Martin A. Klaus
Ludwig Thoma
Ein erdichtetes Leben
dtv
Mit Bildteil
Martin A. Klaus, geboren in Bernau am Chiemsee, war rund vierzig Jahre lang als Redakteur und Autor für die ›Süddeutsche Zeitung‹ tätig. Er verfasste u.a. eine Biografie des im Dachauer Raum beheimateten Räubers Mathias Kneißl, zwei Theaterstücke in bayerischer Mundart sowie diverse Wanderbücher. Martin A. Klaus lebt in München.
›Der Münchner im Himmel‹, die ›Lausbubengeschichten‹, ›Jozef Filsers Briefwexel‹, ›Die Heilige Nacht‹: Bis in die 1980er Jahre war Ludwig Thoma (1867–1921) eine gesetzte Größe auf den Spielplänen der Volkstheater und gehörte zu den beliebtesten bayerischen Heimatdichtern. Erst dann stellte sich heraus, dass der einst als linksliberaler Satiriker geschätzte Schriftsteller in seinen letzten Lebensjahren zum rechtsradikalen Polemiker geworden war. Gab es einen Grund für diesen Gesinnungswandel oder schrieb er einfach nur das, was die Mehrheit hören wollte?
Schon während seiner Zeit als junger Rechtsanwalt in Dachau hielt Thoma seine Beobachtungen, die er an Stammtischen, auf der Jagd oder im bäuerlichen Umland machte, treffend und humorvoll in Gedichten, Erzählungen und Bühnenstücken fest, als Mitglied der Simplicissimus-Redaktion kommentierte er mit geschliffener Feder streitlustig die Tagespolitik. Doch welches Weltbild vertrat er wirklich? Und wie sollten ihn seine Leser sehen? Die ›Erinnerungen‹, die er kurz nach seinem 50. Geburtstag niederzuschreiben begann, spiegeln in weiten Teilen nicht das wider, was er tatsächlich erlebt hat, sondern das, was er gern erlebt hätte. Mit seiner Flucht in eine geschönte Vergangenheit kittete er Brüche in seinem Leben und schuf für andere ebenso wie für sich selbst ein Bild, das mit der Realität nicht allzu viel zu tun hatte. Wer sich für sie interessiert, wird allerdings in seinen Romanen fündig. Dort kann man den scheinbar vertrauten Thoma in einem neuen Licht entdecken.
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eBook ISBN 978-3-423-43075-3 (epub)
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Kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag griff Ludwig Thoma Anfang 1917 zum Papier und verbreitete seine Lebenslüge. Der Zeitpunkt für seine ›Erinnerungen‹ war nicht zufällig gewählt. Sein Leben lag in Scherben. Nun wollte er den Ludwig Thoma wiederbeleben, der über viele Jahre so populär gewesen war. Dass er dafür literarische Mittel wählte, war naheliegend. Denn schon dieser »alte Ludwig«, den er den Lesern und der Welt so lange präsentiert hatte, war eine Kunstfigur, die mit der Realität wenig zu tun hatte.
Ganz ähnlich verhielt es sich mit der Darstellung seiner Herkunftsfamilie. Thoma erdichtete ein Leben, das in einem augenfälligen Kontrast stand zur eigentlichen Familiensituation und vor allem auch zu seiner Rolle innerhalb dieser Familie. Hier wollte er ansetzen, um mit Beschönigungen und dreisten Lügen die Grundlage zu schaffen für einen Neubeginn auf beruflicher wie privater Ebene. Die ›Erinnerungen‹ gerieten auf diese Weise zu einem besonders phantasievollen Werk, das über sein wahres Leben, vom zeitlichen Gerüst abgesehen, wenig Zutreffendes berichtet. Wer dem wirklichen Ludwig Thoma näherkommen will, entdeckt jedoch erstaunliche Wahrheiten in seinen Romanen, Theaterstücken und Erzählungen, sobald er bei der Lektüre Thomas konkrete Lebenssituation zur Zeit der jeweiligen Niederschrift mitliest.
1917 gab es einen einschneidenden Bruch in seinem Leben. Die zwei Jahrzehnte währende enge Bindung an den ›Simplicissimus‹ mündete in heftige Differenzen, die ihn nur noch näher an Alfred von Tirpitz’ stramm rechte Deutsche Vaterlandspartei banden. Schon 1914 hatte er eine Krise in der ›Simplicissimus‹-Redaktion ausgelöst, als er einige der Kollegen mit seiner geradezu hysterischen Kriegsbegeisterung und danach mit seiner Meldung zum Militär heftig vor den Kopf stieß. Als er im Spätherbst 1915 gesundheitlich schwer angeschlagen von der Ostfront heimkehrte, wurde er in der Redaktion mit Ablehnung und Spott empfangen. Viele Kollegen hielten den Krieg für einen fatalen Fehler, Thoma hingegen war siegesgewiss bis zum bitteren Ende.
Zur selben Zeit wie mit den ›Erinnerungen‹ beginnt Thoma mit seiner Sommergeschichte ›Altaich‹. ›Altaich‹ sollte die Leser für ein paar Stunden aus der immer kritischeren Kriegslage entführen und die zunehmend schwierigere Versorgungssituation der deutschen Bevölkerung vergessen lassen (im Zweiten Weltkrieg wurde derlei Unterhaltung von Goebbels als »moralische Aufrüstung« gefordert und gefördert). Thoma setzte damit seine Realitätsflucht in eine Idylle fort, die genau ein Jahr zuvor mit der ›Heiligen Nacht‹ begonnen hatte und mit dem biedermeierlich-biederen ›Alten Feinschmecker‹ fortgeführt wurde. Gleichzeitig gab der Autor, wie er dies zeitlebens so gerne tat, ein paar unliebsame Zeitgenossen mit deftigen Seitenhieben der Lächerlichkeit preis.
Die ›Erinnerungen‹ setzen unvermittelt ein wie ein Lebenslauf, der zuerst einmal die Herkunft klärt, wobei schon am Anfang Thomas Unsicherheit darüber, was eigentlich entstehen soll, spürbar ist. Und ebenso häufig wie die Intention, die dahinterstand, wechselt auch der Ton.
Auf den ersten Seiten prägt ein idyllischer Ton seine frühen Erinnerungen an die Vorderriß. Aus Richtung Tirol erstreckte sich ein von den nördlichen Karwendelgipfeln gesäumtes Tal den Rißbach entlang. Tief unter dem Forsthaus, das heute noch an derselben Stelle steht, exakt am Schnittpunkt dreier Täler, hatte er ein breites Bett gegraben, das er zur Zeit der Schneeschmelze im Frühjahr füllte. Viel Wasser drängte da zur Isar, die aus dem westlichen Karwendel einen ansehnlichen Strom heranführte. Die ungemein beeindruckenden Flusslandschaften zeugen von der einstigen Gewalt der beiden Gewässer. Heute sind sie gebändigt und speisen auf einem von Menschenhand geschaffenen Umweg über den Walchensee ein Kraftwerk.
Die zu Thomas Kinderzeit noch ausgesprochen urtümliche Landschaft lieferte der Phantasie eines intelligenten, lebhaften, überdies erstaunlich genau beobachtenden Buben eine Fülle von Anregungen. Sie finden später immer von neuem ihren Niederschlag in Romanen, Erzählungen und vor allem auch in seinem so ungemein umfänglichen und weit gestreuten Briefverkehr. Auffallend häufig spricht aus diesen Zeilen der Schmerz eines Mannes, der nach dem frühen Wegzug aus der Vorderriß nie mehr eine Heimat und vor allem nie wieder eine dauerhaft wärmende Einbettung in einen Familienverbund fand.
Dabei war die einzige wirkliche Bindung, die Ludwig bis in die Mannesjahre zuverlässigen Rückhalt gewährte, jene zu seinem einstigen Kindermädchen Viktoria Pröbstl, von den Kindern »alte Viktor« genannt. Sie war Trost, Schutz und Vertraute. Als sie ihm durch den Tod genommen wurde, unternahm er, der Frauen bis dahin nur als sexuellen Zeitvertreib gesehen hatte, mehrere Anläufe, in einer Ehefrau Ersatz für sie zu finden. Dass er damit scheiterte, lag an dem falschen Bild, das er den Frauen von sich präsentierte und das nicht mit der Realität in Einklang zu bringen war. Enttäuschungen waren die unvermeidliche Folge.
Bei Viktor war das anders gewesen. Sie wusste um all die fatalen Wahrheiten, aus denen sich Ludwig Thoma regelmäßig herauslog, und um die damit verbundenen schmerzhaften Schwachpunkte ihres Schützlings und schwieg getreulich, wenn er wieder ungeniert drauflosschwadronierte und Lügen auftischte. Nur ein einziges Mal protestierte sie. Da bezog sich ihre Kritik auf die wohl ohnedies nur leicht übertriebene positive Darstellung der Figur der Gertraud in den ›Witwen‹, die ihr nachgezeichnet war.
Berichtete er von sich, erdichtete Thoma ein Leben, das dem Leser bestimmte Bilder vorgaukeln und Mitgefühl wecken sollte: Er sollte glauben, Thoma entstamme einer ordentlichen Familie mit liebevollen Eltern, mit denen es das Schicksal nicht gut gemeint hatte.
In Wahrheit war in Thomas Familie und Leben kaum etwas in Ordnung. Der Druck, dem er schon in seiner frühen Kindheit ausgesetzt war und der ihn nie wirklich Kind sein ließ, wird in seinen Werken spürbar. Nach seinem Tod entdeckte man Knallerbsen und andere Feuerwerkskörper in seinen Schreibtischschubladen – Hinweis auf eine lebenslange Freude an kindlichen Späßen, für die der allzu ausgeprägte mütterliche Ehrgeiz kein Verständnis hatte.
Das beharrliche Streben der Katharina Thoma, den Lebensweg ihres Kindes Ludwig zu bestimmen, begann bereits vor dessen Geburt. Vier Kinder der Familie wurden während der siebzehn Vorderrisser Dienstjahre, in denen der Vater Max Thoma als königlicher Oberförster tätig war, geboren. Drei kamen im nahegelegenen Lenggries zur Welt. Die einzige Ausnahme von dieser »Regel« bildete Ludwig. Obwohl er sich ausgerechnet für den Januar ankündigte, nahm Katharina Thoma, hochschwanger, den gerade im Winter höchst beschwerlichen, zudem auch noch lawinengefährdeten Weg ins heimatliche Oberammergau in Kauf – zu jener Zeit eine halbe Weltreise. Häufig genug schnitten die Schneemassen das Forsthaus so sehr von der Außenwelt ab, dass es nur noch auf Schneeschuhen erreichbar war. Das hielt Katharina Thoma nicht von ihrem Vorhaben ab. Ihr am 21. Januar 1867 geborener Sohn sollte unbedingt gleich nach der Geburt von ihrem verehrten Religionslehrer, dem Geistlichen Rat Joseph Aloys Daisenberger, das Sakrament der Taufe empfangen. Davon erhoffte sie sich eine entscheidende Weichenstellung für das Leben des Neugeborenen.
Dieser Wunsch entsprang einem schmerzhaften Erleben. Ein gutes Jahr vorher, am 5. Dezember 1865, war sie von ihrem dritten Sohn Franz entbunden worden. Er wurde nur drei Wochen alt. Kein Wunder also, dass die tiefgläubige Mutter ihr nächstes Kind dem lieben Gott besonders ans Herz legen wollte. Der Segen des Geistlichen Rats sollte ihm den richtigen Weg weisen. Was notwendig würde, um ihn aufs Gymnasium und schließlich zu den geistlichen Weihen zu bringen – eine Vorstellung, die Ludwig Thoma von Anfang an zutiefst widerstrebte –, das wollte die Mutter selbst besorgen. Die sonst so sparsame Frau scheute in dieser Hinsicht keine Kosten: Eine Hauslehrerin wurde angestellt, der kleine Ludwig musste schon vor der Einschulung Lesen und Schreiben erlernen und wurde vorzeitig in der lateinischen Sprache gedrillt, so dass er die erste Lateinklasse überspringen durfte.
Mit solchen Aktivitäten wurde gleichzeitig die Grundlage für die spätere Auseinandersetzung um Ludwigs Schulleistungen geschaffen, hatte die Mutter »doch alles getan«, um dem Kind den Weg zum Abitur zu ebnen. Allerdings hatte sie für Ludwig lediglich in puncto Ausbildung »alles getan«. Emotional blieb er vernachlässigt. Am Ende war die Beziehung zwischen den beiden tief zerrüttet, der Sohn wurde für alle Misshelligkeiten der Familie verantwortlich gemacht. Briefstellen verweisen auf solche Vorhaltungen. Sogar in den so heiter angelegten ›Lausbubengeschichten‹ bleibt dieses Thema nicht ausgespart.
Die einzige Motivation zu lernen bildete für Ludwig die Bewunderung, die ihm die Jäger wegen seiner Fertigkeit im Lesen und Schreiben entgegenbrachten, ihn gar für ein Genie hielten. Nicht auszuschließen, dass dies zu seinen späteren Phasen der Selbstüberschätzung beitrug.
Der kleine Ludwig schloss sich früh dem Vater an, der von den Absichten seiner Frau nie sonderlich begeistert war, und blieb eifrig bestrebt, sich nach dem Bild zu entwickeln, das dieser von einem »richtigen Buben« hatte. Max Thoma war nach den damaligen Wertmaßstäben selbst »ein richtiger Kerl« gewesen, wovon seine Schwester Friederike in der ›Tante Frieda‹ klagend berichtet. Von den Alkoholproblemen des Vaters muss Ludwig keineswegs etwas bemerkt haben. Alles spricht dafür, dass Max Thoma kein »Spiegeltrinker« war, der seinen Alkoholpegel stets auf einer bestimmten Höhe hält, sondern vielmehr ein umgangssprachlich so genannter »Quartalssäufer«, der sich gelegentlich anfallartig einer Sauforgie hingeben, dann aber auch wieder aufhören konnte.
Die beiden älteren Söhne Max und Peter mit ihrem ausgeprägten Phlegma waren so gar nicht nach seinem Wunsch geraten. Ludwig, der sich von der Mutter gleichermaßen vereinnahmt und zurückgewiesen sah, tat nun alles, um es dem Vater recht zu machen und ihn nachzuahmen. Vor allem das Interesse an der Jagd gehörte dazu. In einem seiner ersten Briefe an seine spätere Geliebte Maidi von Liebermann heißt es: »Dort strampelte der kleine Bub mit dem Herrn Oberförster ins Revier hinaus und hörte auf die Stimmen im Walde, die damals alle so geheimnisvoll waren, der Spechtruf, Vogelstimmen, das Schrecken vom Hochwild.« Mit kindlicher Logik visierte der kleine Ludwig gleich noch ein zweites Ziel an: Wenn die Mutter den Vater liebte, dann musste sie konsequenterweise auch ihn lieben, wenn er diesem glich. So war für Ludwig Thoma das Vaterbild die wesentliche Leitlinie. Die Mutter hingegen blieb im Hintergrund.
Von Ludwig Thomas Vater existieren nur wenige Fotos. Das bekannteste zeigt Max Thoma in seiner ganzen Größe, im derben Gewand, das Jagdgewehr am Boden aufgestützt. Unter der Weste wölbt sich der Ansatz eines Bauches, das Gesicht ist leicht aufgedunsen, vom Alkohol gezeichnet, der Mund verkniffen. Die Augen blicken streng und finster schräg an der Kamera vorbei. Ludwig Thoma selbst überliefert uns in den ›Erinnerungen‹ ein interessantes Detail. Er schildert dort stolz, wie sein Vater immer zu Ludwig II. gerufen wurde, wenn dieser zu einem seiner häufigen Aufenthalte in der Vorderriß weilte. Nächtelang hockten der eigentlich so menschenscheue Monarch und sein Förster dann zusammen, denn Ludwig II. betrank sich gerne in Gesellschaft. Auch Rossknechte und Diener zitierte er herbei.
Aus allen auf die Familie bezogenen Äußerungen Thomas ist herauszulesen, dass außer ihm sämtliche Geschwister nur eine recht distanzierte Beziehung zum Vater pflegten. Die offenkundige Zurückhaltung ihm gegenüber (die sich umgekehrt auch in unpersönlich-hilflosen Briefen des Vaters an den ältesten Sohn Max ausdrückte) hatte natürlich ihren Grund. Im Roman ›Ruepp‹ etwa ist zu lesen: »Die Kinder waren ihm von klein auf aus dem Weg gegangen, wenn er angetrunken heimkam, und blieben scheu gegen ihn, auch wenn er nüchtern war. […] Am besten stand der Ruepp noch mit seinem Jüngsten.«
Der ›Ruepp‹, vor dessen endgültiger Fassung sich Thoma fast acht Jahre lang mit einer Reihe von Ansätzen und Entwürfen herumgeschlagen hatte und den er schließlich fast zwanghaft in dreieinhalb Monaten niederschrieb, wurde für ihn zu einer Art Beichte, in der er zwar verfremdet, aber unübersehbar bislang vertuschte Wahrheiten über die Familie eingestand – vermutlich in der Vorahnung seines nahenden Todes.
Als er am 4. Januar 1921 mit der Abfassung des ›Ruepp‹ begann, geschah dies in der Gewissheit, dass ihm keiner, der die Zusammenhänge richtig deutete, persönlich Vorhaltungen machen konnte, weil er das Erscheinen des Romans wohl nicht mehr erleben würde. Die Schuld des Vaters am Niedergang der Familie, die zerrüttete Ehe der Eltern, alles, was niemand hatte erfahren dürfen, das sollte nun jeder, wenn auch verfremdet, nachlesen können – bis hin zum Gespräch der Mutter mit dem Pfarrer, die sich mit der Frage herumquälte, ob eine Trennung und Scheidung für sie selbst und die Kinder die Situation verbessern würde. Diese Überlegung redete der Pfarrer im Roman der Rueppin ebenso aus wie wohl in der Realität Pfarrer Daisenberger aus Oberammergau Katharina Thoma. (In einem ersten Entwurf von 1913 unter dem Arbeitstitel ›Der Gerolts Hof‹ sucht die Bäuerin sogar ausdrücklich Rat bei einem Pfarrer namens Daisenberger.)
Unter der anfallartigen Trunksucht Max Thomas hatte in finanzieller Hinsicht die ganze Familie zu leiden. Gezecht wurde damals vorwiegend in Gaststuben, wo schnell die Aussicht lockte, das vertrunkene Geld im Spiel doppelt und dreifach zurückzuholen. Mitspieler finden Betrunkene schnell, auch solche, von denen sie dann ausgenommen werden. Andeutungen über eine Heimkehr Max Thomas nach einem Zechgelage liefert das Tagebuch der Viktoria Pröbstl in einem Eintrag vom 1. März 1873. »Hr. Obf. blieb oben. Ludwig hinüber getragen.« Da nirgendwo von einer Erkrankung des Hausherrn die Rede ist, die ein Grund gewesen wäre, »oben« zu bleiben, und er sich in diesem Fall vermutlich auch über einen Besuch des bevorzugten Sohnes, der sich stets an ihn drängte, gefreut hätte, legt der Eintrag den Schluss nahe, dass Max Thoma sich in einem Zustand befand, in dem Ludwig ihn nicht erleben sollte und also zu dem Jagdgehilfen Thomas Bauer »hinüber getragen« und bei ihm untergebracht wurde.
Katharina Thoma verlor jedenfalls kein Wort darüber – schon gar nicht gegenüber den Kindern, die nach einer durchzechten Nacht des Vaters mit der lapidaren Erklärung »dem Papa geht es nicht gut« bedacht wurden. Die wahre Situation und der Umgang der Mutter mit ihr sollte Ludwig Thoma daher erst viel später bewusst werden. Doch obwohl die dunklen Seiten des Vaters dem heranwachsenden Ludwig immer deutlicher vor Augen standen, verehrte er ihn uneingeschränkt und klammerte sich bis zuletzt – selbst ungeachtet der Schulden, die durch ihn entstanden waren und für die er schließlich aufkommen musste – an die positiven Erinnerungen.
Auch der bereits erwähnte Thomas Bauer war und blieb ein großer Bewunderer Max Thomas. Der Jäger, in dem Ludwig schon früh eine Art Ersatzvater fand, fesselte den phantasiebegabten Buben sofort, weil er trefflich zu erzählen wusste. Er hatte jenes abenteuerliche Leben hinter sich, das im Isarwinkel seinerzeit nicht ungewöhnlich war. Bekannt als der »Glaslthomä von Lenggries«, hatte er mit der Jägerei keineswegs im offiziellen Forstdienst begonnen. Der Isarwinkel war damals das Zentrum der Wilderei im Oberland. Die Wilderer setzten den Forstleuten zeitweise derart zu, dass im August 1848 sogar 200 Mann Infanterie gegen die dreist in großen Scharen auftretenden Wildschützen aufmarschierten. Ohne jeden Erfolg.
Thomas Bauer war, ehe er in den Staatsdienst trat, ein Spezi jener Wilderer, denen er nun das Handwerk legen sollte. Die Förster bemühten sich naturgemäß um solche Burschen. Sie waren gute Schützen, die Pirsch im schwierigen Gelände war ihnen ebenso vertraut, wie es die Schliche, Eigenheiten und Gewohnheiten der Wilderer waren, mit denen sie sich schließlich zuvor lange genug herumgetrieben hatten. Der Seitenwechsel, den man übrigens zu jener Zeit auch Georg Jennerwein schmackhaft zu machen suchte, kam den ehemaligen Freunden natürlich so ungelegen, wie er den Forstleuten gelegen kam. In den Forstdienst wechselnde Wilderer lebten deshalb durchaus gefährlich. Wer den Schritt dennoch wagte, den umgab rasch die Aura eines Mannes, der den Gefahren trotzt. Für Buben hat das etwas Faszinierendes, Anziehendes. Auch deshalb suchte und liebte der kleine Ludwig die Nähe von Thomas Bauer, zu dem er auch nach dem Tod des Vaters den Kontakt nie völlig abreißen ließ.
Genau betrachtet entwickelte sich die finanzielle Situation der Familie Thoma ab 1865 aufgrund der Versetzung des Vaters in die Riß ausgesprochen günstig. Bei normalen Ausgaben waren die Bedingungen ideal, Ersparnisse anzusammeln. Zum dortigen Forsthaus gehörten eine Landwirtschaft und ein Gasthaus, das heute noch steht, verziert mit Jagdtrophäen des Max Thoma. Beim Tod des Vaters am 26. September 1874, also bald, nachdem er 1873 nach Forstenried versetzt worden war, stand die Familie jedoch vor dem Nichts. Auch die 3000 Gulden Mitgift der Mutter waren restlos aufgebraucht. Dieser Betrag darf aus heutiger Sicht nicht unterschätzt werden. Mit einer solchen Summe konnte man damals ein sehr schönes Anwesen erwerben. Stattdessen musste die getreue Viktor das Mobiliar veräußern, um die Beerdigungskosten abzudecken.
Das passte nicht zu einer Familie aus dem gehobenen Beamtenstand, entsprechend überrascht waren daher Angehörige und Bekannte über die desolate Lage, die Katharina Thoma – so gut es ging – vor ihnen zu verheimlichen versuchte. Doch das Forsthaus konnte ohne den Vater nicht länger unterhalten werden, eine Auflösung des Haushalts war unausweichlich. Da sich die zu diesem Zeitpunkt kranke Katharina zusammen mit ihren Töchtern in Oberammergau aufhielt, übernahm diese Aufgabe Viktoria Pröbstl. Um ungestört arbeiten zu können, gab sie Ludwig und Peter vorübergehend zum Bruder des Vaters. Am Ende erbrachte der Verkauf der Ökonomie dringend notwendige 400 Gulden.
Nach der Auflösung des Haushalts in Forstenried im Dezember 1874 brachte Viktoria Pröbstl auch die beiden Buben nach Oberammergau und reiste anschließend heim zu ihrer Familie nach Schongau. Katharina Thoma teilte nun die Familie auf. Der Sohn Peter und drei der Mädchen blieben bei ihr in Oberammergau. Ludwig, bislang in Forstenried eingeschult, wurde zusammen mit der zweijährigen Aloisia zu einem Verwandten nach Landstuhl in der Pfalz gebracht, wo er erst die zweite Klasse der Volksschule absolvierte und danach für ein weiteres Jahr auf die Lateinschule in Landstuhl wechselte.
In schlichten Worten vermittelt Viktoria Pröbstl in ihrem Tagebuch ein ergreifendes Bild des nach dem Tod des Vaters völlig verstörten siebenjährigen Buben Ludwig. Das Geschehen des vorausgegangenen Jahres hatte ihn hoffnungslos überfordert. Es begann mit dem Wegzug aus der heimeligen Riß ins alles andere als heimelige Forsthaus Forstenried. Der Aufenthalt dort währte genau 13 Monate, dann starb der Vater, den der Bub stets als Schutz gegen die Ansprüche der Mutter empfunden hatte. Nun folgte also auch noch der für den kleinen Ludwig so ungemein schmerzliche Abschied von Viktoria Pröbstl. Die geradezu traumatisch erlebte Situation brachte ihn nachhaltig aus dem Gleichgewicht. Er entwickelte eine psychische Störung, die nochmals verstärkt wurde, als er im Sommer 1876, anders als die ihm so vertraute Schwester Aloisia, nicht zur Familie zurückkehren durfte, sondern in Neuburg an der Donau im Internat untergebracht wurde. Die neuerliche Abweisung machte ihm, der in der ersten Lateinklasse in Landstuhl gut zurechtgekommen war, offenkundig große Schwierigkeiten, jedenfalls erreichte er das Klassenziel nicht. Daraufhin wurde er nach Burghausen ins Internat geschickt, wo er die zweite Lateinschulklasse mit Erfolg wiederholte, der nächste Schulwechsel, diesmal nach München, war bereits im folgenden Jahr fällig.
Ab Jahresbeginn 1875 bemühte sich Katharina Thoma fast eineinhalb Jahre lang, eine günstigere finanzielle Basis zu schaffen als jene rund 1100 Gulden jährlicher Pension und Beihilfe, die sie als Beamtenwitwe erhielt. Ergebnis war die Pacht des neugebauten Gasthofes »Kampenwand« in Prien am Chiemsee, den sie mit Unterstützung der in den Familienverband zurückgekehrten Viktoria Pröbstl pünktlich zu Beginn der Sommersaison Anfang Juli 1876 in Betrieb nahm. Lediglich während der Ferien weilte Ludwig bei der Familie in Prien. Danach besuchte er wieder das Internat.
Natürlich befand sich Katharina Thoma in einer sehr schwierigen Situation. Das jüngste Kind Bertha zählte, als der Vater starb, gerade mal ein paar Monate, die kleine Aloisia war zwei Jahre alt. Hinzu kamen die sechsjährige Katharina, der siebenjährige Ludwig, der zehnjährige Peter und die beiden »Großen«: Maria mit 14 und Max mit 16 Jahren, der sich bereits in Ausbildung befand. Unter diesen Umständen ist ihre Entscheidung nachvollziehbar, die zeitaufwendige Betreuung der zweijährigen Aloisia, zu der Ludwig bis zu ihrem frühen Tod ein besonders enges Verhältnis hatte, vorübergehend in andere Hände zu legen. Warum aber hat sie Ludwig weggegeben?
Katharina Thoma kümmerten seine Wünsche und Bedürfnisse kaum, das ist in ihren Briefen an den ältesten Sohn Max ebenso nachzulesen wie in den ›Lausbubengeschichten‹. Sie hatte mit ihm ihre eigenen großen Pläne. Der Bub sollte ihr einen Traum erfüllen. Von besonderer Liebe zu ihm finden wir keine Spur, mochte der erwachsene Ludwig Thoma das Verhältnis im Nachhinein noch so schönen. Bis zum Ende zieht sich der vergebliche Versuch, die durch den Vater ausgelösten Probleme und die Erwartungen der Mutter zu bewältigen, wie ein roter Faden durch das literarische Schaffen Ludwig Thomas. Weil er die ehrliche Auseinandersetzung wegen der damit verbundenen schmerzlichen Wahrheiten scheute, blieb die erhoffte Befreiung von der Last elterlicher Zumutungen aus. Daraus entstand ein Werk, das immer wieder unvermutet in wüsten Hass mündete.
Kein Werk Ludwig Thomas ist populärer als seine ›Lausbubengeschichten‹. Der Autor präsentiert sich seinen Lesern in diesem autobiografischen Buch als fröhlicher Bub mit begnadeter Phantasie. Niemand entgeht seinem Schabernack, besonders trifft er jene, denen man das ganz besonders gönnt – und die gute Mutter Thoma, der doch eigentlich das Geld fehlt, den angerichteten Schaden zu regeln, breitet in unendlicher Liebe zu ihrem Sohn ihre Milde darüber. So zumindest empfindet das der Leser. Und genau dieser Eindruck soll entstehen.
Als er die Geschichten 1903 und 1904 niederschrieb, legte Ludwig Thoma erstmals für ein größeres Publikum falsche Fährten. Und niemand hat jemals gefragt, warum das behütete Kind zu Scherzen neigte, die in ihrer Böswilligkeit nicht hinter jenen von Max und Moritz zurückblieben. ›Max und Moritz‹ hat der scharfe Beobachter Wilhelm Busch bestimmt nicht zufällig elternlos dargestellt.
Zum Abschluss seines Aufenthalts bei Onkel Paulus in Landstuhl wird Ludwig Thoma von seinen Lehrern mit einem bemerkenswerten Zeugniseintrag verabschiedet. »In seinem Charakter liegt etwas Durchtriebenes. Bei Tadel und Strafe zeigt er eine für seine Jahre ungewöhnliche Kälte und hartnäckige, trotzige Unempfindlichkeit«, schreiben sie.
Prägnant zusammengefasst entsprechen die Beobachtungen der Landstuhler Lehrer exakt dem Bild, das Thoma auch in den ›Lausbubengeschichten‹ von sich vermittelt. Unterstrichen werden sie von den einfühlsamen Zeichnungen des Norwegers Olaf Gulbransson, der mit seinem naiv-menschlichen Blick und seinen feinen Antennen mehr vom echten Ludwig Thoma erkennt als jeder andere. Er erahnt die tiefe Trauer, die sich hinter den ›Lausbubengeschichten‹ verbirgt, und zeichnet Ludwig als einen zum Lachen über den eigenen Schabernack unfähigen Buben. Der fröhliche, der liebenswerte Bub, den Thoma selbst schildert, will Gulbransson nicht aus der Feder. Bei ihm, der ihn kannte und mochte wie wenige, ist er mürrisch. Wahrscheinlich hat Thoma diese Bilder, die ihn entlarven, sogar geliebt. Von Gulbransson ließ er sich nicht nur gerne zeichnen, der von ihm hoch geschätzte Norweger zählte auch zu den wenigen Simpl-Kollegen, über die er nicht hinter deren Rücken übel herzog.
Der Grund, weshalb Ludwig ständig aneckte, ist aus den ›Lausbubengeschichten‹ nicht herauszulesen. Fest steht: Der Siebenjährige, zutiefst aufgewühlt und emotional aus der Bahn geworfen durch den plötzlichen Verlust des Vaters, wurde aus seinem gewohnten Umfeld gerissen, weg von seiner nun einzig verbliebenen wesentlichen Bezugsperson, Viktoria Pröbstl, einer ausnehmend klugen Frau, mit praktischem Sachverstand ebenso ausgestattet wie mit feinem Gespür, die die Not des Kleinen erkannte. Nach dem Tod des Vaters notierte sie in ihrem Tagebuch: »Ludwig ging mir nicht mehr von der Stelle«, er hing verzweifelt an ihrem Rockzipfel. Als er sich von der geliebten Viktor trennen musste, weinte Ludwig »bitterlich«. Wie trostlos und verloren er und die Schwester Aloisia sich gefühlt haben müssen, zeigt eine Fotografie, die kurz nach deren Ankunft in Landstuhl bei Onkel Albert Paulus entstand. Mit leeren Gesichtern und stumpfem Blick stehen die beiden da – ein Bild des Jammers.
Einen Ausgleich für die fehlende Zuwendung in der Fremde erwartete Ludwig natürlich in den Ferien vor allem von der Mutter, aber auch von den Schwestern. Doch er erfuhr nur Zurückweisung. Die ›Lausbubengeschichten‹ sind voll solcher Momente. Geradezu zwangsläufig versagte Thoma als Schüler. Da er kein Zuhause hatte, mangelte es ihm am emotionalen Gegengewicht zum rational ausgerichteten Lernen. Gleichzeitig wuchs wegen seiner unzureichenden Leistungen der mütterliche Druck auf den kleinen Ludwig, drohte doch der Plan, den sie mit ihm hatte, zu scheitern.
Weil das Zeugnis wieder einmal besorgniserregend ausgefallen war, drohte sie dem Buben, »dass ich nächster Tage zu einem Schuster in die Lehre gegeben würde, und als ich gegen dieses ehrbare Handwerk keine Abneigung zeigte, erwuchsen mir sogar daraus heftige Vorwürfe«. Solche Situationen prägen sich bitter ein: als Gewissheit, dass man es niemand recht machen kann.
Zugleich wurde Ludwig von seiner Mutter auch noch der Herablassung dünkelhafter Nachbarn ausgesetzt, deren perfekt gedrillte Kinder bessere Schulnoten erzielten: »Das ärgerte mich so stark, dass ich beschloss, ihnen eines zu geben.« Mit einem einzigen Satz entlarvte er das überspannte Getue des hochnäsigen Herrn Vollbeck. »Die gute Frau Thoma hat ihren Ludwig mitgebracht«, sagte der Nachbar bei der Begrüßung von oben herab. Sie hat ihn natürlich mitgebracht, um zu beweisen, dass der ortsbekannte Tunichtgut (dessen Zeugnisse und Taten ja nur deshalb bekannt sein konnten, weil der Rest der Familie die peinliche Angelegenheit ausplauderte oder – aus Ludwigs Sicht – verpetzte) im Grunde doch gutwillig und ein vorzeigbares Kind ist. Doch als Herr Vollbeck mit gezierten Worten Bildung vorspielte, entgegnete er: »Es heißt gar nicht Scheologie, sondern Geologie.«
Die Wirkung traf Thoma unvorbereitet. »Beinahe hätte mich diese Bemerkung gereut, als ich die große Verlegenheit meiner Mutter sah; sie mochte sich wohl sehr über mich schämen, und sie hatte Tränen in den Augen.« Noch in der Rückerinnerung fast ein Vierteljahrhundert später weckte die Reaktion der Mutter bei Ludwig Thoma jenes Unrechtsbewusstsein, auf das sie abzielte, und gleichzeitig die Wut darüber, dass sie sich selbst da, wo er im Recht war, nie hinter ihn stellte und ihm so ihren Schutz verweigerte. Diese Szene zeigt einprägsam, dass Mutter und Sohn nicht zueinanderfinden konnten: Beide fühlten sich vom anderen im Stich gelassen.
Das Bild der Mutter, das in den ›Lausbubengeschichten‹ gezeichnet wird, ist zwiespältig und fügt sich nur schwer zusammen. Da ist auf der einen Seite die Mutter, die gern ins Klagen verfällt und bei ihrem Sohn damit ein schlechtes Gewissen provozieren will: »Ich bin furchtbar zornig geworden, wie ich gesehen habe, daß meine alte Mutter den kleinen, alten Geldbeutel herausgetan hat, und ihre Hände waren ganz zittrig, wie sie das Geld aufgezählt hat.« Die Mutter inszeniert die Situation bewusst so, dass sie Mitleid auslösen soll, bewirkt dabei aber eher das Gegenteil: Ludwig wird ärgerlich. Auf der anderen Seite steht eine Mutter, der gegenüber er Reue und Bedauern verspürt und die er milde und verzeihend, mütterlich-warmherzig und versöhnlich schildert.
In der fiktiven Mutterfigur hat Thoma zwei Personen mit ihren spezifischen (und eigentlich unvereinbaren) Merkmalen und Verhaltensmustern zu einer Person zusammengezogen. Die klagende, vorwurfsvolle Hälfte ist Katharina Thoma, die verzeihende, tröstende Hälfte ist Viktoria Pröbstl. Katharina Thoma war, bedenkt man ihre lange Witwenschaft, eine auffallend unselbständige Frau, die ohne die Tatkraft und das entschiedene Handeln der ganz anders gearteten Viktoria Pröbstl nicht auskam. Schon in der Jugend war sie von den Verpflichtungen, die das elterliche Geschäftshaus mit sich brachte, überfordert und suchte in Oberammergau Zuflucht bei literarischen Zirkeln und dem Pfarrer Joseph Daisenberger. Sie neigte zum Kränkeln ebenso wie zum Selbstmitleid, Anlagen, die sich nur allzu häufig mit besonders intensiver Religiosität verbinden. Der so stark auftretende Max Thoma muss da wie ein Fels in der Brandung auf sie gewirkt haben. Dass die breiten Schultern des mächtigen Mannsbildes eklatante Schwächen verbargen, die auch sie ihm nicht abgewöhnen konnte, wurde ihr zu spät klar.
Der erkennbar fehlende Rückhalt durch die Mutter machte aus Ludwig Thoma schnell das schwarze Schaf der Klasse (die energische und zupackende Viktoria Pröbstl, die ihm ohne jeden Zweifel schützend zur Seite gestanden hätte, konnte in der Schule mangels offizieller Erziehungsberechtigung natürlich nicht für ihren Ludwig eintreten): »Du bist eine verdorbene Pflanze in unserem Garten«, »Er sagte, daß ich eine Verbrechernatur habe und eine katilinarische Existenz bin«, »Du bist ein gemeiner Lügner und du wirst noch im Zuchthaus enden« – das ist nur eine kleine Auswahl der Bewertungen und Prognosen, die Ludwig Thomas Lehrer ihm auf ein paar Seiten der ›Lausbubengeschichten‹ an den Kopf werfen. Es gibt ausreichend Anhaltspunkte dafür, dass Thoma diese Vorwürfe für die literarische Verarbeitung zwar verdichtet, aber keineswegs erfunden hat. Thomas Schulfreund Richard Rothmaier bestätigt diese negative Einstellung der Lehrer und überliefert den freudigen Ausruf eines Professors: »Ah, da haben wir den Thoma einmal schön erwischt!«
Der negative Leumund und die Aufsässigkeit des Heranwachsenden erzwangen regelmäßige Schulwechsel. Von Neuburg war er nach Burghausen gezogen, anschließend ans Münchner Wilhelmsgymnasium. Als ihm dort der Rauswurf drohte, erlangte er für das Abiturjahr durch Vermittlung seines Vormunds, des dortigen Kreisforstmeisters Ludwig Freiherr von Raesfeld, eine eher gnädige Aufnahme am Gymnasium in Landshut. Die »Sonstigen Bemerkungen« des Abiturzeugnisses halten fest, »Thoma befand sich nur ein Jahr an der pp. Anstalt. Seine früheren Studien machte er am Wilhelmsgymn. in München, betrug sich aber dort so, daß ihm ernstlich bedeutet werden mußte, die Anstalt zu wechseln. Hier merkte er sich die eindringlichen Warnungen, mit denen er empfangen wurde, im Laufe des Jahres so gut, daß er keine Handhabe bot, gegen ihn einzuschreiten, aber nach dem Absolutorium zeigte er wieder seine alte Natur und verübte in der Stadt nachts einige unwürdige Bübereien, die ihn mit der Polizei in Konflikt brachten.« Ludwig Thoma hatte im Anschluss an das übliche gemeinsame Gelage der Abiturienten ein Fahrzeug gestohlen und in den Graben kutschiert. Die Mutter reagierte auf alle Vorfälle hilflos, unterwürfig gegenüber anderen, vorwurfsvoll und hypochondrisch dem Sohn gegenüber.
Die Schulwechsel brachten natürlich auch Wechsel der Pensionsfamilien mit sich, bei denen es ebenfalls regelmäßig zu Auseinandersetzungen kam. Der »Onkel Franz« der ›Lausbubengeschichten‹, in Wahrheit der Postassistent Wilhelm Ruppert, bei dem Ludwig Thoma untergebracht war, lag eigentlich nur auf der Lauer: »Warte nur, du Lausbub, ich krieg dich schon noch.« Der Bub rächte sich prompt mit neuen Ungezogenheiten an wehrlosen Dritten. »Vom Fenster aus konnte man auf die Straße hinunterspucken, und es klatschte furchtbar, wenn es daneben ging. Aber wenn man die Leute traf, schauten sie zornig herum und schimpften abscheulich. Da habe ich oft gelacht, aber sonst war es gar nicht lustig.«
Die ständige Herabsetzung seiner Person durch Lehrer und Erzieher lenkte die Aggressionen des Buben seinerseits auf Schwächere und Hilflose, für Ludwig Thoma der einzige Ausweg, ein wenig Selbstwertgefühl zu bewahren. Dieser bewährten Krücke bediente er sich lebenslang. Selbst in seinen besten Tagen trat er bedenkenlos, roh und verbal unsäglich ausfallend nach denen, die ihm unterlegen waren.
Aus einem Brief Katharina Thomas an ihren ältesten Sohn Max, der seit 1880 das Oberammergauer Handelshaus Lang in Australien vertrat, erfahren wir mehr über die Familie Thoma als aus ein paar hundert Seiten der ›Erinnerungen‹. Er wurde vermutlich 1883 nach dem überstürzten Wegzug aus Prien verfasst und ist voller Klagen über Ludwig: »Bei mir will heute das Schreiben nicht recht gehen, da ich leider Mittag wieder nach München muß, Ludwig macht mir soviel Verdruß u. Kummer ich muß augenblicklich eine andere Wohnung für ihn nehmen da ihn Onkel nicht mehr behält, daß mir Ludwig so viel Herzleid anthun kann, wie schön könte er es haben, er hätte es viel besser als Ihr es hattet, nun lohnt er es mit solchen Undank, in der Classe geht es gerade so, doch Viel darf nicht kommen, ist es auch vorbei, was anfangen ich wüßte keinen Rath u. ein Bursche der lügt nascht u. roh ist taugt ja nirgend Etwas. Wie oft sage ich ihm welch unsäglicher Schaden es für die Schwester dann ist, den kein Mann hat Lust in solch eine Familie zu kommen und wär weiß schon was am See die Ursache war, wie schwer ich mich halte wen so Etwas ist, wie oft habe ich den lieben Gott gedankt, daß wir so in Achtung da waren, aber wenn Ludwig so fort macht, wie weit wird er kommen u. man wird dan auch uns meiden, ich habe ihm schon oft gesagt, mein Max, wen da wäre wie würde er es Dir sagen, u. erst lieb. Papa seel. wen er wüßte welch Undank ich von Ludwig hätte.«
Die Grundhaltung der Mutter gegenüber Ludwig wird hier überdeutlich. Nicht nur, dass er unverkennbar als Sündenbock der Familie fungiert, die Mutter rechtfertigt ihr Verhalten, indem sie behauptet, Ludwig habe es ja besser als die beiden Großen. Dabei zeigt er alle Symptome einer eklatanten Vernachlässigung: Er lügt, er nascht, er rächt sich an anderen voller Rohheit und (auch wenn die Mutter das nicht erwähnt, weil es ja die Umwelt wenig beeinträchtigt) schließlich kaut er auch noch an den Fingernägeln. Das aggressive Verhalten hatte Folgen. Die spießbürgerliche Umwelt lehnte den brutal um Zuwendung kämpfenden Ludwig ab. Der Heranwachsende erlebte schmerzhaft die Rolle des Ausgestoßenen, die er selbst noch verschärfte, indem er Gewalt und Drohung als Kommunikations- und Anbiederungsform zelebrierte. Die Mutter erspürte nichts davon. Sie flüchtete vor solchen Einsichten ins Selbstmitleid. Statt auf Ludwig zuzugehen, jammerte sie: »Man wird dan auch uns meiden.« In die Erwähnung vom »lieb. Papa seel.« hatte Katharina Thoma geschickt ihren Wunsch verpackt, ihr Ältester möge an Ludwig einen gepfefferten Brief schreiben und mit einem Hinweis auf den Vater dem Bruder das Gewissen belasten. Diesen Wunsch drückt Schwester Marie in einem Nachsatz ganz unverblümt aus: »Schreibe ihm doch du einen recht bösen Brief!«
Falls sich Max zu diesem »bösen Brief« entschlossen haben sollte, dürfte er bei seinem Bruder Ludwig damit wenig erreicht haben, denn Max war selbst ein ziemlich problematischer Schüler gewesen, um dessen schulisches Fortkommen sich aber noch, belegt durch eine Reihe von Briefen, der Vater gekümmert hatte, der beharrlich bessere Zeugnisse anmahnte. Auch als Lehrling in der Galanteriewarenhandlung des Münchner Kaufmannes Camille Thierry, in die er im Alter von 13 Jahren eingetreten war, machte er Probleme. Er musste sogar abgemahnt werden, weil er sich offenkundig einige Diebereien hatte zuschulden kommen lassen. Natürlich ergänzte Katharina Thoma die väterlichen Ermahnungen stets durch eigene Zeilen, allerdings, ganz anders als bei Ludwig, durchaus verbunden mit Versicherungen ihrer tiefen Zuneigung: »Du weißt, wie unendlich lieb Dich Deine Mama hat«, heißt es etwa in einem undatierten Brief aus der Riß, der mit dem Hinweis endet, Max wisse »aber auch, daß Du diese Liebe sehr schmälern wirst, wenn Du nicht ein ganz gutes Kind bist, wie sie es wünscht«. Ungeachtet solcher Drohungen war und blieb Max, der in der Schule eher durch mangelnden Ehrgeiz auffiel als durch Renitenz und üble Streiche, jedoch ihr Liebling.
Äußerst scharf schrieb Ludwig Thoma seiner Mutter in einem Brief vom 26. Juli 1885, wie sehr er unter dem Mangel an Liebe litt. Gleichzeitig machte ihr der 18-Jährige mit großer Deutlichkeit klar, dass er sich nicht mehr gängeln lassen wolle. »Ich habe Grund zur Lustigkeit u. bin auch lustig; heute gieng ich auf die Haidhauser Dult, damit Du weißt, wo ich am Sonntag war; kasteien u. Stubensitzen thue ich nicht.« Und weiter: »Überhaupt begreife ich Deinen ganzen Brief nicht, Kummer!! Ich glaube, Du bist es so gewöhnt, mir immer von Deinem Kummer zu schreiben, daß Du nicht mehr anders kannst. Meinen möchte man es. Das ist zum Wahnsinnigwerden. Am Ende des Jahres, wo man gewiß weiß, daß man aufsteigen darf, von Kummer zu reden. Bist Du denn so ganz anders als andere Leute? Die freuen sich, daß das Jahr gut zu Ende ist u. Du hast Kummer! Also, wenn ich Dich bitten darf, sei so gut u. versalze mir nicht die ganze Freude aufs Wiedersehen, die jetzt schon ziemlich abgekühlt ist.« Lange aufgestaute Enttäuschung spricht aus diesen Zeilen.
Seinem Vormund schrieb er einmal, »die Vorwürfe, daß ich soviel Geld brauche, während meine Geschwister nichts erhalten, die machen mir manche trübe Stunde«. Wer anders als die Mutter selbst könnte diesen Vorwurf an Ludwig gerichtet haben?
Kennzeichnenderweise ist dies ein Motiv, das viele Jahre später im ›Ruepp‹ wieder auftaucht. Es ist auch ein Motiv, das sehr deutlich in der ›Tante Frieda‹ herausgearbeitet ist. Dort richtet sich der Vorwurf, zu viel Geld auszugeben, gegen den Vater Max. Nun hat sich Ludwig tatsächlich früh und lebenslang am väterlichen Vorbild orientiert, hat ihm in so vielen Details nachgeeifert, dass ein gewisser Ebenbildcharakter entstand. Ein Brief der Mutter an ihren Sohn Max belegt, dass ihr diese Parallele nicht gefiel. Der Vater war leichtfertig mit Geld umgegangen, also bedurfte auch Ludwig besonderer Aufsicht und Mahnungen, um das Schlimmste zu verhindern, denn wie immer legte sie das, was sie sah oder hörte, nicht zu seinen Gunsten aus, sondern zu seinem Nachteil. »Was den Strudel der Münchner Vergnügungen betrifft, kannst Du ohne Sorge sein, das ist nicht so arg«, berichtet er aus den Faschingstagen des Jahres 1893. Doch während er die Mutter auf diese Weise zu beruhigen versuchte, ging er seinen Traunsteiner Gönner Jakob Frankl ungeniert um Geld an. Ganz unberechtigt waren die Sorgen der Mutter also nicht.
Die wenigen Zeilen Ludwigs an die Mutter, die erhalten geblieben sind, sind recht unpersönlich gehalten, förmlich und ohne jene Herzlichkeit, die ein intensives, liebevolles Mutter-Sohn-Verhältnis eigentlich auszeichnen müsste. Einen dieser Briefe schrieb Ludwig Thoma während seines Münchner Praktikums. »Du darfst nicht böse sein, daß ich Dir erst jetzt schreibe«, heißt es da, verbunden mit ein paar wenig überzeugenden Gründen für die Verzögerung. Ganz sicher war ihm eine rasche Meldung seiner Ankunft in München gar nicht wichtig, wissend, dass sie auch für die Mutter nicht wichtig war.
Bei Frankl bedankte sich Thoma für die übersandten hundert Mark jedenfalls überschwänglich und mit einem Tätigkeitsnachweis, außerdem mit dem Wunsch: »Verlieren Sie nicht den Glauben an mich.« Der Brief wirkt intimer und vor allem auch informativer als jener an die Mutter. Auch ein Brief, der beinahe gleichzeitig an Viktoria Pröbstl nach Traunstein ging, versprüht eine Herzlichkeit, die gegenüber der Mutter so augenfällig ausblieb.
Katharina Thomas Selbstmitleid stand als steter Vorwurf vor den Kindern und erschwerte deren Schritte in ein eigenes, selbständiges Leben. Tatsächlich waren der ungebärdige, weil wehrhafte Ludwig und die nach ihm geborene kratzbürstige Katharina (also ausgerechnet die beiden vorwiegend von Viktoria Pröbstl erzogenen) die einzigen unter Katharina Thomas Kindern, die jemals zur Selbständigkeit fanden. Alle übrigen waren auffallend lebensuntüchtig oder starben früh.
Die Disziplinierungsmaßnahmen, die die Mutter gegenüber Ludwig anwandte, waren ebenso irrational wie dessen Reaktionen. Im Endeffekt kämpften hier zwei Menschen um Zuwendung mit Waffen, die jede Zuwendung ausschlossen. Weil der junge Ludwig die Liebe der Mutter nicht gewinnen konnte, wollte er zumindest auf sich aufmerksam machen. Oder er suchte woanders Unterschlupf und Geborgenheit, beispielsweise in Prien am Chiemsee bei zwei alten Männern, die in einem Schuppen hinter dem Gasthof »Kampenwand« hausten. Hier roch es wie einst in der heimeligen Riß im Stübchen von Thomas Bauer nach derbem Tabak. Der Bub durfte mitrauchen – und zeichnete solche Figuren später als Autor in liebevollen Schilderungen nach.
Im Jahr 1883 hatte Katharina Thoma nach sieben Jahren die »Kampenwand« in Prien am Chiemsee aufgegeben und die »Post« in Traunstein gepachtet. Anders als Traunstein war Prien ein beliebter Luftkurort und damit interessanter für einen gastronomischen Betrieb, auch wenn die »Kampenwand« außerhalb des Ortes Richtung See lag. Warum also der Ortswechsel?
Prien liegt in einer lieblichen Landschaft. Im Frühjahr ziehen sich die Wiesen in leuchtendem Gelb den See entlang Richtung Zeller Horn, Kampenwand und Hochgern, zwischen denen der letzte Schnee auf dem Kaisergebirge und den Loferer Steinbergen herüberlugt. Auch der Herbst ist am Chiemsee von eigenwilliger, herber Schönheit, wenn das Schilf gilbt, das dann in einem scharfen Kontrast steht zum dunklen Graublau des Sees und dem hellen Blau des Himmels, über den der Wind weiße Wolkengebilde schiebt. Nichts davon findet sich bei Thoma. Der Dichter, der das Dachauer Hinterland und den Tegernsee aufnahm und wiedergab mit den Augen eines Malers, hat während seiner Ferienwochen in Prien offenbar nichts davon bemerkt.
Katharina Thomas Brief an Max zeigt deutlich, dass der Ortswechsel nicht freiwillig erfolgte, sondern durch eine Ludwig zugeschriebene »Schandtat« unausweichlich wurde. Die damals 23-jährige und somit längst heiratsfähige Marie könnte einen Verehrer eingebüßt haben, wofür Mutter und Tochter die Schuld bei Ludwig suchten. Die Auflösung oder auch nur die Absage einer bereits öffentlich gemachten Verlobung war damals für eine junge Frau aus bürgerlichen Kreisen eine Katastrophe – so peinlich, dass man sich lieber woanders niederließ. Tatsächlich hatte Ludwig wohl selbst kein reines Gewissen. Die verminderten Heiratschancen der Schwestern spielen eine zentrale Rolle in den ›Lausbubengeschichten‹, wobei dort der jüngere Bruder als »Wiedergutmachung« die ältere Schwester dann doch noch als »Frau Bindinger« unter die ersehnte Haube bringt. Maria Thoma hingegen verstarb 1897 unverheiratet.
Als der älteste Bruder Max im Sommer 1901 mit seiner Familie aus Australien zurückkehrte, war er auf die Unterstützung Ludwigs angewiesen, um in Deutschland wieder Fuß fassen zu können. Dies sei für ihn eine Selbstverständlichkeit, erläuterte Ludwig in einem Brief an seine Cousine Ricca Lang in Oberammergau, »denn ich gebe auf diese Weise zurück, was ich von unserer Mama erhielt u. ich weiß, daß unsere Mutter keine bessere Verwendung wünschte für das Geld, als wenn ich es ihrem Ältesten zurückzahle«. Dabei wiegte sich Ludwig Thoma wohl in der Illusion, dass ihn die tote Mutter doch noch ins Herz geschlossen hätte dafür, dass er ihrem geliebten Großen so viel Gutes tat. Hier gestand er die Vorliebe der Mutter für »ihren Ältesten« ganz offen ein. Schließlich brauchte er ja gerade Ricca, die sich in diesen Dingen wohl genau auskannte, nichts vorzumachen. Konsequenterweise sprach Thoma daher auch nicht von »meiner lieben Mama« (wie er das später so auffallend gegenüber Maidi von Liebermann tun würde).
Die Rückreise von Max aus Australien wurde mit Ludwig Thomas Honorar für die Geschichte ›Die Hochzeit‹ in Höhe von 750