Jörg Kastner
Historischer Roman
Hatten die Christen ihren Gott gnädig gestimmt? Hatte der Allbarmherzige die Gebete der Bauern um Regen erhört? Dunkle Wolken trieben über Wiehen und Süntel, um sich über Minden und dem Umland auszubreiten. Der Himmel verdunkelte sich zusehends, und das am Dies Domenica, dem Tag des Herrn. Das Läuten der Glocken vertrieb die sonntägliche Stille, aber nicht das dichte Wolkengespinst, das die Sonnenstrahlen gierig verschluckte.
Vielleicht war der Gott der Christenheit gar nicht der Wolkenbringer, sondern der alte Wettergott Donar, der Lenker von Donner und Blitz, Wind und Regen. Die sächsischen Bauern, obwohl getauft und am Tag des Herrn in der kreuzgeschmückten Kirche versammelt, ließen nichts unversucht, den ersehnten Regen herbeizulocken. Das Heu war eingebracht, und der Ährenmonat stand bevor, die Zeit der Ernte. Doch die Ähren drohten auf dem Halm zu vertrocknen. Also beteten die Menschen am Sonntag in der Kirche um Regen und beschworen anderntags daheim auf ihren Höfen Donar nach altem Brauch.
Ein junges Mädchen, keusch und rein, musste nackt und baren Fußes zum nächsten Bilsenkraut gehen und mit dem kleinen Finger der rechten Hand die Zauberpflanze entwurzeln, die an die kleine Zehe des rechten Fußes gebunden wurde. Die Hof- oder Dorfsassen hielten Zweige in den Händen und führten die Kleine zum nächsten Bach, um sie mittels der Zweige mit Wasser zu besprengen und dabei Donar zu beschwören. Rückwärts ging man wieder heim, um den Regen anzulocken. Aber das erzählten die Sachsen natürlich nicht den Pfaffen. Besonders verschwiegen zeigten sie sich angesichts der von König Karl verbotenen Menschenopfer bei dem noch mancherorts gepflegten Brauch, das nackte Kind nicht wieder mit nach Hause zu nehmen, sondern es Donar zu weihen, als Blutopfer. Blut gegen Wasser, Tod gegen Leben. Die Wolken verhießen, dass der Regengott das Flehen erhört hatte.
Aber noch war es sehr warm und schwül, auch in der Kirche, als sich die Gläubigen zur Frühmesse zusammendrängten. Sie atmeten ein wenig erleichtert auf, als sie nach der Kommunion, dem gottpreisenden Schlussgesang und dem Segen des Archidiakons Rutinus aus dem stickigen Dunst von Schweiß und Weihrauch ins Freie traten, wo wenigstens ein lauer Südwind für etwas Erfrischung sorgte und die Wolkenfront gemächlich nach Norden schob. Eilig drückten die Hinaustretenden den lächelnden Diakonen am weit geöffneten Portal ihre Gaben in die Hände und empfingen als Gegenleistung ein ausgeleiertes »Der Herr wird dich segnen«. Niemand unter den Händlern, Handwerkern und Bauern wusste, dass früher einmal, zur Zeit der frühchristlichen Gemeinden, am Schluss der Messe die Verteilung von Gaben an die Armen und Notleidenden gestanden hatte. Geben war in den Augen der Kirche zwar noch immer seliger denn Nehmen, nur wandte sie das Gebot jetzt in umgekehrter Richtung an. Gewisse Elemente innerhalb der Geistlichkeit hielten es für eine gute Tat, das Seelenheil der Gläubigen zu fördern, indem man sie zum Geben anhielt.
Brunold schob sich schnell an dem Diakon zu seiner Rechten vorbei und drückte ihm mit mürrischem Grunzen ein paar Silberlinge in die augenblicklich zupackende Rechte. Es schmerzte Brunolds Krämerseele, Geld ohne Gegenleistung aus den Händen zu geben. Und seinen Seelenfrieden sah er weiß Gott nicht als Gegenwert an. Den fand er nur, wenn er gute Geschäfte tätigte und seinen Reichtum mehrte. Aber als erster Kaufmann im Wik durfte er die mächtige Kirche, die zudem ein wichtiger Geschäftspartner war, nicht schmähen. Also ging er jeden Sonntag, den er zu Hause verbrachte, in die Messe, betete und sang und überlegte sich beim Betrachten der betenden und singenden Menge, mit wem sich welcher Handel lohnte.
Als aber eine Bettlerschar Brunold und seine Leute umringte, wurde er zornig und bereute, zum Kirchgang die Waffen abgelegt zu haben. »Eine milde Gabe, die Herren!«, flehten schmale, verdreckte Gesichter. »Heiligt den Sonntag, und gebt den Armen!« Hände formten sich zu Klauen, ähnlich denen der Diakone am Portal. »Denkt an die Hungernden und Frierenden, ihr reichen Herren!«
»Ich denke vor allem an die Faulpelze und Schmarotzer, die sich vor ehrlicher Arbeit drücken und ihre dreckigen Pfoten nach dem ausstrecken, was anständige Christen im Schweiße ihres Angesichts erschuftet haben!« Wütend stieß Brunold Männer und Jungen beiseite, ohne dass ihm auffiel, dass im Gegensatz zu sonst keine Frauen im Bettlerhaufen zu finden waren. »König Karl hat euch arbeitsscheues Pack durchschaut und deshalb verboten, gesunde und arbeitsunwillige Bettler mit Almosen zu unterstützen.«
Sofort beteuerte die Meute, nicht arbeitsunwillig zu sein, aber keine Arbeit zu finden. Andere reckten ihre verfaulten oder amputierten Glieder vor, um zu beweisen, dass sie nicht gesund waren und somit nicht unter Karls Verbot fielen.
»Hab Erbarmen, edler und gnädiger Brunold!«, flehte mit krächzender Stimme der krumme Alte, der Hraban hieß und den sie Bettlerkönig nannten. »Der Barde Hruodgar, der mit dir reiste, pries deine Güte und Freigebigkeit. Sei auch von uns gepriesen, wenn du uns dein Wohlwollen angedeihen lässt!«
»Mein Wohlwollen könnt ihr haben, aber nicht mein Geld, elendes Rattengezücht!«
Brunold stieß Hraban zurück. Hätte Ogger den Bettlerkönig nicht aufgefangen, wäre der Alte gestürzt. Mit einem wütenden Knurren, mehr einem Tier als einem Menschen ähnlich, wollte sich der entstellte Kahlkopf auf den Kaufmann stürzen, aber Hraban hielt ihn zurück und zischte: »Nicht doch, mein Freund! Ein kleiner Zwist lenkt von unserem wahren Ziel ab, ein großer Streit aber könnte alles verderben.«
Die Bettler ließen Brunold mitsamt seinen Angehörigen und Begleitern ziehen und gingen die anderen Kirchenbesucher um milde Gaben an. In dem großen Gewirr menschlicher Leiber fiel es nicht auf, dass Hraban sich mit einer kleinen Gruppe absetzte, den großen Kirchenbau umrundete und, immer eng an Wände und Zäune gepresst, den Stallungen zustrebte, die zum Kirchenbesitz gehörten. Ihr Ziel war ein kleines, würfelförmiges, aus nur grob behauenem Holz errichtetes Gebäude, das fensterlos war und vollkommen unscheinbar wirkte. Doch zwei Franken standen vor dem schmalen Eingang, mit gelangweilten und durstgequälten Gesichtern zwar, aber jeder mit Speer und Schwert gerüstet.
Hraban, mit seiner kleinen Gruppe im Schatten eines wuchtigen Vorratshauses verborgen, streckte eine knotige Hand aus, deutete zu der kleinen Tür und flüsterte: »Hinter dieser Pforte liegt unser Ziel!«
Die Tür wurde mit einem Quietschen geöffnet, das nach den Lauten einer gequälten Ratte klang. Die beiden Gefangenen kannten das Geräusch gut, denn die gefräßigen Nager mit den hässlichen langen, nackten Schwänzen und den drohend vorgeschobenen Zähnen waren ihre ständigen Gäste. Im Wachsein und im Schlaf wurden die Frauen von den grauschwarz Bepelzten heimgesucht, und die Tiere wurden immer dreister, bohrten ihre Zähne frech ins Fleisch der Sächsinnen, während diese auf sie hinabsahen.
Die weißhaarige Frau blinzelte ohne viel Hoffnung ins einfallende Licht. Das Mädchen lag apathisch, den Kopf in der Mutter Schoß gebettet, in der alten Streu und tat nichts, außer flach zu atmen. So flach, dass es fast nicht zu hören war, dass es der scharfen Augen eines Falken bedurfte, das kaum merkliche Heben und Senken des Brustkorbs zu erkennen.
Als die ältere Frau den rothaarigen Mann im weißen, goldbestickten Priestergewand erblickte, verfinsterten sich ihre harten Züge noch mehr. Sie wusste, dass sie von dem Besucher weder Mitleid noch Hilfe zu erwarten hatte. Nicht von einem Priester des barmherzigen Christengottes.
»Schließt die Tür wieder, und lasst mich mit den Gefangenen allein!«, befahl Rutinus den beiden Wachen.
Wieder ertönte das Rattenquietschen, und fast völlige Finsternis umhüllte die drei Menschen in dem kleinen Geräteschuppen, der, seines ursprünglichen Inhalts beraubt, jetzt ein Gefängnis war. Die dünnen Lichtsplitter, die durch Ritzen im Holz einfielen, wirkten lächerlich karg im Vergleich zu dem Lichtschein, der eben noch durch die offene Tür hereingeflutet war. Der Besucher verströmte den süßlich-beißenden Geruch von Weihrauch und Myrrhe, Anhängsel der eben zelebrierten Frühmesse.
Rutinus blieb an der Wand stehen und blickte auf die beiden dunklen Flecke nieder, die Gefangenen. »Habt ihr euch entschlossen, Weiber? Schwört ihr dem Teufelsglauben ab?«
»Haben wir das nicht längst getan, als wir die Taufe empfingen?«, erwiderte Gerhild matt.
Sie hatte nicht mehr viel Kraft. Die täglichen Besuche des Archidiakons zehrten an ihr. Fast beneidete sie ihre Tochter um die Apathie, die Gunda vielleicht alles leichter nehmen ließ. Immer fragte und sagte Rutinus dasselbe, mochten seine Worte auch andere sein. Und immer antwortete Gerhild dasselbe, weil sie nichts anderes sagen konnte.
»Ihr habt die Worte der Entsagung gesprochen, aber ihr habt es nicht in euren Herzen gefühlt. Insgeheim seid ihr Anhänger Wodans und Saxnots geblieben, habt ihr Donar um gutes Wetter und Ing um die Fruchtbarkeit eurer Kinder und eures Viehs angefleht. Eure heidnischen Rituale im Totenhain beweisen es.« Rutinus fasste mit der Rechten das eiserne Kruzifix, das um seine Brust hing, und hielt es vor sich, soweit es die feingliedrige bronzene Halskette erlaubte. »Jetzt habt ihr die Gelegenheit, dem falschen Glauben auf ewig zu entsagen.«
»Ich habe mich vielleicht mit verschlossenem Herzen taufen lassen, aber nicht mit verschlossenen Ohren. Ich habe gehört und begriffen, was euer heiliger Augustinus geschrieben hat: Die Taufe wirkt allein durch ihren Vollzug. Als Gunda und ich das Taufwasser empfingen, wurden wir zu Gliedern am Leib Christi. Die Macht der Erbsünde erstarb in uns, auf alle Zeiten. Ist es nicht so, Erzdiakon?«
»Schweig! Willst du mir meinen Glauben erklären, du, eine Heidin, ein Weib?«
»Was stört dich mehr, die Heidin oder das Weib?« Gerhild lächelte schwach. »Bin ich durch die Taufe nicht zur Christin geworden? Begründet die Taufe nicht die Gleichheit von Mann und Frau?«
»Diesem Irrglauben hing man früher an. Inzwischen wurde von den Gelehrten erkannt, dass die durch die Taufe begründete Gleichheit nur vergeistigt zu verstehen ist.«
»Eine hübsche Ausrede von euch Männern, uns Frauen zu unterjochen und von allen Kirchenämtern fernzuhalten. Nicht mal dem Altar, der die Gegenwart Christi verkörpert, dürfen wir uns nähern. Fürchtet der Sohn des Christengottes die Frauen so sehr? Warum?«
»Satan spricht mit deiner Zunge, Heidin. Ich höre es deutlich. Wende dich ab von ihm und seinen heidnischen Gefährten, die sich Wodan, Donar und Saxnot nennen!«
»Warum bist du nur so erpicht darauf? Was gibt es dir, zwei Heidenweiber zu bekehren?«
»Ihr Sachsen müsst endlich erkennen, dass Gottvater, sein Sohn Jesus Christus und der Heilige Geist eure wahren Herren sind.«
»König Karl nicht zu vergessen«, sagte Gerhild mit spottgeschürzten Lippen. »Liegt dein Eifer darin begründet, dass du selbst zweifelst, Erzdiakon? Vielleicht, weil du auch ein Sachse bist? Oh, leugne es nicht, ich höre es deutlich an deiner Art zu sprechen!«
»Was ich war, bevor ich ein Jünger des Herrn wurde, geht dich nichts an!«
Gunda erwachte unerwartet zum Leben, entglitt Gerhilds Schoß, erhob sich schwankend und sagte: »Er war ein Sünder und ist es immer noch. In uns sucht er die Sünde und glaubt, seine eigene Schuld mit der unseren zu töten.« Während sie sprach, riss und zerrte sie an ihrem Kleid. Die Fibeln zersprangen, der Stoff zerriss und fiel um ihre Schenkel. Mit nackten Brüsten und nacktem, von hellem Flaum belocktem Schoß stand sie vor dem Archidiakon, selbst im Zwielicht des Verschlags deutlich zu sehen. »Nimm die Sünde an, Rutinus! Du kannst ihr doch nicht entfliehen. Nimm mich!«
Das hagere Gesicht des Kirchenmannes verzerrte sich vor Entsetzen. Er bekreuzigte sich und keuchte: »Weiche von mir, Satan! Der Herr bewahre mich vor dem Bösen!«
Gerhild sorgte sich um Gunda. Das Mädchen brachte sich in höchste Gefahr. Sie stand auf und zog Gunda zurück auf die Streu, wo die Mutter sich bemühte, das Kleid der Tochter zusammenzuraffen und mit den Bronzefibeln über den Schultern zu befestigen.
»Der Satan ist in ihr!« Rutinus deutete mit ausgestrecktem Arm auf Gunda. »Das Böse muss der Heidin ausgetrieben werden! Ich lasse geweihtes Wasser bringen.«
»Lass lieber klares Flusswasser bringen und etwas zu essen!«, verlangte Gerhild. »Wenn du uns in diesem Loch einsperrst und uns dürsten und hungern lässt, darfst du dich nicht wundern, wenn Gunda allmählich den Verstand verliert.«
»In der Heiligen Schrift steht: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Fasten reinigt Leib und Seele. Jesus Christus, Gottes Sohn, hat es vierzig Tage erduldet.«
»Der hat’s wohl freiwillig getan«, sagte Gerhild und sah Rutinus durchdringend an. »Ich durchschaue dich. An unserem Seelenheil ist dir nichts gelegen. Du hasst uns. Vielleicht nur, weil wir Sachsen sind. Vermutlich auch, weil mein Gemahl Wollhard deinen Bruder in den Fluss stieß, in den Tod. Du hältst uns hier fest, um uns zu quälen. Willst du uns hier elendig zugrunde gehen lassen?«
»Das hat hoffentlich noch etwas Zeit«, erwiderte der Archidiakon ohne jede Anteilnahme. »Ich brauche euch als Lockvögel. Wo die Heiden aus Wolfhards Sattelmeiergeschlecht festgehalten werden, da tauchen auch die anderen Heiden auf, früher oder später.«
Unterdrückte Schreie und Gestöhn ertönten vor dem Verschlag. Wenige Augenblicke später wurde die Tür aufgerissen, und eine Männerstimme sagte: »In diesem Fall früher!«
Hraban und Ogger drängten herein, und der grobschlächtige Kahlkopf schlang seine Arme um Rutinus, dass der sich nicht mehr bewegen konnte. Der Bettlerkönig ließ seinen Stock zweimal mit wuchtigem Schlag auf die Tonsur des Archidiakons niederfahren. Blut sickerte Rutinus über Stirn und Gesicht, als er betäubt zu Boden sackte.
»Kommt!«, sagte Hraban zu den beiden Frauen. »Wir werden nicht viel Zeit haben, uns aus dem Königshof zu schleichen.«
Überrascht vom Auftauchen der Bettler und geblendet vom Tageslicht, folgten Gerhild und Gunda Hraban und Ogger ins Freie. Ein paar Bettler schleppten die beiden reglosen Wächter in den Verschlag. Dem einen hatte man die Kehle durchgeschnitten, so dass es aussah, als trage er ein rotes Halsband. Der andere blutete aus einer großen Wunde direkt über dem Herzen. Beide waren tot. Hinter den Franken schob ein Bettler die Tür zu.
Ein anderer Bettler hielt den Frauen schmutzige Tücher hin, und Hraban sagte: »Zieht euch das über die Köpfe, damit man euch nicht erkennt. Als Bettler könnt ihr den Königshof ungehindert verlassen.«
Gerhild hielt das Tuch schon in der Hand, zögerte aber und starrte Hraban an wie einen Geist. »Ich … ich erkenne dich«, sagte sie stockend. »Du bist kein Bettler, sondern …«
»Lass uns nachher darüber sprechen, Gerhild, wenn wir in Sicherheit sind«, schnitt Hraban ihr das Wort ab. »Jetzt sollten wir diesen ungastlichen Ort verlassen, wo man Frauen einsperrt und Bettlern keine Almosen gewährt.«
Welf hockte an der nächsten Ecke und spähte hinaus auf den großen Platz zwischen Kirche und Asmunds Anwesen. Der Bettlerjunge drehte sich herum und winkte.
»Die Luft ist rein«, stellte Hraban befriedigt fest. »Gehen wir, aber nicht zu eilig. Und vergesst nicht, die Kirchgänger um Almosen zu bitten!«
Die Gruppe um Hraban, in ihrer Mitte die tuchbedeckten Frauen, zog auf den großen Platz und vermischte sich mit den anderen Bettlern, die hier zur Ablenkung der Franken fleißig gebettelt hatten. Noch immer hatte sich die Kirche nicht ganz geleert. Auf dem freien Platz standen die Menschen zusammen und unterhielten sich. Für die Kirchgänger, die in den entlegenen Dörfern und Höfen wohnten, war der Tag des Herrn eine willkommene Gelegenheit, Freunde zu treffen und mit ihnen Neuigkeiten auszutauschen. In dem Gewimmel musste es Hrabans Leuten leichtfallen, den Königshof ungehindert zu verlassen. Die Bettler hielten auf das Westtor zu, als wollten sie die Kaufleute im davorliegenden Wik um milde Gaben angehen.
Doch von einem Augenblick zum anderen herrschten Chaos und Panik im eben noch so friedlichen Königshof. Blitze zuckten aus den schwarzen Wolken herab, grollender Donner ließ das Glockengebimmel kläglich erscheinen, und laute Schreie flogen über die Menge: »Alarm, ein Überfall!« – »Die Sachsen greifen den Wik an!« – »Schließt die Tore!«
Die drei Tore des Königshofes wurden geschlossen und verriegelt. Hörnerschall mischte sich in den Lärm, und die Soldaten, die auf einen gemütlichen Sonntag gehofft hatten, kamen, soweit sie nicht an der Messe teilgenommen hatten, halb bekleidet und mit fragenden Gesichtern aus ihren Unterkünften gelaufen. Plötzlich einsetzender Regen empfing sie und prasselte mit solcher Macht auf die Menschen herab, dass die dicken Tropfen wie Steinschlag schmerzten. Verwirrt wie alle anderen auch, blickten sich die Bettler um. Sie saßen in der Falle. Und wenn Rutinus aus seiner Ohnmacht erwachte, war es übel um sie bestellt.
»Zurück zum Verschlag!«, rief Hraban den Seinen zu. »Wir brauchen Rutinus als Geisel!«
Er schickte einen unchristlichen Fluch hinterdrein und fragte sich, was im Wik vorgefallen sein mochte.
Im Wik war es noch ruhig, als Brunold und seine Angehörigen aus dem Westtor des Königshofes traten. Als verschlucke die immer dichter und düsterer werdende Wolkendecke, die über Minden lag, jedes Geräusch. Sonntagsruhe. Erst allmählich füllte sich die Kaufmannssiedlung mit den Kirchgängern. Doch heute würde man kein lautes Gefeilsche hören, keine Waren und keine Silberpfennige würden den Besitzer wechseln. Innerlich verfluchte Brunold jenen Tag im Jahre 789, an dem König Karl die Admonitio generalis mit den Anordnungen über den Tag des Herrn erlassen hatte. Karl untersagte für den Sonntag Feld- und Gartenarbeit, den Frauen Nähen und Weben, Sticken und Waschen. Selbst die Jagd und die Gerichtsbarkeit waren unterbunden. Und der Handel! Solch ein Tag war für Brunold langweilig, nutzlos, verloren. Und der Gedanke daran verstärkte den Grimm noch, den die aufdringlichen Bettler in ihm geweckt hatten.
»Verfluchter Sonntag, der nur zum Betteln taugt«, brummte er. »Karl sollte lieber mit dem Lumpenpack aufräumen, anstatt unsinnige Verordnungen zu erlassen.«
Benno grinste ihn an. »Du bist selber schuld, dass die Bettler dich belagern, Vetter. Hast doch gehört, der Barde Hruodgar hat Loblieder auf deine Großzügigkeit gesungen. Ich war gleich dagegen, den Kerl an Bord zu nehmen. Er steckt seine Nase in zu viele Dinge.«
»Wohl wahr, aber ich hielt seine Anwesenheit für einen guten Schutz vor Verdächtigungen«, grunzte Brunold und blickte sich auf einmal um, wie suchend. »Wo steckt der Sänger eigentlich? Wochenlang kann man ihm nicht entgehen, weil er einem von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang mit seinem Gekreische in den Ohren liegt. Und jetzt habe ich ihn schon seit Tagen nicht gesehen. Und zum Glück auch nicht gehört.«
Es stellte sich heraus, dass niemand wusste, wo Hruodgar sich aufhielt. Einig waren sich alle aber darin, ihn seit einigen Tagen nicht mehr gesehen zu haben.
»Er ist ungefähr seit dem Tag verschwunden, als Asmund zu seinem Inspektionsritt über die Dörfer aufbrach«, meinte Anwan, der seine schweigsame Gemahlin Gisla am Arm führte. »War das nicht am vergangenen Sonntag?«
Brunold nickte mit grimmigem Gesicht. »Ja, offenbar hat Karl nicht untersagt, dass seine Grafen am Tag des Herrn ihre Arbeit verrichten. Falls Asmund den Barden mitgenommen hat, ist’s für uns um so besser.«
»Wird eigentlich Zeit, dass Asmund zurückkehrt«, sagte Benno.
»Soll er doch in den Wäldern seiner Sachsenheimat bleiben!« Brunold spie verächtlich aus. »Er und dieser Barde. Mögen Asmunds Ohren beim Anhören von Hruodgars Liedern platzen!«
Fast alle lachten, sogar Teida. Mit der verkrüppelten Kaufmannstochter war eine seltsame Wandlung vor sich gegangen, seit Gisla Anwans Gemahlin geworden war. Während Gisla mit jedem Tag mehr verkümmerte, schweigsamer wurde, ernster und trübsinniger, blühte die ältere Schwester auf. Sie ging wieder vor die Tür und nahm am Kirchgang teil, scherzte und lachte, schien all das nachholen zu wollen, was sie in den vergangenen Jahren versäumt hatte. Aber Gisla wusste den wahren Grund. Sie kannte ihre Schwester besser als jeder andere Mensch. Teida war kein fröhliches Wesen, und ihr Gelächter kam nicht von Herzen. Auch jetzt lachte sie in Wahrheit nicht über die Bemerkung ihres Vaters, sondern über das Leid ihrer Schwester. Deshalb verließ Teida das Haus: sie wollte möglichst oft bei Gisla sein, die ihrer Verheiratung unter Anwans Dach lebte. Teida wollte sehen, wie Gisla litt, einging wie eine Pflanze, der man das Wasser verweigerte. Und Gisla verdurstete tatsächlich – ihr fehlten Liebe und Glück.
Anwan bemühte sich zwar, aber zwischen ihm und Gisla stand eine unsichtbare Mauer, an der jegliche Zuneigung und Wärme abprallte. Als er ihr in der Hochzeitsnacht beiwohnte, war Gisla sich vorgekommen wie eine Fremde. Ihr war, als hätte sie sich selbst zugesehen, wie sie fast teilnahmslos unter Anwan lag und nichts fühlte außer Schmerz und Trauer.
Sie durchschritten den Wik und hielten auf Brunolds Haus zu, um hier gemeinsam ein üppiges Sonntagsmahl einzunehmen.
Benno bemerkte: »Deine Laune scheint sich mit jedem Tag zu verschlechtern, Vetter.«
»Ist das ein Wunder?« Brunold legte den klobigen Kopf in den Nacken und sah in den dunklen Himmel hinauf. »Bis gestern hat einem die Sonne das Gehirn ausgebrannt, ohne dass man ihr entfliehen konnte. Wir hätten das ruhige Wetter ausnutzen und längst wieder auf Fahrt gehen sollen.«
»Du warst es doch, der auf Ditmars Karawane warten wollte«, erwiderte Benno erstaunt.
»Weil er meist gute Ware zu günstigen Preisen bringt. Aber ich hätte nicht gedacht, dass er so lange auf sich warten lässt. Vielleicht hat er seine Fracht unterwegs verkauft und kommt überhaupt nicht mehr.«
»Ich denke, du irrst dich, Brunold«, sagte Anwan und zeigte nach Süden, wo sich unterhalb des Steilhangs, der Minden im Westen begrenzte, ein langer Zug von Wagen, Tieren und Menschen näherte. »Das muss Ditmar sein!«
»Wenn er’s ist, verstößt er gegen Karls Gesetz, da er am Sonntag reist«, kicherte Benno mit einem langen Seitenblick auf Brunold. »Nur drei Arten von Transportdiensten sind an diesem Tag erlaubt: erstens für das Heer, zweitens zur Lebensmittelversorgung und drittens, wenn erforderlich, für eine Bestattung. Wollen wir zu Ditmars Gunsten annehmen, dass sich unter seinen Waren auch Lebensmittel befinden.«
»Oder ein Toter«, schlug Teida mit schalkhafter Miene vor. »Ich scheiß’ was auf Karls Gesetz!«, stieß Brunold hervor. »Hauptsache, Ditmar kommt und unsere Geschäfte gehen wieder voran.«
Der Handelszug war auch von anderen bemerkt worden. Immer mehr Menschen versammelten sich am Rand des Wiks, neugierig auf das, was die weitgereisten Kaufleute zu berichten hatten.
»Seht zu, dass Ditmar nicht mit der Konkurrenz spricht!«, ermahnte Brunold seine Leute. »Ich will als erster mit ihm verhandeln.«
Aber sosehr Brunold und die Seinen auch ausspähten, die untersetzte, kräftige Gestalt des Kaufmanns Ditmar aus Throtmani konnten sie unter den staubbedeckten Männern nicht entdecken, die an ihnen vorbei in den Wik zogen. Schließlich griff Brunold einem Reiter in die Zügel und fragte: »Seid ihr nicht Ditmars Karawane?«
»Doch, das sind wir«, erklang die dumpfe Antwort des Reiters, der sein Gesicht, offenbar zum Schutz gegen den Staub, hinter einem Tuch verborgen hielt. Das Tuch war so um den Kopf geschlungen, dass nur die Nase und die blauen Augen hervorlugten.
»Und wo zum Teufel steckt Ditmar?«
Der vermummte Reiter deutete mit dem Daumen nach hinten, während sein kräftiger Falbe unruhig tänzelte. »Er liegt in einem der hinteren Wagen. Hat sich den Magen verdorben, als er in Hlidbeki zu viel sächsisches Bier in sich hineingeschüttet hat.«
»Sächsisches Bier?« Brunolds wettergegerbtes Gesicht nahm einen alarmierten Ausdruck an. »Ditmar verabscheut Bier. Er mag nicht einmal den Geruch, geschweige denn den Geschmack. Wer bist du, Kerl?«
Brunold riss das Tuch vom Kopf des Reiters und enthüllte das Gesicht eines jungen Mannes, das hübsch anzusehen gewesen wäre, hätten sich nicht tiefe Linien der Verbitterung um die Augen und an den Mundwinkeln eingegraben. Er trug das blonde Haar nicht kurzgeschnitten wie die Franken, sondern schulterlang wie die freien Sachsen.
»Wolfger!«
Der gellende Schrei Gislas beim Anblick des totgeglaubten Geliebten ging unter im ausbrechenden Tumult. Menschen riefen durcheinander. Pferde scheuten und wieherten. Die hinteren Wagen scherten aus und preschten mit irrer Geschwindigkeit in den Wik, dass die Menge auseinanderspritzte. Ein halbwüchsiger Junge geriet unter die Räder eines Ochsenkarrens, und seine Beine zerbrachen mit einem hässlichen Knirschen. Er schrie und stöhnte, doch niemand kümmerte sich um ihn. Man schien ihn nicht einmal zu hören, denn im selben Augenblick spaltete ein silbriger Blitz den Himmel und folgte fast unmittelbar ein ohrenbetäubender Donnerschlag, öffneten sich die Wolken und stießen Regenfluten aus, als hätten sie zuvor alles Wasser aufgesogen, das die Weser jemals hinabgeflossen war.
Die Wagen hielten im Wik an und spuckten Bewaffnete aus, darunter Heidrun und ihren Vater. Beim Anblick des Feuerschmieds erstarrten die Leute aus dem Wik, und jemand schrie: »Donar ist zu uns gekommen! Der Riesentöter nimmt Rache an denen, die ihn verraten haben!«
Wolfger wunderte sich nicht, dass man den Schmied für den Donnergott hielt. Viele stellten sich Donar mit lang wallendem Rotbart vor, und das schlagartig ausgebrochene Gewitter tat ein übriges, der ohnehin beeindruckenden Gestalt des Feuerschmieds noch mehr Wirkung zu verleihen.
»Die Bärmeier!«, schrie der vermeintliche Donnergott. »Wo bleiben die Bärmeier?«
Den sächsischen Kriegern, die alles niedermetzelten, was sich ihnen in den Weg stellte oder einfach nicht schnell genug vor Schwertern, Äxten und Geren fliehen konnte, folgten die drei Bärmeier mit ihren Untieren. Drei der erbeuteten Karren hatten ihrem Transport gedient. Kaum waren sie aus den Wagenkästen geklettert, ließen die Bärmeier auch schon die Ketten los und hetzten die Tiere auf die Wikleute.
Teida stieß einen Entsetzensschrei aus und humpelte davon, so schnell es ihre verkrümmten Gliedmaßen erlaubten, um sich ins Haus des Vaters zu retten. Vielleicht durch ihre seltsame Art des Fortbewegens machte sie einen der Bären auf sich aufmerksam. Das Tier hetzte in weiten Sätzen hinterher, durchbrach die hölzerne Umzäunung von Brunolds Anwesen, als wäre sie gar nicht vorhanden, und stellte die flüchtende Frau kurz vor dem Eingang.
Teida schleuderte ihren Stock gegen die große Bärennase, und der Bär antwortete mit einem wütenden Schnauben. Dem folgte ein schneller Prankenhieb, der Teida zu Boden warf und ihre ganze rechte Seite aufriss.
Der bärtige Tibor erschien im Eingang, schwang eine langstielige Axt und hieb die Klinge in eine Schulter des Bären. Dann wurde auch der massige Wilze umgeworfen und unter dem Gewicht des verletzten Tieres erdrückt, das sich unter ständigem Geheul vor dem Haus hin und her wälzte. Als der Bär sich etwas beruhigte, waren Tibor und Teida nur noch totes Fleisch und zerbrochene Knochen, ähnlich den fünf Franken, die den Bären vor zwei Nächten zum Opfer gefallen waren.
Tränen traten in Gislas Augen. Sie hätte nicht gedacht, dass in ihr noch Mitgefühl für die Schwester steckte. Und Trauer. Doch es war so. Nicht die hässliche, gemeine, kalte Tyrannin war ihr genommen worden, sondern die fröhliche, lebenslustige Schwester und Freundin der frühen Jahre. Obwohl Gisla wusste, dass für Teida jede Hilfe zu spät kam, wollte sie zu ihr laufen, aber Schwerter und Gere der Sachsen hielten sie auf.
»Ihr seid unsere Gefangenen«, verkündete der Feuerschmied den Kaufleuten. »Wer zu fliehen oder sich zu wehren versucht, stirbt. Das gilt auch für Frauen, wie ihr gerade gesehen habt.«
Wolfger drängte seinen Falben, der seit der Entfernung des in den Huf getriebenen Nagels nicht mehr lahmte, durch die Bewaffneten, beugte sich zu Gisla hinab und sagte: »Ihr solltet die Worte beachten, sie sind ernst gemeint. Gib auf dich acht, Gisla.« Er warf Anwan einen harten, nicht zu deutenden Blick zu. »Bleib bei deinem Gemahl!«
»Genug geschwatzt!«, mahnte der Feuerschmied, und seine Worte wurden vom Donner fast verschluckt. »Wir müssen zum Königshof!«
Die Worte waren noch nicht verhallt, da galoppierte Wolfger schon durch den Wik. Der Schmied und seine Tochter folgten ihm zu Fuß. Ein Teil der sächsischen Krieger schloss sich ihnen an, während sich der Rest um die von Panik befallenen Menschen in der Siedlung kümmerte.
Die Sachsenkrieger trieben die Wikbewohner unter Bewachung zusammen. Wer von den fränkischen Männern auch nur den Anschein einer Gegenwehr erweckte, wurde erbarmungslos zusammengehauen und oft grausam verstümmelt. Waffenlos waren die Franken zur Kirche gegangen und hatten den zu allem entschlossenen Sachsen daher kaum etwas entgegenzusetzen. Viele der fränkischen Frauen und Kinder wurden vergewaltigt und gequält. Ihre Schreie kämpften gegen den Donner. Die Franken waren die erbitterten Feinde der Sachsen. Ihnen gegenüber galt nicht länger das Gesetz der Menschlichkeit, sondern das des Krieges.
Wolfger hoffte inständig, dass Gisla nichts zustieß. Auch wenn sie einem anderen gehörte. Auch wenn er versuchte, sie sich aus dem Kopf zu schlagen. Aber sie bedeutete ihm immer noch sehr viel. Nicht weniger als vor ihrer Heirat mit Anwan.
Zu der Sorge um Gisla kam die um Gerhild und Gunda. Als die Sachsen die Palisaden erreichten, waren die Tore zum Königshof verschlossen, und fränkische Pfeile schwirrten ihnen entgegen.
»Zu spät!«, keuchte Wolfger enttäuscht.
»Ach was, wir werden den Königshof erstürmen, sobald Widukind mit der Hauptmacht eingetroffen ist«, erwiderte der Feuerschmied. »Allein sind wir leider zu schwach.« Wolfgers Züge versteinerten, als er daran dachte, dass Gerhild und Gunda im Königshof eingeschlossen waren. Was geschah, wenn Rutinus auf den Gedanken kam, sie als Geiseln zu benutzen?
Waren die Götter nicht auf der Seite der Sachsen? War das Gewitter kein Zeichen Donars, dass er sein Volk unterstützte?
Die Dinge verliefen nicht ganz so, wie Widukind, Wolfger und der Feuerschmied es sich vorgestellt hatten, als sie den Schlachtplan besprachen. Der erste Ansturm auf den Königshof war gescheitert. Und Anscher hatte die Weserinsel nicht zeitgleich mit dem Wagenzug erreicht, wie Wolfger mit einem Blick nach Süden feststellte. Kurz vor der Flussinsel mit dem Gefangenenlager kämpften die Sachsen in den Einbäumen verzweifelt mit der durch das Unwetter schnell und unerwartet angeschwollenen Flut.
Anscher hockte in einem der schwankenden Einbäume und fluchte lauthals, als Donar Blitze, Donner und Regen herniedersandte. Innerhalb von Augenblicken schwoll die Strömung an und wurde unberechenbar. Erst hatten sich die Sachsen, die mit der Erstürmung der Gefängnisinsel betraut waren, verspätet, weil eine unvermutete Sandbank zwei Einbäume zum Kentern brachte; mühsam waren die schlanken Boote wieder umgedreht worden und die Besatzungen zurück an Bord geklettert, aber einige Paddel fehlten, trieben mit der Strömung davon. Und jetzt war der Fluss auf einmal so reißend, dass er die Einbäume an der Insel vorbeizutragen drohte. Hatten die Frilinge recht, die Einwände dagegen erhoben hatten, einen Liten mit der Führung der Boote zu betrauen? Doch Widukind und der Feuerschmied hatten nicht auf sie gehört. Anscher hatte sich beim Überfall auf den Wagenzug hervorgetan und kannte sich als erfahrener Fährmann mit dem Führen von Einbäumen aus.
Fünf Boote und vierzig Krieger standen unter Anschers Befehl. Das sollte genügen, um die geringe Zahl an Wachen auf der Flussinsel auszuschalten. Die Sachsen rechneten dort mit etwa zehn bis fünfzehn Franken, die sie hinterrücks überfallen wollten. Jetzt waren die Wachen alarmiert, weil der Kampf um Minden entbrannt war. Zum Glück schienen sie nicht mit einem Angriff vom Fluss aus zu rechnen. Das palisadenumwehrte Gefangenenlager nahm den Nordteil der Insel ein. Dort standen die Franken und spähten nach Norden, hinüber zum Wik und zum Königshof. Doch die Gefahr kam aus dem Süden, näherte sich mit der reißenden Kraft des Flusses.
Die Stelle jenseits der Weserscharte zwischen Wiehen und Süntel, wo die Weser sich in drei Flussarme aufspaltete, lag längst hinter den Einbäumen. Auf dem linken Flussarm, der sich erst kurz vor der Siedlung wieder mit dem Hauptstrom vereinigte, schossen die Boote dahin. Anscher paddelte wie von Sinnen und schrie seine Befehle gegen das Rauschen der Weser, gegen das Prasseln und Klatschen des Regens und gegen Donars Gelächter, das mit den grellen, blendenden Blitzen aus den Wolken fiel. Zwischen Blitzstrahl und Donnerschlag lagen nur noch wenige Augenaufschläge. Der Gewittersturm zog schnell näher. Nicht mehr lange, und der Donnergott würde sich direkt über der Wesersiedlung austoben.
Die nicht besonders hohen Palisaden auf der Flussinsel waren schon recht nah, keine sechshundert Fuß mehr vor dem ersten Einbaum, in dem Anscher mit sieben weiteren Männern saß. Auf seinen Befehl paddelten alle zum Ufer, wo sich Schilf, Rohrkolben und Wasserminze im Sturmwind beugten: ein wogendes Meer aus Grün, Braun und Lila. Mit einem heftigen Ruck schrammte der ausgehöhlte Baumstamm auf den flachen Sand. Augenblicklich sprangen die Männer heraus, zogen das Boot an Land und griffen nach ihren Waffen. Das zweite und das dritte Boot durchschnitten die spritzende Gischt und landeten heil am Westufer der Insel, nicht weit von Anschers Einbaum entfernt. Dann das vierte. Aber das fünfte kenterte und warf seine Besatzung ins Wasser. Fluchend und prustend schwammen und stapften die Männer an Land.
Anscher schickte sie noch einmal zurück in den Fluss, den Einbaum zu holen. »Wir brauchen den Kahn noch!« Er überhörte die Flüche, mit denen der »Hundesohn von einem Liten« bedacht wurde. Mochten unter seiner Schar auch Frilinge sein, die ihn nur ungern als Anführer sahen, sie gehorchten ihm, denn er war der verlängerte Arm Widukinds.
Als auch der fünfte Einbaum an Land gebracht war, führte Anscher seine von Regen und Flusswasser bis auf die Haut durchnässten Krieger zu den kaum mehr als mannshohen Palisaden. Es ging viel leichter, als Anscher geglaubt hatte. Die fränkischen Wachen waren so sehr damit befasst, das Getümmel im Wik zu beobachten, dass Anschers Männer mit ihren Äxten und Beilen eine Lücke in die Umzäunung reißen konnten.
Als die Franken auf sie aufmerksam wurden, waren die Sachsen bereits im Lager. Dadurch ermutigt, erhoben sich die Gefangenen gegen ihre Bewacher. Anschers Trupp musste seine Waffen kaum benutzen. Die meisten Franken wurden von den Gefangenen niedergemacht oder ergaben sich.
Ein kleiner, aber kräftiger Mann mit auffallend eckigem Kopf stapfte durch den Regen auf Anscher zu. Anscher erkannte Alwig, den Schmied vom Wolfshof.
»Euch schicken die Götter!«, rief Alwig, der in der Rechten ein blutbeschmiertes Frankenschwert hielt.
»Nein, Herzog Widukind«, erwiderte Anscher.
Die Gesichter Alwigs und der umstehenden Gefangenen formten sich zu einer einzigen Frage. Einige Männer wiederholten andächtig und ungläubig den Namen des berühmten Herzogs.
»Ja, Widukind ist zurückgekommen, um uns vom Frankenjoch zu befreien!«, rief Anscher. »Und wir können ihm helfen, Minden einzunehmen. Seid ihr bereit zum Kampf?« Sie waren es und taten es durch laute Schreie kund. Wer von den Männern ohne erbeutete Waffe war – und das waren die meisten –, wollte mit bloßen Händen gegen den Feind antreten. Widukinds Name bewirkte Wunder, erweckte alten, längst verlorengeglaubten Kampfgeist zu neuem Leben.
Frauen und Kinder sollten einstweilen auf der Insel bleiben. Anscher ließ die Einbäume zur schmalsten Stelle des linken Weserarms schaffen, wo sie dank der viereckigen Verbundlöcher mit hölzernen Verstrebungen zu einer großen Fähre vereinigt wurden. Der reißende Fluss erschwerte das Übersetzen, und es dauerte lange, bis alle Männer, mit Ausnahme eines kleinen Schutztrupps für die Frauen und Kinder, am Ufer standen.
Widukind war mit seiner Hauptmacht schneller. Angeführt von dem vermummten Herzog, brachen etwa zweihundert Reiter und eine noch größere Anzahl Fußkrieger aus den Wäldern am linken Weserufer hervor und hielten auf Minden zu. Die Reiter gewannen in scharfem Galopp rasch einen Vorsprung vor den anderen. Unter ihrem Hufschlag dröhnte die Erde, wie es der Himmel im Donnerhall tat. Und schon erreichten sie den Wik …
Widukinds Wölfe hatten den Wik durchritten und zügelten ihre Pferde vor dem Königshof, als Wolfger von seinem eiligen Ritt zum Ufer zurückkehrte. Die scharfen Blattränder des Schilfrohrs hatten die Haut des Falben aufgerissen und Wolfgers Hosenbeine zerschlissen, ohne dass er in seiner Hast darauf geachtet hatte. Wichtig war ihm nur die Höhle gewesen, der Gang, durch den er vor dreizehn Nächten aus der Kirche im Königshof geflohen war.
»Und?«, fragte erwartungsvoll der Feuerschmied, der neben Widukinds Rappen stand und mit dem Herzog die Lage besprach.
Wolfger schüttelte den Kopf. »Asmund und Rutinus sind nicht dumm. Der Gang ist verschüttet.«
»Schwer?«, fragte die dumpfe Herzogsstimme unter dem Eisenhelm.
»Das konnte ich in der Eile nicht feststellen. Auf jeden Fall würde es zu lange dauern, den Weg freizuräumen. Länger als die Erstürmung der Palisaden. Aber wir dürfen nicht länger warten als nötig. Mutter und Gunda sind in Gefahr!«
»Wir sind stark genug«, stellte Widukind mit Blick auf die heranstürmenden Männer von der Gefängnisinsel fest. »Wir greifen an.«
Doch bis sich alle Sachsen zum Sturm auf den Königshof formiert hatten, dauerte es. Der unablässige Donner machte es unmöglich, dass sich die Krieger durch Hornsignale verständigten. Für jeden Befehl musste Widukind Kuriere aussenden.
Die unbewaffneten Männer von der Weserinsel schleppten aus dem Wik Holz und Tuchballen herbei, alles, was nicht niet- und nagelfest war, um damit den Graben rund um den Königshof aufzufüllen. Die Bogenschützen und Speerwerfer jenseits der Palisaden brachten viele Sachsen zu Fall, aber andere drängten nach. Zorn und Rachsucht waren stärker als die Furcht vor dem Tod.
Auch die Franken hatten Verluste zu beklagen. Sobald ein Soldat seinen Kopf über die Palisaden schob, warfen die Sachsen ihre Gere. Manche Sachsenspeere flogen über das Ziel hinaus, andere blieben federnd im Holz der Palisaden stecken oder zerbrachen beim Aufprall, aber viele fanden auch ihr Ziel, und mit verletzter Schulter oder durchbohrtem Hals stürzten die Getroffenen vom Wehrgang.
Aus den Wikhäusern gerissene Balken dienten den Sachsen als Rammböcke beim Ansturm gegen die Tore. Sobald der Graben aufgefüllt war, rannten Widukinds Wölfe und ihre Verbündeten von allen Seiten gegen das Palisadenviereck an. Einige Männer stellten sich mit dem Rücken ans Holz und hoben die anderen hinüber. Mehr und mehr Sachsen überschwemmten den Königshof, unaufhaltsam wie der Regen. Dann gaben auch die Tore nach – bis auf eins, das von innen geöffnet wurde. Es war das Westtor, das zur Weser zeigte.
»Zurück!« rief halblaut der kleine Späher. Im allgemeinen Getöse klangen die Worte wie hingehaucht. Welf rannte zu den Bettlern und keuchte, nach Atem ringend: »Die Soldaten haben den Blutpfaffen gefunden und befreit.«
Ogger machte ein wütendes Gesicht und grunzte: »Wir hätten Rutinus gleich umbringen sollen!«
»Verpasste Gelegenheiten kann man nicht nachholen«, erwiderte Hraban. »Wir sollten zusehen, dass wir nicht von Rutinus erwischt werden. Er denkt bestimmt, wir stecken mit den Sachsen, die den Wik überfallen, unter einer Decke.«
»Tut ihr das nicht?«, fragte Gerhild.
Hraban schüttelte das graue Haupt. »Hätten wir von dem Überfall gewusst, hätten wir uns dieses gefährliche Unternehmen sparen können.«
»Vielleicht habt ihr Gunda und mir gleichwohl das Leben gerettet. Ich traue Rutinus zu, dass er uns als Geiseln benutzt hätte.«
Hraban nickte, blickte in den dunklen Himmel, der sein Haupt mit Regen überschüttete, und sagte: »Wir müssen den Sachsen da draußen helfen und ein Tor für sie öffnen. Ich schätze, von der Flussseite wird der Ansturm am schwächsten sein. Dann halten sich dort auch weniger Verteidiger auf. Versuchen wir es dort!«
Die Bettler kämpften sich gegen den Sturm, gegen die zu ihren Stellungen eilenden Soldaten und gegen die aufgeschreckt hin und her rennenden Kirchgänger, die jetzt im Königshof eingeschlossen waren, nach Westen vor.
Die Glocken sangen trotzig gegen das Gewitter an und riefen alle nicht am Kampf Beteiligten zum Gebet in die Kirche. Und wer nicht beten mochte, weil er zu erregt oder zu wenig gläubig war, fand hier zumindest Schutz gegen Sturmwind und Regenflut.
Die fränkischen Soldaten am Westtor rechneten nicht mit einem Überfall aus dem Königshof. Sie standen auf dem Wehrgang, um die Sachsen von dem Tor fernzuhalten. In dem allgemeinen Durcheinander fielen die heranhuschenden Bettler nicht auf. Bis sie ihre Messer in die Hälse der Franken bohrten, den dicken Querbalken aus den Eisenstäben an den Torflügeln zogen und die Flügel aufstießen. Doch zur Überraschung Hrabans und seiner Leute drängten nicht die Sachsen durch das Tor, sondern fünfzig berittene Frankenreiter unter Ermolds Führung galoppierten hinaus, kämpften sich draußen durch die verwirrten Sachsen hindurch, jagten an den kleinen Hütten der Fischersiedlung entlang und sprengten flussabwärts davon.
»Ermold scheint seinen Herrn Asmund zu suchen«, meinte Hraban.
»Oder sein Heil in der Flucht«, ergänzte Gerhild.
Sie mussten zurückweichen, weil die Sachsen hereinströmten. Die Franken auf den Wehrgängen wurden von Furcht und Verwirrung ergriffen und versuchten, sich ins Innere des Königshofes zurückzuziehen. Die meisten fielen unter den Klingen der Sachsen. Selbst wenn ihnen der Rückzug gelang, war es nur ein Aufschub um kurze Zeit. Auch die anderen Tore wurden gestürmt, und auf einmal waren die Angreifer überall, auch auf dem großen Platz vor der Kirche.
Rutinus drehte sich auf dem Kirchenvorplatz um sich selbst und fühlte, wie Verzweiflung von ihm Besitz ergriff.
Er sah Sachsen, überall Sachsen. Regendurchnässte Gestalten, vielfach verwundet, Hass in den Augen, blutige Klingen schwingend. Wie vom Regen in den Königshof gespült, überschwemmten sie alles mit Wut und Tod.
Und Ermold, dieser fette Feigling, ergriff die Flucht! Vergeblich hatte Rutinus die Reiter aufzuhalten versucht, als er sah, wie sie eilig ihre Pferde sattelten. Er hatte ihnen mit Asmunds Strafe, mit dem Zorn Gottes und mit der ewigen Verdammnis gedroht. Ohne Erfolg. Das Überleben in dieser sündhaften Welt erschien den Kriegern wichtiger als ihr Seelenheil. Zumindest war es das drängendere Problem. Sie ritten davon und hätten Rutinus unter den Pferdehufen zerstampft, hätte ihn nicht ein Diakon im letzten Augenblick beiseite gezogen.
Der Diakon verschwand in der Kirche. Rutinus blieb auf dem Vorplatz, sank mit ausgebreiteten Armen in die Knie, blickte in den schwarzen Himmel und schrie: »O Herr, hab Erbarmen mit denen, die rechten Glaubens sind. Ich weiß, nicht der Dämon Donar schickt Sturm und Blitz, sondern du, Allmächtiger, Zorniger, Barmherziger. Fege die Ungläubigen hinweg, ersaufe sie in Regenflut, verbrenne sie mit deinem grellen Himmelslicht!«
Blitz und Donner kamen gleichzeitig. Der Donner lauter als jedes Geräusch, das Mensch oder Tier verursachen konnte. Ein Gebrüll wie von sämtlichen gequälten Seelen der Hölle ausgestoßen. Ein Dröhnen, dass die Ohren sterben wollten. Der Blitz, groß und gewaltig wie ein Riese, blendete die Augen. Er fuhr in die Kirche, dort wo das Schiff an den Glockenturm stieß.
Aus dem Kirchenschiff drang ein vielstimmiger Todesschrei. Hohe Flammen schossen empor und störten sich nicht daran, dass der Regen das Holz benetzte. Widerlicher Gestank wälzte sich über den Königshof: gebratenes, verbranntes Fleisch.
Der Turm wankte und stürzte. Die Glocken lösten sich aus den Halterungen, fielen dröhnend zu Boden und rissen mehrere Menschen um, Sachsen wie Franken.
Auch das große Eisenkreuz, das auf dem Turm saß, machte sich selbständig. Wie eine Botschaft Gottes flog es aus dem düsteren Himmel auf Rutinus zu …
»Donars Rache!«, keuchte Wolfger und riss den Falben zurück, als er sah, wie der Blitz in die Kirche fuhr. »Der Donnergott vernichtet diejenigen, die sich im Haus des feindlichen Gottes vor ihm verbergen.«
»Und er vernichtet den obersten Priester des Christengottes«, sagte Heidrun, die an seiner Seite stand.
Sie sahen, wie das fast mannshohe Kreuz vom zerstörten Glockenturm fiel und mit dem langen Ende die Brust des Archidiakons durchbohrte. Blut spritzte. Das Eisen spießte den Missionsleiter regelrecht an den Boden.
»Rutinus ist tot!« Heidrun sagte es mit großer Befriedigung. »Er hat es nicht besser verdient. Wie er Saxnots Schwert zerstörte, hat Donar nun ihn und das Heiligtum seines Gottes vernichtet.«
»Nein«, sagte der Feuerschmied so leise, dass seine Stimme kaum zu verstehen war. »Das ist nicht Rutinus.«
»Natürlich ist das der Archidiakon«, widersprach Wolfger. »Ich kenne ihn schon lange, seit Widukinds Taufe. Seit mein Vater seinen Bruder Beatus in die Weser warf.« Langsam trat der Feuerschmied auf den Gepfählten zu, der mit gebrochenem Blick himmelwärts starrte, als versuche er verzweifelt, seinen Gott zu schauen. Der Schmied blieb über dem Leichnam stehen und sagte: »Wenn das Rutinus ist, so hat er früher einen anderen Namen getragen: Heilman.«
Wolfger stieg vom Pferd und trat mit Heidrun näher. Beide sahen mit ungläubigen Blicken abwechselnd den Toten und den Schmied an. Sie begriffen, was der Schmied sagte, aber ihr Verstand wollte es nicht glauben. Und bei Heidrun weigerte sich auch das Herz.
Schließlich sagte Wolfger: »Wenn das wahr ist, dann hat mein Vater nicht nur Beatus in den Fluss gestoßen, sondern mit ihm auch Heilwig.«
»So nah war er die ganze Zeit«, meinte der Schmied und sah den Toten an, der einmal sein Sohn gewesen war. »So nah! Warum?«
»Vielleicht suchte er, ohne es zu wissen, die Vergebung seines Vaters«, vermutete Wolfger.
»Er?« Der Schmied spie aus, spuckte auf seinen toten Sohn. »Eher wollte er mich bekehren, mit Taufwasser oder Blut, ganz nach Belieben!«
Mit langsamen Schritten ging Heidrun um den aufgespießten Archidiakon herum, als betrachte sie auf dem Markt sorgsam eine Ware vor dem Kauf. »Ich erkenne ihn nicht wieder. Ich erkenne meinen Bruder nicht.«
»Du hast keinen Bruder mehr«, sagte der Feuerschmied mit eisenharter Stimme. »Du hast deine Brüder schon verloren, als aus Heilmar und Heilwig Rutinus und Beatus wurden. Wolfgers Vater gebührt Dank, dass er Beatus ersäuft hat.« Er sah in die triefenden, grollenden, blitzeschleudernden Wolken hinauf. »Und Donar gebührt Dank für den Vollzug seiner Rache!«
»Ja, Donar gebührt Dank«, sagte der Herzog. »Saxnot und Wodan auch. Allen Göttern, dass sie uns den Sieg geschenkt haben.«
Widukind war mit seiner Leibwache in den Königshof geritten. Das Feuer der brennenden Kirche spiegelte sich auf dem nassen Eisen seines Helms. Es wirkte auf Wolfger wie das Sternenfunkeln auf der nächtlichen Weser. Nur nicht so friedlich, so beruhigend. Eher bedrohlich. Feuer und Eisen waren die Waffen der Zerstörung.
»Der Sieg ist unser, jeder Widerstand gebrochen«, verkündete Widukind mit lauter Stimme. Die umstehenden Sachsen lauschten ergeben seinen Worten, und selbst der Donner hielt sich zurück. »Aber die Einnahme Mindens ist nur der Anfang. Der Klang der Hillebillen und Sendboten mit Runenstäben werden von unserem Sieg künden, überall im Sachsenland. Und wie Donars Sturm wird sich unser Aufstand über Berge und Wälder ausbreiten, um die Franken zu dem Ort zu schicken, den sie Hölle nennen.«
Lautes Waffenklirren verkündete den Beifall der Sachsen. Wolfger beteiligte sich nicht daran. Er stieg wieder auf den Falben und hielt Ausschau nach den zwei Menschen, die für ihn wichtiger waren als die Einnahme Mindens und des Königshofes. Und im gleißenden Licht eines neuen Blitzes entdeckte er sie. Gerhild und Gunda standen inmitten einer Gruppe Bettler. Er sah auch andere Bekannte: den geheimnisvollen Bettlerkönig Hraban, den starken Ogger und den heimtückischen Welf.
Wolfger trieb den Falben durch die Menge, rutschte vor dem Bettlerkönig aus dem Sattel und fiel seiner Mutter in die Arme. Er hätte nicht geglaubt, dass er es als erwachsener Mann so genießen würde, die Wärme der Mutter zu spüren. Aber jetzt, wo Wittich tot und Gisla verloren war, fand er bei Gerhild Trost und die Gewissheit, nicht ganz allein zu sein. Als er sich seiner Schwester zuwenden wollte, lief schon ein anderer Mann auf Gunda zu.
»Anscher!«, rief sie, und zum ersten Mal seit vielen Tagen strahlte ihr Gesicht wieder ein frohes Leuchten aus. Gunda war ins Leben zurückgekehrt.