Ein Filmproduzent, der letztes Jahr mit der Idee spielte, eine TV-Serie mit meinem Privatdetektiv Lew Archer in der Hauptrolle zu drehen, fragte mich beim Lunch, ob Archer aus irgendeiner lebenden Person hervorgegangen sei. »Ja«, antwortete ich, »aus mir.« Er schenkte mir einen jener halb bedauernden Hollywood-Blicke. Ich versuchte zu erklären, daß Archer sozusagen aus meinem Innersten entsprungen sei, während ich einige mir bekannte, ausgezeichnete Detektive bei der Arbeit beobachtet hätte. Ich wäre, genau genommen, nicht Archer, aber Archer wäre ich.
Von da an ging es mit unserer Unterhaltung bergab, als hätte ich ein ehrenrühriges Eingeständnis gemacht. Aber ich glaube, die meisten Verfasser von Detektivgeschichten würden dieselbe Antwort gegeben haben. Eine enge väterliche oder brüderliche Beziehung zwischen dem Schreibenden und seinem Detektiv ist eine hervorstechende Eigenart dieser Form. Im Laufe seiner bisherigen Geschichte, von Poe bis Chandler und über diesen hinaus, hat der Detektiv als Held seinen Schöpfer repräsentiert und dessen Wertmaßstäbe in die Gesellschaft getragen.
Poe, der Erfinder der modernen Detektivgeschichte, und sein Detektiv Dupin sind gute Beispiele dafür. Poes hervorragender, aber von Schuldkomplexen gequälter Geist befand sich in schmerzlichem Konflikt mit den Realitäten im Amerika der Vorbürgerkriegszeit. Dupin ist ein deklassierter Aristokrat, wozu Poe alle seine Helden neigen läßt, ein offensichtliches Gegenstück zu dem Künstler-Intellektuellen, der seinen Platz in der Gesellschaft und seine sichere Stellung in der Tradition verloren hat. Dupin hat kein {8}Gesellschaftsleben, sondern nur einen Freund. Er unterscheidet sich von anderen Menschen durch seinen überlegenen Verstand.
In seiner Erschaffung Dupins fand Poe gewiß einen Ausgleich für sein Versagen, das zu werden, wozu seine außergewöhnlichen Geisteskräfte ihn geschaffen zu haben schienen. Er hatte von einer intellektuellen Hierarchie mit ihm selbst an der Spitze geträumt, die das kulturelle Leben der Nation leitete. Wie Dupin einen skrupellosen Politiker in Der entwendete Brief hinters Licht führt, seine ›Lösung‹ eines wirklichen New Yorker Falles in Das Geheimnis der Marie Rogêt, sein wiederholtes Übertrumpfen der Karten des Polizeipräfekten, das alles sind Poes Ersatzdemonstrationen der Überlegenheit über eine mittelmäßige, gleichgültige Gesellschaft und ihre Beamten.
Natürlich gaben Poes Detektivgeschichten dem Schreiber – und geben dem Leser – etwas Tieferes als eine so oberflächliche Befriedigung. Er verfaßte sie als ein Mittel, Schuldgefühl und Grauen zu verbannen oder im Zaum zu halten. Der verstorbene William Carlos Williams setzte in einem tiefgründigen Essay Poes Gefühl von Schuld und Grauen jener schrecklichen Bewußtheit eines überempfindsamen Menschen gleich, der nackt und zitternd auf einem neuen Kontinent steht. Dieses Schuldbewußtsein wurde von Poes angstvoller Einsicht in das Unbewußte verdoppelt. Es mußte mit irgendeiner vernünftigen Methode in Grenzen gehalten werden, und die Detektivgeschichte, die auf rationaler Schlußfolgerung aufbauende Geschichte, bot eine solche Methode.
Die Erzählung von den blutigen Morden in der Rue Morgue, Poes erste Detektivgeschichte (1841), ist eine wahre Hymne auf den analytischen Verstand, mit der Poe beabsichtigte, wie er später schrieb, »einige sehr bemerkenswerte geistige Charakterzüge meines Freundes, des Chevalier Auguste C. Dupin, herauszustellen«. Dupin verkörpert deutlich die Vernunft, Poes Hauptstütze gegen die den Geist {9}bedrängenden Schreckgespenster. Diese letzteren werden von dem mörderischen Affen dargestellt: »Zähnefletschend und mit funkelnden Augen stürzte er sich auf das junge Mädchen, grub seine furchtbaren Krallen in ihren Hals und drückte zu, bis sie tot war.«
Dupins logisch arbeitender Verstand bezwingt den Affen und erklärt das Unerklärliche – die verwüstete Wohnung hinter der verschlossenen Tür, die in den Rauchfang hinaufgestopfte Leiche des jungen Mädchens –, aber nicht, ohne einen Rest von Grauen zurückzulassen. Das Alpdruckhafte kann nicht ganz wegerklärt werden und widersteht den Zähnen der Vernunft. Ein unstabiles Gleichgewicht zwischen logischem Denken und primitiveren menschlichen Eigenschaften ist charakteristisch für die Detektivgeschichte. Für Schriftsteller und Leser ist sie eine Arena der Vorstellungskraft, wo derartige Konflikte sicher und unter künstlerischer Kontrolle ausgetragen werden können.
Die erste Detektivgeschichte hat noch andere archetypische Merkmale, besonders in der Art, wie sie erzählt wird. Der Berichterstatter ›Ich‹ ist nicht der Detektiv Dupin. Die Aufspaltung der Hauptfigur in einen Erzähler und einen Detektiv hat gewisse Vorteile: sie hilft, das Nebensächliche auszuklammern und die Lösung hinauszuschieben. Wichtiger noch, der Autor kann seinen sich selbst verkörpernden Helden ohne übermäßige Verlegenheit präsentieren und gefährlich gefühlsbefrachteten Stoff zwei oder mehr Stufen von sich selbst abgerückt behandeln, wie Poe das in der Rue Morgue tut.
Die Nachteile der gespaltenen Hauptfigur kommen deutlicher bei dem schon zur Legende gewordenen Nachfolger Dupins zum Ausdruck, nämlich bei Sherlock Holmes. Eine Projektion des Autors, der Erzähler, muß eine Haltung fast blinder Bewunderung für die zweite Projektion des Autors einnehmen, den Detektiv-Helden, und der Leser ist {10}eingeladen, Dr. Watsons Anbetung des großen Mannes zu teilen. Ein Element narzißtischer Phantasie, unzufrieden mit den Grenzen des eigenen Ichs, scheint in diese Form der traditionellen Detektivgeschichte eingewoben zu sein.
Ich vergesse nicht, daß Holmes’ modus operandi sich auf die Arbeitsweise eines lebenden Mannes stützte, auf die von Conan Doyles Freund und Lehrer Dr. Joseph Bell. Wenngleich seine ›Wissenschaft‹ letzten Endes gewöhnlich auf sorgfältige Beobachtungen hinausläuft – was Dr. Bells Stärke war –, ist Holmes doch ganz der wissenschaftliche Kriminologe. Dieser Held der Wissenschaftlichkeit könnte in der Tat der dominierende Kulturheros unserer technologischen Gesellschaft sein.
Obgleich Holmes ein in Chemie und Anatomie spezialisierter Naturwissenschaftler ist, während Dupin sich mit literarischer und psychologischer Analytik befaßte, kann man Holmes leicht als direkten Abkömmling Dupins erkennen. Seine auffälligste Eigenschaft, seine Fähigkeit, Gedanken aufgrund assoziativer Schlußfolgerungen lesen zu können, ist eine direkte Anleihe bei Dupin. Und wie Dupin ist auch er eine Projektion des Autors, der zur Zeit von Holmes’ Erschaffung ein nicht sonderlich beschäftigter junger Arzt war. Wie sein Sohn Adrian berichtet, gestand Conan Doyle auf dem Sterbebett ein: »Wenn jemand Sherlock Holmes ist, dann bin ich es.«
Holmes hatte noch andere Ahnen und indirekte Verwandte, die den Gedanken bestärken, daß er ein Porträt des Künstlers als großer Detektiv ist. Seine Drogen, seine Verschwiegenheit und Zurückgezogenheit, seine zuweilen deprimierte Stimmung (eine Eigenart, die er mit Dupin teilte) sind die Kennzeichen des romantischen Rebellen damals wie heute. Hinter Holmes stehen die Gestalten von Dichtern des neunzehnten Jahrhunderts, Byron ganz sicher, wahrscheinlich Baudelaire, der Poe übersetzte und Poes Schuldbewußtsein zu neuen Grenzen vortrieb. Ich habe mich einmal für die {11}Theorie eingesetzt (und Anthony Boucher hat mir nicht widersprochen), daß ein großer Teil der Entwicklung der modernen Detektivgeschichte von Baudelaire stammt, seinem ›Dandyismus‹ und seiner Vision der Stadt als Inferno. Conan Doyles London, das Eliots Dichtung Das wüste Land beeinflußt hat, besitzt etwas von dieser Qualität.
Doch Holmes’ romantische Exzesse sind nicht der Angelpunkt seines Charakters. Sein baudelairscher Spleen und seine Rauschgiftsucht sind nur Idiosynkrasien des Genies. Holmes hat von beiden Welten das Beste mitbekommen und bleibt ein englischer Gentleman, den man auch in der höchsten Gesellschaftsschicht akzeptiert. Gedanken und Sprache von Conan Doyles Geschichten sind durchdrungen von einem Hauch froher Zufriedenheit mit einem Gesellschaftssystem, das auf Privilegien errichtet ist.
Dieses offensichtliche Merkmal ist erwähnenswert, weil es fest in einen Zweig dieser Form eingebaut ist. Nostalgie für eine privilegierte Gesellschaft ist in erster Linie verantwortlich für die Anziehungskraft der traditionellen englischen Detektivgeschichte und ihre zahllosen amerikanischen Gegenstücke. Weder Kriege noch die Auflösung von Regierungen oder Gesellschaftsschichten können jenes lange Wochenende im Landhaus stören, das oft mit mehr oder weniger unbewußter Symbolik durch irgendein Versagen der Verkehrs- oder Telefonverbindungen von der Außenwelt abgeschnitten wird.
Die zeitgenössische Welt ist das spezielle Betätigungsfeld des hartgesottenen amerikanischen Geschichtendetektivs. Dashiell Hammett, Raymond Chandler und die anderen Schriftsteller, die für das Kriminalmagazin Black Mask arbeiteten und diese Art der Detektivgeschichte entwickelten, reagierten damit bewußt gegen die anglo-amerikanische Schule, die – wie etwa in den Werken von S.S. van Dine ersichtlich – den Kontakt mit dem täglichen Leben und dessen {12}Umgangssprache verloren hatte. In der Widmung einer Sammlung seiner frühen Erzählungen (1944) an den Herausgeber von Black Mask charakterisiert Chandler jene Art Prosaliteratur, die sie abzulösen versuchten: »Für Joseph Thompson Shaw voll Achtung und Zuneigung sowie in Erinnerung an die Zeit, da wir versuchten, den Mord von den oberen Klassen, der Party im Wochenendhaus und dem Rosengarten des Pfarrers zu jenen Leuten zurückzuführen, die wirklich etwas davon verstehen.« Zwar wimmeln Chandlers Romane noch von Plutokraten und solchen Gestalten, die man in Südkalifornien für Aristokraten hält, genauso wie von Verbrechern, aber die Black Mask-Revolution war dennoch echt. Aus ihr ging eine neue Art des Detektivhelden hervor, der klassenlose, ruhelose Mann der amerikanischen Demokratie, der die derbe Sprache des einfachen Volkes sprach.
Hammett, der mit Sam Spade den überzeugendsten dieser neuen Helden schuf, war selbst Privatdetektiv gewesen und kannte das korrupte Innenleben amerikanischer Großstädte. Doch Sam Spade war eine weniger deutliche Projektion seines Autors, als Romandetektive dies gewöhnlich zu sein pflegen. Hammett hatte seine frühere romantische Veranlagung unter eine strenge, ironische Kontrolle gebracht. Er konnte Spade von außen her sehen, ohne Liebe, vielleicht mit einer Art freudlosem Mitgefühl. In dieser wie in anderer Hinsicht kennzeichnet Spade einen klaren Bruch mit der Holmes-Tradition. Er besitzt die Eigenschaften und folgt der Verhaltensnorm des Grenzers. Für seine Sünden in das Inferno der Großstadt gestoßen, setzt er seinen Mut und seine List gegen deren Bewohner ein, spielt um die höchsten verfügbaren Einsätze, um Liebe und Geld, verliert am Ende fast alles und steht mit leeren Händen da. Seine Geliebte ist des Mordes schuldig; sein kleinlicher, strenger Ehrenkodex zwingt Spade, sie der Polizei zu übergeben. Der Malteser Falke ist seiner Juwelen beraubt.
{13}Vielleicht sind die Einsätze und die damit verbundenen Verluste höher, als ich angedeutet habe. Der wertlose Falke symbolisiert vielleicht eine verlorengegangene Tradition, die großen Kulturen der mediterranen Vergangenheit, die für Spade und seine Zeitgenossen unerreichbar geworden sind. Vielleicht ist der Vogel auch Symbol für den Heiligen Geist oder für dessen Abwesenheit.
Die wilde Verbissenheit in seine Arbeit, das unerbittliche Herausstellen von Sam Spades Verlust seiner vollen ererbten Menschenrechte machen seine Geschichte für mich zur Tragödie, wenn es so etwas wie eine sinnentleerte Tragödie gibt. Hammett war der erste amerikanische Schriftsteller, der die Detektivgeschichte mit der Absicht des großen Romanciers benutzte, eine flammende, wenn auch desillusionierende Vision unseres Lebens zu zeichnen. Sam Spade ist das Produkt und die Reflektion eines Geistes, der weder in Zion noch im Zenit zu Hause war.
Chandlers Vision ist ebenfalls desillusionierend, aber trotz ihrer sinnverwirrenden Brillanz im Detail fehlt ihr die tragische Einheit von Hammetts Werk. In seinem Essay über Die simple Kunst des Mordes, einem spannend geschriebenen Stück nicht sehr erhellender Kritik, bietet Chandler ein Rezept für den Detektiv als Romanhelden, das die Hauptschwäche seiner Vision ahnen läßt:
»Alles, was man Kunst nennen kann, besitzt so etwas wie eine erlösende Qualität … Aber durch diese schäbigen Straßen muß ein Mann gehen, der selbst nicht schäbig ist, der eine reine Weste hat und keine Angst … Der Detektiv in dieser Art Story muß so ein Mann sein. Er ist der Held; er ist schlechthin alles … Er muß der beste Mensch auf der Welt sein und ein Mensch, der gut genug ist für jede Welt.«
{14}Zwar kann ein guter Roman eine ›erlösende Qualität‹ besitzen, aber diese Eigenschaft gehört dem ganzen Werk und ist nicht das Privateigentum einer der handelnden Personen. Kein Held eines ernstzunehmenden Romans könnte in einer moralischen Zwangsjacke handeln, in der er sich ständig tugendhaft und furchtlos benehmen müßte. Sam Spade war in ein tragisches Leben gestoßen und kämpfend verstrickt. Der Detektiv als Erlöser ist ein Rückschritt in Richtung auf den sentimentalen Abenteuerroman und eine zu vereinfachende Welt der guten und bösen Kerle. Chandlers frühe Werke enthalten zwar auch ritterliche Gangster und Gangsterliebchen mit Herzen aus Gold, die Menschen dort sind aber doch von einer zürnenden puritanischen Moral in zwei Gruppen aufgeteilt. Die Böcke werden gewöhnlich durch sexuelle Promiskuität oder perverse Veranlagung von den Schafen geschieden. Eine so starke und offenkundige moralisierende Tendenz beeinträchtigt jedoch eigentlich eine moralische Breitenwirkung, die der Romancier anstrebt.
Glücklicherweise hat Chandler in seinen Büchern aber seine watsonsche Begeisterung für die moralische Überlegenheit seines Detektivs gedämpft. Der Detektiv Marlowe, der seine Erlebnisse in der ersten Person erzählt und manchmal zugibt, daß er Angst hat, verfügt über einen trockenen Witz, der sein fahrendes Rittertum sozusagen auf normales Mittelmaß reduziert:
»Ich trug keine Kanone … ich bezweifelte, daß sie mir etwas nützen würde. Der große Mann würde sie mir wahrscheinlich wegnehmen und auffressen.« (Lebwohl, mein Liebling)
Die Chandler-Marlowe-Prosa ist eine hochbrisante Mischung aus lakonischem Witz und imagistischer Poesie, {15}gefaßt in halsbrecherischen Rhythmus. Ihre stark umgangssprachliche Anlage bestätigt entschieden die Tatsache, daß die Black Mask-Revolution eine Revolution sowohl der Sprache als auch der Thematik war. Nebenbei bemerkt war H.L. Mencken, der große Lexikograph unseres Fachjargons, einer der ersten Herausgeber von Black Mask. Sein Protegé James M. Cain sagte einmal, daß seine Entdeckung des Rauhbeins aus dem Westen es ihm ermöglichte, Romane zu schreiben. Marlowe und seine Vorgänger erfüllten eine ähnliche Funktion für Chandler, dessen englische Erziehung seine Leidenschaft für unsere neue Sprache sowie Antipathie gegen Privilegien noch verstärkte. Gesellschaftlich in allen Sätteln gerecht und im Grunde klassenlos (er hatte ein College besucht, aber eine Vorliebe für die Arbeiterklasse), setzte Marlowe die Phantasie seines Autors frei zum Gebrauch einer abgelauschten demokratischen Alltagssprache, die zu einem der wirksamsten Instrumente der Erzähltechnik unserer zeitgenössischen Literatur geworden ist.
Unter der Oberfläche des obligatorischen ›forschen‹ Tons der Schreibweise unterscheidet Marlowe sich auf interessante Art von dem hartgesottenen Standardhelden, wie er aus der Gruppe der Black Mask-Schriftsteller hervorging. Chandlers Romane konzentrieren sich auf die Feinfühligkeit des Helden und können daher fast als sensible Romane bezeichnet werden. Ihr stets gleichbleibendes Thema ist die Einsamkeit der Großstadt und der bohrende innere Schmerz eines empfindsamen Mannes, der sich mit den rücksichtslosen Elementen einer korrupten Gesellschaft herumschlägt.
Marlowes Doppelheit ist es, die interessant macht: die rauhe Schale, die teilweise Chandlers poetischen und satirischen Geist verdeckt. Ein Teil unseres Vergnügens entspringt dem Wechselspiel zwischen Chandlers Geist und Marlowes Stimme. Der klar erkennbare Unterschied zwischen beiden ist Teil der Dynamik der Darstellung und schafft bipolare {16}Spannungen in der Erzählweise. Der herrliche erste Absatz in Der große Schlaf macht etwas davon anschaulich:
»Es war gegen elf Uhr morgens, Mitte Oktober, ein Tag ohne Sonne und mit klarer Sicht auf die Vorberge, die klatschkalten Regen verhießen. Ich trug meinen kobaltblauen Anzug mit dunkelblauem Hemd, Schlips und Brusttaschentuch, schwarze Sportschuhe und schwarze Wollsocken mit dunkelblauem Muster. Ich war scharf rasiert, sauber und nüchtern – egal nun, ob’s einer merkte. Ich war haargenau das Bild vom gutgekleideten Privatdetektiv. Ich wurde von vier Millionen Dollar erwartet.«
Marlowe nimmt sich selbst auf den Arm und auch Chandler in der Rolle des forschen jungen Detektivs. Es steckt auch Pathos in der Vorstellung, daß ein Mann, der schreiben kann wie ein gefallener Engel, nur ein einfacher Privatdetektiv sein soll – und sokratische Ironie. Der begabte Schriftsteller versteckt sich hinter Marlowes fröhlicher Unbekümmertheit. Gleichzeitig legt sich der bescheiden im Hintergrund bleibende, nicht mehr ganz junge, gelehrtenhafte Autor eine dauerhafte Maske zu, er bleibt für immer achtunddreißig, und das erlaubt ihm, den Gefahren der hohen und niederen Gesellschaft verwegen ins Auge zu sehen.
Chandlers Konzeption von Marlowe sowie seine Beziehung zu seiner Hauptfigur vertiefen sich in gleichem Maße, wie sein Geist die romantische Phantasie und das übergescheite Selbstbewußtsein überwand, die sein Blickfeld einengten. Am Schluß von Der lange Abschied findet sich eine bedeutungsvolle Konfrontation zwischen Marlowe und einem Freund, der ihn verraten hat und offenbar homosexuell geworden ist. Statt des gerechten Zorns, dem Marlowe in einem der früheren Romane die Zügel hätte schießen lassen, empfindet er jetzt nur Kummer und Bestürzung, als {17}stände er bei dieser Begegnung einem Teil seiner selbst gegenüber.
Der Freund, der Ex-Freund, versucht sein moralisches Scheitern zu erklären: »Ich war bei der Kommandotruppe, Bruder. Da nehmen sie dich nicht, wenn du ein Schlappschwanz bist. Ich wurde schwer verwundet, und was die Nazi-Ärzte dann mit mir anstellten, war kein Spaß. Das hat was in mir kaputtgemacht.« Mehr wird uns nicht gesagt. Im brausenden Mittelpunkt von Chandlers Labyrinth steckt ein Entsetzen, das auch am Ende seines letzten, schwer deutbaren Romans unausgesprochen bleibt. Was auch ihre versteckte Bedeutung sein mag, diese Szene wurde von einem Mann mit zarter, romantischer Feinfühligkeit geschrieben, der verletzt worden war. Chandler benutzt Marlowe, seine halb ausgedrückte Feinfühligkeit zu überdecken und die leichte Paranoia szenisch darzustellen, die oft mit dieser Art Feinfühligkeit und ihren seelischen Schmerzen einhergeht und unter zeitgenössischen Schriftstellern tatsächlich endemisch zu sein scheint.
Ich kann diese Beurteilung mit einiger Sicherheit abgeben, weil sie überraschend genau auf einige meiner frühen Werke zutrifft, besonders auf Blue City (1947). Eine Dekade später, in The Doomsters, ließ ich meinen Detektiv Archer sich selbst kritisieren als »ein etwas erdgebundener Tarzan in einem etwas paranoiden Dschungel«. Dieser Roman markierte einen recht deutlichen Bruch mit der Chandler-Tradition, zu deren geistiger Verarbeitung ich einige Jahre gebraucht hatte, und machte mich frei, meine eigene Einstellung zu den Verbrechen und Kümmernissen des Lebens zu finden.
{18}geplant