Der Pfälzer Al Capone

Die Geschichte des Bernhard Kimmel - Ein biografischer Roman

Michail Krausnick


ISBN: 978-3-95428-654-6
1. Auflage 2016
© 2016 Wellhöfer Verlag, Mannheim

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Titelgestaltung: Karsten Bittner, Bittner Dokumedia, Hoisdorf, unter Verwendung eines Fotos von Günter Havlena
Lektorat: Nicole Fieber, Ulrich Wellhöfer, Luisa Möllerhenn

Die vorliegende Auflage folgt der Erstausgabe, erschienen unter dem Titel: »Al Capone im Deutschen Wald«, edition durchblick, Neckargemünd, 1999.
Das vorliegende Buch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig.

Inhalt

Der Tatsachenroman stützt sich auf die Akten und Urteile der Gerichte in Frankenthal und Darmstadt, Polizei- und Presseberichte. Vor allem aber auf die über dreißigjährige Bekanntschaft des Autors mit Bernhard Kimmel und dessen eigene Aufzeichnungen. Hinzu kommen über 4000 Briefe, Besuche der Gerichtsverhand­lungen, im Gefängnis, Gespräche mit Anwälten und Polizisten, Justizbeamten, Gerichtsgutachtern, Gefängnisdirektoren, Bewährungshelfern, Mitgefangenen und Zeitzeugen aus dem privaten Umfeld.

Aus der langjährigen Recherche entstand ein Zeit- und Persönlich­keitsbild, das die subjektive Nähe nicht scheut, den Tatsachen verpflichtet bleibt, ohne oberflächliche Objektivität vorzugaukeln. Am Ende des Romans wird sich der Leser selbst sein Urteil bilden können.

Kapitel 1

MONTAG, 22. JUNI 1970. Zwi­schen ­Neu­­stadt und Lambrecht schlän­gelt sich der Trieb­wagen mit dem Fluss durch das Tal. Im Abteil sitzen und stehen Schü­lerinnen und Schü­ler. Auf der Heim­fahrt vom Gymnasi­um und von der Berufsschule. Den Reisenden mit dem abgewetzten Koffer bemerken sie kaum. Ob­wohl der 35-Jäh­rige sie unablässig beobachtet und mit einer geradezu kind­lichen Neu­gier um sich schaut. Als wäre die Welt neugeboren und eigens für ihn erschaffen.

Die Jungens haben die Schulmappen zwischen die Beine geklemmt. Haut­enge Jeans, die an den Füßen aus­schlagen. Sie rauchen, rempeln, lachen und ihre Stimmen haben einen män­nernden Klang. Die Haare verdecken die Ohren und wuscheln über den Kra­genrand. Einer trägt es sogar schulterlang. Ab und zu ein paar Blicke zu den Mädchen. Die tu­scheln, kichern und blicken verstohlen zurück. Wie immer um diese Zeit.

Gesprächsfetzen erreichen ihn: Mexiko, Seeler, Müller. Na also, da könn­te er mitreden, das weiß auch er: Deutsch­land ist gestern doch noch Dritter bei der WM geworden. Gegen Uruguay. 1:0.

Der Reisende hat den Kopf zurückgelehnt. Tatsächlich, die Scham ist vorbei. Nicht nur in den Illustrierten. Auch hier tragen die Mädchen diese neuen kurzen Röcke und zeigen die Schen­kel. Keine BHs und fast schon durchsichtige Blusen. Verrückt. Sogar die Brust­warzen kann man erkennen. Ihm gefallen die neuen Frei­heiten. Seine Großmutter wäre be­stimmt im Boden versunken. Ein Mäd­chen mit langen Haa­ren macht eine Kau­gummiblase, schaut ihn frech an und lässt sie knal­len. Ob sie die Pille nimmt? Oder Ha­schisch? Er guckt ein wenig zu lang. Die Schwarz­haarige grinst: „Ist was?“

Plötzlich sind alle Blicke auf ihn gerichtet. Als wäre er ei­n Mars­mensch. Verlegen schüttelt er den Kopf, versucht ein
Lä­cheln.

Für ein Weilchen schließt er die Augen. Er muss an Paul denken, sei­nen Zellennachbarn, den höflichen und immer
ordentlich gescheitelten Paul, den sie kastriert hatten. Auf
eigenen Wunsch. Weil er mit seiner Sexualität nicht umgehen konn­te. Und achtmal zu oft diesen unheilvol­len Trieb gehabt hatte. Wenn einer wie Paul diese Mäd­chenschenkel sähe, würde es bestimmt gleich über ihn kommen. Das böse Tier, wie er es nann­te, der große Druck, der ihn immer so quälte. Doch dann war er gestorben. Wenige Tage nach dem Eingriff. Man solle es als ein Gottes­urteil verstehen, hatte der Pfarrer gemeint, nachdem sie ihn in die Kiste gelegt hat­ten. Von allen Mördern war er, den sie den Würger nann­ten, der freundlichste gewesen.

Die Gleise verzweigen sich. Schwellenge­räusche, Wei­chen, die ihm vertraut sind. Wie lange hatte er sich danach ge­sehnt, wie oft die Fahrt vorausgeträumt. Automatisch steht er auf, nimmt den Kof­fer, geht zur Tür. Nicht öffnen, bevor der Zug hält! steht noch immer neben dem roten Hebel auf dem Schild. Das Mädchen mit der durch­sichtigen Bluse drängt an ihm vorbei. Ihre Brust streift seinen Arm. Sie hat es eiliger als er.

Lambrecht. Noch immer schmutziggrau vom Qualm der Fabriken. Die Kleinstadt, das Tal, in dem er sich eingeengt fühlte. Und das er liebte, wenn er es vom Berg aus unter sich liegen sah.

Keiner von den fünftausend Einwohnern holt ihn ab. Kein Vater, keine Mutter, kein Freund, keine Geliebte. Kei­ner küsst ihn, keiner prü­gelt ihn. Kein Volkszorn, der ihn lynchen will. Keine Polizei, keine Re­porter. Er stellt den Koffer auf den Boden. Alles, was er besitzt, ist darin: ein zweites Paar Strümp­fe, eine Garnitur Unterwäsche, ein Arbeitsanzug, ein paar Ar­beitsschuhe und das Gebetbuch, das ihm der Pfarrer mit auf den Weg gab. Er zieht den Man­tel aus, legt ihn über den Arm, rückt den Schlips zu­recht, schaut sich um. Ob ihn vielleicht doch jemand beob­achtet? Ver­steckt? Aus der Ferne vielleicht? Seine Ankunft müssten sie per Fern­schreiber durch­gegeben haben.

Der Zug ist weitergefahren, die Schüler haben sich verlaufen, sind an die Mittagstische geeilt. Er allein ist zurück­geblieben, in der Glut­hitze des Mittags.

Er lässt sich Zeit, steckt sich eine Zigarette an, betrachtet die Fas­sade des Bahnhofs. Hier hatte die Mutter Wochen­ende für Wochen­ende ge­standen, in dem schwarzen Kostüm, das der Vater über Jahr­zehnte hin­weg hochelegant ge­nannt hatte. Stumm, unaufdringlich, die Zeit­schrift, die kaum einer haben woll­te, in der erhobenen Hand. DER ­WACH­TURM. Stun­denlang konn­te sie so stehen. Er aber hatte sich ge­schämt, weil seine Mitschüler über sie lachten, den Mund verzogen oder sie be­mitleideten. Und einmal, als er mit zwei Freunden aus Kai­serslautern vom Fußball zu­rückkam, hatte er einen großen Bogen um sie gemacht und getan, als würde er sie nicht ken­nen.

Er weiß, dass er unpassend aussieht. Nicht zeitgemäß. Nie­mand läuft so rum, schon gar nicht an einem Montag, mit Krawatte, einem alten Sonntagsanzug und viel zu kurzen Hosenbeinen. Das Nyltest-Hemd ist noch immer bügelfrei. Auch das kurzgeschorene Haar, aus dem die Oh­ren weg stehen, passt nicht. Zu einem Gastarbeiter vielleicht. Aber, ver­dammt noch mal, er ist kein Fremder. Ihr kennt mich doch alle, möch­te er schrei­en. Ich bin wieder da! Das ist doch auch meine Stadt! Aber nicht einmal der Taxifahrer, der in seinem alten Mercedes-Diesel auf Kundschaft wartet, blickt hinter seiner Zeitung hervor.

Auf dem abgebröckelten Putz finden sich neue Bot­schaften: AMIS RAUS AUS VIETNAM! und PEACE. Da­runter der Saum aus rotem Sands­tein, von Hun­den bepisst und bekackt. Gar nicht so lange her, dass hier Jack und Mike standen, seine Freunde, die Cigarettes, Whis­ky und den Frieden nach Lambrecht ge­bracht hatten. Sie lachten, rauch­ten und schäkerten mit ihren Frauleins, wäh­rend andere auf die fortgeworfe­nen Kippen lauerten. Und hier hatten auch sie damals gestanden: die Russenfrauen und das Mäd­chen, das ihm zum Abschied schnell noch etwas in die Hand drück­te, genau hier, in der
Nische unter dem unge­lenk aufge­sprühten MAKE LOVE, NOT WAR!

Natascha. Die Liebe war mittlerweile erloschen – aber diesen Platz lieb­te er immer noch.