Über das Buch

Die junge Lara liegt im Krankenhaus. Eine Ärztin sitzt nachts an ihrem Bett und verwickelt sie in ein Gespräch. Wie hat alles Leben angefangen? Was war dazu nötig? Wie lange wird es noch existieren? Es ist eine Diskussion über die Geheimnisse des Universums und des Lebens. Das Leben ist zerbrechlich, gerade weil es so viele ungelöste Rätsel gibt. Darin besteht das Wunder und die Chance, auch für Lara.

David Bueno

Salvador Macip

Eduard Martorell

Lara

oder Der Kreislauf des Lebens

Aus dem Katalanischen von Kristin Lohmann

Carl Hanser Verlag

Für María, Gerard und Arnau

D. B.

Für Yolanda und Pol

S. M.

Für Ingrid und Sílvia, meine Töchter, und für Sonia, ihre Mutter

E. M.

Nur die innere Reise ist wirklich.

Rainer Maria Rilke

PATIENTENAKTE

PERSÖNLICHE ANGABEN DES PATIENTEN

Familien- und Vorname:

■■■■■■■■■■■■■, LARA

Bett Nr.
89

Akte Nr.
36.A45

Geschlecht:

männl. ☐ weibl.  unbestimmt ☐

Geburtsdatum:

Tag 12   Monat 2   Jahr ■■■

Bericht erstellt von:

Dr. Rovira

Name des Vaters:

Ramón

Name der Mutter:

Cristina

Namen der Geschwister:

Pablo

GRUND FÜR DIE KONSULTATION, AKTUELLE ERKRANKUNG

ANAMNESE

Patientin, 14 Jahre, weiblich, keine nennenswerte familiäre Vorbelastung, weist seit zweieinhalb Jahren das Krankheitsbild Lupus erythematodes mit kurzen, schweren Anfällen auf, die bei Behandlung kontrollierbar sind (siehe Auflistung der Krankenhausaufenthalte und Behandlungen weiter unten).

AKTUELLE ERKRANKUNG:

Patientin mit akutem Lupus-Anfall, stationäre Aufnahme; anhaltendes Fieber und heftige Muskelschmerzen. Sechs Tage auf Station ohne Ansprechen auf die Therapie, Verlegung auf die IST nach Symptomverschlechterung: weiterer Anstieg der Körpertemperatur, Pleuraerguss, Dyspnoe, Hämaturie, Orientierungslosigkeit, Bewusstlosigkeit.

FAMILIÄRE VORGESCHICHTE

Zutreffende Erkrankungen unter Angabe des Verwandtschaftsgrades ankreuzen

Alter

☐ Diabetes mellitus

☐ angeboren

☐ Tumorerkrankungen

☐ Epilepsie

 

☐ Tuberkulose

Eins

I

Als Lara die Augen öffnet, findet sie sich in einem karg eingerichteten Raum wieder. Es fehlt das freundlich anmutende Ambiente der Station, auf der sie die vergangenen Tage verbracht hat. Vielleicht kommt ihr das aber auch nur so vor, weil die Umgebung neu ist, ungewohnt, und weil Lara diesen Raum mit dem Gefühl der Aussichtslosigkeit verbindet, mit dem Abgrund, dem sie durch ihre Krankheit immer näher kommt.

Das beherrschende Weiß, diese absolute Reinheit, kommt ihr wie der verzweifelte Versuch vor, alles fernzuhalten aus diesem Raum, was den unglückseligen Menschen schaden könnte, die hier ihre Nächte verbringen müssen. An einer der sonst durchgängig kahlen Seitenwände nimmt Lara ein einziges kleines Fenster wahr; auf der gegenüberliegenden Seite verbindet eine Glasscheibe ihr Zimmer mit dem Raum, in dem die Schwestern rund um die Uhr vor den Monitoren Wache halten. Davon abgesehen beschränkt sich die Ausstattung auf einen Stuhl und einen Nachttisch.

Lara ist überrascht, ihre Bücher auf dem Nachttisch zu sehen, aber sie ist auch dankbar dafür. Sie braucht irgendeinen Bezugspunkt, etwas in ihrer Nähe, woran sie sich festhalten kann bei all der Ungewissheit. Sie wird die Nacht alleine verbringen müssen, angeschlossen an eine Maschine, die kontinuierlich ihren Herzschlag aufzeichnet, mit einem Schlauch in der Vene, der ihr beständig die Infusion mit dem neuen Medikamentencocktail zuführt, und einem weiteren in der Lunge, der zwischen den Rippen hindurchführt und das sich ansammelnde Wasser absaugt, das ihrem Körper die Sauerstoffaufnahme zunehmend erschwert. Wo sie schon ihre Familie nicht bei sich haben kann, erinnern sie doch zumindest die Bücher daran, dass es ein Leben außerhalb dieser übertrieben keimfreien Umgebung gibt.

Ein Leben, das ich vielleicht nie mehr führen werde, dachte sie.

Sie hat nämlich immer weniger Antrieb, um ihr Leben zu kämpfen. Etwas oberhalb des Bettes, gleich neben ihrer Hand, ist der Knopf, mit dem sie die Schwestern rufen kann; nur weiß sie nicht, ob sie überhaupt genug Energie aufbringen könnte, um ihn im Notfall zu betätigen.

Sie bemerkt, dass man ihr auch das Handy gebracht hat. Sie scheinen tatsächlich zu glauben, dass sie genug Kraft hätte, mit jemandem zu sprechen. Etwas zu optimistisch, denkt Lara. Die Finger würden ihr gar nicht gehorchen, wenn sie versuchen würde, eine Nummer zu wählen. Sie hätte allerdings auch keine Lust dazu. Wenn sie das Telefon jetzt einschalten würde, würde sie als Erstes eine Nachricht vorfinden, die sie nicht beantworten will. Und dann wären da bestimmt noch fünf oder sechs weitere Nachrichten derselben Person. Damit kann sie sich jetzt nicht beschäftigen.

Einen Moment lang schließt sie die Augen und versucht, tief Luft zu holen, aber die Rippen wollen sich nicht heben; es ist, als wären sie zusammengeschweißt. So gut es geht, nutzt sie das bisschen Luft, das es in ihre Lunge geschafft hat, um ein wenig ruhiger zu werden.

Dr. Rovira wollte ihr vorhin Mut machen. Doch Lara bemerkte etwas in seinen Augen, das zuvor nicht da gewesen war, auch wenn er sein Bestes gab, es zu verbergen. Er sagte, dass sie vor allem nicht den Mut verlieren dürfe, dass sie sich weiter anstrengen müsse. Dass sie das alles überstehen würde, wenn sie nur nicht aufgäbe. Dass sie nur ein wenig mehr Geduld haben müsse.

Geduld. Geduld hatte sie wirklich nicht mehr viel. Die anderen Male hatte sie Dr. Rovira und seinem Team blind vertraut, aber diesmal hat sie Zweifel.

Nein. Sie ist allein. Sie und die Krankheit und niemand sonst. Niemand, der ihr helfen kann.

»Du kannst wohl nicht schlafen, hm?«

Lara öffnet die Augen. Vor sich sieht sie eine Gestalt, die so strahlend weiß ist, dass sie im Halbdunkel des Raumes fast aus sich selbst heraus zu leuchten scheint. Eine junge Frau mit Kittel.

»Nein«, sagt Lara, nachdem sie die Frau einen Augenblick gemustert hat. Es hat sie Kraft gekostet, das eine Wort auszusprechen; als wären ihr die Lippen eingeschlafen.

»Wie wär’s mit ein bisschen Gesellschaft?«

In einem ersten Reflex will Lara ablehnen. Aber irgendwie hat diese Ärztin etwas … Vielleicht ist es das Lächeln, vielleicht ihre fröhlichen Augen oder ihr zugewandter Gesichtsausdruck. Vielleicht ist es auch ihr jugendliches Alter, durch das sie ihr näher zu sein scheint als Dr. Rovira, ihre Ausstrahlung, mitten im Leben zu stehen, die Unbeirrbarkeit eines jungen Menschen, der denkt, die Welt läge ihm zu Füßen. Sie weiß nicht, warum, aber diese Frau gibt ihr ein Gefühl von Sicherheit, als würden sie sich schon lange kennen.

Die Frau deutet ihr Schweigen als Einladung.

Sie nimmt sich den Stuhl und setzt sich neben das Bett.

»Na, dann«, sagt sie mit warmer Stimme, »können wir uns ja ein bisschen unterhalten, bis du eingeschlafen bist. Einverstanden?«

»Geht das? Ich meine, müssen Sie nicht irgendwo anders sein und sich um irgendwas kümmern?«

»Jetzt kümmere ich mich eben um dich. Ist doch auch eine wichtige Aufgabe, oder nicht?«

»Sehr wichtig! Zumindest für mich …« Lara wendet den Blick ab. »Es tut mir sicher gut, wenn jemand da ist. Ich habe eine etwas schwierige Nacht vor mir.«

»Ich weiß.«

»Klar wissen Sie das. Dafür sind ja auch Sie die Ärztin, und ich bin die Patientin. Sie haben doch bestimmt in irgendeinem Bericht gelesen, dass die nächsten Stunden kritisch sind und dass sie nicht wissen, ob ich durchkomme.«

»Das haben sie dir gesagt?«

»Nicht nötig. Ich habe schon so lange mit Ärzten zu tun, dass ich weiß, was sie sagen wollen – selbst wenn sie schweigen. Dazu kommt dann noch irgendein Satz, den man aufschnappt, nicht zu vergessen die besorgten Gesichter meiner Eltern … Und dann natürlich, dass ich mich fühle, als hätte ein Lastwagen mich überfahren. Ich bin am Arsch, so viel ist klar.«

»Hey, du solltest die Dinge nicht so schwarz sehen.«

Lara nimmt alle Kraft zusammen und hebt beide Arme.

»Schauen Sie mich doch an: Ich liege auf der Intensivstation und bin voller Kabel und Schläuche, die in mich rein- und aus mir rausführen. Sieht nicht gut aus, würde ich sagen. Ist ein ziemlich heftiger Anfall. Wenn mein Körper nicht auf die Behandlung anspricht, war’s das. Dann kann keiner mehr was machen.«

»Okay, dann liegt es wohl an dir, deinen Teil beizutragen, oder? Und dann sehen wir, ob wir es alle gemeinsam schaffen.«

»Deinen Teil beitragen« – wieder dieser Ausdruck. Dr. Rovira spricht andauernd davon. »Alles wird gut. Du musst nur deinen Teil dazu beitragen, und schon haben wir wieder alles im Griff.«

»Als ob das so einfach wäre …«, sagt Lara leise.

»Nein, einfach wird es wohl nicht. Aber es ist auch nicht unmöglich.«

Lara schüttelt den Kopf.

»Ihr Optimismus gefällt mir.«

»Das trifft sich gut – Optimismus habe ich nämlich jede Menge auf Lager.«

Die beiden müssen grinsen.

»Na ja, vielleicht schaffe ich es ja wirklich …«, meint Lara und fühlt sich seltsam bestärkt. »Übrigens: Wie heißen Sie eigentlich?«

»Carmen. Sag einfach Carmen zu mir.« Sie sieht Lara fest in die Augen und meint schließlich: »Okay – du bist am Arsch. Das sollten wir akzeptieren.«

»Also, das zu akzeptieren ist einfach!«

»Warte, ich bin noch nicht fertig. Dein Körper gibt sich alle Mühe, mit einem ziemlich heftigen Angriff fertigzuwerden, der noch dazu von innen kommt, von deinen eigenen Zellen. Um dagegen anzugehen, bist du hier am richtigen Ort. Hier bekommst du die bestmögliche Behandlung. Außerdem«, sie zeigt auf die Glasscheibe, »wirst du permanent überwacht. Wenn irgendetwas ist, steht eine Armee von Spezialisten auf der Matte, um dir zu helfen. Dafür ist also schon einmal gesorgt. Was braucht es noch?«

»Keine Ahnung …« Lara tut so, als würde sie nachdenken. »Dass ein Wunder geschieht?«

»Nein«, sagt Carmen lächelnd. Sie scheint amüsiert über Laras Idee. »Ich meine deinen eigenen Beitrag. Was kannst du selbst tun?«

»Pfff …«, schnaubt Lara. »Nichts. Das ist ja das Problem.«

»Stimmt nicht. Du selbst spielst auch eine Rolle bei der Sache. Eine sehr wichtige sogar.«

»Ach! Und welche wäre das?«

»Nicht aufzugeben.«

»Aha.«

»Wirklich. Wenn du sagst: ›Basta, das war’s‹, dann ist Schluss mit lustig. Dein Zustand ist kritisch, Lara, das hast du selbst gesagt, und du musst mit all deiner Kraft darum kämpfen, da wieder rauszukommen.«

»Und wenn ich keine Kraft mehr habe?«

»Wir finden noch Kräfte in dir, keine Sorge.« Ihre Worte klingen bestimmt, als hätte sie nicht den geringsten Zweifel. »Fangen wir doch mal damit an, ein bisschen positiver zu sein.«

»Klar, positiv. Als würde ich gesund werden, wenn ich an zwitschernde Vögelchen und den Sonnenuntergang denke.«

»Na, siehst du, die ersten positiven Bilder hast du schon gefunden.«

»Äh – welches genau?«

»Na, das mit den Vögelchen und der Sonne. Es gibt so viel Schönes um uns herum. So vieles, das es lohnenswert macht, am Leben zu bleiben, um sein Leben zu kämpfen. Die Erde ist ein so faszinierender Ort – sag bloß, das ist dir noch nicht aufgefallen!«

»Doch, klar.« Lara zieht eine Grimasse. »Voller Müll und Mikroben, die einen krank machen, und mit viel zu vielen Menschen, die keinen Platz auf ihr haben. Fantastisch!«

Carmen hebt die Hand.

»Jetzt konzentrierst du dich aber nur auf die negativen Aspekte.«

»Was bleibt mir denn anderes übrig in meinem Zustand?«

Um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen, hustet Lara. Carmen steht auf und tritt an Laras Bett heran. Sie legt ihr die Hand auf die Stirn.

»Streng dich an. Überleg mal: Was ist die erste schöne Sache, die dir einfällt?«

»Der Pfleger von der Frühschicht. Der ist echt zum Anbeißen.«

Die Antwort ist ihr ohne zu überlegen herausgerutscht. Sie ist selbst überrascht, weil sie nicht gedacht hätte, dass ihr nach Späßen zumute wäre.

Das erste Mal seit Tagen hat sie etwas Witziges gesagt.

»Siehst du, wie positiv du sein kannst, wenn du willst?« Carmen muss lachen. »Jetzt mal im Ernst. Ich meinte, in Bezug auf die Erde. Ein einziges schönes Bild, komm schon.«

Lara beschließt mitzuspielen. Kurz überlegt sie.

»Das Meer.«

»Das Meer. Fantastisch, nicht wahr? Wasser ist ein Wunder. Der Inbegriff von Leben.«

»Von Leben? Aber das Meer besteht doch einfach nur aus Wasser. Du willst mir doch nicht erzählen, dass Wasser lebt, oder?«

»Nicht so richtig, nein. Aber man könnte durchaus sagen, dass Wasser sozusagen Leben in flüssiger Form ist. Zum Beispiel finden sich im Meerwasser Unmengen Bakterien – durchschnittlich etwa hundert Millionen pro Liter.«

Lara verzieht das Gesicht.

»Ihhh! Du hast gerade meine romantische Vorstellung vom Meer zerstört. Also, wenn du versuchst, mir zu erklären, wie schön unser Planet sein soll und wie herrlich das Leben ist, hast du jetzt irgendwie den falschen Fokus gewählt.«

»Nein, ganz im Gegenteil. Überleg mal: Das Meer ist viel mehr als nur eine Landschaftsform. Es lebt! Es ist voller Leben, bis in den tiefsten Winkel hinein.«

»Tja, was soll ich dazu sagen …«, meint Lara wenig überzeugt.

»Das ist aber noch lange nicht alles«, sagt Carmen und achtet nicht weiter auf Laras Kommentar. »Gehen wir mal an Land und nehmen das Süßwasser unter die Lupe. Auch darin kommen unzählige Mikroorganismen vor. Wie viele es tatsächlich im Einzelnen sind, ist allerdings sehr unterschiedlich. Weil sich dort organische Materie ansammeln kann, finden sich in stehenden, ruhigen Gewässern viel mehr solcher Organismen als in schnell fließenden Gewässern, wie zum Beispiel Gebirgsbächen. Und dann sind gemäßigtere Temperaturen für Organismen günstiger als eiskaltes Wasser. In einer Pfütze, die sich ein paar Tage zuvor auf einer Wiese gebildet hat, finden sich zum Beispiel im Sommer ungleich mehr Bakterien als im Winter. Interessant, oder?«

»Okay, ich geb’s zu«, sagt Lara lustlos. »Das hat schon seinen Reiz. Selbst wo nur ein bisschen Wasser ist, ist Leben. Ziemlich abgefahren, geb ich zu. Aber eigentlich erzählst du mir doch einfach nur, dass Wasser nichts anderes als eine große Suppe voller Tierchen ist. Keine besonders poetische Vorstellung, oder?«

»Klar, so kann man es auch sehen. Aber weißt du was? Es gibt noch viel verrücktere Dinge.«

»Da bin ich aber gespannt.«

»Das zum Beispiel: Viren sind im Meer ganz gleichmäßig verteilt. Man findet sie an der Wasseroberfläche genauso wie in Proben aus 5000 Metern Tiefe. Ganz anders die Bakterien: Die sind viel zahlreicher vorhanden in den ersten 300 Metern ab der Wasseroberfläche als in tieferen Regionen. Ist doch erstaunlich, nicht? Und kannst du dir vorstellen, warum das so ist?«

»Warte …« Lara überlegt, das müsste doch eigentlich eine Frage der Logik sein. Dann riskiert sie eine Antwort: »Wegen dem Licht?«

»Ganz genau. Das Sonnenlicht gelangt nicht bis in die tiefer liegenden Schichten, und deshalb nimmt die Konzentration der Bakterien dort erheblich ab. Ohne Licht können Lebewesen, die von der Photosynthese abhängen, nicht existieren, und deshalb gibt es viel weniger organische Materie, die anderen wiederum als Nahrung dient.«

Lara freut sich, richtig getippt zu haben. Unter großer Anstrengung richtet sie sich ein wenig auf. Anfangs hat sie die Unterhaltung als Zeitverschwendung betrachtet, aber Carmen hat es geschafft, sie ein wenig abzulenken. Sie erinnert sich, irgendwo schon einmal etwas Ähnliches gelesen zu haben, wo, fällt ihr nicht mehr ein, aber jetzt wird ihr zum ersten Mal klar, was diese Zusammenhänge überhaupt bedeuten. Und so kommen ihr plötzlich eine ganze Menge Fragen in den Sinn, so als hätte sich eine Schleuse zu irgendeinem abgelegenen Teil ihres Gehirns geöffnet.

»Du sagst also, Viren sind im Meer ganz gleichmäßig verteilt – aber wie machen die das? Wieso sammeln sich nicht an manchen Stellen mehr davon an als an anderen? Und, warte mal, wenn ich jetzt so darüber nachdenke: Was ist mit dem Salz und all den anderen Bestandteilen des Meerwassers? Wie können die sich denn eigentlich alle so gleichmäßig verteilen? Wie läuft das ab – rührt jemand so lange in der Suppe herum, bis sich keine Klümpchen mehr bilden?«

»So ähnlich, ja. Das Wasser der Meere und Ozeane muss wirklich immer wieder umgerührt werden. Wenn es sich nicht immer wieder neu durchmischen würde, würde all das Leben in den Meeren nicht existieren. Und damit meine ich nicht nur die Mikroorganismen: Zum Beispiel könnten viele Tiere nicht in so großen Tiefen leben, weil nicht genug Sauerstoff bis dorthin gelänge. Deshalb ist es ganz wichtig, dass sich der im Meerwasser gelöste Sauerstoff gleichmäßig auf alle Schichten verteilt.«

Lara sinniert ein paar Augenblicke vor sich hin.

»Ich hab’s! Der Wind macht das, richtig? Der Wind und die Wellen mischen alles durch.«

»Stimmt, Wind ist einer der entscheidenden Faktoren bei der Durchmischung des Meerwassers. Durch Wind entstehen Wellen, wie du ganz richtig gesagt hast, und zwar entstehen umso größere Wellen, je stärker die Luftbewegung ist, und dadurch wird das Wasser dann bis zu einem gewissen Grad durchmischt. Es gibt aber auch noch andere Faktoren. Die Gezeiten etwa tragen auch ihren Teil dazu bei: Durch Ebbe und Flut steigt und sinkt der Meeresspiegel, es entstehen Wirbelströmungen an der Küste, und diese Strömungen ziehen das Wasser wiederum ins offene Meer hinaus. Und noch etwas weiß man: Wasser steigt und sinkt aufgrund unterschiedlicher Dichten. Kaltes Wasser ist dichter als warmes, deshalb sinkt es ab in tiefere Schichten. Wenn es sich dort unten dann wieder erwärmt, zum Beispiel an Stellen, an denen tektonische Platten aufeinandertreffen, steigen riesige Wassermassen erneut an die Meeresoberfläche auf.«

Immer weiter lässt Lara sich auf das Spiel ein, das Carmen behutsam angeleiert hat, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Und es funktioniert: Einen Moment lang hat Lara ganz vergessen, dass ihr alles wehtut, und sie versucht zu begreifen, was Carmen erzählt.

»Wenn die Temperatur eine so große Rolle spielt«, sagt sie, »dann muss es doch auch Auswirkungen haben, dass das Wasser an den Polen viel kälter ist als, was weiß ich, in den Tropen, oder?«

»Ja, auch dadurch entstehen große, weltweite Bewegungen in den Meeren. Außerdem spielt noch sehr salzhaltiges Wasser eine Rolle, das dichter ist als weniger salzhaltiges Wasser und ebenfalls für Bewegung sorgt. Aus all diesen Gründen vermengt sich das Wasser in den Meeren unentwegt. Es kommt aber noch etwas dazu.«

»Noch etwas?«, unterbricht sie Lara. »Mir kommt das Meer jetzt schon vor wie ein gigantischer Cocktailshaker.«

»Ja, noch etwas. Du hast die Fische und die anderen Meerestiere vergessen.«

»Die Fische? Stimmt – wenn sie schwimmen, hat das vermutlich auch Auswirkungen.«

»Genau. Nur schwimmen nicht alle Meerestiere auf die gleiche Art, und es haben auch nicht alle dieselbe Form. Deshalb durchmischen auch nicht alle das Wasser gleich gut. Manche sind ganz dünn und erzeugen kaum Turbulenzen um sich herum, wenn sie sich bewegen. Tiere, die so spindelförmig, stromlinienförmig gebaut sind, sind richtig schnell, sie gleiten mit erstaunlicher Leichtigkeit durchs Wasser. Eine solche Form haben ziemlich viele Fische, zum Beispiel Thunfische, Sardinen oder Schwertfische und auch Meeressäuger wie Robben, Delfine und Schwertwale, und sie können ein beträchtliches Tempo an den Tag legen. Die bringen also nicht so viel beim Umrühren. Rate mal, welches Tier das Meer am allermeisten in Bewegung versetzt.«

»Hmmm, ich weiß nicht …« Lara denkt einen Moment nach. »Wir? Ich meine, die Menschen? An den Stränden wirbeln wir doch ganz schön was auf. Und dann unsere Boote, die mit ihren Schiffsschrauben alles aufwühlen …«

»Das stimmt natürlich auch, aber so groß ist der Einfluss des Menschen auf das Meer gar nicht. Nein: Seit ein paar Jahren weiß man, dass Quallen zu den Tiergruppen gehören, die am wichtigsten sind für die Durchmischung des Meerwassers.«

»Quallen?«

»Das liegt an der Form ihrer Körper. Dadurch, dass sie so gar nicht aerodynamisch sind, wirbeln sie bei der Fortbewegung große Wassermassen auf. Wenn sie sich in gewisser Tiefe aufhalten und dann zurück an die Wasseroberfläche schwimmen, gelangt mit ihnen eine Menge kaltes Wasser nach oben, das dann wieder absinkt, wie ich ja vorher schon meinte.«

»Das ist ja ein Ding«, meint Lara ungläubig. »Beim Baden auf eine Qualle zu stoßen ist ja echt ätzend, aber wenn man sich anschaut, was sie für das Meer tun, sind sie ja tatsächlich zu etwas nutze.«

»Alles auf unserem Planeten ist zu etwas gut! Alle Lebewesen sind miteinander verbunden, sie beeinflussen sich gegenseitig. Das ist Teil des Lebens – und es ist erstaunlich und fantastisch.«

»Na ja, fantastisch …« Lara macht ein angewidertes Gesicht. »Was soll ich sagen – ich halte mich lieber von Quallen fern, wenn es geht. Sie können ja so viel aufwühlen, wie sie wollen, aber bitte in angemessener Entfernung. Angenommen, alle Quallen würden auf einmal verschwinden, dann wäre das doch wohl kein großer Verlust. Es könnte doch bestimmt irgendein anderes Tierchen ihre Arbeit übernehmen.«

»Kann schon sein. Die absoluten Spitzenreiter unter den Meeresaufwühlern sind übrigens bestimmte winzige Organismen, eine riesige Gruppe kleinster Krustentiere, so ähnlich wie Minigarnelen. Sie sind deshalb von so großer Bedeutung im Lebenskonzept, weil sie in gigantischen Mengen vorkommen. Für viele andere Meerestiere, darunter Wale, sind sie das Hauptnahrungsmittel. Und gute Wasseraufwühler sind sie vor allem deshalb, weil es einfach so viele von ihnen gibt, weniger wegen ihrer Form. Siehst du, wie alles zusammenhängt? Von den kleinsten bis zu den größten Lebewesen.«

»Ja, ganz schön verrückt, da hast du recht«, erkennt Lara ohne große Begeisterung an.

»Das Meer ist wirklich etwas ganz Besonderes. Immer schon, über all die Jahrhunderte hin, waren ganz viele Menschen fasziniert vom Meer und haben es bewundert. Die Bewegung des Meeres hat den Menschen immer bewusst gemacht, dass es lebt.«

»So wie man in der Frühzeit glaubte, dass Feuer lebt, weil es sich bewegt, oder? Das habe ich mal in einer Doku gesehen.«

»Ja, genau. Aber versetze dich mal einen Moment in die Menschen von damals hinein. Was hättest du an ihrer Stelle geglaubt? Feuer ist ein Ausdruck von Energie, genau wie ein Sturzbach oder Wellen oder auch laufende, fliegende, schwimmende Tiere. Wenn du nicht weißt, was sich eigentlich dahinter verbirgt, ist es gar nicht so seltsam, Bewegung und Leben miteinander zu verwechseln. Feuer muss für die Menschen damals schon etwas Magisches gehabt haben. Nicht nur, dass es in Bewegung war, es strahlte auch noch Wärme und Licht aus, und wenn die Flammen hoch genug waren, machte es auch noch ein Geräusch. Es sieht wirklich lebendig aus, und dabei ist es doch das genaue Gegenteil: Die hohen Temperaturen zerstören alle lebende Substanz.«

»Das haben sie wahrscheinlich spätestens dann gemerkt, als einer der Höhlenmenschen zum ersten Mal versucht hat, seine Hand ins Feuer zu halten …«

»Vielleicht auch schon zuvor. Ihre Körper wussten schließlich bereits, wie sie von der zerstörerischen Kraft hoher Temperaturen profitieren konnten. Weißt du eigentlich, warum man Fieber bekommt?«

»Damit man sich elend fühlt und im Bett bleiben muss?«

»Und aus noch einem Grund: Fieber ist eine gute Verteidigungsmaßnahme gegen Mikroorganismen. Die mögen die Hitze nämlich auch nicht, schon ein paar Grad mehr können tödlich für sie sein. Klar, wenn das Fieber stark ansteigt und über einen längeren Zeitraum anhält, kann es auch die eigenen Körperzellen angreifen – so wie alle anderen Zellen auch sind schließlich auch sie empfindlich gegenüber höheren Temperaturen. Deshalb greifen wir auch ein, wenn jemand über mehrere Stunden hinweg hohes Fieber hat.«

Lara fasst sich an die Stirn. Im Moment scheint sie kein Fieber zu haben, aber sicher ist sie nicht. In den letzten Tagen hat ihr das Fieber keine Pause gegönnt, deshalb ging es ihr auch noch schlechter als ohnehin schon. Dabei kämpfte ihr Körper im Prinzip nicht einmal gegen irgendwelche Bakterien. Er kämpfte gegen sich selbst.

»Damit Feuer entsteht«, fährt Carmen fort, und Lara kehrt in die Realität zurück, »müssen drei ›Zutaten‹ zusammenkommen: etwas Brennbares – normalerweise sind das organische Verbindungen wie Kohle, Holz oder Benzin –, Sauerstoff und irgendeine Form von Energie, die den Prozess in Gang setzt, das kann ein Funke sein oder auch einfach sehr hohe Temperaturen. Diese Energie gibt den Impuls für die Verbrennung.«

»Verbrennung, stimmt …«, sagt Lara. »Warte mal, wie war das noch mal genau mit der Verbrennung? Ich glaube, wir hatten das mal in der Schule, aber irgendwie kann ich es gerade nicht zuordnen …«

»Ich erklär’s dir. Verbrennung ist eine chemische Reaktion, bei der sich ein brennbares Element mit einem anderen, als Oxidationsmittel bezeichneten Element verbindet. Dabei werden Wärme, Licht, Wasserdampf und ein Oxid freigesetzt.«

»Okay. Ich hab gar nichts kapiert.«

»Doch, hast du schon, das wirst du gleich sehen. Um ein Feuer anzuzünden, also damit etwas verbrennt, braucht man zunächst einmal Brennstoff, also das, was brennt.«

»Logisch.«

»Dann brauchst du ein zweites Element, das sich mit diesem Brennstoff verbindet. Dieses zweite Element nennt man Oxidationsmittel. Normalerweise ist das Sauerstoff: ohne Sauerstoff kein Feuer.«

»Das weiß jedes Grundschulkind. Deshalb muss man auch jeden Luftzug vermeiden, wenn es brennt. Und Brandherde, die man löschen will, deckt man ab. Wie zum Beispiel eine heiße Pfanne mit Öl, die sich entzündet hat. So kann man verhindern, dass weiterhin Sauerstoff zum Feuer gelangt.«

»Stimmt. War doch gar nicht so kompliziert. Das dritte Element einer Verbrennung ist ein Produkt, das dabei erst entsteht, ein Oxid. Das kann Kohlenmonoxid oder Kohlendioxid sein oder eine Kombination aus beiden.«

»Die zwei kenne ich auch«, unterbricht Lara ein bisschen besserwisserisch. »Wegen denen erstickt man bei einem Brand, obwohl man meint, weit genug von den Flammen entfernt zu sein, um sich keine Verbrennungen zu holen.«

»Ganz genau«, sagt Carmen zufrieden.

Lara denkt an das Meer und dann an Feuer. Beide Bilder können so wunderschön sein, beide können so lebendig erscheinen, und dabei stellen sie doch zwei Seiten derselben Medaille dar. Zwei Extreme des Lebens: das eine ein so ansprechendes Medium, das eine immense Vielfalt von Lebewesen in sich birgt, das andere der Inbegriff von zerstörerischer Energie.

»Komisch, dass uns etwas lebendig vorkommt, das dem Tod in Wirklichkeit viel näher ist«, sagt sie schließlich und richtet den Blick zur Zimmerdecke.

»Stimmt. Die Temperatur von Feuer liegt nie unter 400 Grad Celsius, und lebende Materie verbrennt schon bei weit niedrigeren Temperaturen. Feuer ist Energie, darin ähnelt es dem Leben, aber es bedeutet auch Tod. Für gewöhnlich liegen beide eng beieinander.«

»Ich glaube, ich möchte lieber bei dem Meeresbeispiel bleiben, das ist weniger … gefährlich.«

Sie traut sich nicht zu sagen, dass sie gerade an nichts weniger denken will als an ein lebendig scheinendes Bild, das im Begriff ist, sich selbst zu zerstören.

II

Ein kurzer Pfeifton ist zu hören und ein Brummen. Carmen sieht zum Nachttisch, Lara rührt sich nicht.

»Willst du nicht nachsehen?«, fragt Carmen, als Lara weiterhin so tut, als hätte sie nichts gehört.

»Was denn nachsehen?« Immer noch lässt Lara sich nichts anmerken.

»Dein Handy. Du hast eine Nachricht bekommen.«

Lara wirft einen flüchtigen Blick auf das Handy. Ihr Gesichtsausdruck zeugt von absolutem Desinteresse.

»Ist sicher nichts Wichtiges.«

»Aber wie willst du wissen, ob …?«

»Es ist nichts Wichtiges«, schneidet Lara ihr das Wort ab.

Carmen nickt und spart sich jeden weiteren Kommentar. Aus den Augenwinkeln schielt Lara zu ihrem Handy hinüber, das auf dem Bücher- und Zeitschriftenstapel liegt. Sie weiß ganz genau, wer ihr die Nachricht geschrieben hat, und sie hat nicht die geringste Lust, sie zu lesen. Sie hebt das Kinn an und bewegt den Kopf von einer Seite zur anderen. Ihr Nacken schmerzt.

Ohne dass Lara sie darum bitten muss, kommt Carmen an ihr Bett und rückt das Kissen zurecht. Lara sieht sie an. Aus der Nähe betrachtet, kommt ihr Carmens Gesicht bekannt vor. Sie hat sie wohl doch schon einmal irgendwo im Krankenhaus gesehen.

»Danke.«

»Keine Ursache. Wenn du noch irgendetwas brauchst, sag Bescheid.«

»Ich meine nicht nur wegen des Kissens«, sagt Lara. »Auch weil du mir Gesellschaft leistest. Weil du mich ablenkst.«

»Oh, das macht mir gar nichts aus, ganz im Gegenteil. Ich rede gerne über solche Dinge.«

»Ha! Und ich wette, du hast selten ein so wehrloses Opfer wie mich an der Angel, das vor deinen Tiraden über Feuer, Wasser und all die Mikroben in der Welt nicht davonlaufen kann!«

Carmen stemmt die Hände in die Hüften und spielt die Empörte.

»Also, hör mal, meine Liebe! Du warst ja wohl die Erste, die sich durch meine ›Tiraden‹ hat aufmuntern lassen.«

»Pah«, sagt Lara und unterdrückt ein Lachen. »Ich bin eben eine gute Schauspielerin.«

Carmen grinst.

»Nein, ernsthaft: Wenn du müde bist und versuchen willst, ein bisschen zu schlafen, dann gib mir ein Zeichen und ich bin weg. Okay?«

»Nein, nein«, sagt Lara schnell. »Bitte nicht gehen. Es tut mir gut, jemanden bei mir zu haben. Ich fühle mich gerade ziemlich allein.«

»Das musst du aber nicht. Deine Familie ist doch bei dir, auch wenn sie momentan nicht körperlich anwesend ist. Und dann gibt es bestimmt eine Menge Freunde, die sich um dich sorgen.«

Ein Anflug von Traurigkeit huscht über Laras Gesicht.

»Freunde …«

»Sie fehlen dir, oder?«

»Das ist es nicht …« Lara zögert einen Moment, als wüsste sie nicht, wie sie es ausdrücken soll. »Es ist nur so, dass … ich konnte mich in letzter Zeit nicht viel um meine Freunde kümmern.«

»Was meinst du damit?«

Lara hat das Gefühl, dass Carmen ihr die Worte aus der Nase ziehen will, und in solchen Momenten hat sie erst recht keine Lust, über etwas zu sprechen. Sie versucht, sich diskret aus der Affäre zu ziehen.

»Ach nichts, ich war eben ziemlich beschäftigt. Schule, Hausaufgaben, solche Sachen …«

»Und die Krankheit«, ergänzt Carmen und sieht sie mit festem Blick an.

Lara weicht ihr aus. Ihr Blick fällt auf das Wasserglas auf dem Nachttisch. Nach allem, was Carmen erzählt hat, betrachtet sie es jetzt mit ganz anderen Augen. Als ein Mini-Ökosystem hinter Glas, als isolierten Ausschnitt des größten Bioreservates der Erde. Lieber will sie daran denken als an ihre Freunde.

Als könnte sie Gedanken lesen, nimmt Carmen das Glas vom Nachttisch und hebt es hoch, bis es sich auf Laras Augenhöhe befindet.