
Ein ungeheuerlicher Satz
Novelle

© Mirabilis Verlag 2015
www.mirabilis-verlag.de
Text, Grafik und Covergestaltung: © Florian L. Arnold
Satz: Wolfgang Schanz, Miltitz bei Meißen
ISBN Print 978-3-9816674-1-7
ISBN eBook 978-3-9816674-9-3
Alle Rechte bleiben vorbehalten. Ohne schriftliche Genehmigung des
Verlags darf kein Teil des Werkes in irgendeiner Form wiedergegeben,
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I Schattenrisse
II Beweisführungen
III Weiße Flecken
IV Das Ende der uns bekannten Welt

Und du, mein Vater,
in trauriger Größe dort,
verfluche und segne mich nun mit deiner Tränen Wut.
ich bete
Geh nicht gelassen
in diese sanfte Nacht.
Zürne, zürne
gegen das Sterben des Lichts.
Dylan Thomas: Geh nicht gelassen in die Nacht (1951)
Übersetzung: Arnold Kaeri, 2014
Jeder Mensch trägt einen ungeheuerlichen Satz in sich. Jeder wird mit einem solchen Satz geboren und die meisten sterben mit ihm, ohne je die Notwendigkeit empfunden zu haben, diesen Satz auszusprechen. Nur wenige wagen es, ihn auszusprechen. Mein Vater gehörte zu diesen wenigen Menschen.
Sein ungeheuerlicher Satz lautete: Wir gehen weg.
Vater erklärte uns nichts.
Vater empfand keine Notwendigkeit, etwas zu erklären. Vom ersten Moment an wussten wir, dass er eine Entscheidung getroffen hatte, der wir, ob es uns nun gefiel oder nicht, folgen würden. Wir würden uns dem physischen Schmerz eines Umzugs unterziehen, wir würden alles erleiden, was dem Verlust der Heimat folgt, aber wir würden uns nicht auflehnen.
Vater erklärte uns nichts.
Wenigstens einen Namen, sagten wir, müsse er uns geben, oder wenn schon keinen Namen, so doch wenigstens eine Himmelsrichtung.
Vater erklärte uns nichts.
Manchmal saß er im Garten, auf einem dieser Steine, die sehr viel älter waren als unser Haus, und dann wurde er selbst zu Stein. Ich blickte auf seinen Nacken, einen sehnigen, fleischlosen, rostig wirkenden Nacken, dessen akzentuiertes Sehnenspiel der vielleicht einzige Ausdruck des intensiven Nachdenkens war, mit dem Vater in diesem Moment beschäftigt war.
Seine Hände lagen auf seinen zusammengeklappten Beinen, sein Blick richtete sich geradeaus, dorthin, wo die entfernte Waldkante das Ende der uns bekannten Welt markiert hatte.
Was beschlossen war, blieb beschlossen, und Vater begann zu packen.
Jeden Tag packte er eine weitere Kiste. Er bewegte sich ohne Hast, wenn er packte, er sagte nichts, nur manchmal summte er Teile eines uns fremden Liedes. Freundlich fragte er Mutter, ob dies oder jenes aufzubewahren sei oder ob man es dem Vergessen überlassen könne. Mit ebensolcher Freundlichkeit erwiderte Mutter, sie überlege selbst ständig, was man noch brauchen werde und was nicht. In der Regel überließ sie Vater die Entscheidung.
Vater hatte den größten Teil seines bisherigen Lebens an diesem Ort verbracht, den zu verlassen wir nun im Begriffe standen. Ich war hier geboren worden und konnte mir, so angestrengt ich es auch versuchte, nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu existieren.
Ist man nicht selbst die Luft, das Licht und die Erde, in der man lebt?
Das Haus, das wir bald verlassen würden, war aus den grauen Feldsteinen errichtet, welche die Bauern in dieser Gegend zu Hunderttausenden von ihren Äckern klauben. Jeder Stein, jeder Nagel, jeder Schatten in diesem Haus war jahrhundertealte Geschichte, die sich im Knarzen der Dielenbretter, im Knacken des Fensterglases bei großer Kälte und dem hörbaren Atmen der Wände während der Schneeschmelze äußerte. Die Zeit hatte das Eichenholz der Schränke ausgebleicht. Das Licht in diesem Haus war körnig. Es nahm den Dingen ihre Kanten. Es schmeichelte dem Alten und ließ das Neue altern. Es gingen Geister durch dieses dickflüssige Licht.
Jetzt, so war es beschlossen, sollten wir gehen. Es war ein ungeheuerlicher Gedanke. Wir würden weg sein. Das Haus würde bleiben. In diesen Tagen betrachtete ich das Haus und glaubte, es müsse unsichtbar werden, wenn ich es nur lange genug anstarrte. Doch es verschwand nicht, es behauptete seine graue Silhouette vor den schwarzen Schattenrissen des Waldes – es blieb und brachte mich aus der Fassung.
Die Welt zittert und darum zittert auch mein Vater. Es ist genau so, erklärt er mir, nicht umgekehrt. Er hält meine Hand so fest, dass es schmerzt; ich würde ihn gerne fragen, ob er es ist, der zittert, und ob es Angst ist, die ihn zittern lässt. Aber ich wage nicht, diese Frage auszusprechen.
Durch den Nebel ragen die Spitzen der Bäume wie Inseln ferner Länder.
Es war nicht zu vermeiden, dass wir gelegentlich in das alte Auto stiegen, das Vater vor vielen Jahren von einem alten Mann gekauft hatte, der es seinerseits als junger Mensch mehr aus Mitleid denn aus Überzeugung in arg mitgenommenem Zustand übernommen hatte. Mit diesem traurig rußenden Gefährt fuhren wir ein-, zwei-, dreimal im Jahr in die ferne Stadt, um jene Dinge zu besorgen, die man sonst nirgends bekam. Wir bewegten uns also durchaus vom Haus fort. Jedoch die Ferne, die wir stets vor Augen hatten, lockte uns nicht.
Das Auto ächzte, wenn wir einstiegen, es jammerte, wenn Vater es startete. Rauchend fuhr es vom Hof. Es mühte sich leidlich über die Straßen. Es erfand Schlaglöcher und Stoßwellen in der Straße, wo unsere Augen eine makellose, glatte Asphaltierung erblickten. Das Auto wollte sterben, es durfte aber nicht. Wohl durchdachte Rationen von Benzin, Öl, Schmierstoffen und Ersatzteilen hielten am Leben, was von ihm übrig war. Mutter durfte vorn neben Vater sitzen, ich saß hinten, in meinem Rücken schuftete der Motor, dessen unwirsche Schläge ich durch den fadenscheinig gewordenen beigen Kunstlederbezug bis in meine Eingeweide spürte.
In der Stadt kauften wir Medikamente, Werkzeug, Kleidung, auch Bücher oder Papier. Vater kaufte in einem kleinen Geschäft große Stapel unlinierter Hefte mit schwarzem Pappeinband, dazu Bleistifte.
Vater schrieb in diese Hefte. Ich wusste nicht, was er in diese Hefte schrieb, doch wenn er schrieb, wenn er, wie Mutter es ausdrückte, schreiben musste, dann verkroch er sich ins Dachzimmer, räucherte sich mit Pallmall-Zigaretten ein, deren beizender Duft bald das Haus erfüllte, und dachte stundenlang nach, wobei er aus dem einzigen Dachfenster blickte. Er blickte hinaus auf die schwarzblaue Waldkante, die das Ende der in unseren Augen bewohnbaren Welt darstellte. Dahinter gab es die ferne Stadt und mit ihr das Verbrechen, das Böse, den Verrat, eine namenlose fremdartige Menschheit, die keinen einzigen schönen Gedanken in sich trug, wie Vater meinte. Wenn er mit dem Nachdenken fertig war, setzte er sich an seinen Tisch. Wir hörten den Stuhl über den Holzboden schrammen, wenn Vater sich in Position setzte. Dann versuchten wir besonders leise zu sein, denn nun wussten wir ihn an der Arbeit. Da saß er, der Arbeiter am Wort, ein bescheiden lebender Fabulierer an seinem einfachen Zimmermannstisch mit dieser einen einzigen breiten Schublade, in deren Innerem ungespitzte Bleistifte, unlesbare Notizen, Fotografien, eingetrocknete Gummibänder, Heiligenbildchen, abgebrochene Messer und Scheren und feuchte Streichhölzer miteinander ein geheimnisvolles Dasein führten.
Vater legte eines der Hefte vor sich hin, er schlug es auf, er setzte den Bleistift an und begann zu schreiben. Er schrieb ohne Unterbrechung, bis das Heft voll war. Dann legte er es in die Schublade, erhob sich, nahm den vollen Aschenbecher, ging hinunter, ging hinaus, leerte den Inhalt ins Gemüsebeet, das dünge, sagte er, und bemühte sich, Mutters strafenden Blick nicht zu bemerken.
Es war nun Mutters Aufgabe, das Heft in einen Briefumschlag zu stecken und zur Poststation zu bringen, von wo aus es seinen Zielort erreichen sollte, einen geheimnisvollen Ort namens Ignatu. Mühsam las ich die querstehenden, gegeneinander tanzenden Buchstaben in Mutters krakeliger Schrift, nahm die Buchstaben auseinander, setzte zusammen, was mir bekannt vorkam, riet, was nicht zu entziffern war, und kam doch immer auf dies: Ignatu.
Das Einzige, was mein Vater gut konnte, war dieses Schreiben. Er schrieb sehr schnell und ohne Unterbrechung. Ein Heft mit vierzig Seiten wurde in weniger als zwei Stunden voll.
Wer nahm diese Hefte in Ignatu in Empfang? Was schrieb Vater hinein? Er ließ es uns nicht wissen. Mutter fragte nicht, und ich wagte ebenfalls keine Frage.
Ich spionierte. Wenn Vater in den Garten ging oder wenn er das Auto von seinen Selbstmordabsichten abhielt, dann schlich ich ins Dachzimmer und suchte nach Aufschrieben: Notizzetteln, verräterischen Abdrücken seiner klaren, schönen Schrift im Holz des Tisches, einem ausgerissenen Blatt im Papierkorb. Doch ich fand nichts. Vater arbeitete ordentlich und ohne Spuren. Das Dachzimmer sah, einmal abgesehen von den Stapeln mit Büchern, die sich bis in die dunkelsten Winkel türmten, wie ein Zimmer auf einem Gemälde aus: Es war still und nicht real. Ohne den beizenden Pallmallgeruch hätte man an der physischen Existenz des Raumes zweifeln müssen.
An einem hellen Märztag teilte sich die Landschaft: Weiß für die Erde, Schwarz für den Himmel, davor die stürzenden Silhouetten jagender Rabenvögel. Vater blickte hinüber zum Wald und ein Lächeln stieg in sein Gesicht. Dies muss, so denke ich mir, der Moment gewesen sein, als er den ungeheuerlichen Satz in sich entdeckte. Er wendete ihn wohl noch einige Minuten zwischen Gehirn und Zunge, dann legte er ihn auf die Spitze seiner Zunge und gab den Satz frei: Wir gehen weg.
Irgendwann begann es zu regnen. Es regnete praktisch die ganze restliche Woche oder länger. Das Wasser spülte jedes Zeitempfinden weg. Das Rauschen auf dem Dach, das Peitschen nasser Äste gegen die Hauswände, das Glucksen versickernden Wassers am Fundament des Hauses, all das nahmen die Eltern nicht mehr wahr, und vielleicht hätte auch ich es nicht wahrgenommen, wäre nicht jeder Moment der Gegenwart schon mit dem Makel des Verlorenen behaftet gewesen. Und so malte ich mir aus, wie dieses Elternhaus, dieses Familienhaus, obwohl es sehr fest gebaut war, doch eines Tages verschwinden musste, weil wir nicht mehr da sein würden, um es zu schützen. Vielleicht waren diese Gedanken überflüssig, da niemand unter den Trümmern begraben sein würde, doch ich konnte nicht anders, als mir vorzustellen, wie diese Mauern sich mit Wasser vollsogen, wie sie sich unter dem Druck von Sturmböen verschieben und bersten würden. Ich sah das Dachgestühl zerbrechen, die Fenster und Türen aus ihren Rahmen und Angeln brechen und die steinernen Bodenfliesen aus ihrem stillen Gefüge springen. Ich sah wilde Tiere durch Mutters Garten jagen und ich sah den Wind von Feuchtigkeit und Hitze aufgerollte vergessene Papiere durch Vaters verlassene Dachkammer spielen. Ich versuchte zu erinnern, wer alles durch diese Dachkammer gegangen war, und erinnerte mich, dass in der Kammer neben Vaters Schreibzimmer gelegentlich einer seiner schweigsamen, schläfrig starrenden Gäste genächtigt hatte.
Aus dem einfarbigen Reich des Abschiednehmens entführte mich die Erinnerung an diese ganz und gar nicht mitteilsamen Männer, die meistens gegen Abend eingetroffen waren, von Mutter ein bescheidenes Nachtmahl bekamen und sich dann mit Vater zu langen, geflüsterten Gesprächen zurückzogen.
Wenn ich am frühen Morgen aufstand, das Licht vor dem Fenster war noch tiefblau, dann waren diese Männer schon wieder fort.
Ich sah keinen ein zweites Mal.
Das ist nicht richtig.
Ich neige zu schnellem Aufgeben, auch beim Erinnern, und mein Erinnern ist falsch, wenn ich sage: Ich sah keinen ein zweites Mal. Das stimmt nicht.
Einer kam immer wieder, nur einer. Beim ersten Mal blieb er gleich für ganze vier Tage. Er zeigte sich auch tagsüber. Er saß mit uns am Tisch, nahm an unseren Mahlzeiten teil, sprach wenig. Sein Name war Rösenmarrer. Ein Erdenbewohner mit rechtsgeneigtem Kopf, ein stets nach vorn kippender Kastenmensch, Brustapparat wie ein Tresor, aufgepumpt, um seiner aus Generalbasstiefen brodelnden Stimme Luft zu geben, der riskant breite Oberleib balancierte auf armseliger Unterkonstruktion. Was waren das für dünne Beine, die auf Kniehöhe deutlich einknickten, wenn er Treppen stieg. Überhaupt, dieses halbversagende Fortbewegen dieses Kerls, der nur gehen konnte, indem er zuerst mit dem vorstoßenden Kopf störende Luftbarrieren zerstieß, um dann, wie ein schwerverwundeter Stier, den restlichen Körper nachzuziehen, auf mühsame Weise kraftstrotzend. Wenn Rösenmarrer uns verließ, blieb in der Kammer neben Vaters Arbeitsraum immer etwas liegen, ein absichtsvolles, zeichenhaftes Liegenlassen einer Botschaft in Form eines Buches. Mal war es eine sehr zerlesene Ausgabe von Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, ein anderes Mal die Aufzeichnungen eines Tristram Shandy oder Volponis Weltmaschine, die Einbände eingerissen, das Papier vom Nikotin zu tiefem Ocker verfärbt, in Leinen oder rissigen Karton gebundene Knospen der Kühnheit. Und immer ließ Rösenmarrer eine halbleere Pallmallschachtel zurück.
Vater rauchte mit Katastrophenlust die Pallmalls zu Ende, lungentiefes Kentern des Atems. Das war der Beginn seiner Liaison mit Pallmalls.
Er sagte, es habe ihn nie gereizt, rauchend aber halte er die Erinnerung an Rösenmarrer frisch. Rauchend durchwanderte er die Untiefen der Bücher, die Rösenmarrer für ihn daließ, mit tränenden Augen entledigte er sich der Gegenwart, lesend, rauchend, über das Buch gekrümmt wie ein Ungeborener.
Wenn es kalt wurde, brannte Vater die Seele im Leib. Herbstfleckige Tage und Nachmittage so dunkel wie Nacht lösten ihm die Zunge. Er belauschte das Sterben des Sommers, der sich in den stürmischen Herbstnächten stöhnend, krachend und heulend zur Wehr setzte; dann stöhnte auch Vater, verkroch sich ins Halbdunkel seines Dachzimmers, wo ihn das flackernde Licht des Kanonenofens mit wirrem Funkenschein nachzeichnete. Dann erwachte er zum Leben und schrieb bis in die Morgenstunden hinein. Unter der geschlossenen Tür drangen Licht und Pallmallgeruch hervor.
An besonders kalten Tagen sprach er sogar über sein Schreiben. Er halte das Schreiben für eine platzsparende Möglichkeit, die Wirklichkeit zu registrieren. Registrieren im Sinne einer wissenschaftlichen Durchleuchtung. Die Knochengerüste der Schöpfung, verborgen in den warmen Leibern der Physik und der Mathematik. Die Realität ist nicht zu vergleichen mit dem, was wir als Realität bezeichnen, sagte Vater. Da sich das, was wir als Realität bezeichneten, ständig ändere, ja uns förmlich mit jedem neuen Tag neue unerwartete Zumutungen aufquäle, sei eher ein traumartiger, ein psychologisch-pathologischer Begriff zu finden. Einzig die Unwirklichkeit sei das Unveränderliche.
Und was ist unveränderlich?, fragte Vater mich.
Ich war überrumpelt von seiner Frage.
Er sah mich direkt an. Ich sah die Poren an seiner Nase, das Beben der nikotingelb beränderten Nüstern, das Auftreten feiner Schweißperlen auf seiner Stirn. Seine linke Hand ruhte auf seinem linken Knie, mit der rechten Hand zeigte er auf mich, wiederholte: Sag es mir: Was ist unveränderlich?
Die Lüge?