Im April wäre Charles fast gestorben. Seine Frau Martha pflegte ihn gewissenhaft und mit einer verbissenen Kompetenz, die Charles in seinen klaren Momenten belustigte. Selbst an der Schwelle des Todes wußte er, daß er sie langweilte.
Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn seine Krankheit etwas Heroisches gehabt hätte – wenn er spektakulär von einem Wolkenkratzer gesprungen oder in einen See gehechtet wäre, um ein Kind zu retten. Tatsächlich aber war er schlicht mit scheußlichen Kopfschmerzen aus dem Büro gekommen und hatte die beiden Schmerztabletten genommen, die seine Frau Martha ihm gab. Es war natürlich nicht Marthas Schuld, daß er gegen so vieles allergisch war und daß die Kopfschmerztabletten sich als Aspirin erwiesen. Aspirin war, wie der Arzt erklärte und wie Charles später guten Grund zu glauben hatte, schieres Gift für ihn.
Der Arzt, ein Mann namens MacNeil, schien sehr an dem Fall interessiert und eifrig darauf bedacht, seine Diagnose zu erhärten. Bei fast jedem Besuch brachte er alte medizinische Zeitschriften oder Zeitungsausschnitte mit, um vorzulesen, wie ein alter Mann in Manchester nach nur einem Aspirin gestorben oder ein Junge in Kansas durch die bloße Berührung damit krank geworden war. {6}Charles hörte aufmerksam zu. Manchester und Kansas schienen ihm gleichermaßen fern. Seine Welt hatte sich auf vier Wände verengt, in denen nur zwei Menschen lebten: er selbst und Martha. Andere Menschen kamen und gingen, andere Geräusche drangen durch die Wände, und die Uhr tickte ihre Minuten hier genauso unerbittlich ab wie in der Welt draußen, aber Zeit und Raum waren hier eine engere Beziehung eingegangen. Der Raum war dieses Zimmer, und die Zeit war an der zunehmenden Langeweile auf Marthas Gesicht abzulesen.
Jedes Zucken ihrer Augenlider, jede Bewegung ihrer Hände, jede Veränderung ihres Tonfalls hatte inzwischen eine Bedeutung für Charles. Schon die Art, wie sie ein Buch aufnahm, um ihm vorzulesen, zeigte ihm, ob sie das Buch mochte und ob sie gerade Lust zum Vorlesen hatte oder nicht.
»Du mußt mir nicht vorlesen«, sagte er zu ihr. »Brown kann das machen. Er tut nicht viel im Haus.«
»Aber ich möchte gern.«
»Na gut.«
Sich etwas vorlesen zu lassen machte ihm nicht viel mehr Spaß als ihr das Vorlesen, aber es war zu kompliziert, ihr das geradeheraus zu sagen. So wurde er gezwungen, sie immer genauer zu beobachten, und wenn ein unbeabsichtigter Seufzer oder eine Geste sie verriet, bat er sie, ein anderes Buch zu nehmen oder ihn allein zu lassen, damit er ausruhen konnte.
Es war eine seltsame Verkehrung der Dinge, daß sie und nicht er unter Beobachtung stand. Er war der Patient, sie die Pflegerin. Eigentlich hätte Martha ihn beobachten und seine Reaktionen vorausberechnen müssen. Sie beobachtete ihn natürlich, aber mit dem unbeteiligten und {7}prüfenden Blick einer professionellen Krankenschwester, so, als ob er durch das Kranksein keine Identität mehr hätte, abgesehen von der seiner Krankheit. Es war nicht mehr Charles, ihr Mann, sondern eine anonyme, kaputte Maschine. Eine Maschine konnte man mit Geduld und Sorgfalt wieder reparieren; man mußte sich darüber weiter keine Gedanken machen.
Er mochte es ganz und gar nicht, daß sie ihn pflegte und dabei Tag für Tag seine Hilflosigkeit sah, seine babyhafte Abhängigkeit. Allerdings waren Babys wesentlich niedlicher als ein Mann von sechsunddreißig. Ein Baby konnte man pflegen, ohne es zu verachten.
Auch hierbei war es, wie beim Vorlesen, nicht leicht, etwas zu sagen. Manchmal winkte er mit dem Zaunpfahl.
»Geh doch heute nachmittag mal mit deiner Mutter und Laura ins Kino.«
»Ich gehe nicht besonders gern ins Kino. Außerdem sieht Laura schon viel zu viele Filme. Sie kommt dadurch nur auf dumme Gedanken.«
»Alle Sechzehnjährigen haben sowieso dumme Gedanken.«
»Ich will, daß Laura anders ist.«
Laura war ihre jüngere Schwester, aber Martha redete immer von ihr, als wäre sie ihre Tochter.
»Martha.«
»Ja?«
»Ich hätte dich gern gekannt, als du sechzehn warst.«
Sie schien erstaunt. »Warum?«
»Ich wüßte einfach gern, wie du damals warst.«
»Ich war nicht sehr interessant.«
Damit war das Thema beendet. Er konnte sie nie dazu bringen, über die Vergangenheit zu reden. Ernst und {8}geduldig hörte sie den stundenlangen Erzählungen aus seiner Jugend zu, wie Brown seine Mutter angelogen hatte, um ihm Ärger zu ersparen, von seinen Streichen in der Vorschule, seinen Freunden im College, seiner Mutter, seinen Schwierigkeiten, aber sie ließ sich nie dazu verleiten, seine Vertraulichkeiten zu erwidern. Manchmal überlegte er, ob ihre Vergangenheit möglicherweise so schmerzlich für sie war, daß sie nicht darüber sprechen wollte, obwohl das eigentlich unwahrscheinlich war. Von ihrer Mutter und ihrer Schwester hatte er genug über sie erfahren, um zu wissen, daß sie, abgesehen von ihrem guten Aussehen, ein durchschnittliches Stadtkind war, das in einer ganz normalen Familie in einem ganz normalen Haus aufgewachsen war. Sie hatte die High School und danach eine Handelsschule besucht, und er hatte sie im Büro eines Freundes kennengelernt, wo sie als Stenotypistin arbeitete. Sie war einundzwanzig gewesen, als er sie vor fünf Jahren heiratete.
Das war alles. Es gab nichts Außergewöhnliches an Martha, außer daß er sie liebte. Alles, was sie tat oder auch nicht tat, war ihm wichtig, seit er sie kannte. Er konnte es sich nicht leisten, hier im Bett zu liegen und ihr Gelegenheit zu geben, ihn für seine Schwäche zu verachten. Darum mußte er ihr beweisen, daß er ganz und gar nicht hilflos war. Sein Körper mochte vorübergehend zu nichts nütze sein, aber er hatte andere Waffen. Er konnte Wörter durchs Zimmer schleudern wie Messer. Die Maschine war vielleicht kaputt, aber sie durfte nicht anonym bleiben, und mit Messern konnte man sich nicht nur verletzen, sondern sich auch Beachtung verschaffen. Besonders wenn man soviel Zeit hatte, sie auszuwählen und zu schärfen und sein Ziel anzupeilen.
{9}»Martha, warum hast du mich geheiratet?«
»Hör mal, Charles, du weißt doch, daß der Arzt gesagt hat, du sollst nicht soviel reden.«
»Aber ich will es wissen. Warum?«
»Ich kann dir nicht vorlesen, wenn du mich immer unterbrichst.«
»Ich verstehe nicht, warum du eine solche Frage nicht beantworten kannst.«
»Weil man solche Fragen nicht stellt. Das ist so – so …«
»Persönlich?« fragte er trocken. »Das ist doch das Wort, nach dem du gesucht hast, oder?«
»Nein. Ich wollte sagen, ist es denn nicht klar, warum Menschen heiraten?«
»Meine liebe Martha, meinst du vielleicht Sex?«
»Ich habe keine Lust …«
»Erwartest du womöglich, daß ich glaube, du hättest mich geheiratet, weil du mit mir ins Bett gehen wolltest?«
»Also, Charles. Du regst dich nur auf.« Und ernsthaft fügte sie hinzu: »Das dumme ist, daß du zuviel nachdenkst.«
»So was Dummes!«
»Der Arzt hat gesagt …«
Der Arzt sagte sehr viel, das meiste zu Martha, unter vier Augen, unten, im Wohnzimmer. Sie fand vieles verwirrend, nicht weil sie es nicht verstand (Dr. MacNeil bemühte sich sehr, jede seiner Äußerungen zu erläutern), sondern weil sie dabei an andere Dinge denken mußte. »Anaphylaktisch« konnte sich leicht auf ein Unkrautvernichtungsmittel beziehen; »Histamin« klang wie eine Blume, und bei »Allergie« stellte sie im Geiste den Essensplan für die kommende Woche auf. Sie konnte {10}nicht verhindern, daß ihre Gedanken abschweiften. Und je mehr ihre Gedanken abschweiften, desto ausführlicher wurden MacNeils Erklärungen; so zogen die Sitzungen im Wohnzimmer sich manchmal unerträglich in die Länge. Darüber hinaus gaben sie ihr das Gefühl, in der Defensive zu sein und daß Charles und nicht MacNeil hinter all diesen Reden stand. Denn MacNeil hatte begonnen, ihr ebenso viele Fragen nach ihr selbst zu stellen wie nach Charles und die Angelegenheit damit als einen doppelten Fall zu behandeln. Sie ärgerte sich eigentlich darüber. Sie war ihr ganzes Leben lang keinen Tag krank gewesen, und sie hatte so viel getan, um Charles wieder gesund zu machen, wie man nur konnte. Er hatte kein Recht, sie auszufragen.
Ende April hatte MacNeil gesagt, Charles könne jeden Tag ein Weilchen aufstehen und in einem Sessel sitzen.
Sie gab die Neuigkeit sofort an Charles weiter. »Der Arzt sagt, du darfst aufstehen, sobald du magst.«
»Wirklich?« Charles lag mit geschlossenen Augen da und hatte seine langen, dünnen Hände über der Brust gekreuzt. Er sah tot und ziemlich unschuldig aus. Geläutert.
»Er meint, es würde dir guttun aufzustehen«, sagte Martha, ohne sich einer Übertreibung bewußt zu sein, »selbst wenn dir nicht danach ist.«
»Ach ja? Nun, ich glaube nicht, daß ich es in allernächster Zeit schon tun werde. Ich bin noch nie in meinem Leben mit soviel Aufmerksamkeit bedacht worden.« Er stützte sich auf einen Ellbogen und sah nachdenklich zu ihr auf. »Du bringst mich ja fast um mit deiner Nettigkeit, Liebes.«
Sie errötete leicht. »Ich tue, was ich kann.«
{11}»Ich weiß, und was du kannst, das kannst du sehr gut. Ich wäre beinah gestorben, nicht?«
»Also, Charles. Dr. MacNeil sagt, es sei krankhaft, dauernd davon zu reden.« MacNeil hatte nichts dergleichen gesagt, aber er hätte sich wahrscheinlich so ähnlich geäußert, wenn es ihm eingefallen wäre. »Du sollst es endlich vergessen und dich darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden und an deine Arbeit zu gehen.«
»O nein«, sagte er mit jener ironischen Höflichkeit, mit der er sie auf die Palme bringen konnte. »Ich fühle mich hier sehr wohl. Ich habe mein kleines Totenbett inzwischen richtig liebgewonnen. Ich liege gern darauf und sehe dich wie einen schwarzen Engel über mir schweben.«
»Mach keine schlechten Witze, Charles.«
»Guter Gott! Witze!« Er hob protestierend die Hand und ließ sie dann matt auf die Bettdecke fallen.
Er hatte ziemlich abgenommen in dem Monat. Seine Augen schienen zu tief in den Höhlen zu liegen. Das gab seinem Gesicht einen hinterhältigen, berechnenden Ausdruck, als hätte er sich ganz bewußt zurückgezogen, um finstere kleine Geheimnisse auszubrüten.
Sie sah mit leichtem Abscheu auf ihn hinunter. Manchmal, wenn er schlief oder zu schwach war, den Kopf vom Kissen zu heben, tat er ihr unendlich leid. Er kam ihr so zutiefst unglücklich vor, als ob er sein ganzes Leben damit verbracht hätte, etwas zu erwarten, das nie geschah, und auf jemanden zu warten, der nie kam.
Aber als Rekonvaleszent war Charles fast unerträglich. Er hatte soviel Zeit zum Nachdenken und Reden, und er machte mit Vorliebe seltsame Bemerkungen, die sie nicht verstand. Er mochte ja zutiefst unglücklich sein, aber es war nicht fair, das an seiner Frau auszulassen.
{12}»Ich muß in die Stadt«, sagte sie abrupt. »Soll Mutter solange zu dir kommen?«
»Ja, gut.«
»Ich sage ihr Bescheid.« Sie beugte sich über ihn und strich eines seiner Kissen glatt. »Kann ich noch etwas für dich tun, bevor ich gehe?«
Er nahm ihre Hand und drückte sie an seine Wange. Seine Haut fühlte sich trocken und spröde an wie eine abgestreifte Schlangenhaut. (»Eigentlich dürfte er kein Fieber haben«, hatte MacNeil zu ihr gesagt. »Es ist sogar sehr ungewöhnlich.«)
»Du siehst sehr schön aus heute«, sagte Charles. »Wie eine elegante junge Witwe. Warum trägst du immer Schwarz?«
Sie runzelte die Stirn, vermutete eine Falle. »Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil es einfach ist. Ich mache mir nicht viel aus Kleidern.«
»Freut mich, daß ich das nicht als Vorgriff verstehen muß.« Er rieb seine Wange an ihrer Hand. »Martha?«
»Ja?«
»Nichts. Gar nichts.«
Er sank in die Kissen zurück und drehte mit einem langen, traurigen Laut, der ungewollt aus seinem Mund zu kommen schien, das Gesicht zur Wand.
Sie hatte, wie so oft in der letzten Zeit, das Gefühl, ihn enttäuscht zu haben. Sie hatte etwas Entscheidendes getan oder nicht getan. Hatte sie vielleicht einfach vergessen, ihn zum Abschied zu küssen?
Sie beugte sich über ihn und küßte ihn leicht auf die Schläfe.
»Ich möchte ruhen«, sagte er und rieb sich die Stelle, wo sie ihn geküßt hatte.
{13}Sie atmete tief ein. Die Luft im Zimmer roch dumpf, obwohl die Fenster offenstanden und die Vorhänge mit jedem Luftzug hin und her wehten. Draußen sah sie den Garten. Es war noch zu früh im Jahr, um den Springbrunnen anzustellen, aber die Tulpen blühten. In diesem Frühjahr hatten sie sich genauso entwickelt, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatten alle die gleiche Höhe und Farbe und den gleichen Abstand. Sie sahen sehr ordentlich und respektabel aus. Charles nannte sie geschniegelt, aber er hatte ja auch keinen Sinn für Blumen.
Sie blickte zum Bett zurück. Der Kontrast zwischen den Tulpen und dem Hügel unter der Bettdecke, der Charles war, verursachte ihr ein seltsam unbehagliches Gefühl. Es war, als ob dieses Frühjahr versprach oder drohte, anders zu werden als alle anderen Frühjahre, die sie bisher mit Charles verbracht hatte.
Er bewegte sich ein wenig, und sie merkte, daß sie lange an der Tür gestanden hatte, ohne ein Wort zu sagen. Sie wußte nie, was er aus einer kleinen Pause und einem unerheblichen Zwischenfall zusammenkonstruieren würde, darum drehte sie sich rasch um und ging hinaus. Den ganzen Weg durch die Diele erwartete sie, daß er sie zurückrief und sie bat, zu erklären:
»Warum hast du da gestanden?«
»Ich weiß es nicht.«
»Woran hast du gedacht?«
»An Tulpen.«
»Du würdest dich doch nicht da hinstellen und nur über Tulpen nachdenken.«
»Na ja, auch über den Frühling.«
»Und mich?«
»Und dich. Ich dachte: Angenommen, du stirbst.«
{14}Also, angenommen, er starb wirklich. Es wäre natürlich schrecklich; er war noch zu jung zum Sterben. Andererseits starb jede Sekunde irgend jemand, und sie hatte den Eindruck, daß Charles das Leben nicht sonderlich genoß. So gesehen genoß sie selbst es auch nicht sonderlich, aber sie erwartete sich auch nicht viel davon, anders als Charles. Wenn er einmal in Hochstimmung war, klang in seinem Lachen und seiner Stimme immer etwas Hysterisches mit, als ob ihm davor graute, was jenseits dieses glücklichen Augenblicks lag, und er es nur abwehren könnte, indem er lauthals darauf bestand, daß es nicht da war.
Unten in der Diele drückte sie auf den Klingelknopf für die Dienstboten. Gleich darauf kam Brown aus der Küche und strich sich im Gehen die Haare glatt. Er war ein großer, schlaksiger Mann mittleren Alters in einem zerknitterten Anzug. Er hatte schon Jahre vor dem Tod von Charles’ Mutter als eine Art männliche Haushälterin für sie gearbeitet. Es war typisch für Charles, daß er dauernd davon redete, sie würden über ihre Verhältnisse leben, und gleichzeitig darauf bestand, Brown zu behalten. Browns Pflichten waren ebenso unklar wie einfach. Wenn ihm danach war, den Garten zu sprengen, dann sprengte er den Garten und wirkte dabei auch noch sehr rechtschaffen. Er nahm ihre Anweisungen höflich entgegen, aber sie konnte nie sicher sein, daß er sie auch ausführte. Brown war ein sehr unbekümmerter Mensch.
Sie bemerkte, daß seine Augen rot waren und er ein Gähnen zu unterdrücken suchte, und sie wußte, daß er wieder ein Nickerchen auf der Couch der Köchin gemacht hatte.
Sie hatten vier Dienstboten, von denen keiner sich {15}benahm, wie es sich für einen Dienstboten gehörte. Offenbar wußten alle, daß sie und Charles nicht sonderlich gut miteinander auskamen, und wie Kinder, die sich die Uneinigkeit ihrer Eltern zunutze machen, überschritten sie ständig ihre Grenzen.
Einmal hatte sie sich die Mühe gemacht, ihre Aufgaben zu definieren, und für jeden eine Liste aufgestellt:
Lily: Bettenmachen (8 Uhr bis 8:30 Uhr)
Staubwischen oben und unten (8:30 Uhr bis 9:15 Uhr)
Veranden wischen (9:15 Uhr bis 10 Uhr)
Das klappte auf dem Papier ganz gut, aber dann hatte Lily um 9:15 Uhr Zahnschmerzen, so daß Forbes, der um 9:15 Uhr eigentlich das Auto waschen sollte, statt dessen die Veranden in Angriff nahm, während Brown das Auto wusch, statt Mrs. Putnam in der Küche zu helfen. Sie verbrannte die Listen, ohne Charles davon zu erzählen, der das Ganze zweifellos sehr komisch gefunden hätte.
Obwohl sie selbst sehr ordentlich war, sah sie sich nicht in der Lage, irgendeine Art von Ordnung in den Haushalt zu bringen. Alles ging schief. Wo sie auch hinsah, immer fiel ihr Blick auf einen Fussel auf dem Teppich, einen Aschenbecher, der saubergemacht werden mußte, einen Wasserhahn, der tropfte, oder ein Bild, das schief hing. Wenn sie für Sonntag um zehn ein kompliziertes englisches Frühstück plante, beschloß Charles garantiert plötzlich zu arbeiten und ging früh aus dem Haus, ihre Mutter schlief länger, Laura machte mal wieder eine Schlankheitskur, und sie saß, umgeben von getoasteten Crumpets und geräucherten Heringen, allein am Tisch, während der Geruch dampfender Nieren durchs Haus zog und ihr Übelkeit verursachte. Wenn sie lange genug dasaß, wurde sie regelrecht anglophob und dachte, kein {16}Wunder, daß die Engländer alle so dürr sind und ständig unter Rheuma leiden. Dieses Gefühl ließ sich ganz leicht auf Brown übertragen, der etwas entfernt Englisches an sich hatte und infolgedessen zu den Nieren paßte.
»Ist der Wagen fertig?« fragte sie und konnte dabei die Verärgerung in ihrer Stimme nicht unterdrücken, weil der Nierengeruch so lebhaft in ihrer Erinnerung aufstieg und weil ihr jetzt einfiel, daß die Couch der Köchin einen brandneuen Überzug hatte. Sie überlegte, ob Brown wohl die Schuhe auszog, wenn er sich darauf legte. Wahrscheinlich nicht.
Er beobachtete sie wachsam, jederzeit bereit, sich wieder bei ihr einzuschmeicheln, falls sie etwas bemerken sollte.
»Die Treppen und das Geländer müssen abgestaubt werden«, sagte sie.
»Also, das wollte Lily eigentlich machen, aber sie …«
»Ich glaube, wir haben genug Dienstboten, um das Haus in Ordnung zu halten.«
»Ja, Mrs. Pearson.«
»Ich habe es Ihnen letzte Woche gesagt.«
»Es ist mir entfallen, Mrs. Pearson.« Er gähnte wieder mit geschlossenem Mund und verzog dabei so das Gesicht, daß es aussah, als ob er Schmerzen hätte.
»Ziehen Sie die Schuhe aus, wenn Sie sich auf die Couch legen?« Als die Frage heraus war, fühlte sie sich gedemütigt, als hätte Brown die Oberhand über sie gewonnen, indem er sie zwang, danach zu fragen.
Er machte alles noch schlimmer, indem er antwortete: »Nein, Mrs. Pearson. Ich lasse nur die Füße über den Rand hängen.«
Sie fühlte sich völlig besiegt und würdelos. Füße waren {17}etwas so Intimes und Privates, daß sie nicht darüber sprach und schon gar nicht darüber nachdachte. Sie hätte sich genausowenig ohne Kleider zeigen können wie ohne ordentliche Schuhe und Strümpfe. Und hier stand sie und redete nicht nur über Füße, sondern, viel schlimmer noch, über Browns Füße. Sie konnte nicht umhin, sie sich vorzustellen – lang und knochig und grau an der Ferse, mit dicken schwarzen Haaren auf dem großen Zeh – schmutzige, private, obszöne Füße …
»Der Wagen«, sagte sie.
»Forbes bringt ihn gleich.«
»Und sagen Sie meiner Mutter, daß Mr. Pearson mit ihr sprechen möchte.«
Sie ging davon, das Kreuz durchgedrückt. Ihr Gang wirkte immer etwas unbeholfen, weil sie sich zu aufrecht hielt, als hätte sie gerade einen Artikel über Haltung gelesen. Ihre Füße in flachen, schwarzen Rauhlederoxfords berührten den Boden mit Ferse und Zehen gleichzeitig, wie die eines mechanischen Zinnsoldaten.
Bevor sie hinausging, hielt sie inne, um einen Fussel von ihrem schwarzen Kostüm zu wischen und die Krempe ihres schwarzen Filzhuts zurechtzubiegen. Dann nahm sie im nachhinein eine Hornbrille aus ihrer Tasche. Sie hatte die Brille schon seit Jahren, und die Gläserstärke stimmte längst nicht mehr, was ihr unweigerlich Kopfschmerzen verursachte. Aber sie fand, daß die Brille ihr stand; sie sah damit intelligenter aus und gleichzeitig naiv, wie ein College-Girl, das viel von Büchern verstand, aber noch einiges über die Welt lernen mußte.
Sie fuhr sich mit der Hand leicht über den strohblonden Knoten im Nacken. Als sie so alt gewesen war wie Laura, hatte sie welliges Haar gehabt, glänzend und funkelnd wie {18}Messing. Aber im Lauf der Jahre war die Farbe immer unbestimmbarer geworden, und seit sie es hatte wachsen lassen, waren die Wellen verschwunden. Sie war nicht unzufrieden mit diesem Ergebnis. Es gab zu viele künstliche Blondinen und künstliche Wellen und Locken; sie zog es vor, natürlich und schlicht zu erscheinen und den Eindruck zu erwecken, daß sie, obwohl sie eine schöne Frau war, keiner der kleinen Posen und Eitelkeiten schöner Frauen erlag. Sie benutzte kein Make-up und Parfum mehr, ihre Kleidung war unauffällig und – Privileg der Wohlhabenheit – ein ganz klein wenig unelegant. Ihre Röcke waren immer etwas länger, als die Mode verlangte, und ihre Hüte waren so vernünftig und langlebig wie ihre Schuhe.
Sie warf einen Blick in den Spiegel im Flur. Sie fand, daß sie sehr nett aussah. Schwarz stand ihr, und was Charles auch sagen mochte, sie hatte vor, es weiterhin zu tragen, weil es ein wichtiger Bestandteil ihrer Verkleidung war, wie die Brille. Nur die scharfsichtigsten Leute würden auf der Straße stehenbleiben, um einen zweiten Blick auf sie zu werfen und festzustellen, wie schön ihr Mund und ihre Stirn geformt waren und was für schöne dunkelgraue Augen sie hatte.
Das einzige, was sie wirklich an ihrer Erscheinung auszusetzen hatte, war ihre Größe. Sie war zu groß und trotz strenger und qualvoller Diät etwas übergewichtig. Sie empfand es als unschön, eine so offensichtlich weibliche Figur zu haben.
Vor langer Zeit, als ihre Brüste gerade anfingen, sich abzuzeichnen, hatte sie Angst vor dieser neuen Verantwortung gehabt, aber gleichzeitig war sie insgeheim auch ein bißchen stolz gewesen. Es bedeutete, daß sie langsam Frau {19}wurde, und die Scherze ihres Vaters gefielen ihr ganz und gar nicht: »Heiliger Bimbam, Martha kriegt eine Figur. Ist es zu fassen, das Kind kriegt eine Figur.«
Nun, ihr Vater war inzwischen tot, und sie hatte ihre Figur, und sie war eine Frau – o Gott …
Sie wandte sich rasch vom Spiegel ab und ging nach draußen.
Forbes wartete auf sie, ein dunkelhäutiger, hübscher kleiner Zauberer, der lässig hinter dem Steuer des Wagens saß, als wäre er aus den Polstern gewachsen wie ein Polyp.
Sie zog ihre Handschuhe aus und inspizierte dabei rasch die Veranda. Es sah ganz ordentlich aus, aber jemand hatte an einer der Säulen eine Spinne zerquetscht. Der weiche Körper klebte an dem weißen Holz, und eine gelbe Flüssigkeit quoll daraus hervor.
Sie schrak zurück, erschüttert und angewidert. Sie haßte tote Dinge. Sie überlegte, ob Charles auch so aussehen würde. Es war seltsam, aber sie hatte noch nie daran gedacht, daß Charles Innereien hatte.
Forbes sprang behende aus dem Wagen und machte ihr die Tür auf. Den ganzen Weg in die Stadt dachte sie, während ihre sanften grauen Augen verschwommen aus dem Fenster blickten, an Charles’ Innereien.
Charles lag mit hinter dem Kopf verschränkten Händen da und starrte auf die Fenster. Wenn die Sonne am linken Vorhang angekommen ist, dachte er, tue ich etwas. Dann treffe ich eine Entscheidung.
Die Vorhänge flatterten kokett wie Frauenröcke. Sie waren aus dunkelgelber Seide (wie Marthas Haare, dachte Charles; wahrscheinlich dazu passend ausgesucht), und wenn die Sonne darauffiel, schienen sie aufzuflammen, als hätte jemand ein Streichholz darangehalten.
Die Sonne machte das Zimmer unangenehm heiß. Charles hätte gern die Sonnenblenden heruntergelassen, aber er war zu träge, es selbst zu tun, und nach Brown mochte er nicht klingeln, denn damit hätte er die erste Gelegenheit verspielt, allein zu sein und das Problem zu überdenken. Es kam ihm vor, als wäre er seit Wochen nicht mehr allein gewesen. Immer wenn er die Augen öffnete, war Martha da. Manchmal saß sie lesend in einem Sessel, die Knie eng aneinandergelegt, die Füße flach auf dem Boden. Sie hielt sich das Buch zu dicht vor die Augen und seufzte jedesmal leise, wenn sie eine Seite umblätterte. Es war ein trauriger, kleiner Laut, der Charles unter die Haut ging, denn er konnte sich nicht vorstellen, warum Martha oder überhaupt irgend jemand beim Umdrehen einer Buchseite seufzen sollte.
{21}»Ist es eine traurige Geschichte?« fragte er.
»Traurig? Nein.«
»Aber du hast geseufzt.«
»Ich habe nur geatmet.«
Vielleicht war das die Erklärung für vieles – Martha atmete nur.
Oder manchmal, wenn er aufwachte, reichte Martha ihm frisches Wasser, strich sein Bettzeug glatt oder machte die Fenster auf oder zu, energisch und mit einer gewissen Ungeduld, die andeutete, daß die Fenster eigentlich von selbst auf- und zugehen sollten.
Meist saß sie jedoch neben seinem Bett, die Hände im Schoß gefaltet. Wenn sie sich unbeobachtet fühlte, hatte ihr Gesicht einen benommenen, etwas dümmlichen Ausdruck. Es war unmöglich zu erraten, was sie dachte. Einmal fragte er sie danach, und ihre Brauen hoben sich überrascht.
»Warum sollte ich etwas denken?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich dachte, du schläfst«, erklärte sie kühl. Und ihr Unterton bedeutete: Du hättest mir sagen sollen, daß du wach bist, statt mich zu bespitzeln.
»Nächstes Mal klingle ich«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Nichts, ich habe Spaß gemacht.«
Auch wenn sie etwas anderes vorgab, war sie sich ihrer Schönheit voll bewußt und störte sich nicht daran, beobachtet zu werden. Nur mußte sie das Zeichen geben, wie ein Kind bei einem Spiel: »Gut, ich bin soweit. Du kannst jetzt herschauen.«
Die Sonne verschwand hinter einer Wolke. Die Vorhänge wurden düster, und der kalte Wind, der plötzlich {22}durchs Zimmer fuhr, war eine Warnung, daß der Sommer noch nicht da war und man dem Frühling nicht trauen konnte.
Das ist mein Zeichen, dachte Charles. Die Zeit für eine Entscheidung. Es kommt später, als ich dachte. Ich werde jetzt entscheiden, jetzt mein Problem durchdenken.
Aber um ein Problem zu durchdenken, mußte man es erst einmal definieren, klar und ohne emotionales Beiwerk. Wenn er es so definieren konnte, dann löste sich das Problem vielleicht von selbst. Wichtig war, die Tatsachen vorurteilsfrei darzustellen, als ob er im Gerichtssaal wäre.
Ihr Name?
Ich heiße Charles Henry Pearson. Ich bin sechsunddreißig. Ich bin Direktionsmitglied der Matson Trust Company, was für das Gericht ein Beweis dafür sein sollte, daß ich nicht ganz ohne Intelligenz bin.
Einspruch! Der Zeuge ist voreingenommen!
Tut mir leid, Euer Ehren. Jedenfalls habe ich vor fünf Jahren Martha Katherine Shaw geheiratet. Meine Gründe für diesen Schritt waren vielfältig und offenkundig. Ich werde der Jury jetzt einige Fotos präsentieren.
Unwichtig, unerheblich und unwiderstehlich!
Aber, Euer Ehren, ich habe noch nicht einmal angefangen.
Fall abgewiesen.
Zum Teufel. Ich weigere mich zu gehen, bevor ich nicht mein Problem formuliert habe.
Fünfzig Dollar für Mißachtung des Gerichts. Zahlbar beim Verlassen des Gerichtsgebäudes.
Sie wollen nicht zuhören …
Hundert Dollar.
Aber ich bin noch nicht einmal beim wichtigsten Teil {23}angelangt. Anfang dieses Monats kam ich mit Kopfschmerzen aus dem Büro nach Hause, und Martha gab mir zwei Aspirintabletten.
Einhundertfünfzig!
Aber ich bin fast gestorben …
Nach Meinung des Gerichts ist der Zeuge des Vorurteils für schuldig befunden worden und sollte gehängt werden.
Sie können mich nicht hängen!
Aber sie konnten es natürlich doch. Das Seil um seinen Hals wurde enger und schnürte ihm allmählich die Luft ab.
Als er aufwachte, hatte er sich ins Bettzeug verwickelt, und jemand klopfte an die Tür.
»Charley?«
»Komm rein.«
Die Tür ging auf, und Marthas Mutter kam herein.
»Brown hat mir gesagt, daß du mit mir sprechen willst.«
Mrs. Shaw hatte mit keiner ihrer Töchter Ähnlichkeit, obwohl in ihrer breiten, kräftigen Stirn und dem hellen Haar etwas von Martha zu erkennen war. Sie war eine dickliche, gelassene Fünfzigerin. Als Charles sie kennengelernt hatte, lebte ihr Mann noch. Ihre Ehe war glücklich. Die beiden redeten und verhielten sich wie gute Kameraden, und egal, wer mit ihnen im Zimmer war, sie tauschten immer lächelnde Blicke wie Verliebte, die sich an geheimen Späßen ergötzten. Charles beobachtete sie voller Neid und in der Hoffnung, daß eines Tages auch er und Martha auf diese Weise den Blick des anderen suchen würden. Zwei Wochen vor seiner Heirat mit Martha starb Harry Shaw plötzlich an einer {24}Lungenentzündung. Seine Frau trug es mit Fassung. Sie machte kein großes Aufheben. Sie zog sich einfach aus dem Leben zurück, wie ein Spieler, der verloren hat, sich aus dem Spiel zurückzieht. Ihr gesamtes Handeln wurde nun durch Martha bestimmt. Ihr selbst war es so oder so egal, ob sie in diesem Haus wohnte oder in einem anderen, ob sie selbst ihre Wäsche wusch oder ihr Essen kochte oder ob es jemand anders für sie tat. Nichts schien sie zu beunruhigen, eine bewundernswerte und völlig unverständliche Eigenschaft für Charles, den beinah alles beunruhigte.
Er hatte seine Schwiegermutter im großen und ganzen sehr gern, teils, weil sie offenbar ihn gern hatte, teils, weil sie einer älteren Frauengeneration entstammte, die man zu dem Glauben erzogen hatte, daß Männer etwas Besonderes wären, nur weil sie Männer waren. Das war ein willkommener Gegensatz zu Martha, die es, ohne einen Muskel zu bewegen, fertigbrachte, den Eindruck zu vermitteln, Männer seien verachtungswürdig und unnütz, ein Haufen Taugenichtse, die schlicht nur deshalb überlebten, weil noch niemand herausgefunden hatte, wie sich die Menschheit ohne sie fortpflanzen könnte.
»Tut mir leid, daß ich dich geweckt habe, Charley«, sagte Mrs. Shaw. »Ich gehe am besten wieder.«
»Nein, geh nicht. Setz dich. Ich habe nicht geschlafen. Ich glaube es jedenfalls nicht. Ich habe nur versucht, mir über verschiedenes klar zu werden.«
»Du versuchst immer, dir über irgend etwas klar zu werden«, meinte sie lächelnd. Sie setzte sich, ohne darauf zu achten, wo sie sich hinsetzte. Entweder vertraute sie darauf, daß der Stuhl immer dastand und auf sie wartete, oder es kümmerte sie nicht, ob er da war oder nicht.
{25}»Was, wenn der Stuhl nun nicht dagestanden hätte?« fragte er.
Sie verstand ihn sofort. »Aber er ist immer da. Ich wußte es.«
»So ist das«, sagte Charles seltsam enttäuscht.
»Weißt du, Charley, ich glaube, du siehst besser aus.«
»Ja, wirklich?« Er setzte sich im Bett auf, so daß er sich im Spiegel der Kommode sehen konnte. »Ich finde, ich sehe gräßlich aus.«
»Also, ich habe dich nie für eine Schönheit gehalten«, meinte sie freundlich. »Vielleicht erwartest du also mehr von deinem Gesicht als ich.«
»Jedenfalls bin ich nicht kahlköpfig.«
»Nein, das bist du nicht. Harry war mit sechsunddreißig kahl wie eine Billardkugel. Das hat ihm aber nichts ausgemacht. Ich kann mich nicht erinnern, daß er je eine Flasche Haarwasser gekauft hätte. Er war nicht eitel.« Sie hielt inne und gab Harry Zeit, vor ihren Augen zu erscheinen, kahl wie eine Billardkugel, aber ohne Haarwasser. »Eine gewisse Eitelkeit war ihm nicht fremd, aber sie hatte nichts mit seiner äußeren Erscheinung zu tun. Er bildete sich zum Beispiel gern ein, er hätte die beiden Mädchen völlig in der Hand und sie würden ihm aufs Wort gehorchen.«
»Und, stimmte das?«
»Nein, sie kümmerten sich nicht sonderlich um ihn, um mich auch nicht, wenn ich es recht bedenke. Aber sie haben sich ganz gut verstellt. Mädchen können das besser als Jungen, und meine beiden waren immer – nicht direkt heimlichtuerisch, aber reserviert.«
Ja, heimlichtuerisch, korrigierte Charles im stillen.
»Ich frage mich oft, ob es überhaupt klug für ein {26}Ehepaar ist, Kinder zu haben, wenn es so glücklich verheiratet ist wie Harry und ich. Wir waren uns selbst völlig genug. Wir brauchten keine Kinder, ich meine, so wie manche Paare. Und ich glaube, die Mädchen haben das gespürt und sich dadurch irgendwie ausgeschlossen gefühlt.« Ängstlich fügte sie hinzu: »Verstehst du, was ich meine, Charley?«
»Ja.«
»Es hat sie unabhängig gemacht. Sie haben sich mir nie anvertraut, und vielleicht habe ich unbewußt ihr Vertrauen gar nicht gewollt, und sie wußten das sogar, auch wenn ich es nicht wußte.« Sie wandte sich mit einer kleinen nervösen Kopfbewegung ab. »Jetzt fühle ich mich schuldig, als hätte ich gerade gemerkt, daß ich vor vielen Jahren ein Verbrechen begangen habe.«
»Dein Gewissen muß ein verschlafenes kleines Ding sein.«
Sie lächelte. »Du liebe Güte, ich weiß gar nicht, was diese Woche in mich gefahren ist. Ich werde schon so schlimm wie du, ständig grüble ich, und nie kommt etwas dabei heraus.«
»Soso. Das tue ich also?« fragte Charles höflich.
»Nun, stimmt es nicht?«
»Ich möchte gern wissen, warum Menschen Dinge tun, warum jeder in dieser Welt alles das tut, was er tut.«
»Ich möchte das lieber nicht wissen. Es würde mir Angst einjagen.«
»Es jagt mir auch Angst ein.«
Sie saßen ein Weilchen schweigend, jeder mit seiner Angst beschäftigt, während eine Hummel sich immer wieder aufgeregt gegen das Fliegengitter warf.
Charles sah sich mit einem Notizbuch in der einen und {27}einer Kristallkugel in der anderen Hand unter den Menschen der Welt umhergehen. Bei seiner Rückkehr oder bei seinem Tod würden die Antworten alle in seinem Notizbuch stehen, und es würde keinen Krieg und keine Hungersnöte mehr geben, kein Verbrechen und keine Armut. Die Erde würde wieder den Sanftmütigen zurückgegeben. Von wem? Von ihm, Charles!
Es war ein kindischer und gefährlicher Traum, und er erkannte ihn als solchen. Aber er konnte ihn nicht zerstören. Er hielt ihn in seinem Herzen verschlossen und holte ihn nur heraus, wenn er allein war, wie ein Geizkragen, der sein Gold zählte. Niemand würde je erfahren …
»Ich weiß nicht, was heute in mich gefahren ist«, wiederholte Mrs. Shaw. »Vielleicht ist es das Wetter, was meinst du?«
»Vielleicht.«
»Ich habe das Gefühl …« Sie schloß die Augen, als ob sie besser fühlen könnte, wenn sie nichts sah. »… ich habe das Gefühl, ich sollte etwas tun, ich sollte mich mit etwas beschäftigen, aber ich weiß nicht recht, womit.«
Er konnte sich nicht erinnern, sie je so redselig erlebt zu haben. Vielleicht war es wirklich das Wetter, und sie fühlte sich plötzlich herausgefordert durch den Frühling, der ihre Energie und ihr Interesse neu geweckt hatte.
Sie erhob sich abrupt. »Ich hoffe, ich habe dich nicht ermüdet, Charley.«
»Ganz und gar nicht.«
»Martha müßte eigentlich bald zurück sein.«
»Es stört mich nicht, wenn ich allein bin. Sie muß meinetwegen nicht zu Hause bleiben. Im Grunde wünschte ich mir, daß sie mehr ausginge, als sie es tut. Ich wünschte, du würdest ihr das sagen.«
{28}»Das werde ich.« Aber sie ging hastig, als würde sie dieses Thema lieber vermeiden.
Charles legte sich wieder hin. Er wollte schon, daß Martha ausging, soviel war richtig. Aber er wollte auch, daß sie ihn die ganze Zeit über vermißte, während sie weg war, um dann möglichst schnell nach Hause zurückzukommen und ihm alles zu erzählen, was sie gesagt und getan hatte. Von sich aus erzählte sie nichts, aber wenn er sie gründlich ausfragte, würde er erfahren, in welchen Geschäften sie eingekauft hatte, welche Angestellten sie bedient hatten und wen sie getroffen hatte. Sein Verlangen nach solchen Informationen entsprang nicht der Eifersucht oder einem Bedürfnis, stellvertretend durch ihre Erfahrungen zu leben, sondern der Illusion, daß er Martha um so vollständiger besitzen würde, je mehr er über sie wußte.
Er erinnerte sich dunkel an ein Grimmsches Märchen von einem Mädchen, das einen Baum besaß, an dem goldene Äpfel und silberne Blätter wuchsen. Niemand konnte die Äpfel pflücken, aber wenn das Mädchen nur die Hände ausstreckte, fielen sie ihr zu. Eines Tages würde er sich eine Ausgabe der Grimmschen Märchen besorgen und nachlesen, was es mit der Geschichte auf sich hatte. In der Zwischenzeit beunruhigte ihn die Sache weiter. Er hatte das Gefühl, sein Leben mit Martha damit verbracht zu haben, daß er unter einem Baum mit goldenen Äpfeln stand, die er nicht pflücken konnte, und daß eines Tages womöglich ein anderer kam, dem die Äpfel dann in den Schoß fielen. Der wahre und rechtmäßige Besitzer – wartete sie auf ihn? – hielt sie die Äpfel absichtlich zurück?
Nein, das war unmöglich. Es gab keinen Baum. Es gab keine Liebe, keine Wärme in Martha. Es war ihr Körper, {29}der einen in die Irre führte. Die runden Hüften und sinnlichen Brüste luden zum Anfassen ein, und man mußte sie oft anfassen, bevor man merkte, daß es Gipsattrappen waren. Gipsbrüste wie Gußformen, die ein gebrochenes Herz bedeckten.
Gebrochen, dachte er. Wieso eigentlich gebrochen? Niemand konnte Marthas Herz gebrochen haben. Ich habe sie als erster gekannt. Es gab keinen anderen.
Trotzdem beunruhigte es ihn. Um sich von dem Thema abzulenken, fing er an, die Blätter auf der Tapete zu zählen. Schließlich wanderte sein Blick wieder zum Fenster, und er sah, daß die Sonne am linken Vorhang vorbeigewandert und daß die Zeit für Entscheidungen vorüber war.
Einen Augenblick packte ihn die Panik. Es war immer noch Zeit, immer noch Zeit, zu entscheiden, etwas zu tun, irgend etwas.
Das einzige, was ihm einfiel, war, sich aufzusetzen und die Beine über den Bettrand zu schwingen. Er schwitzte, und der Pyjama klebte ihm an Rücken und Brustkorb und unterstrich damit seine Zerbrechlichkeit. Er sah sich im Spiegel auf der anderen Seite des Zimmers. Er sah wahrhaftig nicht aus wie der rechtmäßige Besitzer irgendwelcher goldenen Äpfel. Vielleicht halfen ja eine Rasur und ein grauer Nadelstreifenanzug mit dunkelblauer Krawatte. Also gut, er würde sich anziehen, und, mehr noch, er würde sich rasieren.
Er angelte mit den Füßen nach seinen Hausschuhen. Er griff nach seinem Bademantel, den Martha am Fußende des Bettes zusammengelegt hatte, und stand auf. Er zitterte so heftig, daß er die Arme nicht in die Ärmel des Bademantels bekam. Er kämpfte, während auf dem Boden {30}das Kleidungsstück kroch und zuckte, als ob es lebendig und fest entschlossen wäre, sich ihm zu widersetzen.
Nach einer Minute stand er still, hilflos im Würgegriff einer neuen und schrecklichen Angst. Er hatte Angst zu sterben. Bis jetzt war er zu krank gewesen, um sich damit zu befassen. Zu leben war ihm so anstrengend vorgekommen. Aber jetzt, da er wieder auf den Beinen war, mußte er bleiben, mußte diesen hinfälligen alten Mann im Spiegel in Form bringen. Er mußte aufhören, sein Spiel der Andeutungen und ironischen Bemerkungen zu spielen, und Martha direkt fragen.
Nein, nicht fragen. Es ihr sagen. Ihr sagen, daß er es wußte.
Er bückte sich, hob den Bademantel auf und zog ihn an. Dann nahm er die Schultern zurück und schaute wieder in den Spiegel, herausfordernd diesmal. Er fühlte sich ruhiger. Alles wird gut werden, dachte er.
Er ging zur Tür, ohne genau zu wissen, wo er eigentlich hinwollte oder was er vorhatte. Es war gut, in Bewegung zu sein, unabhängig. Das hieß, er war nicht länger Opfer, sondern ein Mann, der fähig war, andere zu Opfern zu machen.
Er trat in den Flur. Ein Mädchen in grüner Uniform staubte rasch und flüchtig das Geländer ab. Sie war etwa dreißig und hatte hübsche Augen und eine unreine Haut.
»Hallo, Lily«, sagte er.
Sie drehte sich überrascht um. »Nanu, Mr. Pearson. Du liebe Güte!«
»Ich dachte, ich mache mal einen kleinen Rundgang«, sagte er lächelnd. »Mal sehen, wie ihr alle ohne mich klargekommen seid.«
Lily hegte eine heimliche Leidenschaft für Charles, und {31}seine Gegenwart führte dazu, daß ihr die Stimme entweder völlig versagte oder sich vor lauter Redseligkeit fast überschlug. Insgesamt plante sie oft, was sie zu ihm sagen würde, aber wenn es dann soweit war, vergaß sie alles. Sein erstes Erscheinen nach der langen Krankheit sollte eigentlich Anlaß zu vielen höflichen und netten Bemerkungen sein. Keine einzige fiel ihr mehr ein.
Stumm und den Tränen nahe drehte sie das Staubtuch zwischen den Fingern und wünschte, der Boden würde sich öffnen und sie verschlingen.
Charles, der normale Frauen ganz gut verstehen konnte, wandte den Blick ab und sagte fröhlich: »Wie geht es denn Ihrer Mutter, Lily? Brown hat mir erzählt, daß sie einen Unfall hatte.«
»Oh, es geht ihr gut – es geht ihr wirklich gut.«
»Das freut mich.« Er sah, daß Marthas Zimmertür geschlossen war. »Also, dann lassen Sie sich durch mich nicht von der Arbeit abhalten, Lily. Ich mache mich nur wieder mit dem Haus vertraut.«
Marthas Tür, glatt, unerschütterlich, einem königlichen Posten gleich, der über die Geheimnisse des Schlafzimmers der Prinzessin wacht.
Dann sah er, daß sie doch nicht ganz glatt war. Sie war mit einem goldfarbenen Spion und einem brandneuen Sicherheitsschloß ausgestattet. Er drehte sich stöhnend zu Lily um.
»Einbrecher«, sagte sie und holte tief Luft.
»Einbrecher?«
»Ich meine – es könnten welche kommen, darum hat sie letzte Woche einen Handwerker bestellt und es einsetzen lassen, wegen der Einbrecher.«
»Ah«, sagte er, als ob er alles darüber wüßte, sogar {32}selbst den Vorschlag gemacht hätte. Aber der goldfarbene Spion blinzelte ihm zu, und er fühlte sich plötzlich erschöpft und mußte sich an der Wand abstützen.
Lily betrachtete ihn mit einer Mischung aus Liebe und Angst im Blick, ihren Mr. Pearson, der nackt und kühn und ergeben durch ihre Träume geisterte; und ihr fiel nichts anderes ein, als über Einbrecher zu reden. Ach, wenn doch die Erde sich auftäte …
»O ja, die Kriminalitätsrate in der Stadt ist beängstigend hoch, beängstigend hoch«, sagte Charles und glitt an der Wand entlang zu Boden.
»Oh, Mr. Pearson! Brown! Oh, Brown!«
Ihre Schreie erreichten Charles durch eine dicke Watteschicht und setzten sich in seinen Ohren fest, weich und klebrig, wie Getuschel.
Seine Ohren verstopften sich, nun würde er nie zu den Menschen in aller Welt hinausgehen können. Es würde Krieg geben, Armut, Verbrechen und ein Sicherheitsschloß an jeder Tür. Flüsternd würden die Menschen klagen: Nun kommt Charles Pearson nie hier vorbei; wir warten, aber er wird nie kommen. Seine Frau läßt ihn nicht.
Er blinzelte und merkte, daß er wieder im Bett lag und Brown ihm ein Glas Wasser hinhielt.
»Sie sind nicht besonders vernünftig«, sagte Brown. »Trinken Sie das hier. Wie geht es Ihnen jetzt?«
»Gut«, flüsterte Charles.
Brown half ihm, den Kopf zu heben. »Als ich nach meiner Operation zum ersten Mal aufgestanden bin, ist es mir genauso gegangen.«
»Dann ist es ja in Ordnung«, sagte Charles. Etwas Wasser lief ihm aus dem Mundwinkel und über den Hals, aber {33}das machte nichts. Er fühlte sich leicht und losgelöst, als hätte der Charles Pearson, der so schändlich im Flur ohnmächtig geworden war, nichts mit ihm zu tun und sei genaugenommen ein ziemlich ulkiger Kerl, zur Schießbudenfigur geboren.
»Mir scheint, Sie haben nicht viel Verstand«, sagte Brown. »Das ist meine Meinung.«
»Jetzt reiten Sie doch nicht darauf herum.«