Im Anhang finden Sie sämtliche Begriffe, die im Lauf des ›Menschliche-Regungen‹-Projekts mit Leben gefüllt werden sollen. Alle Begriffe, die in diesem Band eine Geschichte bekamen, wurden gefettet.
In der Silvesternacht des Jahres 2000 hatte Hubert Brechbühl vor, früh schlafen zu gehen. Ein Jahr zuvor, in der Nacht des großen Zahlensprungs, hatte er dem Datumswechsel noch regelrecht entgegengefiebert, mit gemischten Gefühlen und gut ausgerüstet mit Kerzen, Thermodecke und haltbaren Lebensmitteln für vier Wochen. Die Badewanne, Töpfe und Krüge hatte er mit Wasser gefüllt. Dann hatte er den gefütterten Anorak angezogen, in dessen Innentaschen er bereits – verteilt auf mehrere Briefumschläge – sein kleines Vermögen verstaut hatte, das er sich zwei Tage zuvor in der Post am Limmatplatz hatte auszahlen lassen. In die Außentaschen hatte er ein Klappmesser, ein Feuerzeug, einen Flachmann mit Enzian und eine kurbelbetriebene Taschenlampe gesteckt. Er war in die Moonboots geschlüpft (und wie dankbar war er nun, dass er vor dreißig Jahren nicht nachgegeben hatte, als seine Mutter, die ihm beim Umzug half, sie der Caritas hatte schenken wollen), dann hatte er sich eine letzte Kanne schön heißen Kaffee gekocht, eine Kerze angezündet und schwitzend vor dem Fernseher darauf gewartet, dass mit dem Datumswechsel die komplexe Technik, auf der das westliche System beruhte, und damit das gesamte Abendland zusammenbrach.
Als Mitternacht nahte, hatte seine Aufregung sich nochmals gesteigert, zweimal musste er aufs Klo, auch ein Butterbrot musste noch geschmiert sein, denn wer konnte schon sagen, was geschehen würde und wann er wieder zum Essen kam. Doch immer rannte er gleich wieder vor den Bildschirm, in dem eine feuchtfröhliche Festgesellschaft schlagersingend blindlings ihrem Untergang entgegenfeierte. Er eilte nicht, weil er etwas zu verpassen fürchtete, er wollte nur so lange als möglich unter Menschen sein. Denn das Leben nach dem Millennium-Crash malte er sich als einsame Sache aus, zumal ganz offensichtlich kaum jemand gerüstet war wie er, und so schätzte er, dass sich die Menschheit innerhalb weniger Wochen halbieren würde.
Die Kirche gegenüber läutete das Jahr aus wie stets, dann trat die »Stille zwischen den Jahren« ein, und Hubert öffnete das Fenster, um die Glockenschläge danach nicht zu verpassen. Die Festgesellschaft im Fernseher hatte sich ebenfalls erhoben und zählte im Chor die Sekunden ab, dann war das neue Jahr da.
Und nichts geschah. Die Stromversorgung blieb erhalten, das Fernsehen war weiter auf Sendung, und mit etwas Verspätung schlug auch die Glocke der Sankt-Josefs-Kirche. Kein Hochwasser-, Strahlungs- oder Brandalarm erklang, es gab kein Großaufgebot von Feuerwehr- und Notfallwagen. Nur einige Raketen knallten, und zwei Familien mit halbwüchsigen Kindern traten aus dem Nachbarshaus und zündeten auf dem Trottoir Vulkane. Weil er nicht wusste, was sie noch alles zünden würden, schloss er zur Sicherheit das Fenster wieder. Von der Straße her riefen sie ihm Neujahrswünsche zu. Nein, nicht Neujahrswünsche, sie wünschten ihm ein fröhliches Jahrtausend – Als gehörte es nicht zur allgemeinen Bildung, dass das neue Jahrtausend erst in einem Jahr begann.
Eine halbe Stunde hatte er darauf gewartet, dass der Crash sich noch einstellte, dann hatte er Anorak und Moonboots wieder ausgezogen und sich bettfertig gemacht. Er hatte sich geärgert, dass er so viel Kaffee getrunken hatte, denn er hatte kaum Schlaf gefunden, und obwohl er sich vor der Zeit nach dem allgemeinen Zusammenbruch gefürchtet hatte, war er unzufrieden wieder aufgewacht.
Das wollte er im Jahr darauf vermeiden und beschloss, den Jahres- und Jahrtausendwechsel schlicht zu ignorieren. Das war nicht einfach, denn im Lauf des Jahres hatte er sich einer Clique angeschlossen, die stets donnerstags im »Schwänli« Schieber jasste und dort auch gemeinsam »rüberfeiern« wollte. Dazu hatte er nun gar keine Lust und hatte unbedacht behauptet, seine Nichte in Wattwil habe ihn zu sich eingeladen. Nun fürchtete er, dass die aus dem »Schwänli« vorbeischauten, um zu sehen, ob er die Wahrheit gesagt hatte, es waren ja nur hundert Meter. Oder Paul oder Ahmet nahmen den Weg vom Tram zum »Schwänli« durch die Röntgenstrasse. Deshalb saß er den ganzen Silvesterabend beim Licht einer einzelnen Kerze (so konnte er wenigstens endlich seinen Vorrat reduzieren) und traute sich auch nicht, den Fernseher einzuschalten. Dabei hatte er sich so sehr auf die Sportrückschau gefreut. Insbesondere hätte er nur zu gern nochmals gesehen, wie bei der WM die Eishockey-Nati Russland weggeputzt hatte. So saß er in der Stille und hörte alle möglichen Geräusche im Haus: einen Fernsehsender wohl griechischer Sprache, zwei machten Liebe, mindestens zwei, und einmal hörte er sogar das kleine Mädchen aus dem vierten Stock kreischen. Auch nebenan in der früheren Hausmeisterwohnung, die nur noch interimistisch, in Notfällen vermietet wurde, weil eine vom Gartenbauamt für schützenswert erklärte Föhre sie von Jahr zu Jahr finsterer machte, lachte, sang und prostete eine äußerst vergnügte Gruppe Menschen, die offenbar nicht wusste, wie dünn die Wände waren. Nur direkt über ihm war es still wie meist, seit der Sportstudent ausgezogen war, und Hubert dachte, dass er das gemütliche Surren und Knarren seiner Rudermaschine vermisste.
Um zehn Uhr ging er zu Bett, blieb aber lange wach liegen. Erst kurz vor Mitternacht – als er sich eben zu einem Spaziergang durchs Quartier hatte aufraffen wollen, um sich »müde zu laufen«, wie er es bei sich nannte, und um heimlich seine Clique feiern zu sehen – schlief er ein. Und so geriet sein Jahreswechsel noch unerwartet heiter. Denn Hubert Brechbühl träumte nicht nur – er träumte fast nie –, es war zudem ein Traum mit Folgen.
Er träumte sich als Pianisten, und als bedeutenden, mit Frack und Orden. Er spielte als Solist in der Zürcher Oper, begleitet von großem Orchester, eine Fantasie von Grieg (seine Mutter hatte Grieg geliebt). Und zwar nicht auf einem Flügel, sondern auf dem altmodischen Hochklavier, das vierzig Jahre zuvor im Probelokal der Blasmusik in seiner Militärkaserne gestanden hatte. Dieses Hochklavier wiederum war vernetzt mit einem System mannshoher Spiegel, die er durch die Art, wie er die Tasten schlug, bewegen konnte. So konnte er – und das war seine eigentliche Meisterschaft – musizierend den gesamten Erdball spiegeln und dem Publikum jede beliebige Sicht auf die Menschheit vorführen. Und offenbar war er gar nicht Pianist, sondern Magier, denn er beendete seine Darbietung mit zwölf donnernden Schlägen in die untersten Tasten. Daraufhin verwandelte sich alles: Zuerst verlor das Hochklavier in einer Explosion den Deckel, ein Schwarm Vögel, die im Traum Prinzesstaucherchen hießen, entstieg dem Schallkasten, flatterte durch den Saal, und eine zweite Explosion sprengte das Dach des Opernhauses fort. Gleich entschwebte in allgemeiner Heiterkeit das gesamte Publikum in einen tiefschwarzen Nachthimmel hinaus, weiter umschwirrt von den Prinzesstaucherchen, aber auch von Spiegelscherben und Splittern der elfenbeinernen Tastatur, die er dennoch weiterspielte. Denn auch er war nun ein ganzer Schwarm und unterhielt die vornehme Gesellschaft während ihrer Reise hinaus ins All musikalisch, derweil in ihren Rücken sich die alte Welt in einem Flammenball verzehrte. Die Leichtigkeit, die Hubert Brechbühl während dieses Traums erfuhr, war grenzenlos, und sie verließ ihn auch nicht, als er anderntags erwachte.
Wenn Selina May den Januar 2001 in ihrer Agenda aufschlug, sah sie nur weiß. Das Jahrtausend als arbeitslose Schauspielerin im neblig kalten, bestenfalls mit einer Handbreit Schneematsch überzogenen Zürich zu beginnen, war nicht schön. Und sie brauchte nicht lange nachzudenken, als ihre alte Bekannte Antje Klaassen aus Berlin anrief und sagte: »Ich bin in Not, ich brauche dringend eine Rednerin für eine Ausstellungseröffnung übermorgen um 17 Uhr zum Thema Chiaroscuro. Kannst du?«
Antje führte eine Galerie in Ostberlin – große Halle, kleines Budget –, und wenn die Winter dort auch nochmals finsterer und kälter waren als in Zürich, reizte Selina das Angebot. »Zahlst du den Flug?«, fragte sie.
»Den Flug und zweihundert Mark«, sagte Antje, »nur bei der Rede kann ich dir nicht helfen. Die Künstlerin wollte selber eine halten, jetzt ist sie schwer vergrippt, und ich muss noch die ganze Ausstellung hängen.«
»Kein Problem«, sagte Selina in einem Anfall von Übermut, »verrate mir nur eben, wer dieser Chiaroscuro ist.«
Chiaroscuro war kein Mensch, sondern eine Maltechnik, daher fuhr sie ins Kunsthaus. Dort begriff sie erst, was sie sich eingehandelt hatte. Zwar hatte sie bald heraus, dass Chiaroscuro Licht und Schatten meint, dass seit da Vinci viele Maler damit experimentierten, sie las so schöne Begriffe wie Lichtkörper und Körperlicht, Schlag- und Eigenschatten, Nebelschwund und Tenebrismo, und erfuhr von einer artverwandten Holzschnitttechnik, dem Clair-Obscur. Sie sah sich Bilder von Tizian, Caravaggio, Rembrandt und Cranach an und erkannte zwar das Prinzip, doch das änderte nichts daran, dass sie Schauspielerin war, nicht Kunstexpertin, und vermutlich weniger von Malerei verstand als jeder der Vernissage-Gäste.
Abends rief sie Antje an und sagte: »Ich habe mich überschätzt, ich kann das nicht. Du musst dir jemand anderen suchen.«
»Nein«, sagte Antje schlicht. »Die Pressemitteilung ging eben raus. Komm her und sieh dir die Bilder an, dann fällt dir schon was ein. Der Film noir ist übrigens von Chiaroscuro inspiriert.«
So flog Selina anderntags früh um sieben Uhr nach Berlin-Tegel, fuhr hinauf nach Pankow und half Antje, die zu verschwitzt war, um sie zu umarmen, zwanzig Kisten Bilder in die Galerie zu tragen. Sie packten sie aus, machten Auslegeordnungen, dann hatte Antje einen Termin, und Selina ging spazieren. Es war kurz nach drei Uhr, und schon dämmerte wieder der Abend. Die wenigen orangefarbenen Straßenlampen tauchten die Straßen in ein Licht, das Selina an Jodtinktur und, aus welchen Gründen auch immer, an ein Leichenschauhaus erinnerte. Der scharfe Nordwind tat ein Übriges, sie fühlte sich einer Erleuchtung ferner denn je.
Gern hätte sie das Planetarium an der Prenzlauer Allee besucht – gleißende Sterne, unendliche Finsternis –, doch leider hatte es geschlossen. Sie strich ziellos durch die Straßen und hatte eben entschieden, hinunter nach Mitte zu fahren, um sich im warmen Licht des Lafayette-Kaufhauses von der Berliner Kälte zu erholen, als ihr im S-Bahnhof Prenzlauer Allee ein alter, hagerer Mann in einem ehemals sehr eleganten, abgewetzten Kammgarnanzug auffiel. Er war dabei, mit Kohle ein komplexes architektonisches Gebilde auf den Boden zu zeichnen – nicht mit Kohlestift, sondern mit einem einfachen Stück Ofenkohle – und ging, wie ihr schien, höchst raffiniert mit Licht und Schatten um.
Sie sprach ihn an. »Verzeihung, kennen Sie sich vielleicht mit Clair-Obscur aus? Chiaroscuro?«
Der Mann erhob sich und streckte mit leisem Jammern die Knie durch. »Für eine Tasse Kaffee und ein schönes Stück Butterkremtorte kenne ich mich mit allem aus«, antwortete er in gestochenem Hochdeutsch und führte sie zu einem kleinen Kaffee, das »Marzipanschwein« hieß. Er stellte sich ihr als Oskar vor, und nachdem sie bestellt hatten, erzählte Selina ihm, dass sie die Rede halten sollte und sich dafür schämte, weil sie nicht nur keine Ahnung von der angewandten Technik hatte, sondern offenbar überhaupt keinen Blick für Kunst. Zumindest hatten nicht einmal die Werke der großen Meister etwas in ihr ausgelöst, das halbwegs wert gewesen wäre, ein Publikum damit zu füttern.
»Was sind Sie denn beruflich?«, fragte Oskar.
Als sie sagte: »Ich spiele Theater, gelegentlich trete ich auch in einem Film auf«, nickte er und trank den Kaffee aus, um, als die Torte kam, gleich einen zweiten zu bestellen.
»Clair-Obscur als Stilbegriff oder als Technik ist ein Unsinn«, sagte er danach, »und um darüber zu reden, brauchen Sie von Malerei keine Ahnung zu haben.«
»Wovon denn?«, fragte Selina.
Oskar verwendete erst etwas Zeit darauf, ein Stück kandierte Kirsche aus einer Zahnlücke zu fischen. Er klebte es auf die Serviette und sagte: »Am besten von nichts. Am besten ist, Sie haben keinen blassen Schimmer, von gar nichts. Denn wenn Sie keine Ahnung haben, beginnen Sie zu schauen. Wir wissen beispielsweise, dass dies Stückchen Kirsche aus meinem Mund kommt, der kein besonders schöner Mund sein mag, und das macht das Stück Kirsche unappetitlich. Aber es ist doch nur ein Stück Kirsche, und läge es noch da drüben in der Vitrine auf einem Sahnetörtchen, gewänne dadurch das Törtchen an Appetitlichkeit. Auch ein Spatz würde die Kirsche im Nu wegpicken, selbst wenn er wüsste, dass sie aus meinem Mund kommt.«
Selina nickte, obwohl ihr unklar war, wozu sie nickte, denn sie begriff nicht viel.
»Was meinen Sie«, fragte Oskar, »wann ist Licht viel Licht, und wann ist Dunkelheit sehr dunkel?«
»Pankow im Winter ist sehr dunkel«, sagte Selina sofort.
»Aha, dunkel im Vergleich wozu?«, fragte er weiter.
»Einfach nicht gesund fürs Gemüt«, antwortete Selina. »Ich hasse diese orangefarbenen Funzeln. Das ist doch keine Straßenbeleuchtung!«
Oskar lachte. »Vielleicht ist es tatsächlich keine«, sagte er. »Vielleicht ist es ein völlig unnützes orangefarbenes Licht, das zwar nichts taugt, doch wenn man es ganz für sich betrachtet, ohne eine Ahnung oder Meinung, wozu es gefälligst taugen sollte, ist es vielleicht richtig schön. Vielleicht wärmt diese Schönheit dann mein Herz. Und vielleicht brauche ich, wenn mein Herz erst warm ist, gar keine Straßenlampe mehr, um mich im Winter in Pankow wohlzufühlen.«
»Hoppla«, sagte Selina – mehr, um nicht zu schweigen, während Oskar fragte: »Wären Ihnen weitere Ausführungen ein Stück Mokkatorte wert?«
»Sind sie«, erwiderte Selina und holte ihm an der Theke ein Stück Torte.
»Mögen Sie Kinder?«, fragte er sie quer durch den Raum.
»Mehr aus der Ferne«, antwortete sie, als sie sich wieder setzte. »Ich bin nicht so der mütterliche Typ.«
Oskar sah sie überrascht an, lachte erneut und sagte: »Das mag die Meinung sein, die Sie von sich haben. Meinungen sind noch beschwerlicher als Ahnungen. Ich sage Ihnen gleich, warum. Auf Kinder übrigens kam ich, weil Kinder so schön nutzlos sind. Deshalb mögen wir an ihnen Dinge, die wir an Erwachsenen nicht mehr mögen. Wir haben noch keine Erwartung an sie – zumindest nicht an fremde Kinder, mit den eigenen ist das vielleicht etwas anderes. Aber finden Sie nicht auch Kinder, die sich benehmen wie kleine Erwachsene, ein Gräuel? Sogenannte Wunderkinder?«
»Ich glaube, ich war so ein Kind«, gestand Selina.
»Oh ja, ich auch«, sagte Oskar. »Lassen Sie mich raten, Sie waren der Sonnenschein der ganzen Familie. Richtig?«
Selina zögerte. »Wie kommen Sie darauf?«, fragte sie zurück. »Weil ich blond bin? Mein Bruder ist das auch.«
»Nein, weil Sie sogar jetzt noch lächeln, und ganz offensichtlich ist Ihnen nicht zum Lächeln zumute«, sagte er. »Und dass Sie Kindern nicht zu nahe kommen möchten, kann daran liegen, dass Sie befürchten, Ihr eigenes Kindsein habe daneben zu wenig Raum.«
»Hoppla«, sagte sie wieder. »Viele Menschen würden Ihnen jetzt tüchtig widersprechen. Ich habe angeblich eine sehr kindliche Ader.«
»Ja, eben die Sonnenschein-Seite«, sagte Oskar. »Ich spreche von den finsteren Seiten des Kindseins.«
Das kam so unerwartet, dass Selina nichts zu entgegnen wusste. »Sind Sie von Haus aus Psychologe?«, fragte sie. »Aber wie kommt es dann, dass Sie so gut zeichnen?«
»Mein Vater war Maler«, sagte Oskar. »Und ich habe mein halbes Leben in Kliniken und Therapien verbracht. Das ist aber eine Weile her.« Danach aß er schweigend die Mokkatorte. Erst als er die Gabel auf den Teller legte, erklärte er: »Wenn man nichts erwartet, sieht man alles. Dann ist stets das ganze Spektrum da, von chiarissimo bis oscurissimo. In allem ist immer alles enthalten. Wenn Sie es nicht sehen, haben Sie nur nicht urteilsfrei genug geschaut.«
Doch Selina hatte keine Lust mehr auf seine weisen Sprüche. »Ganz andere Frage«, sagte sie, »warum malen Sie Architektur? Warum nicht Menschen? Was interessiert Sie daran?«
»Nichts«, antwortete Oskar sofort. »Es beeindruckt nur am meisten. Ich verdiene damit am besten.«
»Aber das ist ja traurig«, sagte sie. »Und es passt so gar nicht zu Ihnen.«
»Nein?«, fragte er. »Sie haben schon wieder eine Meinung. Warum werten Sie das Desinteresse so gering? Weshalb sollte ich nicht etwas mit Freude und von ganzem Herzen tun können, ohne daran interessiert zu sein? Wenn ohnehin alles in allem enthalten ist, spielt es keine Rolle, was ich tue. Leider habe ich nun aber eine Schwäche für Süßes, also spielt es doch eine Rolle: Es gibt Dinge, für die erhalte ich Kuchen, für andere nicht. Das ist die einzige Wertung in meinem Leben, die ich noch nicht ablegen konnte. Und ich entschuldige mich dafür.« Er lachte darüber sehr jungenhaft, und als Selina fragte, ob er für diesmal satt sei, nickte er.
Sie zahlte. Als sie sich erhoben, fragte er: »Und haben Sie einen roten Faden für Ihr Referat gefunden?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Selina. »Im Augenblick weiß ich gar nichts.«
»Das ist doch schon mal was«, rief Oskar. »Ich gebe Ihnen einen Satz mit: ›Die Kunst, meine Damen und Herren, ist nicht, Licht und Schatten zu malen, sondern Licht und Schatten zu sehen. Überall. Vor allem aber dort, wo andere bloß Licht oder bloß Schatten sehen.‹ Wenn Sie damit beginnen, haben Sie sie.«
Aber sie begann dann doch mit dem Hauch von Göttlichkeit, den das Licht bei Caravaggio atme, um sich sofort – die Künstlerin war ja nicht da – den Meistern des Film noir zu widmen, von Fritz Lang bis Jim Jarmusch, danach dem magischen Dreieck Schauspieler – Scheinwerfer – Kamera. Sie sprach frei von der Leber weg – oder es wirkte zumindest so – und begeisterte das Publikum mit ihrer sonnigen Art.
Als Selina vom Flughafen nach Hause kam, klebte ein Zettel an ihrer Tür: »Mona braucht dich. Dringend.« Mona war das vierjährige Kind ihrer Nachbarin, und da es fast Mitternacht war und die Wahrscheinlichkeit groß, dass a) der Zettel schon länger hing und b) Mona längst schlief, beschloss Selina, sich erst am Morgen nach dem Yoga zu melden. Doch sie hatte kaum Teewasser aufgesetzt, als es zuerst an der Küchenwand klopfte, dann an ihrer Tür. Als sie öffnete, stand Julia draußen, sie hatte Mona auf dem Arm. Mona trug einen Pyjama voller Sterne.
»Entschuldige die späte Störung«, sagte Julia.
Gleichzeitig rief Mona: »Malkovic geht so komisch! Mama sagt, er ist gelähmt.«
»Sie kann nicht schlafen, ehe du ihn dir nicht angesehen hast«, erklärte Julia.
Selina stellte den Wasserkocher ab und ging über den Flur. Malkovic war eine Theaterratte. Sie hatte ihn ein Jahr zuvor gekauft, als sie das Stück »Gesäubert« von Sarah Kane spielte – als Sinnbild für die zähe Kreatur, die übrig bleibt, nachdem der Mensch sich ausgerottet hat. Malkovic war noch ein Kind und sollte eigentlich auf ihrer Schulter sitzen. Doch er verkroch sich meist vor dem Rampenlicht in ihr Kostüm, höchstens baumelte mal sein Schwanz aus ihrem Ausschnitt oder einem Ärmel. Und weil sie gleich anschließend an die Sarah-Kane-Produktion einen Unterwasserdreh für eine Bank auf den Malediven hatte (»Bei anderen tauchen die Aktien, bei uns tauchen Sie«), hatte sie ihre Nachbarin gebeten, so lange die Ratte zu füttern. Julias Tochter hatte sich Hals über Kopf in Malkovic verliebt, und als Selina von den Malediven wiederkehrte, war es nicht mehr ihre Ratte, sondern Monas.
Selina war froh darüber, denn sie war gern unabhängig, Julia allerdings litt etwas, denn Malkovic fraß alle Möbel und Kabel an. Aber er hatte auch viel Charme und spielte liebend gern Streiche. Zum Beispiel wartete er auf der Türschwelle zur Küche, die ihm verboten war, darauf, dass er entdeckt wurde, dann rannte er los und schlitterte über den Küchenboden, bis man ihn einfing. Auch liebte er es, sich unterm Sofa hindurch anzuschleichen, um Leute in den großen Zeh zu beißen.
Malkovic schlief in sein Stroh vergraben, doch ehe sich die Frauen für ihn starkmachen konnten, hatte Mona ihn hochgenommen und setzte ihn auf den Boden. »Sieh doch«, sagte sie und stupste Malkovic an. Er humpelte zurück zu seinem Nest. Ein Hinterbein schien gelähmt zu sein.
Auf halbem Weg machte er kehrt, hinkte zu Selina und legte sich auf ihren Fuß. »Das hat er gemacht, als er noch ganz klein war«, sagte Selina gerührt und hob ihn hoch, um sein Bein zu untersuchen. Doch Malkovic zog es immer wieder weg, dann kuschelte er sich in ihre Hände.
»Seit heute Mittag ist er wieder so zutraulich«, sagte Julia, und Mona fragte: »Selina, gehst du morgen mit mir und Malkovic zum Tierarzt? Mama hat keine Zeit.«
»Meine Ferien sind vorbei«, erklärte Julia.
»Klar doch«, sagte Selina, »gleich nach dem Yoga.«
Tatsächlich wurde alles etwas komplizierter. Monas Oma hatte einen Ausflug geplant, und Julia bestand darauf, dass Mona mitging. Mona wollte wiederum Malkovic nicht alleine lassen, und mitnehmen konnte sie ihn nicht, da die Oma sich vor Ratten ekelte. Alles endete damit, dass Selina ihre Yogastunde sausen ließ, für die sie extra zeitig aus Berlin zurückgekehrt war, und versprach, bei Malkovic zu wachen, bis Mona wieder zu Hause war und sie ihn zum Tierarzt bringen konnten.
Anderntags um acht trat sie ihren »Dienst« an, und Julia brachte Mona zum Bahnhof. Malkovic ging es schlechter, er hinkte inzwischen an beiden Hinterbeinen und zitterte wie Espenlaub. Selina hatte vorgehabt, ihn in ihre Wohnung zu holen und sich einen netten Tag zu machen. Doch als sie ihn so sah, wagte sie es nicht mehr. Sie holte ihre Yogamatte und zwei Bücher, aber die lagen dann auch nur herum, denn Malkovic mochte nicht mehr fressen oder trinken, sondern wollte nur gehalten werden, er keuchte und starrte sie fast unentwegt an. Erst gegen Mittag schlief er kurz ein. Sie legte ihn in ihre Armbeuge, damit sie eine Hand frei bekam, holte sich ein Glas Wasser und einen Joghurt, den sie mit den Zähnen öffnete. Sie fühlte ihren Ärmel klamm werden und sagte sich, dass nun auch sein Blasenmuskel gelähmt war.
Malkovic wurde wach, als Julia anrief, um zu sagen, dass Mona nicht vor sechs zu Hause wäre. »Nur für den Fall, dass du mal rauswillst«, sagte sie. »Du kannst ja nicht den ganzen Tag bei uns zu Hause hocken.«
»Vielleicht gehe ich besser schon mit ihm zum Tierarzt«, schlug Selina vor.
Doch Julia sagte: »Tu ihr das nicht an, für Mona ist der Tierarzt doch das Größte.«
Zudem musste sich Selina eingestehen, dass es für den Tierarzt längst zu spät war. Als sie aufgelegt hatte, suchte Malkovic nochmals die Wärme ihrer Hände, doch nur kurz. Dann begann er sich zu winden, und als sie ihn aufs Sofa legte, zog er sich zu dessen Rand und wollte hinunterklettern. Seine hintere Hälfte war nun völlig lahm, und hätte sie ihn nicht hinuntergehoben, hätte er sich überschlagen. Er wollte sie beißen, er wollte keine Hilfe, doch selbst zum Beißen war er zu schwach. Er lag eine Weile keuchend und zitternd, dann schleppte er sich in vielen kleinen Etappen unters Sofa und weiter bis zur Wand – dort war sein Sockenversteck.
Der Nachmittag – ein totenstiller Montagnachmittag im Januar in einer fremden Wohnung, allein mit einer Ratte, die offenbar im Sterben lag – wurde Selina sehr lang. Sie wollte es mit Humor nehmen, stattdessen kämpfte sie mit Tränen. Gern hätte sie Musik für Malkovic gemacht, doch offensichtlich hatte er die Boxenkabel durchgefressen, und alles, was sie fand, war Monas Spielzeugtelefon, das Tiergeräusche machte. Da sie bezweifelte, dass Ratten zum Miauen einer Katze oder zum Klang von Grillen sterben möchten, versuchte sie ihn mit Schokolade und Büchsenananas zu trösten. Doch Malkovic lag weiter bebend in der Ecke, die Nase in einem von Monas Söckchen vergraben.
Gegen drei Uhr wollte sie Julia anrufen und ihr sagen, dass es mit Malkovic zu Ende ging, doch als sie die Nummer wählte, musste sie so heftig weinen, dass sie wieder auflegte. »Es ist nur eine ordinäre Ratte«, sagte sie sich, »du hast nicht mal geheult, als Sarah Kane sich umgebracht hat.« Und doch brauchte sie vier Versuche, ehe sie es schaffte, Julia anzurufen.
»Denk dir, er hat sich von mir verabschiedet und sich zum Sterben verkrochen, genauso, wie es die Elefanten tun«, erzählte sie.
Julia schwieg nur kurz, dann sagte sie: »Ich muss gestehen, ich bin darüber nicht nur traurig. So bald kommt mir kein Haustier mehr ins Haus. Aber sollte man ihn nicht einschläfern lassen?«
»Ich glaube, er weiß genau, was er tut«, erwiderte Selina. »Ich will ihn darin nicht mehr stören. Ich fürchte nur, dass Mona ihn verpassen wird.«
»Das ist bestimmt besser so«, sagte Julia. »Ich werde schauen, dass ich vor ihr daheim bin. Danke, dass du dort bist.«
Danach dauerte es nochmals eine Stunde, bis Selina, wenn sie unters Sofa blickte, den kleinen Rattenkörper nicht mehr zittern sah, und wieder eine Stunde, bis sie wagte, das Sofa von der Wand zu schieben, Monas Söckchen wegzuziehen und Malkovic sanft zu streicheln. Er regte sich nicht mehr, doch sie schloss nicht aus, dass zwar der ganze Körper gelähmt war, sein Geist jedoch noch wach, und sprach so lange leise auf ihn ein, bis die Augen matt wurden. Sie erzählte von ihrer gemeinsamen Zeit am Theater, von den Scherzen, welche die Kollegen mit ihm getrieben hatten, und wie er während einer Vorstellung aus ihrer Hosentasche gefallen war, als sie ihren Monolog an der Rampe hatte, und eine Frau in der ersten Reihe umgekippt war. Sie erzählte, wie sie ihm Gemüsebrei und Mais gekocht und Abend für Abend mit ihm trainiert hatte, Stühle hochzuklettern, bis »Gesäubert« abgespielt war. Und wie sie danach wochenlang seinen Geruch in ihren Kleidern vermisst hatte.
Es war fast sechs, als sie ihn hochhob und auf seinen Schlafplatz legte, da war er schon etwas steif. Gleich darauf kamen die »Mädels«, wie Selina sie für sich nannte. Julia hatte Mona am Bahnhof abgefangen und ihr erzählt, dass Malkovic im Sterben lag oder vielleicht bereits tot war. Mona weinte auch nicht, sondern fragte nur: »Legen wir ihn jetzt ins Wasser?«
»Das fragt sie, weil sie Erlbruchs Büchlein ›Ente, Tod und Tulpe‹ kennt«, erklärte Julia, bevor sie ins Schlafzimmer ging, um zu weinen.
»Ja, das ist eine gute Idee«, sagte Selina zu Mona. »Vielleicht hast du eine schöne Schachtel?«
»Ich habe mein Puppenköfferchen«, antwortete Mona. »Aber bekomme ich es zurück?«
Selina schüttelte den Kopf. »Ich dachte mir, wir legen Malkovic in etwas, das schwimmt, und lassen ihn die Limmat hinuntertreiben.«
»Schwimmt denn das Köfferchen?«, fragte Mona.
»Ja, bestimmt«, sagte Selina. »Nur bekommst du es nicht zurück.«
»Egal«, fand Mona und holte das Puppenköfferchen. Sie betteten die Ratte hinein und legten, weil sie keine Blumen hatten, ein paar Küchenkräuter aus dem Tiefkühlfach dazu. Dann spazierten Julia, Mona und Selina Richtung Werdinsel. Malkovic schoben sie in Monas Kinderwagen. Und nachdem sie an einer Stelle, an der das Ufer flach genug war, das Köfferchen mit Teelichtern geschmückt, es ausgesetzt und mit einem Ast in die Strömung geschoben hatten – wobei die Teelichter schon wieder ausgingen –, aßen sie zur Feier des Tages am Escher-Wyss-Platz Döner.
Nach seinem magischen Traum in der Silvesternacht, in dem er pianospielend die Erde vernichtet und das All erobert hatte, war Hubert Brechbühl sicher, dass das neue Jahrtausend Besonderes für ihn bereithielt. Er wusste zwar nicht, was, doch war er tagelang so leichten Muts, dass seine Fantasien keine Grenzen kannten.
Vielleicht war das Klavier seine Bestimmung? In seiner Kindheit hatte er zwei Jahre lang gespielt, und gar nicht schlecht. Auch Grieg begann ihn zu interessieren, im Traum hatte er eine Fantasie von ihm interpretiert, die er nun im Plattenladen überm Pfauen zwar vergeblich suchte (er erinnerte auch nicht mehr, wie sie überhaupt geklungen hatte), doch während er suchte, las er Texte auf den CD-Hüllen, kam von Grieg auf Tschaikowski – die beiden waren Freunde gewesen – und stieß auf den Ausdruck »Mächtiges Häuflein«, der ihm unerhört gefiel. Beim »mächtigen Häuflein« handelte es sich um eine Gruppe von fünf russischen Komponisten, und zu fünft waren sie auch in seiner Jass-Clique, wenn man Alex, den Freund der Wirtin mitzählte, der immer einsprang, wenn einer aus der Stammrunde ausfiel.
Bei ihrem ersten Jass nach Neujahr brachte er daher zur Sprache, dass sie vielleicht zu Höherem geboren seien, und schlug vor, sie könnten, statt zu schieben, ja einmal musizieren. Er selbst beherrschte nicht nur das Piano, sondern auch die Tuba. Mit ihr hatte er sich einstmals bei der Militärmusik beworben. Er war zwar abgelehnt worden, er hatte aber damals seine Tuba auch erst knapp zwei Wochen. Inzwischen hatte er nicht nur Lust, wieder zu üben, sondern außerdem Zeit.
Doch Bertram fragte: »Quatschen oder jassen?«, und die anderen sagten gar nichts. Darauf jasste er halt mit, sagte sich aber, dass seine Tage mit dieser Clique gezählt seien.
Oder war vielleicht gar nicht Musik seine Bestimmung? Im Fernsehen lief in diesen Tagen auf mehreren Sendern eine Reportage über David Copperfield, mit Zauberkunststücken, die an seinen Traum erinnerten. Der Mann ließ nicht gerade die Erde verschwinden, aber einmal immerhin die Freiheitsstatue, ein andermal einen Waggon des Orient Express. Zudem holte er im Bermudadreieck ein verschollenes Schiff zurück, das war schon große Klasse. Doch, Zauberkünstler wäre er auch gern. So fragte er, als ihm im Haus die Schauspielerin vom vierten Stock begegnete – ganz zufällig geschah das nicht, er hatte an ihrem Waschtag endlich einmal wieder seinen zweirädrigen Ziehkarren geputzt, so lange, bis sie in den Keller kam –, ob sie ihm vielleicht sagen könne, wo man sich zum Magier ausbilden lasse.
»Nein, keine Ahnung«, sagte sie.
»Aber Sie spielen in Filmen, nicht wahr?«, fragte er. »Vielleicht kennen Sie David Copperfield, er hatte auch schon Spielfilmrollen. Wenn ich seine Nummer hätte …«
»Nein«, sagte sie nochmals, »in meinen Filmen hat er nie gespielt.«
Und als er ihr von seinem Traum erzählen wollte, behauptete sie, sie müsse zum Yoga, und ließ ihn stehen.
Das Desinteresse seiner Umgebung kränkte ihn, doch er gab so schnell nicht auf. Am selben Tag erzählte er in der Buchhandlung an der Josefstrasse seinen Traum und fragte die Verkäuferin nach einem Buch, das Menschen in seiner Lage helfe.
Sie empfahl ihm »I-Ging, das Buch der Wandlungen«, ein altchinesisches Orakel. Und liebenswerterweise gab sie ihm das Wechselgeld in Münzen, sodass er zu Hause gleich beginnen konnte.
Gleich als Erstes warf er »Pi, die Stockung«. Schwere Zeiten wurden ihm prophezeit: »Sie werden bei Ihrem Vorhaben auf erhebliche Widerstände stoßen«, stand da, »die Sie vielleicht sogar zwingen, für eine Weile kürzerzutreten.« Das hörte er nicht gern. Dafür versöhnte ihn der Ausblick in die Zukunft. »Guan, die Betrachtung«, war sein Los. »Zeit, innezuhalten und sich zu besinnen. Vergessen Sie kurz Alltag und Banales. Machen Sie sich die großen Zusammenhänge bewusst, erkunden Sie die Wege der Vorsehung und des Schicksals. Suchen Sie Erkenntnis im Spirituellen, bringen Sie Ihr Vorhaben mit den kosmischen Zielen in Einklang. Die Ausstrahlung, die Sie dadurch gewinnen, hilft Ihnen, die Umwelt zu überzeugen.«
Das war nun wieder ganz nach seinem Sinn, und im Bewusstsein, dass er drauf und dran war, etwas ganz Großes zu beginnen, zog Hubert Brechbühl nochmals Anorak und Stiefel an und ging spazieren, obwohl es fast schon Mitternacht war. Und zwar zum Hauptbahnhof (da er dachte, dass er gleich noch Milch fürs Frühstück kaufen könnte). Er freute sich am klaren Sternenhimmel, auf einen Wink des Schicksals wartete er allerdings vergebens. Stattdessen wunderte er sich über die Jugendlichen, die in der Bahnhofshalle lärmten. In ihrem Alter war er um zehn ins Bett gegangen und um sechs Uhr aufgestanden.
Als er in der Unterführung einen Viertelliter UHT-Milch aus dem Automaten zog, hatte er ein mulmiges Gefühl, denn sie lungerten auch dort. Den Rückweg nahm er daher nicht mehr durchs Shopville, sondern stieg die nächstgelegene Treppe empor, die zum Landesmuseum. Das war ein Fehler, denn der Aufgang war vereist, er rutschte aus und fing sich mit der Hand auf, die die Milch hielt. Das war einerseits sein Glück, da das Tetrapack den Aufprall linderte. Jedoch platzte es dabei, und weil er so schnell sein Gleichgewicht nicht wiederfand, setzte er sich mitten in die Pfütze.
Sofort waren drei der Jugendlichen bei ihm, und er fürchtete bereits das Schlimmste. Dabei wollten sie nur helfen.
»Haben Sie auch nirgends Schmerzen?«, fragten sie, als er sich hochzog, »rufen wir nicht besser eine Ambulanz?« Einer holte ihm sogar eine zweite Milch am Automaten, und sie boten an, ihn heimzubringen.
Darauf ließ er sich natürlich nicht ein. Was hieß »natürlich« – auf dem Heimweg mahnte er sich, fremde Menschen nicht so hastig zu verurteilen, und noch bevor er zu Hause war, schimpfte er bereits mit sich, dass er, indem er ihre Hilfe ausgeschlagen hatte, vielleicht die ganze Vorsehung vereitelt hatte.
Dasselbe musste er sich anderntags gleich nochmals sagen. Das kleine Mädchen vom vierten Stock rechts hatte bei ihm geklingelt. Sie stand auf einem klappbaren Schemelchen, als er öffnete, wohl, damit sie überhaupt den Klingelknopf erreichte, und balancierte auf einem Bein. Er glaubte sich zu erinnern, dass sie Mona hieß.
»Tauschst du mit uns die Wohnung?«, fragte sie, noch ehe er sie begrüßen konnte.
»Warum sollte ich mit euch die Wohnung tauschen?«, fragte er verwundert.
»Weil Malkovic gestorben ist«, erklärte Mona.
»Wer ist Malkovic?«, fragte er.
»Malkovic war meine Ratte«, sagte Mona.
»Und was habe ich damit zu tun?«, fragte Hubert Brechbühl.
Mona stand inzwischen zweibeinig und hielt die Arme vor der Brust verschränkt. »Weil Mama sagt, wenn noch ein Haustier, dann nur eine Katze. Und eine Katze nur, wenn sie rauskann.«
Hubert Brechbühl begriff noch nicht, worum es ging. »Ich habe auch keine Katze«, stellte er klar.
»Eben«, sagte Mona, »deshalb kannst du auch oben wohnen. Mama sagt, bei uns ist es viel heller. Und ich kann dafür eine Katze haben.«
»Und warum kommt deine Mama nicht selbst zu mir?«, fragte er.
»Weil sie doch gar nicht umziehen wi-ill«, rief Mona, als sei er schwer von Begriff. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und hüpfte vom Schemelchen. »Aber du bist alt und musst bestimmt bald sterben. Wenn du sagst, du willst oben wohnen, weil du nicht mehr gut siehst, sagt Mama ganz bestimmt nicht Nein. Und ich kriege die Katze.«
»Ich sehe aber gut«, sagte Hubert Brechbühl. »Und ganz so alt bin ich noch nicht. Und überhaupt habe ich nicht das geringste Interesse umzuziehen.«
Mona schnaubte. »Dann eben nicht«, rief sie und schnappte sich ihr Schemelchen. »Selber schuld. Bei uns oben ist es nämlich viel, viel schöner.«
Nachdem Hubert Brechbühl die Tür geschlossen hatte, setzte er sich nochmals zum Frühstück. Er stand jedoch gleich wieder auf, ging von Fenster zu Fenster und überlegte, wo eine Katze am praktischsten ein und aus ginge. Und während er die Tetrapackung Milch aufschnitt, begann ihn der Gedanke zu beschäftigen, ob er ein zweites Mal die Vorsehung behindert hatte. Der Gedanke quälte ihn. Er hatte aber wirklich kein Interesse umzuziehen, obwohl es überhaupt nicht schön war, das Kind so enttäuschen zu müssen.
Am 28. Dezember hätte Marie-Claire Arden erst von Zürich nach London Heathrow und von dort nach Accra fliegen sollen. In London wäre ihr Onkel zugestiegen, Jeremy Arden. Der war mit einer Ghanaerin in Marie-Claires Alter verheiratet, Joyce, und diese Joyce wiederum hätte sie mit einem Fahrer am Flughafen abgeholt und erst für vier Tage an den Strand vor Accra gebracht – für Silvester waren dort irgendwelche angeblich gigantischen Feierlichkeiten geplant –, dann wären sie in den Norden gefahren. Denn dort leitete Jeremy ein privates Auffanglager für Flüchtlinge aus Togo und Burkina Faso. Das Lager besaß einen kleinen Wagenpark, doch die Autos waren allesamt marode, und Marie-Claire, die nicht nur Automechanikerin war, sondern bei der Berufs-Weltmeisterschaft in Montreal im Vorjahr Silber gewonnen hatte, war gegen Kost und Logis verpflichtet worden, zuerst eine Liste fehlender Ersatzteile zu erstellen, um dann, wenn das Geld dafür akquiriert, die Ersatzteile gekauft und verschifft waren, die Autos zu reparieren.
Marie-Claire, von ihren Freunden Mary genannt, war vor der Reise sehr aufgeregt gewesen, denn außer nach Montreal hatte sie noch keine größere Reise unternommen, dabei war sie schon 23. Und es war das erste Mal, dass sie glaubte, etwas wirklich Sinnvolles zu tun. Vor der Abreise hatte sie all ihre Möbel (einen Lattenrost, eine Matratze, einen Klapptisch mit Stuhl und einen altmodischen Reisekoffer) an ihren Nachmieter verkauft und ihre Mansarde in Überlingen aufgegeben, als wollte sie nie zurückkehren.
Als sie aber am Flughafen Zürich einchecken wollte, hatte ihr der Herr am Schalter mitgeteilt, ihr Ticket nach London sei storniert. Sie hatte ihren Onkel angerufen und erfahren, dass ihre Reise verschoben sei. Die Telefonverbindung war gestört, denn Jeremy benutzte ein handkoffergroßes Mobilfunkgerät, auf dem er zwar weltweit erreichbar war, nur selten in guter Qualität. Mary begriff aber, dass es an der Grenze zwischen Togo und Ghana zu Unruhen mit einigen Toten gekommen war, Auslöser war ein Streit zweier lokaler Oberhäupter, seither war irgendetwas gesperrt. »In ein, zwei Tagen hat sich das beruhigt«, hatte Jeremy versprochen, bis dahin allerdings müssten sie den Flug verschieben.
Sie hatte gefragt, warum sie nicht schon nach Accra flögen und dort warteten, doch Jeremys Erklärung war größtenteils im Rauschen untergegangen. Sie hatte nur die Worte »Stempel«, »Polizeibarriere« und »Schikane gegen Weiße« verstanden.
Glücklicherweise hatte sie seit der WM in Montreal eine Freundin in Zürich, Gisela, Backweltmeisterin, bei der sie zwar nicht wohnen konnte, weil sie selber drauf und dran war, zu verreisen, und ihr Zimmer untervermietet hatte. Sie hatte ihr aber trotz der Feiertage eine etwas finstere, doch nette Gästewohnung ihrer Genossenschaft vermitteln können, weil die verantwortliche Genossenschaftsangestellte auf ihrem Stockwerk wohnte.
Dort saß Mary nun, wenn sie nicht für sündhaft viel Geld Jeremy von der Telefonzelle aus nachtelefonierte, weil sie endlich auf gute Nachricht hoffte. Denn aus jenen ein, zwei Tagen wurden ein, zwei Wochen, und der einzige Lichtblick war gewesen, dass ihre Familie sie zu Silvester überrascht hatte, um mit ihr ins neue Jahrtausend zu feiern. Schon am 1. Januar waren aber alle wieder heimgefahren, und danach wurde Mary die Zeit erst richtig lang.
Sie verbrachte die Tage in einer Bibliothek am Bellevue. Damit sie herausfand, was genau an Ghanas Grenze vorgefallen war, hatte ihr ein netter Junge, der im Haus wohnte, das Sozialarchiv empfohlen. Dort erfuhr sie zwar nichts über irgendwelche Unruhen, doch der Kaffee war gut und billig, sie war nicht allein, und sie fand Gefallen am Lesen. Außer Automobilzeitschriften und den Pferdebüchern aus ihrer Jugend kannte sie bisher nicht viel. Jetzt las sie sich in die Geschichte Ghanas und überhaupt des Kolonialismus ein, dazu stöberte sie querbeet in Zeitungen und Heften. Sie wunderte sich, wie vielfältig die Interessen der Menschen waren und wie wenig doch im Leben der meisten Autos eine Rolle spielten.
Und dann stieß sie auf die Briefe einer jungen Nonne aus der Provence, die mit noch nicht vierundzwanzig Jahren nach Nigeria gereist war, um in einem Krankenhaus zu arbeiten, und die bei einem Überfall getötet wurde. Die Briefe hatte sie noch in Frankreich geschrieben, im Kloster, und sie waren an ihre Mutter gerichtet. Zu Neujahr 1921 schrieb sie: »Trotz der Kälte hier, der Leere und des Schweigens, Mama: Kein Mensch, den ich bisher traf, schien mir so sehr zu Hause, wie wir es sind. Ich meine damit nicht, dass er keine geliebten vier Wände hätte, die haben wohl viele mehr als wir. Ich spreche von einem Zuhause, das keine Wände braucht. Ich glaube, Mama, dass die meisten, die zu uns kommen, nach Hause kommen. Nicht, dass sie danach hier zu Hause wären. Sie nehmen das neue Zuhause mit heim. Vielleicht – das ist meine Hoffnung und Erwartung – richten sie sich daheim neu ein. Inniger, mit mehr Dankbarkeit für das, was sie haben, und weniger Sorge darum, was sie verlieren könnten.«
Und im letzten Brief vor ihrer Reise schrieb sie: »Wenn ich von meiner Zelle aus in den Garten sehe, ist der Garten das eine, das Fenster zum Garten ist ein anderes. Die alten, verworfenen Fensterscheiben im Kloster, die keine ungebrochene Sicht zulassen, sind vielleicht wichtiger als der Garten selbst. Sie machen das Haus zu einem Lebewesen. Ich kann von nirgends her die Welt so betrachten, wie ich es aus dem Inneren unseres Klosters tue. Ich sehe die Welt in einer Brechung, die dieselbe ist, in der die Nonnen vor zweihundert Jahren die Welt sahen. Das gibt eine ungeheure Ruhe, Mama. Es ist dieselbe Ruhe, wie sie mich befiel, als ich auf dem Gipfel des Mont Ventoux stand und mir vorstellte hinunterzufallen (ich hatte dir davon geschrieben). Es würde keine Rolle spielen, wenn ich fiele. Das Wichtige bleibt. Das Wichtige findet nicht in unserem Leben statt, sondern draußen. Dass wir es sehen dürfen, ist schön. Doch wir sollten nicht den Fehler machen, unseren Blick für wichtiger zu nehmen als das Ding an sich. Und als die Brechung des Dings durch andere Dinge. Wir können Danke sagen für die Bilder, die wir empfangen. Aber was wir empfangen, sollten wir nicht verkaufen, als wäre es das Ding an sich.«
Diese Briefe – auch wenn sie sie nicht ganz verstand – berührten Mary dennoch so sehr, dass sie für einige Tage kaum noch hinausging. Stattdessen saß sie am Fenster, betrachtete die mächtige Föhre, die sich davor breitmachte, und manchmal gelang es ihr, sich vorzustellen, dass das alles war, was sie zum Leben brauchte: den Stuhl, auf dem sie saß, und die Aussicht auf diese Föhre.
Zweimal in jenen Tagen kam überdies der nette Junge vorbei, der Moritz hieß und an der ETH studierte. Er hatte jeweils gerade gekocht und wollte sie zum Essen einladen. Beim zweiten Mal ging sie mit (er hatte Nudelauflauf gebacken, der ihm, während er sie überredete, leicht anbrannte).
Mary erzählte ihm, dass inzwischen der Kontakt zu ihrem Onkel abgebrochen war und sie keinen Schimmer hatte, ob und wann sie nun nach Ghana fliegen würde. Doch bald würde ihr das Geld ausgehen, und sie musste die Wohnung räumen.
»Zieh zu mir«, schlug Moritz vor.
»Ich kann dir aber nichts bezahlen«, sagte Mary, und Moritz grinste.
»Dafür habe ich auch nur ein Bett«, sagte er.
Sie fand ihn nicht nur nett, er sah auch gut aus, und die Vorstellung, die nächsten Tage hier, bei ihm, in der Wärme zu warten, war schön.
Und ebendeshalb sagte sie: »Ich weiß genau, wie das enden würde, Moritz. Ich verliebe mich in dich, will nicht mehr weg, sage Jeremy ab und werde mich dafür hassen.«
»Du kannst Jeremy nicht absagen«, erinnerte sie Moritz, »weil Jeremy verschwunden ist. Etwas ist an der Sache ganz offensichtlich faul. Es wäre hundertmal klüger, du bleibst hier.«
»Nein«, sagte Mary ruhig, »da irrst du dich. Ich bin drauf und dran, etwas Sinnvolles zu tun, und das zum ersten Mal in meinem Leben.«
»Und warum glaubst du«, fragte Moritz, »dass eine Welt mit reparierten Autos besser ist als eine mit kaputten? Was ist so sinnvoll an deiner Mission?«
»Das sage ich dir, wenn ich dort war«, antwortete sie nur und stand auf.
»Bleib wenigstens für diese Nacht«, bat Moritz.
Doch gab sie ihm nur noch einen ungefähren Kuss und sagte: »Ich danke dir für dein Angebot, Moritz, denn jetzt weiß ich, was ich tun muss.«
Und noch bevor es Tag wurde, warf sie den Wohnungsschlüssel in den Briefkasten der Genossenschaft im Hof und fuhr zum Flughafen, um irgendwie das stornierte Ticket umzubuchen. In London wollte sie Jeremy suchen und, falls sie ihn nicht fand, allein nach Ghana fliegen.