßten gar nicht zu der ruhigen Unnahbarkeit ihres Gesichtsausdrucks oder zu der Nonchalance, mit der sie ihren abgeschabten Skianzug trug. Sie hatte die Kapuze zurückgeschoben, und der hellrote Stoff ließ ihr Haar blauschwarz erscheinen und ihr Gesicht geradezu totenmaskenweiß.
{9}Möcht mal wissen, warum die so blaß ist, dachte Miss Seton und wandte wiederum den Kopf, um die Gepäckablage zu begutachten, wo die Skier des Mädchens verstaut waren. Die Skier sahen ebenso vielbenutzt aus wie der Skianzug und waren einmal, so schätzte Miss Seton, teuer gewesen. Neben den Skiern stand die Reisetasche des Mädchens auf der Ablage, und auch die schien irgendwie fehl am Platze. Sie war sehr neu und sehr billig.
Ihr Name war Paula, wußte Miss Seton. Der Mann sagte den Namen nämlich so oft, als fasziniere ihn schon allein der Name, ungeachtet der Tatsache, daß er zu dem Mädchen gehörte. Obwohl er flüsternd sprach, klang er verärgert.
»… daß es dir leid tut, Paula.«
Das Mädchen zuckte nur die Achseln und erwiderte nichts. Miss Seton zog eilends den Hutschleier von den Ohren und beugte sich noch ein wenig weiter vor. Aber der Wind war wieder stärker geworden und ließ die Fensterscheiben klappern. Als er sich endlich wieder ein wenig gelegt hatte, redete der Mann über Christianias und Stemmbögen. Seine Stimme war jetzt lauter, und er wandte den Kopf herum und bedachte Miss Seton mit einem langen, kalt starrenden Blick. Miss Seton errötete und bückte sich, um eine imaginäre Laufmasche in ihrem Strumpf in Augenschein zu nehmen.
»Was für eine wild dreinblickende Kreatur«, sagte sie zu sich selbst. »Vermutlich von Werwölfen gesäugt.«
Sie betrachtete sein Profil mit neu erwachtem Interesse. Es war ein schroffes Profil, über dem ein Strohdach aus sehr kurz geschnittenem roten Haar saß. Das einzige Nichtschroffe an dem jungen Mann waren seine Augenwimpern. Die waren lang und gebogen, und er schämte {10}sich ihrer wohl sehr, wie Miss Seton aus der Heftigkeit schloß, mit der er damit zwinkerte.
Miss Seton zog sich in ihren Pelzkragen zurück und schrieb ihm einen Brief.
Lieber Mr. Werwolf,
ich habe keine Backpflaumen mehr gegessen, seit ich vor fünfzehn Jahren das Internat verlassen habe. Dies mag zwar unerheblich erscheinen, aber ich wollte Ihnen eine Vorstellung meiner derzeitigen Geistesverfassung vermitteln. Ich habe soeben Ihre Augenwimpern betrachtet und finde sie hinreißend. Übrigens, sind Sie verheiratet? Ich bin gar nicht so schlecht. Ich habe braunes Haar und braune Augen. Ich bin fünfunddreißig und habe ein bescheidenes Einkommen …
»Nein, ich kann ihm doch schließlich keinen Antrag machen«, murmelte Miss Seton träumerisch.
Der Werwolf war sowieso viel zu jung und wahrscheinlich auch gerade im Begriff, Paula zu heiraten oder sich von ihr scheiden zu lassen. Nichts sonst konnte der Grund sein für die Heftigkeit seines Blickes, befand Miss Seton – außer er war Kommunist! Vielleicht gehörte er aber auch einfach nur zum intensiven Typ der Jugend, im Gegensatz zu der seit Geburt gelangweilten Variante wie etwa dem Mädchen dort schräg gegenüber.
Das Gepäck dieses anderen Mädchens war auffällig neu, auffällig teuer und auffällig etikettiert: ›Miss Joyce Hunter, Westmount, Quebec‹. Wie die tränenreiche Maudie und die unnahbare Paula war sie zum Skilaufen gekleidet. Sie trug einen Anzug aus weißem Grenfelltuch, und über den Kragen ihres Anoraks wuchsen drei schwarze, glänzende Locken, ebenso gelangweilt und makellos, wie Joyce selbst es war.
{11}Joyces Makellosigkeit war jedoch lediglich visuell. Reden konnte das Mädchen, soweit Miss Seton wußte, nämlich nicht. Während der ganzen Fahrt hatte sie in makellosem Schweigen dagesessen, hatte gelegentlich verhalten gegähnt, den Blick über die anderen Passagiere des Busses schweifen lassen, jedoch ohne das leiseste Anzeichen von Interesse. Angesichts solch tödlicher Langeweile wurde Miss Seton selber schläfrig, und sie schloß die Augen, um sie allerdings rasch wieder zu öffnen, als Joyce die ersten Worte ihres Tages äußerte.
»Verdammt und zugenäht, Paps«, sagte sie. »Ich hab mir einen Fingernagel abgebrochen.«
Also ist der Mann neben ihr ihr Vater, dachte Miss Seton tief befriedigt. Ihre Vermutung hatte sich lediglich auf die Tatsache gestützt, daß Mr. Hunter väterlich aussah. Sein Haar war weiß, und er hatte einen gequält besorgten Gesichtsausdruck, so als lechze er danach, freundlich zu seiner Tochter zu sein, und wisse nicht, wie er es anfangen sollte. Es stimmte Miss Seton froh, festzustellen, daß seine Skier ebenso glänzend und unbenutzt waren wie ihre eigenen, daß auch er Zivilkleidung trug und daß er nicht besonders glücklich schien, sich in einem Schneebus wiederzufinden.
»Genaugenommen«, sagte Miss Seton leise vor sich hin, »sieht ja keiner von uns besonders glücklich aus. Ich dachte immer, Skiläufer wären ein heiteres Völkchen, immerfort singend und sich gegenseitig auf den Rücken klatschend.«
Vielleicht kam ja das Klatschen später, nachdem sie alle ein paar Christianias hinter sich hatten, aber sehr rosig waren die Aussichten nicht. Mal angenommen, Herbert klatschte den Werwolf, da war es doch denkbar, daß der {12}Werwolf seinerseits Herbert geradewegs in den Himmel klatschte. Und angenommen, sie selbst klatschte Joyce …
Sie blickte an dem makellosen Hunter-Profil vorbei und begegnete Mr. Hunters Blick. Er schien mit elterlicher Intuition zu spüren, daß Miss Seton wenig schmeichelhafte Gedanken über seine Tochter hegte. Er runzelte leicht die Stirn und wandte den Kopf ab.
»Joyce«, sagte er.
Joyce blinzelte mit langen, schwarzen Augenwimpern, um anzuzeigen, daß sie ihren Namen erkannte.
»Joyce, geht’s dir gut? Nicht zu kalt?«
Joyce blinzelte neuerlich, um anzuzeigen, daß dem so war oder nicht so war, und wen scherte das schon. Miss Seton lächelte Mr. Hunter leise und maliziös an und schloß die Augen. Und sie schrieb ihm eine kurze Note:
Lieber Mr. Hunter,
es fehlt Ihnen an Festigkeit und an Sexappeal. Falls Sie sich nicht imstande sehen, diese Eigenschaften aufzubauen, würde ich mich glücklich schätzen, Ihnen dabei behilflich zu sein. Lebt übrigens Ihre Frau noch? Ich habe braunes Haar, braune Augen und ein bescheidenes Einkommen …
»Ich geh schon wieder zu weit«, sagte Miss Seton selbstkritisch. »Fünfunddreißig ist wirklich ein gefährliches Alter.«
In der Reihe hinter ihr schneuzte sich Maudie die Nase und fing wieder von vorne an.
»Ich weiß, du bist dreiundvierzig, Herbert. Ich weiß, du hast fast zwanzig Pfund Übergewicht, und du wolltest schon immer Skilaufen, und wenn du es jetzt nicht lernst, dann lernst du es nie. Das weiß ich ja alles. Aber ich kann da nur sagen: Na und?«
{13}»Aber du hast doch gesagt, du wolltest gerne mitkommen, Maudie«, verwahrte sich Herbert. »Und du hast gesagt, du warst noch nie in Quebec.«
»Na und?« In Maudies Stimme schwang grimmige Zufriedenheit, als ob sie genau die passende Antwort gefunden hätte und willens wäre, sie auch fortan zu benutzen. »Na und, Herbert?«
»Du hast gesagt, das wäre bestimmt irgendwie gemütlich, Maudie, bloß wir zwei, vor einem offenen Feuer.«
»Na, dann mach doch das offene Feuer«, fauchte Maudie unheilschwanger.
»Das kommt schon noch.«
»Wir sind aber schon um Stunden verspätet.«
»Eine Stunde«, entgegnete Herbert schwach.
»Stunden.«
»Eine Stunde.«
»Ich bin auf Ihrer Seite, Herbert«, murmelte Miss Seton vor sich hin. »Eine Stunde.«
»Stunden!« kreischte Maudie. »Mich eine Lügnerin nennen – damit kommst du mir nicht ungeschoren davon!«
»O ja, kommt er wohl!« wisperte Miss Seton in ihren Kragen.
Selbst in Joyce Hunter glomm Interesse auf. Träge bewegte sie den Kopf, ließ den Blick über Maudie und Herbert und Miss Seton gleiten und wandte sich wieder ab.
»Paps, Zigarette.«
Mr. Hunter konnte gar nicht schnell genug gehorchen. Er fummelte in den Taschen seines Tweedmantels und förderte ein Zigarettenetui und einen Anzünder zutage.
»Nein«, sagte Joyce.
Maudies Einfluß machte sich wohl bemerkbar, denn: »Was – nein?« schrie Mr. Hunter gereizt.
{14}»Paps!«
»Entschuldigung, Liebling.«
»Mag die Sorte nicht.«
»Entschuldigung. Ich hab bloß diese.«
Joyce seufzte und nahm ihre Betrachtungen des Nichts wieder auf. Mr. Hunter versuchte, mit der bloßen Hand ein bißchen Eis vom Fenster zu schmelzen. Miss Seton sah den riesigen Rubin auf seinem Mittelfinger und dachte: Bei meinem bescheidenen Einkommen zu …
Sie schlief ein, den Kopf gegen das rüttelnde Fenster gelehnt, und kalte Zugluft fuhr ihr den Nacken hinunter.
Von seinem Sitz hinter den Hunters beobachtete Mr. Anthony Goodwin, wie Miss Setons Kopf tiefer und tiefer rutschte und schließlich auf ihrer Brust ruhte. Mr. Goodwin war von jener tiefen Bitterkeit erfüllt, wie nur ein Schlafloser sie beim Anblick eines schlummernden Mitmenschen empfinden kann. Mr. Goodwins Geist gärte nur so vor verworrenen Urworten: »Gott. Schlaf. Tod. Ruhe. Hölle.«
Und mitnichten war Mr. Goodwins Körper einem Schneebus besser angepaßt als sein Geist. Da war nicht genügend Platz für seine langen, fahrigen Gliedmaßen. »Eingepfercht, eingezwängt, eingekerkert, eingejocht«, brummelte Goodwin vor sich hin, »verknittert, verfroren, verkrampft, vergnatzt.« Als er seine Beine ausstreckte, knallte er mit dem Knöchel heftig gegen die steinkalte Heizung, die an den Sitz vor ihm montiert war. Als er sich zurücklehnte, um den Kopf abzustützen, rutschte ihm der Hut über die Stirn. Schließlich nahm er den Hut ab, schob mit einem Ruck die Beine unter seinen Sitz, schloß die Augen und versuchte, es Miss Seton gleichzutun. Aber während Miss Setons Körper dem Holpern des Busses {15}nachgab wie ein erfahrener Reiter, ruckelte Mr. Goodwin vor und zurück und klammerte sich verzweifelt an der Armlehne seines Sitzes fest, und an noch etwas anderem, an etwas, das sich so sanft und geschmeidig anfühlte wie die Hand einer Frau.
»Also, Herzchen«, sagte die Besitzerin dieser Hand, »wenn Sie einen kleinen Ringkampf wollen, bitte sehr, mir ist es recht.«
Mr. Goodwin riß seine Hand weg, legte den Kopf nach hinten und schnitt eine Grimasse zum Dach des Busses hinauf. Dann vollführte er mit seinen langen Armen eine wilde Entschuldigungsgeste.
»Na, hören Sie mal, Sie brauchen doch nicht gleich durchzudrehen. Mein Name ist Morning. Miss Gracie Morning. Und Ihrer?«
Mr. Goodwin hatte gegenüber Miss Morning Abwehrstellung bezogen, seit sie in den Bus gestiegen war. Sie hatte in der Tür gestanden und alle Passagiere fröhlich und unbefangen angelächelt. Und dann, getrieben von dem Schicksal, das seit Jahren an Mr. Goodwins Fußstapfen haftete, hatte sich Miss Morning ihn auserwählt, hatte sich förmlich an seine Beine geklammert und sich neben ihm niedergelassen, mit einer Schachtel Pralinen, einem Exemplar Geheimnisse und dem starken Drang zu reden. Bis jetzt hatte Mr. Goodwin eine Gesprächseröffnung ihrerseits verhindert, indem er die Augen geschlossen hielt und vor sich hin brabbelte.
»Wenn diese Frau einen Funken Verstand hat«, brummelte er, »dann wird sie wissen, daß ich denke und dabei nicht gestört werden möchte.«
»Ich hab Ihren Namen nicht verstanden«, sagte Miss Morning freundlich.
{16}»Goodwin.«
»Engländer, nicht wahr?«
»Ja.«
»Na, so was! Flüchtling?«
Miss Morning lugte um Mr. Goodwins Ellbogen herum. Mr. Goodwin erblickte flüchtig so etwas wie lebhaft bronzefarbenes Haar und blaue Augen, und der Hauch eines primitiven Duftes wehte ihn an.
»Nein«, sagte er.
»Und Sie wollen Skilaufen?«
»Ja.«
»Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?«
»Ich …« Mr. Goodwin stöhnte und schlug sich heftig an die Stirn. Für Mr. Goodwins Freunde hätte dies signalisiert, daß er einen Einfall hatte und nicht gestört werden durfte. Miss Morning dagegen dachte bloß, er sei einfach ein bißchen verrückt.
»Nun kommen Sie schon, Goodwin«, sagte sie gutmütig, »wenn Sie es mir nicht erzählen wollen, müssen Sie ja nicht. Obwohl, was das betrifft, ich bin keine Klatschbase. Ich würde es keiner Seele erzählen. O Mann, ich hab Freunde in den irrsinnigsten Berufszweigen. Ich kenn da einen Burschen aus Toronto – das ist meine Heimatstadt –, der ißt Bierflaschen für zehn Dollar das Stück. Ehrlich.« Miss Morning betupfte ihre roten Locken und strich über die hellblauen Federn an ihrem Hut. »Ich seh bestimmt aus wie ein Scheusal.«
»Wie sonstwas, aber wie ein Scheusal nun gerade nicht«, meinte Mr. Goodwin stoisch.
»In meinem Beruf müssen wir nämlich so gut aussehen wie möglich«, vertraute ihm Miss Morning an. »Die Männer erwarten das.«
{17}Mr. Goodwins Mund bewegte sich entsetzt.
»Na, nun kommen Sie mir bloß nicht auf dumme Gedanken«, meinte Miss Morning mit breitem Lächeln. »Ihr Männer seid doch alle gleich, sogar solche netten jungen wie Sie. Ich kann in euch lesen wie in einem Buch. Macht’s Ihnen was aus, wenn ich Sie Goodie nenne?«
»Allerdings macht es mir was aus!« erwiderte Mr. Goodwin, aber seine Stimme verlor sich im Tosen des Windes.
»Ich tanze.«
»He?«
»Echt. Ich mach da so ’ne kleine Nummer, die heißt ›Maßgestrickt‹. Da komm ich raus und trag einen Badeanzug, wissen Sie, und ich hopse ein bißchen rum, und dabei verfängt sich der Badeanzug an irgendwas, sagen wir am Uhranhänger eines Herrn, und dann zieht er sich auf … aber doch nicht ganz. Toll, was?«
»Wundervoll«, blökte Mr. Goodwin.
»Aber vielleicht werden Sie mich ja sehen. Möglich, daß ich Gelegenheit kriege, es im Hotel vorzuführen. Bleiben Sie lange dort?«
»Nein. O nein.«
»Zu schade. Ich bin verrückt nach blonden Männern. Sagen Sie mal, Ihre Zähne klappern ja so. Ist Ihnen kalt?«
»Ja.«
»Das ist nun wieder ein Vorzug meines Berufes«, plapperte Miss Morning weiter. »Da wird man abgehärtet. Mir macht Kälte nichts mehr aus. O Boy, das war verdammt hart zuerst, mit nichts als einem G-String zwischen mir und dem Ammoniak.«
Mr. Goodwin verschränkte die Arme über der Brust {18}und wiederholte sich diesen Satz tumb erstaunt. Sein Sinn blieb ihm verborgen.
Auf der Sitzbank vor ihm aber brach Joyce Hunter völlig unangemessen in Gekicher aus.
»Paps?«
»Ja?« Mr. Hunters Stimme war kalt.
»Ich wette, du kannst es kaum erwarten.«
»Wie bitte?«
»Du wirst nur so strotzen vor Uhrenanhängern, Paps!«
»Joyce!«
»Was ist ein G-String?«
Mr. Hunter räusperte sich. »Das ist, glaube ich, ein … eine Art Vorrichtung, die weibliche Form zu tarnen. Ich möchte das nicht weiter erörtern.«
Eine Hand tätschelte seine Schulter. Irritiert wandte er den Kopf und starrte in Miss Mornings Augen.
»Hören Sie«, sagte Miss Morning, »können Sie mir sagen, wie spät es ist? Meine Uhr ist nämlich stehengeblieben.«
Mr. Hunter errötete qualvoll und langte nach seiner Uhr. »Genau vier Uhr sechsunddreißig.«
Joyce kicherte wieder.
»Danke schön.« Miss Morning nahm erneut Mr. Goodwin aufs Korn. »Netter alter Bursche, nicht? Ich bin verrückt nach älteren Männern, vor allem, wenn sie weißes Haar haben. Ich weiß nicht, irgendwie macht mich das an. Möcht mal wissen, wer die kalkweiße Dame da ist.«
»Seine Tochter. Sie nennt ihn Paps.«
Miss Morning gluckste in sich hinein. »Das hat überhaupt nichts zu sagen, Goodie. Wenn man alle Burschen, die ich Paps genannt habe, der Länge nach hintereinanderlegen würde …«
{19}Wieder schlug sich Mr. Goodwin an die Stirn und stöhnte: »Ersparen Sie mir das. Ersparen Sie mir die Apodosis!«
»Was is’n das?«
»Ersparen Sie mir das Ende dieses Satzes. Ich glaube, ich könnte es nicht ertragen, das Endergebnis zu hören, nachdem man alle Männer, die Sie Paps genannt haben, hintereinandergelegt hätte.«
»Hören Sie mal, Sie sind aber wirklich ein komischer Kerl!« Miss Mornings Stimme war voller Neugier. »Was ist Ihr Berufszweig?«
»Ich schreibe«, erwiderte Mr. Goodwin feindselig. »Ich schreibe Gedichte. Ich bin Dichter.«
»Na, na, deswegen brauchen Sie sich doch nicht aufzuregen. Ich hab doch gar nichts gegen Dichter gesagt. Im Gegenteil, ich bin verrückt nach Dichtern.« Miss Morning wandte sich ziemlich ärgerlich der zweiten Lage Pralinen zu.
Joyce Hunter sagte: »Hör mal, Paps.«
»Ja?«
»Hast du das gehört? Das ist Goodwin, der Dichter. Anthony Goodwin.«
»So, ist er das? Ich lese nie Gedichte.«
»Na ja, natürlich nicht. Ich ja auch nicht. Aber es heißt von ihm, er sei furchtbar verderbt. Liegt überall rum, bis zur Bewußtlosigkeit besoffen. Das hab ich in Time gelesen.«
»Ich glaube nicht, daß er Miss Morning verderben kann«, meinte Mr. Hunter trocken.
»Na ja, es gibt aber schließlich auch noch mich. Ich finde, der hat was. Zu schade, daß er mit seiner Mutter reist.«
{20}»Mit seiner Mutter?« fragte Mr. Hunter überrascht.
»Die dicke Dame da auf der letzten Bank.«
Mr. Hunter wandte den Kopf, und tatsächlich, dort saß eine dicke Dame und nahm die gesamte hinterste linke Sitzbank ein. Sie trug einen gewaltigen Waschbärmantel, der es unmöglich machte, zu beurteilen, wieviel von der Dame Mantel war und wieviel Dame pur. Auf jeden Fall war die Sitzbank voll. Und die Dame schnarchte sanft.
»Ich verstehe dich nicht, Joyce«, sagte Mr. Hunter verärgert, »einen Moment bist du förmlich im Koma, und im nächsten spionierst du das Privatleben anderer Leute aus.«
»Na ja, so bin ich eben«, meinte Joyce züchtig. Sie drehte den Kopf und blickte noch einmal zu der dicken Frau im Waschbärmantel hinüber. Und tiefsinnig fügte sie hinzu: »Natürlich könnte es auch sein, daß sie überhaupt nicht seine Mutter ist, daß sie bloß alt genug aussieht, um seine Mutter sein zu können, weil er sie so durch und durch verdorben hat.«
»O mein Gott«, sagte Mr. Hunter mit einem Seufzer.
»Na ja, wart’s ab, wirst schon sehen.«
Schweigen senkte sich über die Hunters, und Joyce versank in ihr Koma.
Auf dem hintersten Sitz begann sich der Waschbärmantel zu regen, das feine Schnarchen verstummte, und Mrs. Evaline Vista kehrte ins Bewußtsein zurück, in schöner Ahnungslosigkeit, daß soeben ihre Sittlichkeit verleumdet worden war.
Sie gähnte laut, reckte sich und dachte, was für eine exzellente Idee es doch gewesen war, die Reise zu verschlafen, und welche exzellente Idee überhaupt die Reise als solche war. Sie würde Anthony und Anthonys Dichtkunst {21}unermeßlich guttun. Anthony war viel zu sehr verzärtelt worden. Er mußte endlich der Welt ins Gesicht sehen und den Elementen trotzen. Er brauchte, mit einem Wort – und es war Mrs. Vistas Lieblingswort – Virilität.
»Ach, Virilität«, wisperte Mrs. Vista ziemlich beklommen, denn sie hatte darunter gelitten, damals, zu ihrer Zeit. Mr. Cecil Vista hatte viel zuviel davon besessen. Seine letzte Reise nach Brighton mit seiner Sekretärin hatte ihn zehntausend Pfund Alimente pro Jahr gekostet. So war es doch nur gerecht, daß Mrs. Vista die zehntausend Pfund dazu benutzte, den schönen Künsten gewissermaßen etwas von Cecils eigenen Qualitäten zu injizieren.
Zärtlich betrachtete sie Anthonys Hinterkopf. Welch ein Glück es doch war, wenn unschuldige, weltfremde Genies eine Mrs. Vista hatten!
Sie sagte: »Anthony!«
Mr. Goodwin fuhr herum. »Ach, Evaline. Du bist also wach.«
»Wo ist dein Hut, Anthony?«
»Auf meinem Schoß.«
»Du wirst Lungenentzündung kriegen. Setz ihn sofort wieder auf.«
Statt einer Antwort zog sich Mr. Goodwin den Hut wütend bis über die Ohren. Es war ein grüner Tirolerhut aus Filz, mit einer orangefarbenen Feder im Hutband. Mr. Goodwin sah damit außerordentlich lächerlich aus, und so fühlte er sich auch, aber es war ein Geschenk von Mrs. Vista, die ihn einmal in Bayern für Cecil gekauft hatte. Cecil hatte sich geweigert, ihn zu tragen, deshalb schenkte Mrs. Vista ihn Anthony. Gelegentlich hatte sie Anwandlungen von Sparsamkeit.
{22}»Na also«, sagte Mrs. Vista mit wohlgefälliger Lautstärke, »schon viel besser so. – Sie, Fahrer! Hallo Fahrer! Sind wir nicht bald da?«
Der Fahrer wandte für den Bruchteil einer Sekunde den Blick von der Straße. »’n paar Kilometer noch.«
Er hat einen leichten Akzent. Frankokanadier, sagte sich Mrs. Vista im stillen, und das veranlaßte sie augenblicklich, sich von ihrem Sitz in die Höhe zu hieven und schwankenden Schrittes durch den Bus nach vorn zu gehen. Sie ließ sich auf die Sitzbank neben Paula und dem rothaarigen jungen Mann fallen, um den Fahrer in eine Unterhaltung zu verstricken. Sie hatte noch nie mit einem Frankokanadier gesprochen, und sie hielt es für wahrscheinlich, daß die frankokanadische Kultur ein bißchen Anregung gebrauchen konnte.
»Eine sehr holprige Straße«, begann sie leutselig. »Ist es irgendwie gefährlich? Was meinen Sie?«
Der Fahrer wandte sich nicht um. Er hatte den Hut tief heruntergezogen und den Mantelkragen hochgestellt, und seine Stimme kam gedämpft daraus hervor: »Eine von meinen Schneeketten ist lose.«
»Wirklich, es war, als sei da ein komisches, klapperndes Geräusch«, fand auch Mrs. Vista.
»Werd sie wohl richten müssen«, sagte der Fahrer. »Ich dachte, sie würde halten, aber das tut sie nicht.« Er erhob die Stimme: »Bitte bleiben Sie alle auf Ihren Plätzen. Wir halten für eine Minute an.«
Der Bus kam schlingernd zum Stehen. Der Fahrer zwängte sich aus seinem Sitz und hebelte die Tür auf. Ein heftiger Windstoß blies feine Schneeflocken, scharf wie winzige Stahlpartikel, in die offene Tür. Sie schnitten und stachen Mrs. Vista ins Gesicht, daß ihr die Tränen kamen.
{23}»Fahrer!« brüllte sie, und hielt sich die Hände vors Gesicht.
Vom hinteren Teil des Busses fragte Maudie Thropples hohe, schrille Stimme: »Was ist denn los? Wo geht er hin?«
Mrs. Vista rief noch einmal: »Fahrer!« Aber die Tür war schon wieder zugeschlagen, und der Wind fuhr heulend in nutzloser Wut dagegen.
Miss Seton wachte auf und rieb sich den Nacken. Die Wärme ihres Kopfes hatte einen kleinen Kreis in das Eis des Fensters geschmolzen. Sie blinzelte ein wenig und schaute hinaus. An den Zäunen entlang hatten sich Schneewächten gebildet, scharf und gebogen wie orientalische Krummsäbel. Sie sah den Fahrer am Fenster vorüberstapfen, den Kopf gegen den Wind gesenkt.
Sie beugte sich vor und klopfte dem rothaarigen jungen Mann auf die Schulter.
»Was ist los?« fragte sie.
Der junge Mann erwiderte mißmutig: »Der will bloß was in Ordnung bringen.«
»Ach.« Miss Seton lächelte erleichtert. »Ich heiße übrigens Isobel Seton. Ich nehme an, wir fahren alle an denselben Ort und könnten uns eigentlich miteinander bekannt machen.«
»Chad Ross«, sagte der junge Mann. »Und das ist Paula …«
»Lashley«, fügte das Mädchen schnell hinzu. »Paula Lashley.«
Damit wandten sich die beiden wieder ab. Miss Seton empfand das als Abfuhr und blickte Mrs. Vista an.
»Es sind die Schneeketten«, erläuterte Mrs. Vista laut. »Bitte regen Sie sich nicht auf. Er ist bloß rausgegangen, um die Schneeketten in Ordnung zu bringen.«
{24}Joyce Hunter war plötzlich wieder hellwach.
»Na, und warum macht er es dann nicht?«
Alle Augen im Bus wandten sich gleichzeitig dem Rückfenster zu, aber das war wie alle anderen total zugefroren.
»Er ist nämlich jetzt seit exakt fünf Minuten verschwunden«, sagte Joyce ruhig. »Ich habe mitgezählt. Und ich glaube, es dürfte nicht länger als eine Minute dauern, an die Schneeketten heranzukommen, und wenn er sie in Ordnung bringt, warum hören wir dann nichts?«
»Weil du zuviel redest«, sagte Mr. Hunter gereizt. »Das ist doch alles Unsinn.«
Joyce lächelte ergeben und antwortete nicht. Die anderen waren stumm, starrten sie an und lauschten angestrengt auf irgendwelche Signale des Fahrers.
»Ich hoffe ja bloß«, meinte Joyce nach einer Weile herablassend, »es gibt hier keine Wölfe.«
»Sie albernes Mädchen«, sagte Mrs. Vista ebenso herablassend.
Ohne ein weiteres Wort ging Joyce an das Rückfenster und begann mit ihrem Taschentuch daran herumzureiben. Dabei nahm sie den Mann, der dort auf der Bank saß, nicht im mindesten zur Kenntnis, obgleich er sie still amüsiert betrachtete.
Unter den anderen war eine aufgeregte Unterhaltung über Wölfe ausgebrochen. Miss Seton trat in den Gang und reckte die Arme.
»Sollte mich sehr wundern, hier einen Wolf zu sehen«, murmelte sie, »wirklich sehr.«
Joyce drehte sich nach ihr um. »Also mich würde es nicht wundern. Aber ich weiß zufällig, daß Sie Amerikanerin sind.«
{25}Miss Seton nickte schuldbewußt.
»Und wahrscheinlich wissen Sie nicht Bescheid über Wölfe in Kanada. In Kanada wimmelt es nur so von Wölfen.«
Miss Seton ließ die Wölfe gelten, weigerte sich aber, den Glauben an den Busfahrer aufzugeben. »Vielleicht hat er mehr Schwierigkeiten, als er …«
»Gucken Sie doch raus«, sagte Joyce grimmig und zeigte auf die kleine Stelle, die sie mit ihrem Taschentuch freigewischt hatte. »Kommen Sie her und gucken Sie raus.«
Miss Seton ging an das Rückfenster des Busses und blickte hinaus.
Der Busfahrer war verschwunden.
Miss Seton hielt die Nase an die Scheibe gepreßt und verkündete mit schwacher Stimme: »Sieht so aus, als ob er weg ist.«
Der Mann auf dem Rücksitz entfernte Miss Setons zobelverhüllten Ellenbogen von seinen Rippen und sagte trocken: »Gestatten Sie? Ich bin nämlich ziemlich kitzlig.«
Miss Seton blickte abwärts in ein Paar amüsiert dreinblickende, braune Augen, die vom Rand eines grauen Filzhutes verschattet waren. Gegen das weiche Grau des Hutes und des Mantels sah seine Haut tief gebräunt und ledrig aus. Sein Mund war zu einem ziemlich zynischen Halblächeln verzogen.
»Mein Name ist Charles Crawford«, sagte er. »Merken Sie sich bitte meine Person als Charles Crawford, einen äußerst kitzligen Mann.«
»Der Busfahrer ist weg«, erwiderte Miss Seton nüchtern.
»Ach?« meinte Mr. Crawford. »Und was erwarten Sie von mir? Was soll ich dabei tun?«
»Überhaupt nichts.« Miss Seton wandte sich ab – leicht errötend. Offensichtlich gehörte Mr. Crawford nicht zu den Menschen, die in einer Krise hilfreich waren – wenn es denn hier eine Krise gab. Ein Großstadtfilou, befand sie bei sich, der seine Bräune unter der Höhensonne {27}kriegte und nur überall herumstand und Small talk von sich gab.
Andererseits – er sah ganz fähig aus, fähiger als die anderen Männer im Bus. Besorgt betrachtete sie das Häuflein Männer, die im Gang standen und redeten. Weder Mr. Hunter noch Herbert Thropple hatten das Zeug, in einem Notfall das Kommando zu übernehmen. Beide waren ordentliche, wohlanständige Bürger, aber sie wurden ja nicht mal mit den zu ihnen gehörigen Frauen fertig. Mr. Goodwin war wahrscheinlich, wenn die Illustrierte recht hatte, betrunken, oder wenn nicht betrunken, dann verrückt. Und was den rothaarigen Chad Ross anging, so sah er aus, als warte er bloß ungeduldig darauf, daß der Rest der Busbesatzung von Wölfen verschlungen würde.
Miss Gracie Mornings Stimme erhob sich über das allgemeine Gerede: »Geben Sie dem Burschen doch ein wenig Zeit. Vielleicht macht er einen Spaziergang oder sonstwas.«
»Einen Spaziergang?« erwiderte Maudie schrill, »in diesem Schneesturm?«
»Na ja, man weiß doch nie«, beschwichtigte Miss Morning, die in ihrem kurzen Leben vielen merkwürdigen Leuten begegnet war und gelernt hatte, sich über nichts mehr zu wundern.
»Das ist doch wohl zu idiotisch«, schrie Joyce und warf einen resignierten Blick in die Runde. »Wir sitzen hier in einer höchst ernsten Situation, und alles, was wir tun, ist reden! Der Fahrer ist abgehauen. Warum sollte der wohl in einen brüllenden Schneesturm verschwinden, ohne einen Ort zu kennen, wohin er verschwinden kann? Wir müssen hinter ihm her, jetzt sofort, ehe der Schnee seine Spuren verwischt!«
{28}Niemand von den anderen hatte an diese Möglichkeit gedacht. Ein lastendes Schweigen breitete sich aus, bis schließlich Miss Seton es durchbrach.
Mit ruhiger Stimme sagte sie: »Wenn wir noch viel länger warten, haben wir keine Chance mehr. Der Fahrer muß irgendwo hingegangen sein. Wenn wir ihm jetzt nachgehen, können wir dieselbe Zuflucht erreichen. Wenn wir weiter warten, müssen wir die ganze Nacht über hier im Bus bleiben.«
»Wieso denn das?« fragte Charles Crawford lässig von seiner hintersten Sitzbank aus.
»Reden, reden, reden«, ereiferte sich Joyce giftig. »Er ist jetzt seit einer Viertelstunde weg!«
»Vielleicht hat ja Mr. Crawford einen Vorschlag«, meinte Miss Seton.
»Nun ja«, meinte Mr. Crawford, »ich habe schon Busse gefahren …«
Mrs. Vista strahlte Mr. Crawford an. »Na ausgezeichnet! Ich wußte ja, daß schließlich alles ein gutes Ende nehmen würde. ›Das Wechselspiel im menschlichen Geschicke …‹«
»Evaline«, unterbrach Mr. Goodwin sie gequält, »es ist bourgeois, Shakespeare zu zitieren.«
»Können Sie das wirklich?« fragte Miss Seton Mr. Crawford streng. »Sie glauben, Sie könnten ihn fahren?«
»Natürlich«, erwiderte Mr. Crawford.
»Dann sollten Sie sich wohl besser beeilen. Der Schnee könnte die Straße verwehen.«
Mr. Crawford erhob sich von seinem Platz. Die anderen setzten sich wieder, um ihn vorbeizulassen. Er ließ sich hinter dem Lenkrad nieder und schaltete die Zündung ein.
{29}»Und was ist«, fragte Joyce mit leiser Ironie, »wenn der Fahrer zurückkommt und stellt fest, daß wir weg sind? Er könnte erfrieren. Ich glaube, wir machen einen schrecklichen Fehler, und ich wette zwei zu eins, daß Mr. Crawford nicht mal ein Kamel lenken kann.«
»Sehr wahr«, versetzte Mr. Crawford. Der Motor heulte auf, und Mrs. Vista heulte mit, um ihn zu ermuntern.
Die anderen saßen auf den Kanten ihrer Sitze und warteten auf den ersten Ruck vorwärts. Der Ruck kam, und dann noch einer, und noch einer, und der Bus kam dem ›Château Neige‹ um ein paar Meter näher. Dann jedoch röhrte der Motor auf und kam stotternd zum Schweigen.
Mr. Crawford nahm seinen Hut ab, und Miss Seton sah, daß er schwitzte. Seine Hände umklammerten das Lenkrad eisern, beinahe verzweifelt.
Sehr merkwürdig, dachte Miss Seton. Während einer Pause zwischen zweimal Rucken ging sie durch den Mittelgang nach vorn und nahm auf der vordersten Bank neben Mrs. Vista Platz. Obwohl es im Bus extrem kalt war, sah sie, daß Mr. Crawford sich den Mantel aufgeknöpft hatte. Wieder ein Ruck. Mr. Crawfords Manteltasche schwang aus und schlug gegen das Rückengestell seines Sitzes. Dabei gab es einen metallenen Ton, kaum wahrnehmbar durch das Röhren des Motors.
Der hat einen Revolver! schoß es Miss Seton durch den Kopf, und die ganze Szene bekam plötzlich etwas Unwirkliches: der Schneesturm, der verschwundene Fahrer, Mr. Crawford, wie er da über das Lenkrad gebeugt saß, und der Atem kam ihm wie kleine Rauchwolken aus dem Mund, und der Revolver in seiner Tasche …
Ruck! Wieder ging der Motor aus, und Mr. Crawfords Mund bewegte sich unter leisem Fluchen.
{30}»Ich glaube, das war’s dann wohl«, tönte entschieden Joyces Stimme durch den Bus.
»Halten Sie die Klappe!« schrie Mr. Crawford außer sich. Er versuchte erneut, den Motor anspringen zu lassen, aber jetzt blieb er ein für allemal stumm. Sekundenlang legte er den Kopf auf seinen Arm, und Miss Seton sah, daß sein Gesicht eine Farbe wie Kitt hatte, und auf der Stirn stand ihm der Schweiß wie kleine Öltropfen.
Niemand sprach, während er stumm seinen Hut aufsetzte, sich den Mantel wieder zuknöpfte und hinter dem Lenkrad hervorkam.
Endlich sagte er mit leiser Stimme: »Sieg für die kleine Lady.«
Wiederum herrschte Stille. Dann sagte Joyce energisch: »Wir setzen uns jetzt besser in Bewegung. Sämtliches Gepäck müssen wir hier zurücklassen.«
Maudie begann zu weinen. »Ich kann nicht! Oh, ich kann nicht! Wir können doch erfrieren …«
»Ruhig, mein Engel«, sagte Herbert gebieterisch. »Gib mir deine Hand.«
»Laß mich los!«
»Willst du lieber hierbleiben und sterben?«
»Ja!« kreischte Maudie.
»Na schön«, erwiderte Herbert, trat in den Gang und strebte zur Tür.
»Kommen Sie, Goodwin?« fragte Mr. Hunter.
Mr. Goodwin fuhr in die Höhe, stieß mit dem Kopf heftig gegen die Gepäckablage und holte Herbert an der Tür ein.
»Komm, Evaline«, sagte er zu Mrs. Vista.
Mrs. Vista blickte ihn verärgert an. »Anthony, du willst mir doch wohl nicht erzählen, daß du da jetzt in diesen {31}Sturm hinausgehst mit deiner schwachen Brust? Du mußt doch wahnsinnig sein!«
Mr. Goodwin fühlte sich immer geschmeichelt, wenn seine Gesundheit in Frage gestellt wurde. Er erwiderte beinahe liebenswürdig: »Der Wahnsinn ist dem Genius nah verwandt. Komm.«