Cover

Das Buch

Wir erwarten von unseren Richtern, dass sie ehrlich und weise handeln. Ihre Integrität und Neutralität sind das Fundament, auf dem unser Rechtssystem ruht. Wir vertrauen darauf, dass sie für faire Prozesse sorgen, Verbrecher bestrafen und eine geordnete Gerichtsbarkeit garantieren. Doch was passiert, wenn sich ein Richter bestechen lässt? Lacy Stoltz, Anwältin bei der Rechtsaufsichtsbehörde in Florida, wird mit einem Fall richterlichen Fehlverhaltens konfrontiert, der jede Vorstellungskraft übersteigt. Ein Richter soll über viele Jahre hinweg Bestechungsgelder in schier unglaublicher Höhe angenommen haben. Lacy Stoltz will dem ein Ende setzen und nimmt die Ermittlungen auf. Eins wird schnell klar: Dieser Fall ist hochgefährlich. Doch Lacy Stoltz ahnt nicht, dass er auch tödlich enden könnte.

Der Autor

John Grisham hat 29 Romane, ein Sachbuch, einen Erzählband und sechs Jugendbücher veröffentlicht. Seine Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.

JOHN GRISHAM

BESTECHUNG

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von
Kristiana Dorn-Ruhl, Bea
Reiter
und Imke Walsh-Araya

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
The Whistler
bei Doubleday, New York

Copyright © 2016 by Belfry Holdings, Inc.


Copyright © 2017 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Oliver Neumann

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock.com/David Kay

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-17428-6
V007


www.heyne.de

1

Im Autoradio lief Softjazz, ein Kompromiss nach langer Debatte. Lacy, die Eigentümerin des Toyota Prius und mithin auch des Radios, hasste Rap in etwa so sehr wie Hugo, ihr Beifahrer, Countrymusic. Sport, Hintergrundinfos, Oldies, Comedy und BBC waren nicht infrage gekommen, und Bluegrass, CNN, Oper und hundert andere Spartensender hatten sie erst gar nicht ausprobiert. Schließlich hatte Lacy frustriert, Hugo ermüdet aufgegeben, und so wurde eben Softjazz eingestellt. Leise natürlich, damit Hugo nicht in seinem ausgiebigen Schlaf gestört wurde. Lacy machte sich ohnehin nichts aus Softjazz. Dank Kompromissen wie diesem funktionierte ihre Zusammenarbeit seit Jahren bestens. Er schlief, sie fuhr, und beide waren zufrieden.

Vor der großen Rezession hatte das BJC – das Board on Judicial Conduct, für Berufsaufsicht und standeswidriges Verhalten von Richtern in Florida zuständig – noch eine Flotte von staatseigenen Hondas zur Verfügung gehabt, alles Viertürer, weiß, kaum Kilometer auf dem Tacho, die jedoch im Rahmen von Budgetkürzungen abgeschafft worden waren. Inzwischen mussten Lacy, Hugo und die vielen anderen Behördenmitarbeiter Floridas im Dienst ihre Privatautos fahren, wofür sie eine Aufwandsentschädigung von fünfzig Cent pro Kilometer bekamen. Hugo, der vier Kinder hatte und unter saftigen Immobilienraten ächzte, fuhr einen alten Ford Bronco, der kaum den Weg zum Büro schaffte, geschweige denn eine längere Reise. Und so schlief er.

Lacy genoss die Ruhe. Sie wickelte die meisten ihrer Fälle allein ab, ebenso wie ihre Kollegen. Tiefere Einschnitte hatten ihre Abteilung auf sieben Mitarbeiter zusammenschrumpfen lassen. Sieben – in einem Bundesstaat mit zwanzig Millionen Einwohnern und tausend Richtern an sechshundert Gerichten, die eine halbe Million Fälle jährlich bearbeiteten. Lacy war zutiefst dankbar dafür, dass die überwiegende Mehrheit der Juristen ehrliche, fleißige Leute waren, die sich der Gerechtigkeit verschrieben hatten. Sonst hätte sie schon längst gekündigt. Allein die paar faulen Äpfel hielten sie fünfzig Stunden die Woche auf Trab.

Sie betätigte behutsam den Blinkerhebel und bremste in der Ausfahrt ab. Als der Wagen hielt, richtete sich Hugo mit einem Ruck auf, als wäre er schlagartig hellwach und zu allem bereit. »Wo sind wir?«

»Gleich da. Noch zwanzig Minuten. Du kannst dich auf die andere Seite drehen und das Fenster anschnarchen.«

»Tut mir leid. Ich habe geschnarcht?«

»Du schnarchst immer, zumindest sagt das deine Frau.«

»Also, zu meiner Verteidigung, heute Morgen um drei bin ich mit ihrem neuesten Baby auf und ab gewandert. Ich glaube, es ist ein Mädchen. Wie heißt sie noch?«

»Wer, deine Frau oder deine Tochter?«

»Haha.«

Die reizende und ständig schwangere Verna machte keinen Hehl daraus, worum es in dieser Ehe ging. Es war ihr Job, Hugos Ego zu pflegen, und das war keine leichte Aufgabe. In einem früheren Leben war Hugo ein Footballstar gewesen, schon in der Highschool, dann einer der Jahrgangsbesten in ganz Florida und der erste Studienanfänger, der es jemals in eine Startaufstellung geschafft hatte. Er war ein ebenso brutaler wie brillanter Tailback gewesen, zumindest für dreieinhalb Spiele, bis er mit einem gequetschten Wirbel im oberen Rückgrat vom Spielfeld getragen wurde. Er schwor, das Comeback zu schaffen, doch seine Mutter sagte Nein. Nachdem er das College mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, studierte er Jura. Die Tage seines Ruhms waren inzwischen längst vorbei, doch er würde immer den Stolz mit sich herumtragen, einmal zum Team der Besten gehört zu haben. Er konnte nicht anders.

»Noch zwanzig Minuten?«, brummte er.

»Ungefähr. Wenn du möchtest, darfst du auch bei laufendem Motor im Auto sitzen bleiben und den ganzen Tag weiterschlafen.«

Er drehte sich auf die rechte Seite und schloss die Augen. »Ich will einen neuen Partner.«

»Das wäre natürlich eine Lösung. Das Problem ist nur, dass dich sonst keiner will.«

»Einen mit einem größeren Auto.«

»Der hier braucht nur fünf Liter auf hundert Kilometer.«

Er brummte erneut, wurde wieder still. Dann fing er an zu zucken und zu zappeln. Vor sich hin murmelnd setzte er sich auf und rieb sich die Augen. »Was hören wir da?«

»Darüber haben wir vor langer Zeit gesprochen, als wir in Tallahassee losgefahren sind. Kurz bevor du dich in den Winterschlaf begeben hast.«

»Soweit ich mich entsinne, habe ich angeboten zu fahren.«

»Mit einem offenen Auge? Tolles Angebot. Wie geht’s Pippin?«

»Weint viel. Normalerweise, und ich kenne mich da wirklich gut aus, hat ein Neugeborenes einen Grund, wenn es weint. Hunger, Durst, Windel voll, Mami soll kommen – solche Sachen. Pippin nicht. Sie quäkt einfach so herum wie verrückt. Du weißt nicht, was du verpasst.«

»Du erinnerst dich, dass ich auch schon zweimal mit Pippin auf und ab gewandert bin.«

»Ja, und Gott segne dich dafür. Kannst du heute Abend rüberkommen?«

»Jederzeit. Habt ihr eigentlich je über Verhütung nachgedacht, so nach dem vierten Kind?«

»Wir fangen gerade an, uns mit dem Thema zu beschäftigen. Apropos Sex, wie sieht’s da zurzeit bei dir aus?«

»Sorry, anderes Thema.« Lacy war sechsunddreißig, Single und attraktiv, und im Büro wurde ihr Sexualleben unter vorgehaltener Hand beständig diskutiert.

Sie fuhren Richtung Osten auf den Atlantik zu. St. Augustine war dreizehn Kilometer entfernt. Lacy stellte das Radio ab, und Hugo fragte: »Warst du schon mal hier?«

»Ja, vor ein paar Jahren, mit meinem Freund. Wir haben eine Woche in der Ferienwohnung einer Freundin am Strand verbracht.«

»Um Sex zu haben?«

»Ist das dein Ernst? Denkst du eigentlich immer nur unter der Gürtellinie?«

»Tja, wenn ich so überlege, muss ich gestehen: ja. Außerdem musst du bedenken, dass Verna und ich schon seit mindestens drei Monaten keine normale Beziehung mehr führen. Ich bin immer noch der Meinung, zumindest insgeheim, dass sie mir drei Wochen zu früh den Hahn abgedreht hat, aber das ist jetzt müßig. Schließlich kann ich es nicht mehr ändern. Bei mir hat sich also einiges aufgestaut. Keine Ahnung, ob es ihr auch so geht. Drei Krabbelmonster und ein Neugeborenes können in dieser Hinsicht ernsthaften Schaden anrichten.«

»Ich werd’s nie erfahren.«

Er versuchte, sich ein paar Kilometer lang auf die Straße zu konzentrieren, dann wurden seine Lider wieder schwer, und er nickte ein. Lächelnd sah Lacy ihn an. In den neun Jahren, in denen sie für das BJC tätig war, hatten sie ein Dutzend Fälle zusammen bearbeitet. Sie waren ein gutes Team und vertrauten einander. Beide wussten, dass ein Fauxpas von Hugo – bislang hatte es keinen gegeben – sofort an Verna weitergeleitet würde. Lacy arbeitete mit Hugo, und mit Verna ging sie shoppen und tratschen.

St. Augustine galt als die älteste Stadt Amerikas, hier war Kolumbus’ Begleiter Ponce de León an Land gegangen und hatte seine Erkundungen begonnen. Geschichtsträchtig und entsprechend voll mit Touristen, war der Ort ein reizendes Städtchen mit historischen Gebäuden und alten Eichen, von denen dick das Louisianamoos herabhing. Als sie den Stadtrand erreichten, wurde der Verkehr dichter, und Reisebusse hielten. Rechter Hand erhob sich in der Ferne eine alte Kathedrale über die Dächer der Stadt. Lacy erinnerte sich noch gut. Sie hatte St. Augustine in bester Erinnerung behalten, auch wenn die Woche mit dem Freund eine Katastrophe gewesen war.

Eine von vielen.

»Wer ist der geheimnisvolle Whistleblower, den wir hier treffen sollen?«, wollte Hugo wissen. Er rieb sich erneut die Augen, diesmal fest entschlossen, wach zu bleiben.

»Das weiß ich noch nicht. Sein Deckname ist Randy.«

»Aha. Erzähl mir bitte noch mal, warum wir uns heimlich mit einem Mann verabreden, der inkognito bleiben will und noch nicht einmal Beschwerde gegen einen unserer geschätzten Richter erhoben hat.«

»So genau kann ich dir das auch nicht sagen. Ich habe dreimal mit ihm telefoniert, und er klang, nun ja, ziemlich ernst.«

»Toll. Wann hast du zum letzten Mal mit einem Kläger gesprochen, der nicht ziemlich ernst klang?«

»Glaub’s mir einfach, okay? Michael hat uns losgeschickt, deshalb sind wir hier.« Michael Geismar war der Leiter der Behörde und ihr direkter Vorgesetzter.

»Schon gut. Gibt es denn einen Hinweis, worin das mutmaßliche standeswidrige Verhalten bestehen soll?«

»O ja. Randy meinte, es wäre ein Hammer.«

»Wow, so was habe ich ja noch nie gehört.«

Sie bogen in die King Street ein und krochen im zähen Innenstadtverkehr voran. Es war Mitte Juli, Hochsaison im Norden Floridas, und Touristen in Shorts und Sandalen schlenderten scheinbar ziellos die Gehsteige entlang. Lacy parkte in einer Seitenstraße, und sie mischten sich in den Strom der Passanten. In einem Coffeeshop ließen sie eine halbe Stunde verstreichen, in der sie Hochglanzimmobilienbroschüren durchblätterten. Um zwölf Uhr gingen sie, wie vereinbart, ins Luca’s Grill und nahmen sich einen Tisch für drei Personen. Sie bestellten Eistee und warteten. Dreißig Minuten vergingen ohne ein Zeichen von Randy, und so ließen sie sich Sandwichs kommen, mit Pommes frites für Hugo und Obst für Lacy. Während sie so langsam wie möglich aßen, behielten sie die Tür im Auge.

Als Anwälten war ihnen ihre Zeit kostbar, als Ermittler mussten sie sich in Geduld üben können. Oft gerieten die Prioritäten in Konflikt.

Um vierzehn Uhr gaben sie auf und kehrten zum Wagen zurück, in dem es stickig-heiß war wie in einer Sauna. Als Lacy den Zündschlüssel drehte, summte ihr Telefon. Unbekannter Anrufer. Sie griff danach. »Ja?«

»Ich habe Sie aufgefordert, allein zu kommen«, meldete sich eine männliche Stimme. Randy.

»Wer gibt Ihnen das Recht, mir Anordnungen zu erteilen? Wir waren für zwölf Uhr verabredet. Zum Mittagessen.«

Kurzes Schweigen, dann: »Ich bin an der Municipal Marina, am Ende der King Street, drei Blocks entfernt. Sagen Sie Ihrem Freund, er soll verschwinden. Dann können wir reden.«

»Hören Sie, Randy, ich bin keine Polizistin, Mantel und Degen sind nicht mein Ding. Ich bin gern bereit, mich mit Ihnen zu treffen, aber wenn Sie mir dann nicht binnen sechzig Sekunden Ihren richtigen Namen sagen, bin ich weg.«

»Okay.«

Sie beendete den Anruf und murmelte: »Okay.«

Die Municipal Marina, der Jachthafen der Stadt, war voller Sport- und Fischerboote, die beständig ein- und ausliefen. Ein langes Pontonboot entlud gerade eine Schar lärmender Touristen. Ein Restaurant mit Terrasse am Wasser erfreute sich noch regen Zulaufs, auf Ausflugsbooten wurden Decks abgespritzt und Vorbereitungen für den nächsten Tag getroffen.

Lacy ging den mittleren Pier entlang und hielt nach dem Gesicht eines Mannes Ausschau, dem sie nie begegnet war. An einer Benzinpumpe vor ihr stand ein alternder Strandhippie, der ihr unbeholfen zuwinkte und nickte. Sie erwiderte das Nicken und ging auf ihn zu. Er war um die sechzig, und unter seinem Panamahut quoll dichtes graues Haar hervor. Shorts, Sandalen, ein knallbuntes Blumenhemd und die typische bronzefarbene Lederhaut, die von zu viel Sonne herrührte. Seine Augen blieben hinter einer Pilotenbrille verborgen.

Lächelnd trat er ihr entgegen. »Sie müssen Lacy Stoltz sein.«

Lacy nahm seine Hand. »Ja. Und Sie sind?«

»Ramsey Mix. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Ganz meinerseits. Wir waren um zwölf Uhr verabredet.«

»Tut mir leid. Ich hatte mit dem Boot Probleme.« Er nickte in Richtung eines großen Rennboots, das am Ende des Piers lag. Es war fast das längste Boot im Hafen. »Können wir uns dort unterhalten?«, fragte er.

»Auf dem Boot?«

»Klar. Da sind wir ungestört.«

Mit einem Fremden auf ein Boot zu steigen klang für Lacy alles andere als vernünftig, und sie zögerte. Noch ehe sie antworten konnte, fragte Mix: »Wer ist der Schwarze?« Er blickte zur King Street hinüber.

Lacy wandte sich um und entdeckte Hugo im Schlepptau einer Touristengruppe, die sich dem Jachthafen näherte. »Mein Kollege.«

»Eine Art Leibwächter?«

»Ich brauche keinen Leibwächter, Mr. Mix. Wir sind nicht bewaffnet, doch mein Kollege bräuchte keine zwei Sekunden, um Sie ins Wasser zu befördern.«

»Hoffen wir, dass das nicht nötig sein wird. Ich komme mit friedlichen Absichten.«

»Das freut mich zu hören. Ich gehe nur mit auf das Boot, wenn es bleibt, wo es ist. Sobald der Motor angeht, ist unser Treffen beendet.«

»Okay.«

Sie folgte ihm über den Pier, an einer Reihe Segelboote vorbei, die aussahen, als hätten sie das offene Meer seit Monaten nicht gesehen. Mix’ Boot hatte den bezeichnenden Namen Conspirator. Er sprang an Bord und streckte ihr die Hand hin. An Deck stand unter einer Markise ein kleiner Holztisch mit vier Klappstühlen. Er deutete darauf. »Willkommen. Nehmen Sie Platz.«

Lacy blickte sich flüchtig um. Ohne sich zu setzen, sagte sie: »Sind wir allein?«

»Nicht ganz. Ich habe eine Freundin, die gern mit mir rausfährt. Sie heißt Carlita. Möchten Sie sie kennenlernen?«

»Nur wenn sie in Ihrer Geschichte eine Rolle spielt.«

»Nein.« Mix sah über den Hafen zu Hugo, der an einem Geländer lehnte und herüberwinkte, als wollte er sagen: Ich habe alles im Blick. Mix winkte zurück. »Darf ich Sie etwas fragen?«

»Natürlich«, erwiderte Lacy.

»Gehe ich richtig in der Annahme, dass alles, was ich Ihnen erzähle, binnen Kurzem mit Mr. Hatch besprochen werden wird?«

»Er ist mein Kollege. Wir bearbeiten manche Fälle gemeinsam, vielleicht auch diesen. Woher kennen Sie seinen Namen?«

»Zufälligerweise besitze ich einen Computer. Ich habe mir die Website angesehen. Das BJC sollte sie wirklich mal updaten.«

»Ich weiß. Budgetkürzungen.«

»Sein Name kommt mir bekannt vor.«

»Er hatte eine kurze Karriere als Footballspieler der Florida State University.«

»Das könnte es sein. Ich bin Gators-Fan.«

Lacy enthielt sich einer Antwort. Typisch Südstaaten. Die Menschen hingen mit einer Leidenschaft an Collegefootballteams, über die sie nur den Kopf schütteln konnte.

»Dann wird er also ohnehin alles erfahren?«

»Ja.«

»Rufen Sie ihn rüber. Ich besorge uns was zu trinken.«

2

Carlita servierte Getränke von einem Holztablett. Diätlimo für Lacy und Hugo, eine Flasche Bier für Mix. Sie war eine hübsche Mexikanerin, mindestens zwanzig Jahre jünger als Mix, und schien sich zu freuen, dass Gäste da waren, vor allem eine andere Frau.

Lacy machte sich eine Notiz auf ihrem Block. »Eine Frage. Das Handy, das Sie vor einer Viertelstunde benutzt haben, hatte eine andere Nummer als das, das Sie letzte Woche benutzt haben.«

»Das ist eine Frage?«, erkundigte sich Mix.

»Betrachten Sie’s als solche.«

»Okay. Ich verwende Prepaidhandys. Und ich bin viel unterwegs. Ich nehme an, die Nummer, die ich von Ihnen habe, gehört zu einem Diensthandy?«

»Richtig. Wir benutzen im Dienst keine privaten Handys. Meine Nummer wird sich also so schnell nicht ändern.«

»Das macht es einfacher. Meine Handys wechseln monatlich, manchmal wöchentlich.«

Bislang, in diesen ersten fünf Minuten, hatte Mix mehr Fragen gestellt als beantwortet. Lacy war immer noch verstimmt, weil sie versetzt worden war, und auch ihr erster Eindruck von ihm war nicht eben positiv. »Also gut, Mr. Mix, ab jetzt werden Hugo und ich schweigen und Sie reden. Erzählen Sie uns Ihre Geschichte. Sollten sich Lücken auftun, sodass wir herumstochern müssen und im Dunkeln tappen, wird uns langweilig, und wir fahren heim. Sie waren clever genug, mich hierherzulocken. Dann reden Sie auch endlich.«

Mix sah Hugo lächelnd an. »Ist sie immer so direkt?«

Ohne das Lächeln zu erwidern, nickte Hugo, faltete seine Hände auf dem Tisch und wartete. Lacy legte den Stift weg.

Mix trank einen Schluck Bier. »Ich habe dreißig Jahre lang Recht in Pensacola praktiziert«, fing er an. »Es war eine kleine Kanzlei – meistens fünf, sechs Anwälte. Wir waren ziemlich erfolgreich. Alles war gut. Einer meiner ersten Mandanten war Bauunternehmer, ein großer Fisch, er baute Apartmentblocks, Einfamilienhaussiedlungen, Hotels, Shoppingcenter, das übliche Zeug, was in Florida über Nacht aus dem Boden gestampft wird. Ich traute dem Typ von Anfang an nicht recht, aber er verdient so viel Geld, dass ich den Köder irgendwann schluckte. Er fädelte ein paar Deals für mich ein, hier und da bekam ich ein Extrascheibchen ab, und eine Zeit lang lief alles wie geschmiert. Ich fing an, vom großen Reichtum zu träumen, was – zumal in Florida – gern auch mal böse endet. Mein Mandant frisierte die Bücher und häufte zu viele Schulden an, ohne mein Wissen. Am Ende stellte sich heraus, dass die Darlehen gefälscht waren, dass praktisch alles gefälscht war. Das FBI roch sofort organisiertes Verbrechen, und dafür hat uns der Gesetzgeber ja den Racketeer Influenced and Corrupt Organizations Act geschenkt. Halb Pensacola ging damals wegen RICO hoch, mich eingeschlossen. Die reinste Streubombe. Alle hat es erwischt, Bauunternehmer, Banker, Makler, Anwälte und andere Halsabschneider. Wie auch immer, ich wechselte die Seiten, sang wie ein Vögelchen, man bot mir einen Deal an, ich erklärte mich in einem Anklagepunkt – Postbetrug – für schuldig und saß sechzehn Monate in einem Bundesgefängnis. Außerdem verlor ich meine Lizenz und machte mir einen Haufen Feinde. Seither halte ich mich lieber zurück. Ich habe mich um Wiederaufnahme in die Anwaltskammer beworben und meine Lizenz zurückbekommen. Heute habe ich nur einen Mandanten. Er ist derjenige, über den wir ab jetzt sprechen werden. Fragen so weit?« Er nahm einen Hefter ohne Aufschrift von dem freien Stuhl und reichte ihn Lacy. »Hier sind meine gesammelten Werke, Zeitungsartikel, mein Strafminderungsdeal – können Sie alles brauchen. Ich bin sauber, soweit ein Exsträfling sauber sein kann. Jedes Wort von mir ist wahr.«

»Wie ist Ihre aktuelle Adresse?«, wollte Hugo wissen.

»Ich habe einen Bruder in Myrtle Beach, dessen Adresse ich für Rechtsangelegenheiten nutze. Carlita hat eine Wohnung in Tampa, da geht auch einiges an Post hin. Im Grunde aber lebe ich auf diesem Boot. Ich habe Telefone, Fax, WLAN, eine kleine Dusche, kühles Bier und eine nette Frau. Ich bin ein glücklicher Mann. Wir fahren um Florida herum, auf die Keys, die Bahamas. Keine schlechte Rente, dank Onkel Sam.«

»Wieso haben Sie einen Mandanten?«, fragte Lacy, ohne den Hefter zu beachten.

»Er ist ein Freund eines alten Bekannten, der meine dunkle Vergangenheit kennt und dachte, für ein dickes Honorar würde ich einiges möglich machen. Und da hatte er recht. Mein Bekannter machte mich ausfindig und überredete mich, den Fall zu übernehmen. Fragen Sie mich nicht nach dem Namen meines Mandanten. Ich habe ihn nicht. Mein Bekannter dient als Vermittler.«

»Sie kennen den Namen Ihres Mandanten nicht?«, wunderte sich Lacy.

»Nein, und ich will ihn auch nicht kennen.«

»Sollen wir das einfach so hinnehmen?«, fragte Hugo.

»Lücke Nummer eins, Mr. Mix«, sagte Lacy. »Wir akzeptieren keine Lücken. Sie erzählen uns alles, oder wir gehen, und das war’s.«

»Entspannen Sie sich, okay?« Mix nippte an seinem Bier. »Die Geschichte ist lang, und es wird eine Weile dauern, sie zu erzählen. Es geht um viel Geld, Korruption von erstaunlichen Ausmaßen und ein paar richtig böse Buben, die jedem, der zu viele Fragen stellt, ein, zwei Kugeln zwischen die Augen jagen würden. Mir, Ihnen, meinem Mandanten.«

Eine längere Pause trat ein, als Lacy und Hugo seine Worte auf sich wirken ließen. »Und warum spielen Sie dann mit?«, fragte Lacy schließlich.

»Wegen des Geldes. Mein Mandant möchte sich auf den Whistleblower-Paragrafen des Staates Florida berufen, das Gesetz zum Schutz von Hinweisgebern. Er träumt davon, Millionen damit zu machen. Ich bekäme einen hübschen Anteil, und wenn alles gut geht, müsste ich nie wieder arbeiten.«

»Dann muss er beim Staat angestellt sein«, sagte Lacy.

»Ich kenne das Gesetz, Ms. Stoltz. Sie haben einen anspruchsvollen Job, im Gegensatz zu mir. Ich habe viel Zeit, über Paragrafen und Gesetze nachzugrübeln. Ja, mein Mandant ist Angestellter des Staates Florida. Nein, seine Identität darf nicht preisgegeben werden, jedenfalls nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Vielleicht später, wenn Geld geflossen ist. Dann können wir einen Richter vielleicht überreden, die Akte dauerhaft unter Verschluss zu halten. Aber im Moment hat mein Mandant viel zu viel Angst, um formell Dienstaufsichtsbeschwerde beim BJC einzureichen.«

»Ohne formelle Beschwerde mit Unterschrift können wir nichts unternehmen«, gab Lacy zu bedenken. »Das Gesetz ist da eindeutig, wie Sie sicher wissen.«

»Und ob ich das weiß. Ich werde die Beschwerde unterzeichnen.«

»Unter Eid?«, fragte Hugo.

»Ja. Ich glaube, dass mein Mandant die Wahrheit sagt, und bin bereit, meinen Namen dafür herzugeben.«

»Und Sie haben keine Angst?«

»Ich lebe seit Langem in Angst. Irgendwie habe ich mich an sie gewöhnt. Wobei es sicher Steigerungen gibt.« Mix griff nach einem weiteren Hefter und zog ein paar Blätter heraus, die er auf den Tisch legte. »Vor sechs Monaten war ich in Myrtle Beach beim Gericht und habe meinen Namen ändern lassen. Ich bin jetzt Greg Myers. Das ist der Name, den ich für die Beschwerde verwenden werde.«

Lacy las die gerichtliche Anordnung aus South Carolina und bezweifelte zum ersten Mal ernsthaft, ob es klug gewesen war, nach St. Augustine zu kommen, um sich mit diesem Typen zu treffen. Ein Staatsbediensteter, der zu viel Angst hatte, um eine Aussage zu machen. Ein geläuterter Anwalt, der so viel Angst hatte, dass er in einem anderen Bundesstaat seinen Namen ändern ließ. Ein Exsträfling ohne feste Adresse.

Hugo las die gerichtliche Anordnung durch und wünschte sich zum ersten Mal seit Jahren, eine Waffe tragen zu dürfen. »Betrachten Sie sich im Moment als untergetaucht?«

»Sagen wir, ich bin sehr vorsichtig, Mr. Hatch. Ich bin ein erfahrener Skipper, der die Gewässer kennt, das Meer, die Strömungen, Inseln, Keys, abgelegene Strände und Buchten, und zwar besser als alle, die mir auf den Fersen sind, sofern da jemand ist.«

»Das hört sich eindeutig so an, als würden Sie sich verstecken«, sagte Lacy.

Myers nickte, als würde er zustimmen. Alle drei tranken einen Schluck. Eine Brise kam auf und milderte die Schwüle ein wenig. Lacy blätterte den dünnen Hefter durch. »Eine Frage«, begann sie. »Hatten Ihre juristischen Probleme in irgendeiner Weise mit dem Verstoß zu tun, über den Sie reden wollen?«

Er hielt mit dem Nicken inne, während er über die Frage nachdachte. »Nein.«

»Zurück zu dem geheimnisvollen Mandanten. Stehen Sie in direktem Kontakt mit ihm?«, wollte Hugo wissen.

»Nein. Er lehnt es ab, über E-Mail, Post, Fax oder jedwede Art von zurückverfolgbarem Telefon zu kommunizieren. Er spricht mit dem Vermittler, und der Vermittler kommt entweder persönlich zu mir oder ruft mich auf einem Wegwerfhandy an. Die Methode ist aufwendig und umständlich, aber einigermaßen sicher. Keine Spuren, keine Aufzeichnungen.«

»Und wenn Sie ihn jetzt sofort sprechen müssten, wie würden Sie ihn finden?«

»Das ist noch nie vorgekommen. Ich nehme an, ich würde den Mittelsmann anrufen und müsste vielleicht eine Stunde warten.«

»Wo lebt der Mandant?«

»Ich weiß nicht genau. Irgendwo im Nordwesten von Florida.«

Lacy atmete tief durch und wechselte einen Blick mit Hugo. »Okay, wie lautet die Geschichte?«

Myers blickte in die Ferne über das Wasser und die Boote. Eine Zugbrücke wurde geöffnet, und er schien von dem Anblick fasziniert. »Die Geschichte hat viele Kapitel«, begann er schließlich, »und ist noch nicht zu Ende geschrieben. Bei unserer kleinen Zusammenkunft heute will ich Ihnen genug erzählen, um Ihre Neugier zu wecken, aber nur so viel, dass Sie sich immer noch zurückziehen können, wenn Sie Angst bekommen. Denn das ist jetzt die entscheidende Frage: Sind Sie dabei?«

»Geht es um standeswidriges Verhalten?«, fragte Lacy.

»Es als ›standeswidriges Verhalten‹ zu bezeichnen wäre eine massive Untertreibung. Nach allem, was mir bekannt ist, ist Korruption in einem Ausmaß im Spiel, wie es sie in diesem Land noch nie gegeben hat. Wissen Sie, die sechzehn Monate Haft waren nicht gänzlich vergeudete Zeit für mich. Man hat mich für die Jura-Bibliothek eingeteilt, und ich habe meine Nase in die Bücher gesteckt. Ich kenne sämtliche Fälle von Justizkorruption, die jemals vor Gericht kamen, und zwar in allen Bundesstaaten. Ich habe Hintergründe, Akten, Notizen, alles gesehen. Inzwischen bin ich das reinste Lexikon, falls Sie mal Bedarf haben. In der Geschichte, die ich für Sie habe, kommt mehr schmutziges Geld vor als in allen anderen zusammen. Außerdem Bestechung, Erpressung, Einschüchterung, manipulierte Gerichtsverfahren, mindestens zwei Morde und ein Fehlurteil. Nur knapp eine Stunde von hier vegetiert der Mann in der Todeszelle, der Opfer dieses falschen Spiels wurde. Und der wahre Täter sitzt vermutlich in aller Ruhe auf einem Boot, das viel schöner ist als meines.«

Myers hielt inne, trank aus seiner Flasche und sah die beiden selbstgefällig an. Er hatte ihre volle Aufmerksamkeit. »Die Frage ist, wollen Sie dabei sein? Es könnte gefährlich werden.«

»Warum haben Sie uns gerufen?«, fragte Hugo. »Warum sind Sie nicht zum FBI gegangen?«

»Ich hatte schon mit dem FBI zu tun, Mr. Hatch, und das ging nicht gut aus. Ich traue denen nicht, ich traue niemandem, der eine Dienstmarke trägt, schon gar nicht in diesem Staat.«

»Trotzdem, Mr. Myers«, sagte Lacy. »Wir sind nicht bewaffnet. Wir sind keine Kriminalermittler. Es klingt, als bräuchten Sie gleich mehrere Einheiten der Bundesregierung.«

»Sie haben die Lizenz zum Erteilen von Zwangsvorladungen«, wandte Myers ein. »Per Gesetz dürfen Sie jeden Richter und jede Richterin in diesem Land auffordern, sämtliche Unterlagen offenzulegen. Sie haben umfassende Befugnisse, Ms. Stoltz. In vielerlei Hinsicht ermitteln Sie sehr wohl in kriminellen Angelegenheiten.«

»Das stimmt«, bestätigte Hugo. »Doch wir sind nicht dafür ausgestattet, uns mit Gangstern herumzuschlagen. Wenn Ihre Geschichte stimmt, sind die bösen Buben ziemlich gut organisiert.«

»Schon mal von der Catfish-Mafia gehört?«, fragte Myers nach einem weiteren ausgiebigen Schluck.

»Nein«, erwiderte Hugo, und Lacy schüttelte den Kopf.

»Eine andere lange Geschichte. Ja, Mr. Hatch, die Bande ist gut organisiert. Die haben eine lange Verbrechenstradition, die für Sie uninteressant ist, weil darin keine Mitglieder des Rechtsapparates vorkommen. Doch es gibt einen Fall, da haben sie einen Richter gekauft. Und da kommen Sie ins Spiel.«

Die Conspirator schaukelte auf den Bugwellen eines alten Garnelenboots, und für einen Moment herrschte Schweigen. »Und wenn wir es ablehnen, tätig zu werden?«, fragte Lacy. »Was wird dann aus Ihrer Geschichte?«

»Wenn ich formell Dienstaufsichtsbeschwerde einlege, müssen Sie doch tätig werden, oder?«

»Theoretisch ja. Sie wissen sicher, dass wir fünfundvierzig Tage Zeit haben, um zu überprüfen, ob eine Beschwerde begründet ist. Dann setzen wir den betroffenen Richter in Kenntnis und verderben ihm gehörig die Laune. Wir sind aber auch sehr versiert darin, Beschwerden zu ignorieren.«

»O ja«, stimmte Hugo mit ein. »Schließlich sind wir Bürokraten. Wir sind berühmt für unsere Fähigkeit, uns zu drücken.«

»Davor können Sie sich nicht drücken«, sagte Myers. »Die Sache ist viel zu bedeutend.«

»Warum wurde sie dann bislang nicht aufgedeckt?«, fragte Lacy.

»Weil sie noch mitten im Gange ist. Weil die Zeit noch nicht reif war. Aus vielerlei Gründen, Ms. Stoltz, vor allem aber deshalb, weil bislang niemand gewagt hat auszusagen. Ich werde aussagen. Die Frage ist nur: Will das Board on Judicial Conduct gegen den korruptesten Richter in der Geschichte der amerikanischen Rechtsprechung vorgehen?«

»Einer von unseren Leuten?«, fragte Lacy.

»Ganz genau.«

»Wann erfahren wir seinen Namen?«, wollte Hugo wissen.

»Warum gehen Sie davon aus, dass es sich um einen Mann handelt?«

»Wir gehen von gar nichts aus.«

»Ein guter Anfang.«

Die laue Brise gab schließlich auf, und der Ventilator, der über ihnen klapperte, wirbelte nur die stickige Luft herum. Myers schien als Letzter zu bemerken, dass allen die Kleidung an der Haut klebte, machte dann aber als Gastgeber der kleinen Runde einen Vorschlag. »Gehen wir in das Restaurant da drüben und trinken was. Die haben eine Bar und eine gut funktionierende Klimaanlage.« Er griff nach einer Botentasche aus abgenutztem olivgrünem Leder, die sich seinen Körperformen angepasst zu haben schien. Lacy überlegte, was darin sein mochte. Eine kleine Pistole? Bargeld? Ein falscher Pass? Vielleicht noch ein Aktenhefter?

Auf dem Weg über den Pier fragte sie: »Ist das eins Ihrer Stammlokale?«

»Warum sollte ich diese Frage beantworten?«, gab Myers zurück, und Lacy wünschte sich, sie hätte nichts gesagt. Sie hatte es mit einem Unsichtbaren zu tun, einem Mann auf der Flucht, nicht einem sorglosen Matrosen, der von Hafen zu Hafen fuhr. Hugo schüttelte den Kopf. Lacy hätte sich am liebsten selbst in den Hintern getreten.

Das Restaurant war leer, und sie nahmen einen Tisch mit Blick über den Hafen. Nachdem sie eine Stunde in der sengenden Sonne gesessen hatten, empfanden sie die Kühle fast als unangenehm. Die Ermittler bestellten Eistee, Myers Kaffee. Sie waren allein. Niemand würde sie belauschen können.

»Und wenn wir uns nicht für Ihren Fall erwärmen können?«, fragte Hugo.

»Dann muss ich wohl auf Plan B zurückgreifen, wobei ich dazu keine rechte Lust habe. Plan B bringt die Presse ins Spiel. Ich kenne zwei Reporter, die aber beide nicht hundertprozentig zuverlässig sind. Einer ist in Mobile, der andere in Miami. Ehrlich gesagt glaube ich, die würden sich schnell einschüchtern lassen.«

»Wie kommen Sie darauf, dass wir uns nicht auch einschüchtern lassen, Mr. Myers?«, wollte Lacy wissen. »Wie gesagt, wir sind nicht auf Gangster spezialisiert. Außerdem haben wir auch so genug zu tun.«

»Das glaube ich gern. Kein Mangel an korrupten Richtern.«

»Eigentlich sind es gar nicht so viele. Okay, ein paar faule Eier sind schon darunter, aber uns halten eher die verärgerten Kläger auf Trab. Viele Beschwerden sind nicht gerechtfertigt.«

»Sicher.« Myers nahm bedächtig die Pilotenbrille ab und legte sie auf den Tisch. Seine Augen waren verschwollen und rot wie die eines Trinkers, jedoch von blasser Haut eingerahmt, sodass er aussah wie ein rot-weißer Waschbär. Ganz offensichtlich legte er die Brille selten ab. Er sah sich noch einmal um, als wollte er sichergehen, dass seine Verfolger nicht im Raum waren, dann schien er sich zu entspannen.

»Die Catfish-Mafia«, erinnerte Hugo ihn.

Myers brummte lächelnd, als könnte er es nicht abwarten, sein Seemannsgarn zu spinnen. »Sie wollen die Geschichte hören, was?«

»Sie haben damit angefangen.«

»Allerdings.« Die Bedienung stellte die Getränke auf den Tisch und entfernte sich. Myers nahm einen Schluck Kaffee. »Es fing vor rund fünfzig Jahren an, mit einer Bande böser Jungs, die ihr Unwesen in Arkansas, Mississippi und Louisiana trieben, wo auch immer sie einen Sheriff fanden, der sich bestechen ließ. Damals ging es hauptsächlich um Alkohol, Prostitution, Glücksspiel, die althergebrachten Sünden sozusagen, aber mit viel Geballere und Toten. Sie suchten sich ein County ohne Alkoholverbot in der baptistischen Einöde, am besten unmittelbar an der Grenze, und starteten von dort aus ihre Unternehmungen. Irgendwann hatten die Einheimischen die Nase voll, wählten einen neuen Sheriff, und die Spitzbuben zogen weiter. Schließlich ließen sie sich am Mississippi nieder, in der Gegend um Biloxi und Gulfport. Alle, die nicht bei Schießereien umkamen, wurden festgenommen und zu Haftstrafen verurteilt. Anfang der Achtzigerjahre waren fast alle aus der ursprünglichen Bande tot, bis auf ein paar der Jüngeren. Als das Glücksspiel in Biloxi legalisiert wurde, brach ihr Geschäft ein. Sie siedelten nach Florida um und entdeckten die Vorzüge von Grundstücksbetrug und die erstaunlichen Gewinnspannen von Kokainschmuggel. Sie machten einen Haufen Geld, organisierten sich neu und nannten sich Küsten-Mafia.«

Hugo schüttelte den Kopf. »Ich bin im Norden Floridas aufgewachsen, war da auf dem College und habe da Jura studiert. Seit zehn Jahren ermittle ich für das BJC, aber ich habe noch nie von dieser Bande gehört.«

»Die machen keine Werbung und stehen nie in der Zeitung. Ich glaube nicht, dass in den letzten zehn Jahren einer von ihnen festgenommen wurde. Es ist ein überschaubares Netzwerk, sehr eng und diszipliniert. Ich vermute, sämtliche Mitglieder sind Blutsverwandte. Die wären wahrscheinlich längst ausgekundschaftet, hochgenommen und im Knast, wenn nicht ein Typ sie übernommen hätte, den ich mal Omar nennen will. Ein schlechter Mensch, aber sehr clever. Omar hat die Bande Mitte der Achtziger in den Süden Floridas gebracht, wo zu der Zeit der Kokainschmuggel eingeschlafen war. Sie hatten einige gute Jahre, dann kamen ihnen ein paar Kolumbianer in die Quere, und das war’s. Omar wurde angeschossen, ebenso wie sein Bruder, der wohl nicht überlebte, auch wenn die Leiche nie gefunden wurde. Sie flohen aus Miami, blieben aber in Florida. Omar war ein kriminelles Genie, und vor rund zwanzig Jahren verbiss er sich in die Idee, Kasinos auf Indianerland zu eröffnen.«

»Warum überrascht mich das nicht?«, murmelte Lacy.

»Genau. Wie Sie vermutlich wissen, gibt es heute neun indianische Kasinos in Florida. Sieben gehören den Seminolen, dem bei Weitem größten Stamm und einem von drei, die von der Regierung in Washington anerkannt sind. Die Seminolen-Kasinos setzen jährlich vier Milliarden Dollar um. Omar und seine Jungs fanden diese Vorstellung unwiderstehlich.«

»Zu Ihrer Geschichte gehören also organisierte Kriminalität, indianische Kasinobesitzer und ein korrupter Richter, die alle unter einer Decke stecken?«, fragte Lacy.

»So könnte man es zusammenfassen.«

»Für indianische Angelegenheiten ist das FBI zuständig«, warf Hugo ein.

»Ja, aber das FBI hat noch nie viel Interesse daran gezeigt, Indianer strafrechtlich zu verfolgen. Außerdem, Mr. Hatch, wie Sie sich vielleicht erinnern, habe ich schon erwähnt, dass ich mit dem FBI nichts zu tun haben will. Die haben keine Fakten. Aber ich. Und ich rede mit Ihnen

»Wann bekommen wir die ganze Geschichte?«, erkundigte sich Lacy.

»Sobald Ihr Chef, Mr. Geismar, grünes Licht gibt. Sie werden ihm mitteilen, was ich Ihnen erzählt habe, und dafür sorgen, dass er versteht, welche Gefahren damit verbunden sind. Wenn er mir am Telefon sagt, dass das BJC meine Beschwerde ernst nimmt und in vollem Umfang ermitteln wird, werde ich so viele Lücken schließen wie möglich.«

Hugo klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch und dachte an seine Familie. Lacy beobachtete ein zweites Garnelenboot, das langsam durch den Hafen tuckerte, und überlegte, wie Michael reagieren würde. Myers sah beide an und empfand beinahe Mitleid mit ihnen.