ISBN: 978-3-95428-654-6
1. Auflage 2016
© 2016 Wellhöfer Verlag, Mannheim
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Titelgestaltung: Karsten Bittner, Bittner Dokumedia, Hoisdorf, unter Verwendung eines Fotos von Günter Havlena
Lektorat: Nicole Fieber, Ulrich Wellhöfer, Luisa Möllerhenn
Die vorliegende Auflage folgt der Erstausgabe, erschienen unter dem Titel: »Al Capone im Deutschen Wald«, edition durchblick, Neckargemünd, 1999.
Das vorliegende Buch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig.
Der Tatsachenroman stützt sich auf die Akten und Urteile der Gerichte in Frankenthal und Darmstadt, Polizei- und Presseberichte. Vor allem aber auf die über dreißigjährige Bekanntschaft des Autors mit Bernhard Kimmel und dessen eigene Aufzeichnungen. Hinzu kommen über 4000 Briefe, Besuche der Gerichtsverhandlungen, im Gefängnis, Gespräche mit Anwälten und Polizisten, Justizbeamten, Gerichtsgutachtern, Gefängnisdirektoren, Bewährungshelfern, Mitgefangenen und Zeitzeugen aus dem privaten Umfeld.
Aus der langjährigen Recherche entstand ein Zeit- und Persönlichkeitsbild, das die subjektive Nähe nicht scheut, den Tatsachen verpflichtet bleibt, ohne oberflächliche Objektivität vorzugaukeln. Am Ende des Romans wird sich der Leser selbst sein Urteil bilden können.
MONTAG, 22. JUNI 1970. Zwischen Neustadt und Lambrecht schlängelt sich der Triebwagen mit dem Fluss durch das Tal. Im Abteil sitzen und stehen Schülerinnen und Schüler. Auf der Heimfahrt vom Gymnasium und von der Berufsschule. Den Reisenden mit dem abgewetzten Koffer bemerken sie kaum. Obwohl der 35-Jährige sie unablässig beobachtet und mit einer geradezu kindlichen Neugier um sich schaut. Als wäre die Welt neugeboren und eigens für ihn erschaffen.
Die Jungens haben die Schulmappen zwischen die Beine geklemmt. Hautenge Jeans, die an den Füßen ausschlagen. Sie rauchen, rempeln, lachen und ihre Stimmen haben einen männernden Klang. Die Haare verdecken die Ohren und wuscheln über den Kragenrand. Einer trägt es sogar schulterlang. Ab und zu ein paar Blicke zu den Mädchen. Die tuscheln, kichern und blicken verstohlen zurück. Wie immer um diese Zeit.
Gesprächsfetzen erreichen ihn: Mexiko, Seeler, Müller. Na also, da könnte er mitreden, das weiß auch er: Deutschland ist gestern doch noch Dritter bei der WM geworden. Gegen Uruguay. 1:0.
Der Reisende hat den Kopf zurückgelehnt. Tatsächlich, die Scham ist vorbei. Nicht nur in den Illustrierten. Auch hier tragen die Mädchen diese neuen kurzen Röcke und zeigen die Schenkel. Keine BHs und fast schon durchsichtige Blusen. Verrückt. Sogar die Brustwarzen kann man erkennen. Ihm gefallen die neuen Freiheiten. Seine Großmutter wäre bestimmt im Boden versunken. Ein Mädchen mit langen Haaren macht eine Kaugummiblase, schaut ihn frech an und lässt sie knallen. Ob sie die Pille nimmt? Oder Haschisch? Er guckt ein wenig zu lang. Die Schwarzhaarige grinst: „Ist was?“
Plötzlich sind alle Blicke auf ihn gerichtet. Als wäre er ein Marsmensch. Verlegen schüttelt er den Kopf, versucht ein
Lächeln.
Für ein Weilchen schließt er die Augen. Er muss an Paul denken, seinen Zellennachbarn, den höflichen und immer
ordentlich gescheitelten Paul, den sie kastriert hatten. Auf
eigenen Wunsch. Weil er mit seiner Sexualität nicht umgehen konnte. Und achtmal zu oft diesen unheilvollen Trieb gehabt hatte. Wenn einer wie Paul diese Mädchenschenkel sähe, würde es bestimmt gleich über ihn kommen. Das böse Tier, wie er es nannte, der große Druck, der ihn immer so quälte. Doch dann war er gestorben. Wenige Tage nach dem Eingriff. Man solle es als ein Gottesurteil verstehen, hatte der Pfarrer gemeint, nachdem sie ihn in die Kiste gelegt hatten. Von allen Mördern war er, den sie den Würger nannten, der freundlichste gewesen.
Die Gleise verzweigen sich. Schwellengeräusche, Weichen, die ihm vertraut sind. Wie lange hatte er sich danach gesehnt, wie oft die Fahrt vorausgeträumt. Automatisch steht er auf, nimmt den Koffer, geht zur Tür. Nicht öffnen, bevor der Zug hält! steht noch immer neben dem roten Hebel auf dem Schild. Das Mädchen mit der durchsichtigen Bluse drängt an ihm vorbei. Ihre Brust streift seinen Arm. Sie hat es eiliger als er.
Lambrecht. Noch immer schmutziggrau vom Qualm der Fabriken. Die Kleinstadt, das Tal, in dem er sich eingeengt fühlte. Und das er liebte, wenn er es vom Berg aus unter sich liegen sah.
Keiner von den fünftausend Einwohnern holt ihn ab. Kein Vater, keine Mutter, kein Freund, keine Geliebte. Keiner küsst ihn, keiner prügelt ihn. Kein Volkszorn, der ihn lynchen will. Keine Polizei, keine Reporter. Er stellt den Koffer auf den Boden. Alles, was er besitzt, ist darin: ein zweites Paar Strümpfe, eine Garnitur Unterwäsche, ein Arbeitsanzug, ein paar Arbeitsschuhe und das Gebetbuch, das ihm der Pfarrer mit auf den Weg gab. Er zieht den Mantel aus, legt ihn über den Arm, rückt den Schlips zurecht, schaut sich um. Ob ihn vielleicht doch jemand beobachtet? Versteckt? Aus der Ferne vielleicht? Seine Ankunft müssten sie per Fernschreiber durchgegeben haben.
Der Zug ist weitergefahren, die Schüler haben sich verlaufen, sind an die Mittagstische geeilt. Er allein ist zurückgeblieben, in der Gluthitze des Mittags.
Er lässt sich Zeit, steckt sich eine Zigarette an, betrachtet die Fassade des Bahnhofs. Hier hatte die Mutter Wochenende für Wochenende gestanden, in dem schwarzen Kostüm, das der Vater über Jahrzehnte hinweg hochelegant genannt hatte. Stumm, unaufdringlich, die Zeitschrift, die kaum einer haben wollte, in der erhobenen Hand. DER WACHTURM. Stundenlang konnte sie so stehen. Er aber hatte sich geschämt, weil seine Mitschüler über sie lachten, den Mund verzogen oder sie bemitleideten. Und einmal, als er mit zwei Freunden aus Kaiserslautern vom Fußball zurückkam, hatte er einen großen Bogen um sie gemacht und getan, als würde er sie nicht kennen.
Er weiß, dass er unpassend aussieht. Nicht zeitgemäß. Niemand läuft so rum, schon gar nicht an einem Montag, mit Krawatte, einem alten Sonntagsanzug und viel zu kurzen Hosenbeinen. Das Nyltest-Hemd ist noch immer bügelfrei. Auch das kurzgeschorene Haar, aus dem die Ohren weg stehen, passt nicht. Zu einem Gastarbeiter vielleicht. Aber, verdammt noch mal, er ist kein Fremder. Ihr kennt mich doch alle, möchte er schreien. Ich bin wieder da! Das ist doch auch meine Stadt! Aber nicht einmal der Taxifahrer, der in seinem alten Mercedes-Diesel auf Kundschaft wartet, blickt hinter seiner Zeitung hervor.
Auf dem abgebröckelten Putz finden sich neue Botschaften: AMIS RAUS AUS VIETNAM! und PEACE. Darunter der Saum aus rotem Sandstein, von Hunden bepisst und bekackt. Gar nicht so lange her, dass hier Jack und Mike standen, seine Freunde, die Cigarettes, Whisky und den Frieden nach Lambrecht gebracht hatten. Sie lachten, rauchten und schäkerten mit ihren Frauleins, während andere auf die fortgeworfenen Kippen lauerten. Und hier hatten auch sie damals gestanden: die Russenfrauen und das Mädchen, das ihm zum Abschied schnell noch etwas in die Hand drückte, genau hier, in der
Nische unter dem ungelenk aufgesprühten MAKE LOVE, NOT WAR!
Natascha. Die Liebe war mittlerweile erloschen – aber diesen Platz liebte er immer noch.