ISBN: 978-3-95428-609-6
1. Auflage 2015
© 2015 Wellhöfer Verlag, Mannheim
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Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen
Die Erzählungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
Das vorliegende Buch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig.
Sie hatte wie jeden Freitag einen Pfitzauf auf dem Küchentisch stehen gehabt, aber als sie von ihrem Graphologiekurs heimkam, war der Tisch leer – bis auf einen Zettel. Die große Bechertasse, in der sie sich immer ihre Portion herausbackte, um sie nach dem Abendkurs zu verzehren, stand in der Spüle. Ausgespült war sie nicht; aber das wäre vielleicht auch zu viel verlangt von einem Einbrecher.
Polyxenia Abele bemerkte sogleich, wie er hereingekommen war. Das kleine Fenster im Bad war nur angelehnt, er hatte es noch nicht einmal aufhebeln müssen. Somit war sie die Schuldige, denn nach dem Duschen hatte sie gelüftet und dann vergessen, die Luke wieder ordentlich zu schließen. Er brauchte nur hineinzuklettern, in einer Erdgeschosswohnung war das ja kein Problem.
Sie hielt den Zettel gegen das Licht. Er stammte von ihrem eigenen reinweißen Zettelblock, der immer mit einem Bleistift auf der Eckbank-Konsole lag, neben dem Seidenblumengesteck und ihren Augentropfen. Sicher waren seine Fingerabdrücke daran. Und jetzt auch ihre. Das Blatt war ordentlich abgerissen, ohne Hast. Beweis: Der Zettelblock war unverrückt und das Deckchen darunter keinen Millimeter verzogen.
Polyxenia lehnte sich an die Küchentheke, grübelnd. Wie mochte ein Mann sich fühlen, wenn er diese Küche betrat? Sie kniff die Augen zusammen und spähte durch die Schlitze: ein weiß lasierter Kiefernholztisch, einwandfrei. Eine stabile, dick gepolsterte Eckbank, einladend mit den vielen kleinen Kissen und dem karierten Plaid für frühe, kühle Morgen. Polyxenias Augen gingen wieder auf. Kühlschrank, Herd, Edelstahlspüle – alles relativ sauber. Jedermann konnte sich in einer solch vertrauenswürdigen Küche wohlfühlen. Sie nahm den Lappen von der Spüle und polierte noch rasch die weiß-türkisen Knöpfe an den Schranktüren. Sie sahen aus wie die Augäpfel ihrer Barbiepuppen von früher.
Der Einbrecher hatte das Wort nicht einfach hingeschmiert, sondern schön geschrieben. Mit Respekt. Es war nicht übermäßig literarisch, was er zu Papier gebracht hatte, aber in seiner Natürlichkeit einfach unwiderstehlich – ein ehrliches, unverbildetes Urteil für eine kleine Pfitzauf-Portion. »Saugut« hatte er auf den Zettel geschrieben. Nur ein Wort, und nicht einmal ein schönes, aber es gab Polyxenia endlich die Antwort darauf, wieso sie seit einem Jahr in den Graphologiekurs von Professor Sichter rannte. Titel: »Von der individuellen Schrift auf die individuelle Persönlichkeit eines Menschen schließen.«
Wo doch heute keiner mehr mit der Hand schrieb!
Ausgenommen ihr Einbrecher.
Nun würde der Sichter-Kurs sie in die Lage versetzen, die vor ihr liegende Schrift zu analysieren. Erstens: Der Schrifturheber war ein Rechtsschrägschreiber, das war an sich schon positiv. Rechtsschrägschreiber galten als warmherzig und kontaktfreudig. Gottlob neigte sich sein Wörtchen nicht zu sehr nach rechts, sonst müsste Polyxenia auf mangelnde Selbstdisziplin schließen oder – auch nicht besser – einen Hang zu Übertreibungen. Zufrieden betrachtete sie seine Buchstaben. Leider waren es nur sechs. Ein »s«, ein »a«, ein »u«, ein »g«, nochmal ein »u«, abschließend ein »t«. Es war die Aura, die von seiner unverstellten Handschrift ausging, die sie gefangen nahm. Vor allem das »t« imponierte ihr; das »g« versuchte sie vorläufig freundlich zu ignorieren.
In der Nacht ließ sie das kleine Fenster im Bad offen stehen.
Am nächsten Morgen lag der Zettel neben Polyxenias Frühstücksei. Sie war noch im Nachthemd und schaute schon prüfend auf die Schrift und verglich sie mit den Abbildungen in ihrem Graphologiebuch, das aufgeschlagen neben ihr auf der Bank lag. Zu ihrem Leidwesen genügte das eine Wort, das der Einbrecher ihr hinterlassen hatte, bei Weitem nicht, um alle seine Wesenszüge zu enthüllen.
Wie sollte sie die schriftpsychologisch relevanten Stoffgebiete wie den Zeilenverlauf (steigend oder fallend) oder die Wortabstände (große oder kleine Lücken) deuten, wenn es gar keine Zeilen gab und keine weiteren Wörter, die der Schreiber wie auch immer voneinander trennte? So war das alles doch nur Stückwerk. Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee. Bestimmt war er ein Optimist und schrieb in heiter ansteigenden Zeilen. Wäre er ein Pessimist, würden seine Zeilen zum Ende hin herabhängen wie die Mundwinkel frustrierter Subjekte. Sofort zwang Polyxenia sich zu einem breiten Lächeln. Wer hundertmal am Tag lächelt, wird automatisch glücklicher.
Sie konzentrierte sich wieder auf die Schriftprobe. Hätte er doch nur mehrere Worte hintereinander zu Papier gebracht. Dann wüsste sie jetzt, wie es mit Abstand und Nähe bei ihm aussah, sprich: wie beziehungsfähig der Einbrecher war. Falls er nämlich die Wörter dicht aneinander zwängte, so war er laut Professor Sichter ein absoluter Chaot, dem außerdem jede Distanz fehlte. Machte er normal große Abstände, hielt er so viel Distanz zu anderen, wie es gut für ihn war. Ließe er große Lücken zwischen den Wörtern klaffen, so erschreckte ihn, wenn ihm einer auf die Pelle rückte; es war auch gut möglich, dass so ein Mensch einsam war. Polyxenia spürte, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.
Sie nahm sich nun seine Mittelzone vor, also die Kleinbuchstaben ohne Ober- und Unterlängen – hier »s«, »a«, »u«. Sie wirkten harmonisch, was bedeutete, dass das Selbstwertgefühl des Einbrechers völlig in Ordnung war. Außerdem zeichnete er sich durch kleine, aber nicht winzige Buchstaben aus, und das sprach von großer Bescheidenheit. Polyxenia klopfte beschwingt ihr Ei auf und streute Salz hinein. Wären seine Kleinbuchstaben ausladender, müsste sie von einem übersteigerten Ego ausgehen, aber das war nicht der Fall.
Was ihr noch auffiel: Der Schreibdruck, den er auf das Zettelchen ausgeübt hatte, war nicht von schlechten Eltern. Der Mann hatte fest aufs Papier gedrückt, und das verhieß: Entschlossenheit und Willensstärke.
Sie aß nun ihr Ei und ein gebuttertes Toastbrot. Eines war klar: Während sie sich in der Wohnung aufhielt, würde er nicht wiederkommen. Er war ein Einbrecher. Am liebsten würde sie ihm auf der Stelle einen neuen Pfitzauf backen, aber heute war Samstag und vielleicht brach er nur freitags in Wohnungen ein. Polyxenia kannte sich mit den Gepflogenheiten von Einbrechern nicht aus. Sie trank den letzten Schluck von ihrem Kaffee; sie hatte also noch sechs Tage Zeit.
Ein wenig hatte sie das Gefühl, mit dem Feuer zu spielen.
Die kommenden Tage nutzte Polyxenia Abele, um ihr Zuhause gemütlich herzurichten. Wie ein Pfeil schoss sie durch die Zweizimmerwohnung an der Heslacher Wand, ganz hinten, wo sich dunkel der Wald erhob. Sie stellte hier eine Blumenvase auf, verrückte dort einen Beistelltisch. Sie betrachtete alles mit seinen Augen. Sie widerstand dem starken Impuls, das alte Sofa aus dem Fenster zu kippen. Stattdessen zog sie die Zebradecke aus dem Schrank und breitete sie über der Couch aus. Dann ließ sie sich hineinfallen, und alles war gut. Sie konnte aber nicht länger als einen Lidschlag sitzen bleiben und schnellte mit neu erwachter Energie hoch. Sie knipste alle Lampen an. Wohnungen im Parterre mit schwarzgrünen Eiben vor den Fenstern brauchten eine Menge Licht. Mit den Fingern staubte sie die Rosenmuster-Stehlampe ab. Sie flitzte dann aber doch in die Küche und holte das Staubtuch. Sie staubte das ganze Wohnzimmer ab. Sie stieg sogar auf einen Stuhl und putzte die mohnroten Schirmchen der Deckenbeleuchtung.
Polyxenia sah sich um. War dies eine Wohnung zum Wohlfühlen? Ihr Blick fiel auf die Matroschka-Puppe auf dem Fensterbrett neben der Topfpflanze. In ihren aufgemalten Augen lag ein starker Vorwurf. Polyxenia drehte sie sofort um. Sollte sie in die Büsche hinausglotzen, aber nicht in Richtung Wohnzimmertür, durch die vielleicht er hereinstromern würde.
Das Bücherregal war ihr ein Ärgernis. Nichts als Sachbücher – Graphologie, Handlesen, Seidenmalerei. Eine gemütliche Wohnung brauchte Romane! Also kaufte Polyxenia in der Buchhandlung, was man derzeit gelesen haben sollte, und stellte alles ins Regal.
Sie würde tot umfallen, wenn er jetzt hereinkäme.
Am nächsten Freitag, sehr früh am Morgen, um halb fünf, um genau zu sein, band sie sich ihre Lieblingsschürze um. Mit dem deutlichen Gefühl, etwas Gutes zu tun, holte sie Butter und Milch aus dem Kühlschrank. Sie maß die Zutaten für einen ganzen Pfitzauf exakt ab und butterte die sechs tiefen Mulden der alten Keramikform. Während der Ofen aufheizte, rührte sie den Teig aus Milch, Mehl und zerlassener Butter an. Vier ganze Freilandeier rührte sie hingebungsvoll unter, wobei das Rührgerät so satt in ihrer Hand saß, als wäre es mit ihr verwachsen. Schließlich goss sie den Teig in die Mulden und stellte die Form in den Ofen.
Wenn der Einbrecher jetzt auftauchte und mal eben nachsehen wollte, was sie Tolles im Ofen hatte, sie würde ja durchdrehen, wenn er sich dem Türle auch nur näherte. Trara! »Das darf man nicht öffnen, ha-ha, sonst schnurrt uns der ganze Sechser-Pfitzauf zusammen. Willst du das, mein Lieber?«
Sie spürte seine Gegenwart so bewusst, als ob er unmittelbar neben ihr stände. Er räusperte sich. Sie hörte es ja. Und jetzt spielte er mit dem lockeren türkisen Knopf am linken Oberschränkchen.
»Der ist ja locker«, sagte er mit rauer Stimme, fast schon knurrend, sodass sie eine Gänsehaut bekam. »Wo ist der Akkuschrauber?«
Sie glitt an die Schublade mit dem Werkzeug. »Hier, Darling.«
Darling war blöd. Sie brauchte einen Namen für den Herrn. Sie blickte nachdenklich durchs Backofenfenster, wo sich noch nicht viel tat. Der Schrift nach könnte er ein Volker oder Jochen sein. Jochen wie Rochen. Vielleicht hieß er ja Robert, dann könnte sie ihn Roy nennen.
Als der Pfitzauf fertig war, öffnete sie das Küchenfenster und ließ die Stuttgarter Halbhöhenluft durch das Eibengestrüpp herein. Sie sollte in Zukunft öfter spazierengehen, beschloss sie. Wer täglich auch nur eine halbe Stunde spazierengeht, bleibt fit. Sie kippte die schwere Keramikform schräg und die sechs kleinen Souffles purzelten auf die Arbeitsplatte. Falls Roy eines Tages wissen wollte, wieso das Gebäck Pfitzauf hieß, überlegte sie sich schon mal eine prägnante Antwort: »Weil man zusehen kann, wie der Teig nach zwanzig Minuten über die Formenränder steigt und dann »pfitzt« er regelrecht hoch, weißt du?«
Polyxenia legte die Teilchen auf einen Kuchenteller. Es war ein unglaublich gutes Gefühl, für Roy gebacken zu haben.
Sie zog die Schürze aus und machte sich fürs Büro zurecht. Heute würde sie sich mit einer langen Zahlenliste herumschlagen müssen, da brauchte sie einen klaren Kopf. Polyxenia wählte passend dazu den Bleistiftrock mit dem Nadelstreifenmuster und die stahlgraue Bluse. Sie schwang sich die geflochtene Tasche über die Schulter und zog im Hinausgehen sorgfältig die Tür hinter sich zu.
Neuneinhalb Stunden später saß sie in ihrem Graphologiekurs bei Professor Sichter. In ihrer Tasche lag Roys Zettel, denn ursprünglich wollte sie ihn fragen, ob er das mit dem kleinem »t« und vor allem dem »g« genauso sah wie sie. Aber heute Abend sprach er über den Psychodiagnostiker Arno Müller und seine historischen Schriftstudien berühmter Frauen (»von Maria Stuart bis Mutter Teresa«), was sollte sie da mit einer maskulinen Schriftprobe daherkommen? Sie hievte ihre Tasche auf den Schoß und beäugte heimlich die Schrift. Sein präzises Strichle im »t« drückte Eigenschaften aus, die auch sie besaß: Sorgfalt und Detailgenauigkeit. Seine Oberlänge ragte allerdings ein bisschen weit hoch, offenbar strebte er nach Höherem. Was das bei einem Einbrecher bedeutete, war ihr nicht ganz klar. Aber sicher etwas Gutes. Was Polyxenia zu denken gab, war die Unterlängen-Dynamik im kleinen »g«. Professor Sichter schloss normalerweise daraus auf die Triebe: War die Schleife klein, spielte der Sex eine untergeordnete Rolle. War sie mager, konnte der Schreiber darauf verzichten. War die Schleife breit (wie bei ihm), sprach der Professor von absoluter Sexbesessenheit. Trara! Noch etwas stieß Polyxenia an Roys »g« auf: Das Schleifle neigte sich deutlich nach links. In ihrem Graphologiebuch hatte sie die Stelle unterstrichen: »Der/die AutorIn hat einen Hang zum Narzissmus.«
Wer mochte schon Narzissten?
Polyxenia schickte ihm aus dem Klassenzimmer heraus eine telepathische Botschaft: Du bist nicht allein. Auch ich habe schwer nach links geschrieben – man kann sich alles abgewöhnen. Deine Polyxenia Abele.
Gegen zweiundzwanzig Uhr fuhr sie mit der U1 nach Hause. Schon vor der Eingangstür erkannte sie, dass Besuch da war oder da gewesen sein musste. Denn der weiße Wollfaden, den sie unsichtbar über den ebenfalls weißen Fenstersims gelegt hatte, lag jetzt wie ein blindes Höhlenschlängle auf der Erde, neben den schorfigen braunen Eibenstämmen. Sie schloss die Tür auf.
Roy hatte seinen ganzen Sechser-Pfitzauf aufgegessen, praktisch verschlungen, nur noch ein zartgelber Krümel verriet, dass überhaupt einer auf dem Tisch gestanden hatte. Offensichtlich fühlte er sich in ihrer Küche bereits heimisch. Wie letztes Mal hatte er die Form ins Spülbecken gestellt und eingeweicht. Sie schämte sich ein wenig, dass sie ihm den Pfitzauf trocken serviert hatte, nur mit Puderzucker bestäubt. Wo doch ein Pfitzauf mit der Beilage steht und fällt. Vanillesoße oder Kompott waren delikat. Polyxenia schlug die Hand vor den Mund. Nicht einmal eine Serviette hatte sie ihm hingelegt. Er musste sich ein Küchenkrepp von der Rolle reißen, offenbar war er dabei ein bisschen wild geworden, sie sah ja, dass noch ein Fetzchen dranhing. Sie holte die Haushaltsschere aus der Schublade und schnitt das Krepp gerade. Ihr fiel auf, dass etwas mit dem Bild über der Eckbank nicht stimmte.
Es war ein kitschiges Spruchbild, das ihre Oma als Elfjährige im Kreuzstich ausgestickt hatte, und beim letzten Buchstaben im allerletzten Wort (Goethe) hatte sie einen Knubbel hineingestochen; das vermurkste »e« sah man sofort. Polyxenia hängte das Bild wieder gerade. Dann ging sie ins Bett.
Die Woche verging langsam. Am Donnerstagabend kaufte sie nach der Arbeit noch schnell eine Zeitung für Roy. Die »Süddeutsche« hielt sie für angemessen im Hinblick auf seine betonte Oberlänge im »t« (geistige Interessen). Sie sprang noch schnell in einen Bioladen, um Bio-Mehl zu kaufen, denn Gesundheit ist unser höchstes Gut.
Am Freitag früh wiederholte sie die Backerei von letzter Woche, ohne genau zu wissen, wohin das führen würde. Diesmal stellte sie ein Schälchen Vanillesoße dazu und eine Flasche stilles Wasser (vielleicht hatte er ja Durst?). Außerdem schob sie eine nette Papierserviette (Golden-Retriever-Welpe mit rotem Ball im Maul) unter die zwei Kuchengäbelchen.
Falls Roy später einmal fragen sollte, wieso zwei, käme die Antwort wie aus der Pistole geschossen: »Pfitzauf isst man nicht aus der Hand, ha-ha, den zerrupft man mit zwei Gäbelchen, weißt du?«
Polyxenia wandte sich wieder dem Pfitzauf zu. Es war der schönste, den sie je gebacken hatte. Honiggelb, duftend, im Innern sicher wunderbar locker, um nicht zu sagen fluffig. Sie hatte ihr Bestes gegeben.
Sie hängte die Schürze an den Haken. Im Augenwinkel erspähte sie das karierte Plaid, das akkurat gefaltet hinten auf der Bank lag. Mit zwei, drei Handgriffen brachte sie es durcheinander, baute sowas wie ein Nest daraus. Jedenfalls sah die Eckbank gleich viel gemütlicher aus.
Sie legte die Zeitung neben den Pfitzauf auf den Tisch. Falls er lesen wollte. Sie stellte drüben im Wohnzimmer einen kleinen Ascher auf den Glastisch. Vielleicht rauchte er gern mal eine. Dreißig Sekunden später nahm sie den Ascher wieder fort; sie würde das Rauchen nicht erlauben.
Sie kochte ihm noch rasch ein Kännchen Tee. Sie stellte es auf ein Stövchen und zündete das Teelicht an. Einmal hatte sie auf Juist Urlaub gemacht, und als sie die Ferienwohnung betrat, stand ein heißer Tee für sie bereit – und niemand war da. Es lagen eine Menge Prospekte über die Insel neben dem weißen Keramikstövchen, und die Ecken dieser Prospekte reichten gefährlich nahe an das Teelicht heran, sodass Polyxenia damals dachte: Wer fordert denn hier das Schicksal heraus!
Sie verscheuchte den Gedanken und machte sich fürs Büro fertig. Zog den knisternden schwarzweißen Sechsbahnenrock mit dem Zweigmuster an und dazu den sahnigen V-Pullover. Am liebsten würde sie sich in den Sessel setzen und still auf ihn warten. Doch aus Höflichkeit nahm sie davon Abstand.
Bevor sie ging, stellte sie ihm den Ascher wieder hin.
***
Die Alte hat wieder das Klofenster aufgelassen. Besten Dank auch. Elli hatte heute Tyson dabei – die Frau namens P. Abele war selber schuld daran.
Es war nicht leicht, den Hund durch das kleine Fenster zu drücken. Er fiel auf den Klodeckel und knurrte, was sie an seiner Stelle auch getan hätte. Er hatte sich aber nichts gebrochen.
Wie immer waren die Cupcakes der Alten nicht gerade der Knaller, aber diesmal gab es ein Vanille-Smoothie dazu, und so rutschten sie besser. Der Tee war noch schön heiß. Elli blies das Teelicht aus. Zwei kleine Gabeln lagen auf einer Serviette mit einem Welpen drauf. Das war nochmal eine Bestätigung dafür, dass Elli alles richtig machte. Auch Tyson war mal ein Welpe gewesen. Da hatte sie ihn allerdings noch nicht an der Backe gehabt.
Wo war er denn? »Tyson«, rief Elli leise. Aber der Hund erschien nicht. Sie wanderte ins Wohnzimmer. Da lag der Rüde auf einem Zebrafell auf dem Sofa und schlief. Er war ein Penner wie der Mann, dem er früher gehört hatte. Der schlug und trat ihn immer, wenn ihm der Alkohol ausging.
»Okay, bleib wo du bist.«
Sie ging wieder in die Küche, um ihren Tee auszutrinken. P. Abele war selber schuld, dass sie jetzt den Hund aufgehalst bekam. Elli wäre von allein gar nicht auf die Idee gekommen, aber dann hatte sie den Spruch in dem altmodischen Bild über der Eckbank gelesen. Das hatte sie inspiriert:
Wer Tiere quält, ist unbeseelt.
Und Gottes guter Geist ihm fehlt;
mag noch so vornehm drein er schauen,
man sollte niemals ihm vertrauen.
Johann Wolfgang von Goethe
Der Spruch war endpeinlich getextet, aber für den Hund war das okay so. Elli goss Wasser in die Kuchenform und ließ sie in der Spüle stehen. Schon klar, die Frau war ein bisschen schräg, aber der Hund liebte solche Leute. Irgendwo im Innern war er ein Spießer. Er fühlte sich zu Spießern hingezogen, das hatte sie mehr als einmal beobachtet. Und jetzt lag er immer noch auf dem Sofa, sie hörte ihn schnarchen.
Elli schlich mit angehaltenem Atem ins Badezimmer. Sie legte beide Hände an das Fenstersims und schaute nochmal über die Schulter zurück. Dann stieg sie über den Toilettensitz ins Freie.
***
Polyxenia kraulte den Hund hinter den Ohren. Seine Augen leuchteten wie Bernstein und sein Fell war weicher als Samt. Der Einbrecher hatte ihr seinen Hund gelassen. Gab es einen größeren Liebesbeweis? Noch spät in der Nacht saß sie an ihrem Computer und googelte: »Rezept + Hundekekse«. Morgen würde sie für den kleinen Roy etwas Feines backen.
Zutaten für die Sechser-Pfitzauf-Form oder acht große Bechertassen:
250 g Mehl
250 ml Milch
4 Eier
1 Prise Salz
50 g zerlassene Butter
1 EL Butter für die Form bzw. Tassen
Zubereitung:
Den Backofen auf 180 Grad Ober-Unterhitze vorheizen. Mit dem Handrührgerät Eier, Milch, Mehl und Salz zu einem dünnen Teig verquirlen. Die zerlassene Butter unterrühren.
Die Pfitzauf-Form oder Tassen gut ausbuttern und nur knapp zur Hälfte mit dem Teig füllen. Eine Stunde backen und dabei den Ofen nicht öffnen, da sonst der Pfitzauf erschrickt und zusammenfällt.
Nach Ende der Backzeit noch fünf Minuten bei offener Ofentür ruhen lassen. Mit spitzem Messer die Dingerle lösen; meist fallen sie von allein heraus.
Wie man Pfitzauf isst:
Mit zwei Gäbelchen »zerrupfen« und mit Puderzucker oder Zucker und Zimt bestreuen. Dazu passt auch Gsälz oder Kompott (Apfel, Rhabarber, Zwetschgen – was de grad do hosch). Vornehme Varianten: Pfitzauf mit Vanillesoße, Schlagsahne oder Eiscreme
Der Teufel hat sich seiner Seele bemächtigt.
Der Wagner geht den staubigen Weg nach Mühlhausen entlang. Ein Mann auf einer Reise ohne Wiederkehr. In ihm lodert die Flamme des Hasses. Schnell geht er, mit ausgreifendem Schritt, die derben Lederschuhe fest auf den Boden aufsetzend, leicht vornüber gebeugt, wie ein Mann, der sich gegen den Wind stemmen muss. Die Gamaschen sitzen fest, eng gar, vom vielen Waschen kleiner geworden, als wären sie für einen Knaben gemacht und nicht für einen Mann von 38 Lebensjahren. Es geht kein Wind. Und es hat schon lange nicht mehr geregnet. Doch das wird sich ändern. Er kann den Regen schon riechen.
Auf dem Rücken trägt er über der groben Wollweste einen Lederrucksack, aus dem oben der Lauf des Gewehrs herausragt. Niemand wundert sich darüber. Die Männer haben alle Gewehre, viele gehen auf Hasen oder Sauen und mit etwas gottgegebener Gunst können sie ihren Frauen Fleisch nach Hause bringen, damit die am Sonntag ein wahres Festessen machen können. Dazu Kartoffeln und Mais. Sie haben es gut. Sie müssen schon lange nicht mehr hungern. Er kennt das Gefühl von Hunger, so wie alle Leute, denen das Schicksal ein entsprechend langes Leben bereitet hat, aber heute hat fast jeder genug zu essen, und eine Abwechslung gibt es auch.
Ihnen geht es besser als manch anderen. Seine Stellung als Lehrer sorgt dafür, dass ihm die Bauersfrauen manchmal etwas bringen oder seinen Kindern zustecken. Richard. Robert. Elsa. Klara. Gute Kinder.
Sie werden nicht in Schande leben müssen.
Man muss Kinder beizeiten züchtigen, ihnen von Hand die Lektionen des Lebens beibringen und manchmal den Lederriemen nehmen. So war das schon, als er ein Kind war. Sein Vater war ein Meister mit dem Riemen. Ja, er wusste ihn zu benutzen. Alles das geht ihm durch den Kopf, wie er mit seinem festen Auftreten, stampfend fast, ausschreitet.
Er ist in Gedanken. Er denkt an seine Kinder. Und an die Kinder, die er unterrichtet. Mit einer Mischung aus Güte und harter Hand. Wenn einer nicht lernen will, dann muss man ihm das Wissen einbläuen. So ist das schon immer. Viele Kinder hüten die Kühe vom Vater, wenn sie aus der Schule kommen, diesem windschiefen Holzhaus, das im Winter nicht geeignet ist, den Wind und die Kälte abzuhalten. Manchmal bringt ein Kind Kohlen mit, das gibt dann eine ganz andere Wärme, die von der Brandstatt aufsteigt, als das Holz, das sonst im Schulhaus verfeuert wird.
Die lederne Reisetasche, die der Wagner mit einem Leibriemen befestigt hat und die er seitlich am Körper trägt, schlägt bei jedem Schritt gegen sein Becken. Er merkt es nicht. Er erinnert sich, wie er vor einigen Stunden in seinem Haus mit ruhigen Bewegungen mit dem Feuerhaken die Asche vom Herd geschoben hat, damit die kein Unglück anrichte, wenn er weg war. Ein alter Herd, den er jetzt morgens schon mit dem Holz befüllt, das er von draußen hereinbringt. Es ist erst September, aber die Nächte sind schon kalt oben über dem Talkessel, wo sein Haus steht. Die Gegend hat einen heißen Sommer gesehen, der so schnell gegangen ist wie er im späten Mai über diese kleine Welt gekommen war.
Der Wagner kennt die Welt.
Er liest nicht nur die Bücher, die er mit den Schülern durchnimmt. Besonders gerne vertieft er sich in Reiseberichte. Er hat als Lehrer Zugang zu so etwas. Im Wirtshaus hängen sie ihm an den Lippen, wenn er erzählt, was er aus diesen Berichten erfährt. Mit Nietzsche oder Gorki oder Ibsen muss man diesen tumben Gesellen nicht kommen! Sie halten ja schon die Dokumente der Reisen für erfunden. Sie glauben es kaum, was er am Stammtisch erzählt, vielleicht glauben ihm auch nicht alle wirklich. Die, die nicht lesen können, sind besonders misstrauisch. Karl, der Tagelöhner, der einmal die Woche sein Geld versäuft und mit dem es kein gutes Ende nehmen wird. Aber, denkt der Wagner, mit mir nimmt es auch kein gutes Ende. Der Karl wird mich überdauern. Dass der Karl länger lebt als er selbst, das würd’ keiner glauben, wenn man es ihm jetzt erzählt.
Vor ein paar Tagen hat er einen Bericht gelesen, in dem von den Schwaben berichtet wird, die der Hunger aus der Heimat vertrieben hat und die in Amerika ihr Glück gesucht haben. Vielleicht, so denkt der Wagner, hätte er auch nach Amerika gehen sollen. Mit dem großen Schiff. Alles hier hinter sich lassen. Vielleicht wär’ dann vieles anders gekommen.
Er liest regelmäßig das Neue Tagblatt und er sieht das große Unglück am Horizont heraufdämmern. Jeder müsste es sehen, aber die meisten verschließen die Augen. Die Welt wird brennen. Der Wagner ist zu alt, um noch Soldat zu werden, aber die Jungen werden in den Höllenschlund gezogen werden. Schon bald. Das weiß er.
Sein Haus, seine Familie. Er speit verächtlich aus. Das alles ist weit weg, Stunden weg, eine Welt weg. Mit dem Rad ist er von Degerloch nach Stuttgart gefahren, mit dem Zug nach Bietigheim, von dort mit dem Fahrrad nach Mühlhausen, diesem Dorf, wo die Muschelkalkwände dem Fluss die Richtung vorgeben. In der Nähe des Dorfes hat er das Fahrrad hinter einem Busch versteckt. Jetzt geht er, wandert, wartet auf die Dunkelheit. Er wird zurückkehren in den Ort. Er wird tun, was er tun muss. Wenn es auf Mitternacht geht.
Er denkt an das Essen von gestern Abend. Henkersmahlzeit. Die Anna hat sie ihm zubereitet. Ein letzter Liebesbeweis sozusagen. Sie ist eine gute Köchin, kein Wunder, als Wirtstochter. Gefüllte Gurken. Das mag er. Die Kinder wollen lieber diese Erbstwurstsuppe, die es jetzt schon fast fertig zu kaufen gibt. Für den Wagner ist das kein Essen. Aber die gefüllten Gurken, die liebt er. Man muss große Gurken wählen, schält und schneidet sie bis über die Mitte der Länge nach ein, nimmt das Kernhaus mit einem Löffel heraus, kocht sie im Wasser mit dem Salz und mit Essig ein paar Mal auf, dann tut man sie in kaltes Wasser. Abtrocknen muss man sie noch, danach füllt man sie mit einer Kalbfleisch-Farce. Dann werden die Gurken zugedrückt und mit Faden umwunden. Jetzt muss man sie noch einmal aufkochen, in einer Fleischbrühe mit Butter. Muskat gehört daran, wenn man welchen hat, der macht den Geschmack. Das alles kocht man gar. Vor dem Anrichten wird gestoßener Zwieback dazugegeben. Das alles weiß der Wagner, obwohl er noch nie gefüllte Gurken gekocht hat. Er hat der Anna oft genug zugesehen.
Der Himmel wird dunkel, nicht alleine von der bevorstehenden Nacht. Die Wolken, schwer und dunkel. Seine Gedanken gelten jetzt seiner eigenen, kurzen Kindheit und seiner Mutter, die den früh gegangenen Vater lang überdauert hat. Er sieht sie vor sich. Wie sie kniet, erniedrigt. Den Rücken durchgebogen. Den Schurz nach oben geschoben. Weiße Üppigkeit quillt hervor. Vor ihr dieser fremde Mann mit rotem Gesicht und steif nach Leben ausgestreckten Armen, die sich die Schulter und den Kopf der Mutter krallen. Die wogenden Bewegungen der Mutter lockend, auch wenn er als Kind nicht gewusst, irgendwie geahnt hat, dass die Mutter und dieser Mann der Sünde anheim gefallen waren. Eine Ahnung, so schmerzhaft, dass alle Kraft aus ihm gewichen war. Die Mutter entweiht. Das war nicht die erquickende Liebe, von denen die Gedichte erzählten, die er in der Schule auswendig lernen musste.
Der Mann zeigt keine Scham, er scheint zu grinsen, wie er den jungen Wagner sieht. Die Augen im feuchten Gesicht halb geschlossen, stößt er komische Laute aus, als sei der Heilige Geist in ihn eingefahren.
Als wäre es vor wenigen Tagen gewesen, sieht der Wagner das Bild vor sich. Wie die Mutter mit dem Mann den Verlockungen der Wollust folgt. Sieht, wie er selbst, ein Bub, müde wie ein alter Mann, sich abwendet, stolpernd die windschiefe Treppe vor dem Haus hinabgeht, in dem er aufgewachsen ist. Wie er sich auf einmal ganz krank fühlt, der Mutter beraubt. Die Übelkeit ist eine andere, als er sie kennt. Es ist, als sei er ausgedörrt und als kämen Fieberwellen über ihn, den ungezogenen Sohn, der gesehen hat, was er nicht hätte sehen sollen. Er flüchtet sich in das Gebüsch, das einen Boden aus weichem Gras hat, das ihm ein Versteck ist, das er häufig aufsucht. Schwach wie ein von Krankheit Gezeichneter legt er sich in das Gras, das ihm plötzlich und unerwartet ein Trost ist. Es empfängt ihn, so weich. So, wie die Mutter den Fremden empfangen hat. Er legt den Kopf zurück, wie er es beim Großvater auf dem Sterbebett gesehen hatte, als dessen langes Siechen zum Ende kam mit einem letzten Seufzer, mit dem alles Leben aus ihm gefahren war.
Der Wagner, dieser von wirren Gefühlen geplagte Bub, will nie mehr aus dem weichen Gras aufstehen. Er will einschlafen, so wie der Großvater, nicht mehr schweißnass fieberträumen. Kneift die Augen zusammen, sieht Mücken vor seinem Gesicht tanzen, trunken vor Freude augenscheinlich über die Hitze des Sommertags. Krabbelndes Leben überall, während er sich dem Tode nahe fühlt. In der Nacht danach denkt er noch auf der Bettstatt unter seinem dünnen Leinen an nichts anderes. Sieht das Bild des besiegten Körpers der Mutter vor sich, ihre beschuhten Füße, das helle Fleisch der Schenkel. Fühlt, spürt, dass sie diesem Fremden die Zuwendung und Zärtlichkeit gibt, die er sich von ihr wünscht und der er nur selten anteilig wird.
Den fremden Mann hasst er, ohne ihn auch nur beim Namen zu kennen, so wie er all die anderen Männer hasst, die ihm folgen und die mit der Mutter der Lust des Fleisches frönen wie das Vieh auf der Weide. Es ist nicht schwer für den jungen Wagner, an der Aufrichtigkeit der Gefühle dieser Männer der Mutter gegenüber zu zweifeln. Zu zweifeln auch an den Gefühlen der Mutter ihm gegenüber. Sie wirkt auf ihn manchmal, als fahre der Teufel in sie. Wenn sie trinkt und mit den Fremden ihr schamloses Tun praktiziert, dann scheint sie ihn gar nicht mehr zu sehen.
Der Trübsinn füllte sein Inneres aus, so stark, dass seine Schritte vorübergehend ihr Gleichmaß verlieren. Er sieht nicht den Bussard, der lautlos und majestätisch über seinen Kopf segelt und im Nichts verschwindet. Der Weg steigt jetzt steil an und das Gewicht des Bündels auf seinem Rücken und der Tasche an seiner Seite lasten schwer wie die Dunkelheit seiner Gedanken. Es ist des Volks viel zu viel, die Hälfte sollte man gleich totschlagen. Sie ist des Futters nicht wert, weil sie schlechten Leibs ist. Die anständigen Leute sind noch auf dem Feld, solange es nicht ganz dunkel wird, und die Gestalten der Nacht verkriechen sich zu dieser späten Nachmittagsstunde noch wie sterbende Ratten und werden erst mit der Dunkelheit hervorkommen und noch viel später in den Rinnsteinen vor den Dorfgasthäusern liegen. Säufer, lichtscheues Gesindel. Sie gehören totgeschlagen. Totgeschlagen und verscharrt. Warum der Herrgott seine Hand über sie hält, er versteht es nicht. Wagners Ekel vor der Welt wird von solchen Männern befeuert.
Sein Haus in Degerloch, der Wagner wird es nicht wiedersehen. Das ist mehr als eine Ahnung. Er sieht es vor sich. Die kleine Kammer, die sich die Kinder teilen. Die große Kammer mit dem Holzofen darinnen, die Kammer mit dem Bett, in dem sein Weib neben ihm liegt, Nacht für Nacht, seit so vielen Jahren schon. Sie ist nur deshalb seine Frau geworden, weil der große Lenker aller Geschicke es so wollte. Ein Mädchen war sie fast noch, als er sie geschwängert hat. Anna, die Gastwirtstocher hier aus Mühlhausen. Hier, wo es ihm gefallen hatte, wo er nur ein wenig mehr als ein Jahr hat Lehrer sein dürfen. Wo er ein angesehenes Mitglied im Stand der Bürger war, bis er übler Nachrede zum Opfer fiel. Die Sache mit der Anna, die hat dazu geführt, dass man ihn auf die hinterste Alb verbannt hat, mitsamt der Anna und dem Kind. Der Anna hat man die Scham ersparen wollen, viel mehr aber noch dem Dorf. Nach Radelstetten hat man sie geschickt, wo man immer außer im Juli und August die warmen Sachen anziehen muss, wo der Schnee schnell kommt und lange bleibt.
Elf Jahre ist das her. In all der Zeit hat er sich vorbereitet auf das, was nun kommt. Die Stimme hat es ihm gesagt, dass er es tun muss. Die Menschen sind schlecht, sie brauchen ihre Lektion, die Erwachsenen nicht weniger als die Kinder in der Schule. Doch die Lektion, die er den Männern erteilen wird, ist eine andere. Man wird über ihn sprechen, über den Wagner, nicht nur in Mühlhausen. Die Gottlosen werden es immerhin mit Respekt tun und die braven Kirchgänger mit einer Furcht und einem Grausen. Man wird sich seiner erinnern. Vielleicht glauben die einfacheren Menschen später einmal daran, dass sein Geist zurückkehren wird.
Er weiß, was er tun wird. Von eigner Hand Sünder bestrafen. Männer, die schlecht Zeugnis gegeben haben von ihm, die gelogen haben und ihn dem Gelächter der anderen ausgesetzt. Die Ungerechtigkeit über ihn gebracht haben, als die Anna die Frucht ihrer Fehltritte nicht mehr verheimlichen konnte, weil ihr Bauch immer runder wurde. Die ihre Kinder nicht mehr von ihm unterrichten lassen wollten, weil er mitsamt der Anna das Dorf in Verruf gebracht habe. Der Sodomie bezichtigten sie ihn gar, setzten ihn übler Nachrede aus.
So viele Jahre der Wut haben aus dem Wagner einen harten Mann gemacht, der von sich selbst glaubt, immer häufiger nicht mehr bei Sinnen zu sein. Die Verdammnis wird über das Dorf und die Verderbtheit der Menschen kommen, aus dem sie ihn mit Schimpf und Schande gejagt haben.
Die Anhöhe über Mühlhausen. Er ist seit Stunden ziellos umhergestreift. Sein Ziel ist die Stunde, an der der neue Tag beginnt. Es ist nachtschwarz geworden und kälter. Mondlos, die Nacht. Seine Taschenuhr geht auf elf. Jetzt beginnt der Regen. Nicht langsam, sich aufbauend, sondern mit einer Macht, die den Menschen Angst machen kann. Wer jetzt nicht im Haus ist, der wird bös durchnässt werden. Es regnet stark, was den Wagner elend ärgert. Er will nicht, dass es regnet. Nun will er auch nicht mehr warten bis zur Mitternachtsstunde. Er prüft die beiden zehnschüssigen Selbstlader in seiner ledernen Tasche. Das Gewehr versteckt er in einem Gebüsch, es wäre ihm hinderlich bei seinem Vorhaben, wie er jetzt merkt. 200 Schuss Munition hat er, sie wiegt schwer. Der Hauptlehrer Wagner wandert ins Dorf hinab. Die Gassen menschenleer. Die Bürger im tiefen Schlaf der Selbstgerechten nach hartem Tagwerk.
Es ist, als hätte er all die vielen Jahre nur auf diesen Tag gewartet. Die vielen Jahre, in denen er sich vorbereitet hat, sich vorgestellt hat, dass er das tun würde, was er sich nun anschickt zu Ende zu bringen. Mühlhausen wird morgen nicht mehr sein, was es bis dahin war. Geübt hat er das Schießen, schon seinerzeit in Radelstetten, wo er im Wald diese Kunst vervollkommnet hat. Jetzt überquert er auf einer Brücke die Enz, die einen modrigen Geruch verströmt, wie man ihn aus den Kellern der bäuerlichen Anwesen und vom Friedhof kennt. Kein Mensch ist auf der Straße, nicht einmal der Nachtwächter, der Bopp Jakob, der dieses Amt schon innehatte, als er, der Wagner, noch ein angesehener Bürger Mühlhausens war. Der Hauptlehrer, dem man seine Kinder anvertrauen kann.
Das Vorhaben, einen Telegrafenmast zu erklettern und die Leitungen zu kappen, lässt er fahren. Eine eigenartige Kraft hat den Wagner erfasst. Er geht in eine Scheune, die am Wegesrand geduckt liegt und für eine Scheune eigentlich zu niedrig scheint. Drinnen bindet er sich ein schwarzes Tuch um, zieht es vor das Gesicht, dann befestigt er seine beiden Mauserpistolen mit Schnüren am Leib, sodass sie ihren Dienst tun können, ohne dass er sie erst aus der Tasche holen muss. Er verlässt die Scheune, geht mit seinen ausgreifenden Schritten an den südlichen Dorfrand in die Oberdorfstraße. Dort holt er sein Benzinfeuerzeug hervor, das er einst in Stuttgart erworben hat und beginnt sein Werk.
Für die braven Dörfler wird es sein, als hätte sich der Höllenschlund geöffnet, denkt sich der Wagner. Diese andere Scheune ist viel größer als die vorhin, sie ist bis unters Dach gefüllt. Die Ernte ist eingebracht. Er zündet das Heu an, als wäre das ein religiöser Akt. Er kommt sich vor wie in einer Kirche. Herr, was für ein Zunder! Bis der Erste merkt, dass es brennt, ist der Wagner schon durch die Oberdorfgasse hinauf in die Kirchgasse. Hier steht der Adler, das Haus, aus dem die Anna stammt, und in dem er zu seiner Zeit Stammgast war. Er denkt an seinen Schwiegervater, den Gastwirt Johann Konrad Schlecht. Dann geht er weiter zu der Schule, in der er früher gewirkt hat. Sie sieht noch immer aus wie vor elf Jahren. Das Flackern der brennenden Scheune erhellt mittlerweile die Nacht. Da – ein Geschrei hebt an. Der Bopp Jakob ruft das Feuer aus. Die Menschen stürzen auf die Straßen, es erfüllt den Wagner mit einer Wonne, wie er sie bisher nicht kennt. In seinen Lenden spürt er ein angenehmes Ziehen, das einhergeht mit einer wogenden Wärme, die ihm Wohlbehagen beschert.
Er kommt an der Scheune vom Geißinger vorbei, seinem früheren Freund, der als Witwer vier hungrige Mäuler zu stopfen hat. Für den Geißinger, der jetzt im Nachthemd aus dem benachbarten Bauernhaus rennt, hat der Wagner keine Gnade. Mit vier Schuss streckt er ihn nieder. Der Wagner fühlt sich, als sei er der Herrgott. Ein wohliges Stöhnen entfleucht ihm. Er rennt in die Zwerchgasse, dann in die Schlossgasse und legt an auf jeden, der ihm in den Weg kommt. Den Schäfer Widmaier erkennt er, obwohl er ihn seit elf Jahren nicht mehr gesehen hat. Beidhändig schießt der Wagner und der Widmaier haucht sein verdorbenes Leben aus. Für ein paar andere noch, Männer allesamt, wird der Wagner zum Scharfrichter. Er schießt. Und schießt. Sie fallen, wie Soldaten, die ein unsinniger Befehl in des Gegners Arme getrieben hat. Sie sterben ahnungslos, denn noch kann niemand im Dorf sich vorstellen, was hier passiert. Die, die überleben, werden später Fragen stellen.
Ihn wird man nicht mehr fragen können. Am Galgen wird er nicht hängen, auch wenn er weiß, dass der Strick noch das Beste wäre, das auf ihn wartet. Er muss nachladen, duckt sich hinter einen Zaun, der von braunem Gebüsch überwuchert ist. Ein Mann rennt auf ihn zu, rechtzeitig bringt der Wagner die Pistole wieder in Anschlag. Er drückt ab. Zweimal. Dreimal. Der Mann brüllt wie eine kalbende Kuh, fällt in den vom Regen aufgeweichten Boden. Herrje, durchfährt es den Wagner, welche Allmacht! Er ist so klar im Kopf, wie ein Mann nur sein kann, denkt er und wundert sich. Geschickt wie ein flinker Junge schlägt er sich in die Büsche, entkommt den immer größer an der Zahl werdenden Häschern. Sie werden ihn nicht bekommen. Nicht so schnell. Durch Obstgärten gelangt er zurück zum Schulhaus. Er kennt sich aus und alles scheint noch so zu sein wie damals. Der Gang der Welt hat Mühlhausen seit über einem Jahrzehnt unberührt gelassen.
Immer mehr bleiben auf der Strecke, getroffen, dem Leben entrissen oder verletzt. Wie von Sinnen schießt der Wagner um sich. Er ist von Sinnen. Rennend bewegt er sich zurück in die Oberdorfgasse, die Ledertasche klatscht bei jeder Bewegung hart gegen seine Seite. Seine Pistolen sind leergeschossen. Die Waffen verheddern sich in den Schnüren. Er sieht zwei Männer auf sich zukommen, den Polizeibüttel und einen, den er nicht kennt. Ihre Erbitterung macht ihnen die Hände stark. Der Büttel schlägt mit einem Säbel zu, der andere führt einen mehrzinkigen Karst gegen ihn.
Er wird sterben, spürt der Wagner. Schon die ganze Zeit hat er es gewusst, seit er den Massenmord geplant hat. Jahre, in denen er im Wald das Schießen geübt hat. Jahre, in denen er mit einer Regelmäßigkeit nach Mühlhausen gereist ist, um zu schauen, ob sich etwas verändert hat, und um seinen Hass auf das Dorf und die Menschen, die ihm übel nachgeredet haben, aufrechtzuerhalten. Jeder Besuch hat ihn in seinem Vorhaben gestärkt, das zu tun, was er tun muss.
Bevor ihn der Schmerz gnädig betäubt, kommt ihm noch einmal seine Familie in den Sinn. Da war so viel Blut.
Anna, seine Frau.
Richard. Robert. Elsa. Klara. Seine Kinder. Gute Kinder. Tote Kinder.
Er hat sie getötet. Mit dem Dolch. Sie sollen nicht der Schande des Weiterlebens anheimfallen. Der Schande, die Familie des Todbringers zu sein.
Er selbst wird sterben. In eben dieser Minute.
Der Teufel hat sich seiner Seel’ schon lange bemächtigt.
Jetzt holt er sich den Rest.
(Ernst August Wagner hat überlebt. Er fiel nicht einmal dem Galgen zum Opfer, da er als hochinteressantes Forschungsobjekt für die Psychiatrie galt. Er starb 1938 an Tuberkulose. Die vorliegende Geschichte basiert auf Fakten, lässt zugleich der Fantasie des Autors freien Lauf. Sie ist eng an die Lebensgeschichte des Ernst August Wagner angelehnt, der im September 1913 in Stuttgart-Degerloch seine Frau und seine vier Kinder ermordet und später in Mühlhausen an der Enz vier Häuser niedergebrannt, neun Menschen erschossen und viele verletzt hatte. Wagner gilt als erster deutscher Amokläufer.)
Zutaten:
4 große Gurken
150 g Kalbsschulter, ausgebeint
150 ml Schlagsahne 35%
35 g Toastbrot (ohne Kruste)
1 Ei
1 Schalotte, etwas Petersilie, fein gehackt
Salz, Pfeffer, Muskat
Zubereitung:
Man schält die Gurken, schneidet sie der Länge nach ein, nimmt das Kernhaus mit einem Löffel heraus und lässt sie in gesalzenem Wasser mit Essig kurz aufkochen. Anschließend lässt man sie abtrocknen und füllt sie mit der Kalbfleisch-Farce. Dann werden die Gurken zugedrückt, mit einem Faden zugebunden und in Fleischbrühe und Butter, mit Muskat gewürzt, etwa eine Stunde lang gekocht, je nach Größe der Gurken.
Zubereitung der Kalbfleischfarce: Man schneidet das Fleisch und das Brot in kleine Würfel, vermischt es mit der Sahne, den Eiern und Gewürzen, püriert es mit ein paar Eiswürfeln im Mixer oder Fleischwolf und gibt es dann durch ein möglichst engmaschiges Sieb. Nach diesem Rezept lassen sich auch andere Farcen herstellen, beispielsweise mit Huhn, Lamm, Ente oder Wild. Vegetarier können statt des Fleisches auch Saitan, Lupinen oder Pilze verwenden.