Ulrike Blatter
Vor dem Erben
kommt das Sterben
Roman
Für Marianne,
die es gern noch erlebt hätte.
Extra Coloniam nulla vita;
si est vita, non est ita.
Ulrike Blatter, geboren im Mai. Wann sonst? In Köln. Wo sonst? Danach viel herumgekommen. Als Ärztin in der Rechtsmedizin sammelte sie Themen für ihre Krimis, in der Sozialpsychiatrie lernte sie Menschen mit originellen Biographien nicht nur kennen, sondern auch lieben. Heute lebt sie im südbadischen Exil, wo sie ihre große Liebe fand. Es zieht sie aber immer wieder zurück ins Rheinland. Da geht es ihr nicht anders als Blanche, der Protagonistin dieses Romans. Mehr Informationen unter: www.ulrike-blatter.de oder auf facebook.
Dies ist ein Roman; Handlungen und Personen sind frei erfunden. Steffi und Karl-Hermann Bluhme sowie Dr. Mark Benecke, die in diesem Buch „auftreten“, sind zwar reale Personen, ihre jeweiligen Handlungen und Zitate in diesem Buch sind aber ebenfalls frei erfunden. Die entsprechenden Textpassagen wurden von ihnen autorisiert. Kevin K. (17) und Khalil G. (23) kamen auf tragische Weise beim Archiveinsturz ums Leben. Sie werden unter ihren echten Namen erwähnt, Lebensumstände sowie die Umstände ihres Todes beruhen auf einer Presserecherche, alle weiteren Details sind frei erfunden. Sollten dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen bestehen, ist dies unbeabsichtigt und reiner Zufall. Weitere Angaben zur Recherche finden sich im Anhang.
Vorwort
von Franz Meurer *
Im Mittelpunkt dieses Buches steht das Severinsviertel. Und trotzdem spielt auch die Schäl Sick, also die andere Rheinseite, eine wichtige Rolle. Ich darf ja hier im Vorwort nichts verraten, aber das fällt mir schwer. Deshalb erzähle ich Ihnen jetzt lieber etwas über unser recht armes Viertel Köln-Vingst: „Dort beginnt Sibirien“, soll Konrad Adenauer gesagt haben. Und auch heute noch liegt die Überschuldungsquote an der Spitze der Veedel in Köln. Doch wir halten zusammen. Das sind nicht nur leere Worte, sondern ein gelebtes Miteinander.
Die Autorin dieses Buches wurde in der Südstadt geboren und zog mit sieben Jahren nach Vingst. Damals hatten die Arbeiter noch reichlich Geld in der Tasche und der Kaufhof in unserem Bezirk war die umsatzstärkste Filiale in Deutschland. Diese Zeiten sind längst vorbei. Im Jahr 2012 schloss nach 83 Jahren der Kaufhof seine Türen für immer. Und so, wie in diesem Buch der Niedergang des Severinsviertels protokolliert wird, erging es auch uns auf der Schäl Sick: Nach und nach fielen 70 000 Arbeitsplätze weg. Schritt für Schritt wurde aus dem Wohngebiet stolzer Industriearbeiter ein Stadtteil mit „Erneuerungsbedarf“, wie es so schön im Behördendeutsch heißt.
Aber Bangemachen gilt nicht! Denn auf den Niedergang folgt bürgerschaftliches Engagement. Deshalb ist Ulrike Blatters Buch auch keine Lektüre für Depressive. Ich kann nur für Köln-Vingst sprechen, aber wir machen unser Stadtviertel schön. Wir verhindern „broken windows“ und pflanzen Blumen. Ehrenamtliche und Arbeitslose mähen täglich das „Straßenbegleitgrün“ (auch so eine unsägliche Behörden-Wortschöpfung!). Dies alles tun wir und noch viel mehr, aber vor allem eins: Wir machen den Menschen Mut und geben ihnen die Selbstachtung zurück!
Für uns Vingster ist es wunderbar, dass unser Veedel in diesem Buch vorkommt. Auch die Kölner Südstadt war einmal ein Veedel der kleinen Leute. Jetzt wohnen dort vor allem die Intellektuellen und Etablierten. Dort kann man beobachten, was passiert, wenn Wohnraum für die Normalos unbezahlbar wird. Bei uns auf der Schäl Sick gibt es noch Wohneigentum für 1 000 Euro pro Quadratmeter. Wer also reich werden will: Herzliche Einladung zur Investition in Köln-Vingst!
Nach Lektüre des Buches natürlich.
* Pfarrer Franz Meurer, auch genannt Don Camillo von Köln, ist der Pfarrer der Armen und gilt als kölscher Franziskus. Der Stadtteilpfarrer für Köln-Höhenberg und Vingst, „Erzbischof der Herzen“ (Kölner Express), lehnte es 2014 ab, sich für die Nachfolge von Kardinal Meissner nominieren zu lassen.
Das Kölsche Grundgesetz
§ 1
Et es, wie et es: Sieh den Tatsachen ins Auge.
§ 2
Et kütt, wie et kütt: Habe keine Angst vor der Zukunft.
§ 3
Et hätt noch immer jot jejange: Lerne aus der Vergangenheit.
§ 4
Wat fott es, es fott: Jammere den Dingen nicht nach.
§ 5
Nix bliev, wie et wor: Sei offen für Neuerungen.
§ 6
Kenne mer nit, bruche mer nit, fott domet: Sei kritisch, wenn Neuerungen überhand nehmen.
§ 7
Wat wellste maache? Füge dich in dein Schicksal.
§ 8
Mach et jot, ävver nit ze off: Achte auf deine Gesundheit.
§ 9
Wat soll dä Quatsch? Stelle immer erst die Universalfrage.
§ 10
Drinkste ene met? Komme dem Gebot der Gastfreundschaft nach.
§ 11
Do laachste dech kapott:
Bewahre dir eine gesunde Einstellung zum Humor.
Prolog
3. März 2009
In dem Moment, als das Kölner Stadtarchiv einstürzte, stand Blanches Herz bereits seit einigen Sekunden still. Vielleicht hatte sie das Grollen gerade eben noch wahrgenommen. Diesen unterirdischen Pulsschlag, der wie ein Erdbeben durch das ganze Stadtviertel fuhr. Aber als der Putz von der Badezimmerdecke rieselte, war ihr Kopf schon nach vorne gesunken und Blanches Gesicht trug den Ausdruck dümmlicher Überraschung. Wie bei einer, die aus dem Halbschlaf geweckt wurde und nicht recht weiß, wo sie sich befindet, schienen ihre halb offenen Augen den knallorangenen Fön zu betrachten, der sich zwischen ihren bleichen, sommersprossigen Unterschenkeln auf dem Wannenboden drehte. Wie ein übergroßes Insekt mit trägem Flügelschlag setzte er das Wasser in Bewegung. Um und um rührte er das Fichtennadelgrün, das sich immer weiter erhitzen und schließlich auch die Farbe verändern würde. Und auch mit dem Duft nach frischem Wald wäre es dann bald schon vorbei.
Ob Blanche das Augenpaar erkannt hatte? Diesen Blick, der auf ihr ruhte, wenige Sekunden bevor der Fön ins Wasser fiel? Diese weit geöffneten Augen, trügerisch klar; man meint, durch sie hindurchzusehen bis auf den tiefsten Grund einer einsamen Seele. Aber ist nicht alles, was wir zu sehen meinen, eine Täuschung? Jedenfalls wird Blanche viel Zeit haben, über die ganze Angelegenheit gründlich nachzudenken. Solche Seelen wie ihre wandern lange. Ich weiß es genau. Mein Name ist Cleo. Ich bin über zweitausend Jahre alt. Ich lese die geheimsten Gedanken und durchschaue Menschen bis in den letzten Winkel ihrer Seele.
Ich spreche jedoch nicht mit jedem. Und nicht jeder, mit dem ich spreche, versteht mich.
Ein Schlag unten im Keller. Es wird dunkel. Der Fön surrt nicht mehr. Das Wasser kommt zur Ruhe. Draußen zuckt Blaulicht. An- und abschwellendes Sirenengeheul. Aber sie fahren an unserem Haus vorbei.
Mein Name ist Cleo. Ich bin die Beobachterin.