1 »Dann mach mal den Mund auf.«
Vincent saß auf dem neuesten Zahnarztstuhlmodell, das sein Freund Adrien besaß, seit er ein Jahr zuvor in einer plötzlichen Anwandlung erst seine Praxis, dann sein gesamtes Leben umgekrempelt hatte. Auf einem Bildschirm an der Decke folgte Vincent einer Gruppe von Nomaden, die langsam eine große Düne erklomm. Adrien war überzeugt, dass solche Videos entspannend auf seine Patienten wirkten.
Vincent trug eine Papierserviette um den Hals, die ihn an ein Babylätzchen erinnerte – er konnte das Wort »Baby« allmählich nicht mehr hören, so sehr hatte Éva sich in ihren Kinderwunsch hineingesteigert. Geradezu hysterisch.
Adrien beugte sich über ihn und reihte akribisch kleine spitze Instrumente auf, die sich früher oder später in seinen Zahnschmelz bohren würden. In dieser Position konnte Vincent, wenn er den Blick vom stummen Aufstieg der Nomaden abwandte, den Schädel seines Freundes genauer betrachten. Adriens Haar, das früher voll und dicht gewesen war, hatte sich altersbedingt ein wenig gelichtet, was er sehr geschickt kaschierte, indem er es toupierte und lang und zerzaust trug. Wann hatte es begonnen? Vincent erinnerte sich an den Spott ihrer einstigen Schulkameraden, wenn Adri sich verzweifelt bemühte, seine legendäre Mähne zu glätten. Zwanzig Jahre später hatten sie Brice, Nicolas, Julien und die anderen allmählich aus den Augen verloren, und nur sie beide waren in Kontakt geblieben, weil sich ihre Frauen eng befreundet hatten. Und weil Vincent niemals einen anderen Zahnarzt als Adrien an seinen Zähnen bohren lassen würde, selbst wenn man ihm alternativ den Leibarzt des Königs von Qatar anböte.
Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, in dem er schon hundertmal gesessen hatte, und stellte fest, dass nichts mehr war wie früher, außer einem Fotowürfel auf dem Schreibtisch, der, inzwischen trübe und an den Ecken abgenutzt, das Lächeln der kleinen Laura und Bilder von Adrien und Alice aus glücklichen Zeiten bewahrte, um die man sie so sehr beneidet hatte. Die frischgestrichenen Wände schmückten keine gerahmten Bilder mehr, und der Holzschreibtisch aus dem Familienlandhaus, den die beiden Freunde an einem Sonntag im Winter gemeinsam hertransportiert hatten, war einer riesigen Glasplatte auf Ständern gewichen, die dem Raum jede Wärme nahm. Aber schließlich ging man ja nicht zum Zahnarzt, um am gemütlichen Esstisch zu plauschen.
Ganz im Gegenteil.
Als sich Adrien anschickte, die Backenzähne seines Freundes zu traktieren, wurde plötzlich die Tür aufgerissen.
»Hallo, Baby!«
Juliette, Adriens blutjunge neue Freundin und der Grund für das Scheitern seiner Ehe, betrat ohne jede Scham den Behandlungsraum. Im Schlepptau hatte sie die ebenso junge, extrem coole Vanessa. Hinter ihnen erhaschte Vincent einen Blick auf Chantal, Adriens treue Sprechstundenhilfe, die sich Alice sehr verbunden gefühlt hatte und die Trennung ihres Chefs schwerer nahm als Laura, seine einzige Tochter. Sie begegnete Juliette mit tiefer Verachtung. Das Gefühl beruhte offensichtlich auf Gegenseitigkeit, denn offenbar hatte die Neue es nicht einmal für nötig befunden, sie um Erlaubnis zu fragen, bevor sie in das Behandlungszimmer eindrang.
Chantal zog sich kopfschüttelnd zurück, nicht ohne Vincent, den sie für vernünftiger hielt als ihren vom Charme der Jugend geblendeten Chef, zu signalisieren, dass ihr allmählich der Kragen platzte, wirklich, und wenn das nicht aufhörte, müsste sie gehen. Das werden Sie werden ihm doch sagen, oder?, flehte sie stumm.
Ja, Chantal.
Ein leeres Versprechen, denn unter Freunden machte man sich keine Vorhaltungen. Man hielt zusammen, gönnte einander jedes Vergnügen und nutzte jede Gelegenheit zum Durchatmen, die das Leben bot, bevor man sich wieder der Pflicht widmete, die man sich, warum auch immer, auferlegt hatte. Oder besser: Von der man glaubte, man müsse sie erfüllen, weil einen die Frauen in die Falle gelockt hatten.
Adrien unterbrach die Behandlung und begrüßte Juliette und ihre Freundin. Vanessa kaute Kaugummi, ohne ihren Blick von Vincent abzuwenden, der sich plötzlich zu Tode schämte. Wie könnte er bloß möglichst unauffällig dieses Lätzchen loswerden? Die junge Frau trug eine enganliegende Jeans, die ihren wohlgeformten Po betonte, und ein ärmelloses T-Shirt ohne BH darunter. Als sie sich schließlich zu ihm herunterbeugte und ihn mit Küsschen rechts, Küsschen links und einem lakonischen »Vanessa« begrüßte, schwebte ihr wundervoller Busen vor seinen Augen. Vincent lachte unbeholfen und schickte sich an aufzustehen, weil er sich bewusst war, wie unwürdig er auf diesem Zahnarztstuhl wirkte, während die beiden jungen Mädchen im Raum herumflatterten.
Auch Adrien machte keine gute Figur, obwohl er doch allmählich an die Nähe dieser Schönheiten gewöhnt sein müsste. Juliette turtelte mit ihm, und er errötete, hingerissen wie ein Teenager vor seinem ersten Kuss.
»Trinken wir ein Glas nach eurem Termin?«, gurrte Juliette.
Adrien warf Vincent einen fragenden Blick zu, und Vincent zuckte mit den Schultern. Warum nicht.
»Ich behandle noch kurz das Gebiss dieses Herrn, und dann treffen wir uns im Mascotte?«
Mistkerl.
»O nein, nicht im Mascotte, das ist was für alte Leute. Da gibt’s doch nur Austern und so. Nein, lass uns in der neuen Pop-up-Bar an der Bastille treffen. Ich stehe dort auf der Gästeliste, wegen meines Blogs. Soll ich dir die Adresse schicken?«
Was sich wohl hinter einer Pop-up-Bar verbarg?, überlegte Vincent, traute sich aber nicht nachzufragen.
»Abgemacht. Bis später, ihr beiden!«
Dann beugte sich Adrien zu dem schlanken jungen Ding hinunter, und sie küsste ihn leidenschaftlich und lange, während Vanessa auf ihrem Handy herumtippte.
Als sie die Praxis verlassen hatten, kam Adrien wieder zu sich und wandte sich an seinen Freund.
»Sie macht mich ganz verrückt.«
»Gar nicht gemerkt.«
Der Tag neigte sich dem Ende zu, und Adrien hatte wie durch ein Wunder ein kleines weißes Sofa gefunden, auf dem sie ihre Cocktails schlürften. Die meisten Gäste waren keine dreißig und wiegten sich in gewagten Outfits zum Takt der Loungemusik, die rhythmischer wurde, je mehr der Tag einer heißen Spätsommernacht wich.
»Was trinkst du da?
»Einen Aperol Spritz.«
»Was ist mit dir los? Ich habe dich noch nie etwas anderes trinken sehen als einen doppelten Whisky.«
»Juliette findet, dass Whisky etwas für alte Knacker wie James Bond ist. Du wirst es nicht glauben, aber sie weiß nicht mal, dass vor Pierce Brosnan und Daniel Craig schon andere Schauspieler James Bond verkörpert haben.«
»Wirklich? Was lernen die denn in der Schule?«
»Ich sage dir, die hat nicht mal den Paten gesehen.«
Vincent schüttelte ungläubig den Kopf. Wo sollte das hinführen? Auch wenn man sich Serien ansah, musste man doch die Klassiker kennen. Er dachte an Éva und ihre gemeinsamen Abende, die sich in letzter Zeit immer öfter vor dem Fernseher abspielten. Wenn er nicht auf Dienstreise oder lange im Büro war, was immer häufiger vorkam – manchmal streifte ihn der Gedanke, ob er nicht unbewusst seiner ehelichen Beziehung entfloh –, kam er gegen neun Uhr nach Hause. Dann bestellten sie sich etwas beim Lieferservice und verzehrten es schweigend vor den Episoden der zahlreichen Soaps, die praktisch das Einzige waren, was sie derzeit miteinander teilten. An den Abenden im Monat, an denen Éva ihren Eisprung vermutete, wechselte das Programm. Dann gingen sie ins Schlafzimmer, als zögen sie in eine Schlacht, und beide waren sich der Verzweiflung dieses Aktes bewusst, dem sie sich in der Folge körperlich hingaben. Die Lust aufeinander war der Pflicht gewichen. Und oft genug war es harte, vergebliche Arbeit und endete unschön. Tränenreich, was Éva anging, weil er nicht auf Befehl kommen konnte. Verzweifelt auf seiner Seite, weil er sich unzulänglich fühlte. Meist kehrte sie ihm dann den Rücken zu, und er schleppte sich ins Wohnzimmer und befriedigte sich selbst vor seinem iPad, erregt von dem feuchten Blick anderer Frauen.
Vanessa riss ihn aus seinen Gedanken. Enthusiastisch wippte sie vor ihm zum Rhythmus der Musik und hauchte ihm obszöne Dinge ins Ohr. Ihre Lippen glänzten vor Gloss, und er musste sich eingestehen, dass er, der spießige Rechtsanwalt über vierzig, der in Anzug und polierten Lederschuhen auf der Terrasse einer Pop-up-Bar an der Bastille saß, sich davon durchaus angesprochen fühlte.
Aber er war verheiratet. Mit seiner großen Liebe.
Vanessa lächelte ihm zu, wickelte eine Haarsträhne um ihren frisch manikürten Zeigefinger, und Vincents Gehirn wurde überflutet von erotischen Phantasien, während Adrien versuchte, sich mit ihm zu unterhalten. Er stand auf Frauen wie Vanessa, sinnlich und ein bisschen vulgär, obwohl er sich immer verboten hatte, dieser zweifelhaften Vorliebe nachzugeben.
Er, der kleine Portugiese, hatte einen weiten Weg zurückgelegt, seitdem er mit seinen Eltern in der Pförtnerloge des schicken Hauses an der Avenue Victor-Hugo gewohnt hatte. Die Unterwürfigkeit, mit der seine Mutter den Wohlstandsbürgern des Viertels begegnete, und die Herablassung, die man ihr im Gegenzug zeigte, waren ihm schon immer zuwider gewesen. Entschuldigen Sie Marie, dass ich Sie an einem Sonntag störe, aber ich habe meinen Schlüssel vergessen, könnten Sie mir bitte den Ersatzschlüssel geben? Marie, putzen Sie auch im Haushalt? Marie, Sie haben Vertreter hereingelassen. Sie müssen besser aufpassen, Sie waren nicht an Ihrem Platz.
Seit frühester Jugend war er entschlossen, die kleine Pförtnerwelt und ihre Demütigungen hinter sich zu lassen. Ein Schlüsselmoment war für ihn ein Ausflug mit seinem Vater Rafael in den Bois de Boulogne gewesen. Der Vater wollte ihm das Radfahren ohne Stützräder beibringen. Und kaum war er auf den Sattel geklettert, hatte Rafael ihn losgelassen, und Vincent spürte jenes Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit, nach dem er für den Rest seines Lebens auf der Suche blieb. Ja, es war ein Glücksmoment gewesen, allein zu fahren, den Lenker zu halten, sich ohne Hilfe fortzubewegen. Da wusste er, dass er alles tun würde, um das Rad, die Wohnung, die Frau und den Urlaub zu bekommen, die er wollte, ohne den Kopf senken und anderen Menschen dafür danken zu müssen. Diese Freiheit würde er sich mit dem Geld erkaufen, das er verdienen wollte. Ein Ziel, das er seit jenem Tag hartnäckig verfolgte.
Stolz war er seit jenem Tag mit seinem Rad umhergefahren, hatte sich in der Schule in die erste Reihe gesetzt und ungerührt die Bemerkungen der Lümmel aus der letzten Bank hingenommen, die ihn als Streber beschimpften. Er war der Stolz seiner Eltern, heimste gute Noten und das Lob seiner Lehrer ein.
Doch hinter seinem Erfolg verbarg sich eine Aggression, die er eigentlich glaubte, erstickt zu haben. Sie flackerte immer auf, wenn es um Mädchen ging. In ihrer Gegenwart schämte er sich seiner Herkunft. In der neunten Klasse war es ihm gelungen, Constance zu verführen, die schöne Klavierspielerin mit den ordentlich geflochtenen Zöpfen und dem weißen Kragen. Das war seine geheime Rache: Er, der Portugiese, war in der Lage, ein Mädchen aus gutem Hause zu verführen. Er spürte den Neid der anderen Jungs, was ihm Antrieb genug war, diese Linie zu verfolgen. Seitdem wählte er seine Kleidung stets so aus, dass er die Aufmerksamkeit der feineren Mädchen auf sich zog – auch wenn sie nicht dem Typ Frau entsprachen, der ihn reizte. Das war nicht das Entscheidende.
Später, an der Uni, hatte er Éva kennengelernt, sie studierte im ersten Jahr Jura, bevor sie zum Journalismus wechselte. Sie schien alles zu verkörpern, was er sich wünschte. Sie kam aus guten Verhältnissen, war im Bett unverklemmt und drehte sich ihre Zigaretten selbst. Sie wirkte auf ihn wie ein freier Mensch. Zwei Jahre lang hatten sie sich leidenschaftlich geliebt und ganze Nachmittage lang in den Bars und Cafés von Paris über Politik diskutiert und die Welt zu ändern versucht, wahlweise bei einem Kaffee oder Bier vom Fass.
Oft fuhren sie hinaus in das Landhaus von Évas Vater, einem berühmten Journalisten bei einer linken Tageszeitung. Ganz nach Plan hatte Vincent nur wenige Wochen nach seiner Volljährigkeit seinen Führerschein bestanden und von dem Geld, das sein Vater ihm zum Achtzehnten in einem Umschlag überreicht hatte, ein altes Auto gekauft, das Éva und er Caroline tauften. Sie sprachen so oft von Caroline, der Zeugin ihrer Liebe und ihrer Träume, dass man glauben konnte, es sei von ihrem Kind die Rede.
Éva war auch die Erste, die ihn in der Pförtnerloge seiner Eltern besuchen durfte. Er wusste, dass sie ihn liebte und niemals wegen seiner familiären Situation verachten würde.
In diesen Gedanken hinein vibrierte sein Handy in seiner Hosentasche. Éva – er hatte ihr gesagt, dass er spät nach Hause komme, vielleicht auch gar nicht. Ein Fall halte ihn auf. Er sah nicht nach, was sie ihm geantwortet hatte, sondern winkte den Kellner herbei, um zu zahlen.
»Gehst du schon?«
»Ja, ich muss zurück ins Büro.«
»Das kann noch bis morgen warten, oder? Möchtest du nicht tanzen?« Vanessa lächelte ihn an. Auf ihrem Gesicht war keine Spur von Angst, Frustration oder Verachtung zu erkennen, Gefühle, die sich so grausam in Évas Miene eingebrannt hatten. Ihre großen Augen, ihre üppigen Kurven, ihr schweres Parfüm erregten ihn. Er brachte kaum ein Wort heraus.
»Tanzen war noch nie so mein Ding, weißt du. Und dann noch im Anzug …«
»Dann lass uns noch was trinken.«
Sie stand dicht vor ihm, enthemmt von den Cocktails, die man ihr ausgegeben hatte. Weiter hinten entdeckte er Adrien. Engumschlungen und weltvergessen knutschte er mit Juliette und schwankte dabei idiotisch von einem Fuß auf den anderen – seine Art zu tanzen. Adrien wäre ihm bestimmt nicht böse, wenn er einfach ginge, ohne ihm Bescheid zu sagen. Und so ergriff Vincent kurzentschlossen Vanessas Hand und zog sie zum Ausgang. Kaum im Freien, hielt er es nicht mehr aus, drängte sie gegen eine Wand, übermannt von der Leidenschaft, die sie in ihm auslöste.
In seiner Tasche blinkte Évas Nachricht:
Komm bitte nach Hause.