Jörg Isermeyer, geboren 1968 in Bad Segeberg, reiste als Straßenmusiker quer durch Europa. Nach seinem Studium zog er die freie Künstlerlaufbahn einer Universitäts-Karriere vor und lebt heute als Schauspieler, Regisseur, Theaterpädagoge, Musiker und Schriftsteller in Bremen und anderswo. Er veröffentlichte bereits »Alles andere als normal« bei Beltz & Gelberg, ein Roman, der auf dem Theaterstück »Ohne Moos nix los« basiert. Dafür erhielt der Autor den Berliner Kindertheaterpreis und wurde für den Mühlheimer KinderStückePreis nominiert.
GRRRRROUMMS!!! Ein ganzer Meteoritenschwarm fällt mir vom Herzen. Ich bin gerettet.
Das Raumschiff ist noch da!
Einen Moment überlege ich, ob ich vor Glück auf die Knie sinken soll. Das wäre bestimmt voll der Hingucker. Aber ich lasse es – wir sind ja nicht im Kino – und taumele auf mein Schiff zu. Die metallgrauen Platten blitzen in der Sonne und ich bin wie geblendet. Trotzdem sehe ich: Alles ist startklar. Die Antriebsdüsen brummen und die Mannschaft sitzt auf ihren Plätzen. Nur die Einstiegsrampe ist noch geöffnet.
Sie warten nur auf mich, ihren Captain!
Meine Beine bewegen sich von allein, in Gedanken bin ich schon bei meinen Leuten: lässiges Schulterklopfen, ein paar lockere Sprüche. Dann werde ich die Befehle geben und den Steuerknüppel in die Hand nehmen. Kein Wort über die Ängste, die hinter mir liegen. Über die Gefahr, dort draußen auf diesem Wüstenplaneten zu verrecken.
»Captain Bastian! Captain Bastian!«, höre ich sie rufen …
… jetzt erkenne ich ihre Gesichter …
… ein letzter Schritt …
… der Sprung zur nächsten Galaxie ist zum Greifen nah …
… und doch Lichtjahre entfernt.
Meine Hände stoßen gegen etwas Kaltes, Glattes, Durchsichtiges. Uns trennt eine Schaufensterscheibe. Und vor allem: das Preisschild. Die Zahl kann man genauso gut durch das Zeichen für unendlich ersetzen. Bei meinem Taschengeld macht das keinen Unterschied – da kann ich sparen, bis ich Opa bin.
Mindestens.
Eine Weile starre ich so auf das Ziel meiner Träume, schließlich nehme ich die Hände vom Glas und versenke sie in den Hosentaschen. Aber dort finde ich auch keine Lösung, die sind leer wie ein schwarzes Loch. Meine Finger ballen sich zu Fäusten.
Seit einer Woche geht das so: Nach der Schule sprinte ich los, um vor dem Nachhauseweg noch schnell einen Blick auf mein Traumschiff zu werfen. Jedes Mal komme ich mit klopfendem Herzen angerannt. Jedes Mal die Erleichterung: Es ist noch da!
Und dann?
Wenn wenigstens Weihnachten in Sicht wäre, oder mein Geburtstag. Oder ich einen Laserblick hätte, mit dem man Scheiben zerschneiden kann. Ein schneller Griff und mit Turbogeschwindigkeit um die Ecke. Oder …
Es gibt tausend Möglichkeiten!
Nur: Keine einzige ist für mich machbar.
Ich drehe mich um und schlurfe nach Hause. Obwohl ich nicht mehr an der Scheibe klebe, fühle ich mich wie Fliegenmatsch. Eben noch im freien Flug und dann … PFLATSCH!
Das Leben ist hart. Besonders wenn man kein Erwachsener ist und viel zu wenig Taschengeld bekommt.
Wütend trete ich gegen einen Laternenpfahl. Leider zu doll, jetzt tut mir auch noch der Zeh weh. Fluchend humpele ich weiter.
Wenn dir der Weg zu steinig ist, musst du nicht deinen Füßen die Schuld geben.
Na klar, die klugen Ratschläge meiner Mutter fallen mir immer erst hinterher ein. Sie hat Unmengen solcher Sprichwörter auf dem Kasten, für jede Situation ein Dutzend. Und für das Gegenteil mindestens genauso viel. Doch die helfen mir jetzt nicht weiter.
Ich weiß ja, was mir fehlt.
Aber selbst dazu hätte sie einen parat: Wissen allein ändert die Welt nicht. Oder noch besser: Das Leben belohnt den, der handelt.
Hm … wobei der gar nicht mal schlecht ist.
Vielleicht sollte ich meine Mutter mit ihren eigenen Waffen schlagen? Langsam formt sich aus dem hinkenden Fliegenpamps wieder ein mit allen galaktischen Wassern gewaschener Weltraumpilot.
Es wird Zeit für ein ernstes Gespräch mit meinen Eltern.
Beim Abendessen ist eigentlich eine gute Gelegenheit. Da ist Familienfrieden angesagt. Immer wenn meine kleine Schwester sich darüber beschwert, dass ich viel mehr auf dem Teller habe, besänftigt meine Mutter sie mit den Worten: »Sophie, es gibt genug Streit auf der Welt. Da müssen wir nicht mitmachen.«
Andererseits heißt ›kein Streit‹ nicht automatisch, dass einem die anderen recht geben. Selbst wenn man hundertmal recht hat. Jedenfalls traue ich mich nicht und sortiere erst mal meine Gedanken … und das Gemüse auf meinem Teller.
Gurke, Gurke, Möhre, Rettich
fertig ist das Mondgesicht.
Links und rechts ein Blatt Salat
Mondgesicht jetzt Ohren hat.
»Bastian, alles okay bei dir?«
»Ja, wieso?«
Fragend schaue ich meine Mutter an.
»Wir sind fast fertig … und du hast noch nicht einmal angefangen.«
»Du sagst doch immer, ich soll langsam essen.«
»Ja«, sagt sie lächelnd, »aber nicht so langsam.«
»Ich hab gerade nachgedacht.«
»Und worüber?«
»Ach, über …«
Ich lege zwei Kohlrabischnitze als Augenbrauen dazu. Irgendwie fühlt es sich nicht nach dem besten Moment an. Wobei der für das Thema Taschengelderhöhung wahrscheinlich nie kommt.
»… nix Bestimmtes!«
»Na, dann kannst du auch essen.«
»Mach ich doch.«
Aber stattdessen baue ich noch Zähne aus Maiskörnern an.
»Bastian, das ist Gemüse«, stöhnt sie. »Das Lego ist drüben in deinem Zimmer.«
Meine Mutter ist Ernährungsberaterin und kennt sich wahnsinnig gut damit aus, was und wie man essen soll. Leider verdient sie nicht nur Geld damit, sondern lässt es auch an uns aus – obwohl ich den Unterschied zwischen Möhren und Spielzeug problemlos selbst hinbekomme. Aber was schmeckt, davon hat sie keine Ahnung. Wenn es Pommes mit Ketchup geben würde, wäre ich längst pappsatt.
»Ist doch eine Superidee«, schaltet sich mein Vater ein. »Andere nennen das Kunst und verdienen damit ein Schweinegeld.«
Auf seinem Teller entsteht blitzschnell eine Monsterfratze.
»Und? Wer bietet die erste Million?«, fragt er. »Es heißt DER GURKEN-GLOBBER.«
Sophie prustet los und verteilt eine Mundladung Vollkornbratling über den Tisch.
Meine Mutter verdreht die Augen. »Sophie, das ist der falsche Weg. Das sollte in deinen Bauch rein.«
»Ein halb zerkauter Bratling liegt auf dem Tisch«, ergreift mein Vater wieder das Wort. »Wer bietet mehr? Ein halb zerkauter Bratling für den GURKEN-GLOBBER! Zum Ersten, zum Zweiten und … zum Dritten.«
Seine Hand knallt zum Abschluss der Versteigerung auf den Tisch. Erstaunt guckt er uns an.
»Was?! Mehr ist euch mein Kunstwerk nicht wert?!!!« Er hat wohl einen größeren Einsatz erwartet »Dann esse ich meinen GLOBBER lieber selber. Sophie, du kannst deinen halben Bratling behalten.«
Worauf eine weitere Ladung auf dem Tisch landet. Mit einem Achselzucken und einem »Tschüss, Globber« verschwindet das Monster im Mund meines Vaters.
Lachend schüttelt meine Mutter den Kopf.
»Du bist genauso ein Spinner wie dein Sohn.«
»Und ich? Was haltet ihr von meinem Bild?«
Auf dem Teller meiner Schwester kann ich nur einen Haufen Gemüse erkennen. Sophie ist fünf und versucht ständig, mich zu übertrumpfen – was echt nervt. Vor allem, weil sie es nie schafft. Und anschließend ist sie immer beleidigt.
»Toll«, sagt meine Mutter. »Was soll das sein?«
»Seht ihr das nicht?« Sophie guckt ganz erstaunt.
»Ähm … ein Fisch?«, rät mein Vater.
»Eine Giraffe?«, versucht es meine Mutter.
»Ein Verkehrsunfall«, ergänze ich, »mit mindestens zwanzig Toten.«
Sophie verschränkt beleidigt die Arme vor der Brust.
»Das ist eine Katze. Und ihr seid doof.«
»Sophie, sei bitte nicht so streng mit uns.« Vater legt tröstend einen Arm um ihre Schulter. »Weißt du: Die meisten großen Künstler haben es am Anfang schwer.«
»Bin kein Künstler«, grummelt sie.
»Außerdem habe ich einen anstrengenden Tag hinter mir. Aber bald ist der Stress vorbei, versprochen.« Er wuschelt ihr durchs Haar und grinst in die Runde. »Noch ein, zwei Telefonate, dann ist die Sache im Kasten – und ich habe mir eine kleine Pause verdient.«
»Wirklich?« Meine Mutter strahlt ihn an. »Sophie, das ist doch toll. Dann können wir alle zusammen was unternehmen. In den Zoo gehen oder ans Meer fahren …«
»Will nicht ans Meer!«
Sophie schmollt noch, aber als mein Vater ihr mit einem »lecker Katzentatzen« die Möhren vom Teller klaut, ist sie wieder versöhnt. Ich frage mich, ob er das auch bei seinen Geschäftsessen macht.
Im Gegensatz zu meiner Mutter hat er eine Arbeit, mit der er uns nicht quält: Er plant Windkraftanlagen. Dazu bringt er die verschiedensten Menschen an einen Tisch – vom Bauern bis zum Bürgermeister – und sorgt dafür, dass sie sich vertragen. Am Ende sind dann alle für so eine Anlage und woanders kann ein Atom- oder ein Kohlekraftwerk dichtmachen. Und damit haben wir weniger gefährlichen Atommüll herumliegen oder Dreck und Abgase in der Luft. Mutter sagt, dass er damit ein wenig die Welt rettet. Nicht so wie Superman, aber fast … und bestimmt kann so ein Heldenvater zur Abwechslung mal seinen Sohn retten. Ich muss ihm nur das richtige Stichwort geben.
»Prima, Papa. Krieg ich dann mehr Taschengeld?«
Leider ist meine Mutter schneller.
»Bastian! Das Thema hatten wir erst heute Morgen. Und die Antwort ist immer noch: Nein!«
»Aber …«
»Kein Aber. Du bekommst genug. Ich habe mich extra bei den Eltern deiner Klassenkameraden umgehört, die bekommen auch nicht mehr.«
»Aber Levin bekommt …«
»Levins Eltern sind stinkreich. Außerdem haben sie eine Macke, hast du selbst gesagt.«
»Aber damit habe ich nicht das Taschengeld gemeint!«
»Bastian! Schluss jetzt!« Ihr Tonfall sollte mich eigentlich warnen. »Außerdem kann es dir egal sein, was andere machen. Lebe dein Leben als Original, nicht als Kopie!«
»Aber du sagst auch: Das Leben belohnt den, der handelt. Sonst hätte ich gar nicht gefragt.«
»Ja, im Sinne von was tun. Was du machst, ist verhandeln.«
»Können wir bitte das Thema wechseln und weiteressen?« Mein Vater hat wie in einem Western die Hände erhoben. »Sonst verhungere ich am gedeckten Tisch. Und wenn du unbedingt mehr Geld brauchst«, jetzt landet eine Hand auf meiner Schulter, »vielleicht kannst du wirklich etwas tun? Zeitungaustragen oder so, das hab ich früher gemacht. Was meinst du?«
Ich schiebe das Gemüse auf meinem Teller herum. Obwohl ich seine Idee total bescheuert finde, nicke ich und mache »Hm«. Alles andere wäre Selbstmord.
»Na dann schau mal, dass du dein Monster besiegst.« Er gibt mir einen Klaps. »Ich habe meinen GLOBBER bereits geschafft.«
Er tut sich einen neuen Bratling auf. Meine Mutter steuert ein erleichtertes »Guten Appetit, ihr Monsterjäger« bei und meine Schwester schaufelt ihren Auffahrunfall in sich hinein. Ich gucke meinen Teller an.
Der guckt zurück. Er ist der Einzige, der mich versteht.
Gurke, Gurke, Möhre, Mais
Mondgesicht denkt: »So ein Scheiß!«
Am nächsten Tag kann ich mich in der Schule kaum auf den Unterricht konzentrieren. Ständig geht mir der Rat meines Vaters im Kopf rum: Verdien dir was dazu!
Wenn das so einfach wäre!
Für Zeitungaustragen und Babysitten bin ich zu jung, das hätte er eigentlich wissen müssen. Für Nachhilfegeben wahrscheinlich auch. Mal abgesehen davon, dass ich selber welche bräuchte.
Gartenarbeit hasse ich wie die Pest. Außerdem kann ich Unkraut nicht von anderen Pflanzen unterscheiden. Die Male, als ich meinen Eltern im Garten helfen musste, habe ich immer das Falsche ausgerissen. Schneeschippen ist da schon besser, da kann ich nicht so viel verkehrt machen. Aber dafür muss es schneien und das passiert im Sommer eher selten.
Ich könnte Sachen auf dem Flohmarkt verkaufen. Aber ich habe nichts. Jedenfalls nichts, wovon ich mich trennen mag. Außer ein paar kaputten Plastikfiguren, die nichts einbringen.
Hmmm.
Im Fernsehen habe ich mal Kinder gesehen, die waren Schokoladen-Testesser. Das wäre ein Job für mich. Aber ich habe keine Ahnung, wie man da rankommt.
Also muss ich doch eine Bank überfallen.
Oder Falschgeld drucken.
Oder alten Omas die Handtaschen rauben.
Oder …
»Na, Bastian, wie viel ist das?«
Meine Lehrerin steht vor mir. Ich habe keine Ahnung, was sie meint. Immerhin verraten mir die Zahlen an der Tafel, dass wir Mathe haben.
»26«, versuche ich mein Glück.
Sie verdreht die Augen und wendet sich der Klasse zu: »Kann jemand von euch Bastian die Lösung verraten?«
Alle Arme schießen nach oben. Aber die Antwort höre ich schon nicht mehr.
Was kann ich dafür, dass mich Zahlen nicht interessieren? Gebt mir Geld, damit lern ich von ganz allein rechnen.
Beim Abendbrot frage ich meine Eltern, was ich tun kann, um meinem Raumschiff näher zu kommen. Aber die haben auch keine Ideen. Mein Vater hört sowieso kaum zu – in Gedanken ist er bei der Arbeit. Seine ein, zwei Telefonate scheinen sich in die Länge zu ziehen. Sophie würde mir zwar ihr Erspartes leihen, aber die vier Euro fünfunddreißig helfen mir nicht weiter. Erst als ich das mit dem Alte-Omas-Ausrauben sage, hat meine Mutter eine Erleuchtung.
Glaubt sie zumindest.
»Wie wär’s mit unserer Nachbarin?«, schlägt sie vor. »Die kann bestimmt Hilfe brauchen. Im Haus, im Garten …«
»Die alte Brommelbacher?« Lustlos falte ich ein Salatblatt auf Mundgröße zusammen.
»Ja, wieso nicht?« Meine Mutter klingt richtig begeistert. »Oder du könntest für sie einkaufen.«
»Ich war noch nie allein einkaufen.«
»Einmal ist immer das erste Mal.« Aufmunternd zwinkert sie mir zu. »So hast du wenigstens einen Grund, es zu lernen. Hätte ich nichts dagegen.«
»Da bin ich doch ewig unterwegs!«
»Bastian, der Supermarkt ist direkt um die Ecke. Und du bist ein großer Junge.«
»Aber Mama! Die Brommelbacher ist total geizig. Der kann ich Berge in die Bude schleppen und krieg nicht mal eine Tüte Gummibärchen.«
»Jetzt übertreibst du aber.«
»Gar nicht«, antworte ich.
»Einen Versuch wär es wert.«
»Könnt ihr nicht doch mein Taschengeld …?«
»NEIN!«
Meine Mutter schnappt sich den Brotaufstrich und kratzt darin herum, als ob davon das Überleben der Menschheit abhinge. Okay, ich habe verstanden.
Das Thema ist für sie erledigt.
Mitleidig guckt mich Sophie an. Glotz nicht so, denke ich, sonst verkaufe ich dich an den erstbesten Kinderhändler. Aber zum einen glaube ich nicht, dass mir irgendjemand für meine Schwester Geld gibt, und zum anderen ist es verboten.
Wütend schiebe ich mir das Salatpaket in den Mund. Vielleicht sollte ich zur Polizei gehen und meine Eltern verpfeifen? Kinderarbeit ist schließlich genauso verboten.
Aber wenn die im Knast sitzen, kriege ich überhaupt kein Taschengeld mehr.
Samstagvormittag. Ich stehe vor der Tür unserer Nachbarin und klingele – und hoffe, dass sie nicht da ist. Verreist, für mindestens einen Monat. Oder weggezogen, am besten in eine andere Stadt. Ins Altersheim abgeschoben oder gleich auf den Friedhof … ich halte es nach wie vor für eine Schnapsidee, aber meine Mutter hat nicht lockergelassen. Sie hält es für eine ausgezeichnete Idee.
Kein Wunder, ist ja auch von ihr.
Drinnen höre ich schlurfende Schritte, dann öffnet sich die Tür. Nur einen Spalt, soweit die Sicherheitskette es erlaubt.
Ein aschgraues Auge starrt mich an. Wie von einem Raubvogel.
Ansonsten erinnert mich die Brommelbacher eher an diese Hunde. Boxer heißen die, glaube ich. Bei ihr im Gesicht hängt nämlich alles nach unten: die Backen, die Mundwinkel, die Haare …. einfach alles. Okay, die Zunge hängt nicht raus und hecheln tut sie auch nicht. Aber nur, weil sie den Mund immer zukneift.
Meine Mutter sagt, dass sie für ihr Äußeres nichts kann und wir vielleicht genauso aussehen, wenn wir alt sind. Aber das glaube ich nicht. Es gibt auch lachende Omas – und die Brommelbacher war bestimmt schon als Baby miesepetrig.
»Was willst du hier?«, fragt sie. »Ist wieder ein Jahr um?«
Ich muss zugeben, dass ich bisher nur an Halloween bei ihr geklingelt habe. Auf meinen Spruch »Süßes oder es gibt Saures« hat sie letztes Jahr sogar etwas rausgerückt: ein ganzes Kilo Zucker. Pur! Wahrscheinlich hat sie das extra dagehabt, nur um mich zu ärgern. Hat mir das Paket mit einem »Schönen Gruß an deine Mutter« in die Hand gedrückt und mir dann die Tür vor der Nase zugeknallt. Danach musste ich erst mal nach Hause, weil mir das Ding zu schwer war. Und mein Vater hat sogar darüber gelacht.
»Nein.« Ich schiebe die Erinnerung weg. »Ich wollte fragen, ob ich Ihnen etwas helfen kann. Im Haus oder beim Einkaufen oder so.«
»Was ist denn mit dir los?« Misstrauisch guckt sie mich an. »Ist der Heilige Geist in dich gefahren? Oder ist das eine neumodische Art von Klingelstreich?«
»Nein, im Ernst, ich dachte …«
Ich verstumme. Dass ich (oder besser meine Mutter) gedacht habe, dass es für meine Hilfe eine Belohnung geben müsste, traue ich mich nicht zu sagen.
»Du denkst?«
»Ja … ähm … natürlich.«
»Und was dachtest du?«
»Ach nix …«
»Willst du mir meine Handtasche klauen?«
»Wie kommen Sie denn auf die Idee?« Entrüstet schaue ich sie an. »Ich dachte, Sie freuen sich!«
»Dann hast du ja doch was gedacht.«
Die Brommelbacher lacht meckernd und drückt mir die Tür vor der Nase zu. Ich stehe da wie der Neandertaler vorm Kaugummiautomaten. Was soll das?
Aber dann öffnet sie wieder. Ohne Sicherheitskette.
»Na, das ist ja schön, dass es noch echte Nächstenliebe gibt«, sagt sie und winkt mich rein. »Ich wusste gar nicht, dass du so ein netter Junge bist.«
Das wusste ich bisher auch nicht.
»Warte kurz, ich bin gleich wieder da.«
Ich stehe in ihrem Flur und schaue mich um. So weit bin ich noch nie in ihr Reich vorgedrungen. An der einen Seite ist eine Flurgarderobe mit allem, was eine Oma braucht: Omajacken, Omamäntel, Omahut, Regenschirm und Krückstock. Die andere Seite ist voll mit Malereien. Aber nicht das Zeug, was ich aus dem Altersheim kenne, wo mein Opa gelandet ist – röhrender Hirsch vor Berglandschaft und so. Sondern alles wilde Farbklecksereien, manche schrill und bunt, andere düster … wie Schreie ohne Ton. Selbst die Rahmen sind schräg und wirken wie zehnmal zertrümmert und wieder zusammengeleimt.
»Und? Gefallen dir die Bilder?«
Plötzlich steht sie neben mir. Aber woher soll ich wissen, ob mir das gefällt? Ich sehe so etwas zum ersten Mal.
»Haben Sie die gemalt?«, frage ich.
»Ein paar. Die meisten sind von …«, sie zögert, »… von Freunden.«
Ich nicke, als würde ich verstehen. Dabei verstehe ich gar nichts. Das Zeug passt überhaupt nicht zu dem, was ich von der Brommelbacher weiß. Wobei das nicht viel ist.
»Die meisten Leute finden sie ›interessant‹«, erklärt sie mir. »Das ist eine nette Umschreibung für ›Verstehe ich nicht‹, ›Muss wohl Kunst sein‹ oder auch ›Absoluter Bockmist‹.«
»Aha …«
Toll, da hätte ich gleich ›interessant‹ sagen können.
»Aha …«, echot sie. Dabei guckt sie mich an wie ein merkwürdiges Insekt. Also so, als ob ich ein merkwürdiges Insekt wäre. Und sie die hungrige Eule.
Schließlich räuspert sie sich.
»Na, egal. Die sind sowieso aus einer anderen Zeit.« Sie hält mir ein paar Jutebeutel und einen Zettel hin. »Hier, die Einkaufsliste. Ich war sowieso gerade auf dem Sprung, aber bei dir geht’s wahrscheinlich fixer. Kannst du’s lesen?«
»Klar kann ich lesen, ich geh schon in die …«
»Meine Schrift, meine ich«, unterbricht sie mich.
»Ach so.«
Ich werfe einen Blick aufs Papier. Für die Sauklaue würde ich zwar Ärger mit dem gesamten Lehrerzimmer kriegen, aber entziffern kann ich sie.
»Kein Problem.«
»Na dann, hier ist das Portemonnaie.«
Sie drückt mir ein unförmiges Lederdings in die Hand, mit dem bestimmt schon ihr Urgroßvater einkaufen war.
»Aber versuch nicht, mich zu behumsen – ich weiß, wie viel Geld drin ist.«
Kein Zwinkern, dass das eine spaßige Bemerkung sein soll. Wenn ich je mit so einem Gedanken gespielt hätte, wäre er unter ihrem Blick auf der Stelle krepiert.
»Wiedersehen macht Freude.«
Damit bin ich entlassen. Erst vor dem Haus wage ich, aufzuatmen. Ich habe überlebt – und ich habe meinen ersten Job!
Captain Bastians erste Mission.