Das Buch
Im Krieg zwischen Menschen, Gurus und Antags haben alte Bündnisse keine Gültigkeit mehr; Feinde sind zu Freunden und Freunde zu Feinden geworden. Während unser Sonnensystem von anhaltenden Scharmützeln und politischen Intrigen zermürbt wird, brechen die Antags gemeinsam mit Sergeant Michael Venn und seinem Team von Skyrines zu ihrem Heimatplaneten weit draußen im Kuiper-Gürtel auf, von dem sie nicht einmal wissen, ob er überhaupt noch existiert. An Bord eines gigantischen Raumschiffes, das sich während des Flugs ständig verändert und das Leben der Passagiere bedroht, beginnt für die Verbündeten eine Reise ins Ungewisse. Eine Reise, auf der sich das Schicksal der Menschen entscheiden wird …
Mit Die Rache des Titan legt Bestsellerautor Greg Bear das spektakuläre Finale seiner War-Dogs-Trilogie vor.
Die War-Dogs-Trilogie
Erster Roman: Die Flammen des Mars
Zweiter Roman: Im Schatten des Saturn
Dritter Roman: Die Rache des Titan
Der Autor
Greg Bear wurde 1951 in San Diego geboren und studierte dort Englische Literatur. Seit 1975 als freier Schriftsteller tätig, gilt er heute als einer der ideenreichsten wissenschaftlich orientierten Autoren der Gegenwart. Etliche seiner Romane wurden zu internationalen Bestsellern. Im Wilhelm Heyne Verlag sind zuletzt erschienen: Die Stadt am Ende der Zeit, Das Schiff, Äon und die War-Dogs-Trilogie.
Mehr über Greg Bear und seine Romane erfahren Sie auf:
GREG BEAR
DIE
RACHE
DES
TITAN
DIE WAR-DOGS-TRILOGIE
Dritter Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe
TAKE BACK THE SKY
Deutsche Übersetzung von Urban Hofstetter
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Deutsche Erstausgabe 08/2017
Redaktion: Rainer Michael Rahn
Copyright © 2016 by Greg Bear
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung von shutterstock/sdecoret
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-16483-6
V001
www.diezukunft.de
Für diejenigen in meiner Familie, die als Angehörige
der Streitkräfte weit gereist sind, und für die,
die in Zeiten des Krieges zu Hause gewartet haben:
Florence Bear
Earl Bear
Irene Garrett
Lorraine Garrett
Lynn Garrett
Dan Garrett
Kathleen Garrett
Colleen Garrett
Devin Garrett
Barbara Julian
Wilma Bear
ERSTER TEIL
Auf Wolken tanzen
Ich hasse Transite, und dieser ist der schlimmste.
In der Kontrollkabine unseres Oscars, eines gigantischen Hundertfüßers, der gebaut wurde, um im eiskalten Salzmeer von Titan zu tauchen und zu kämpfen, ein Dutzend Kilometer unter der schaumigen Eiskruste …
Eingequetscht und von zahllosen Drähten durchbohrt, in Anzügen, die zu unserem Schutz gedacht sein sollten …
Ich hatte noch nie so viel Angst oder schlimmere Schmerzen. Wir sind erschöpft. Kein Wunder, nachdem wir uns einen Weg durch das tiefgefrorene Blutbad in der Eisstation gebahnt haben. Von unserem im Orbit kreisenden Spuker abgesetzte Samen verbanden sich mit den Wänden der Station, verschlangen sie und verwandelten sie in fünf Oscars – unseren und die vier anderen, die links und rechts von uns vor dem labyrinthischen Käferarchiv schweben.
In diesem Irrgarten verbergen sich unsere ehemaligen Feinde. Während sich unsere früheren Kameraden von hinten anschleichen, um uns alle zu vernichten.
Lieutenant Colonel Joe Sanchez, Captain Naveen Jacobi, Sergeant Chihiro Ischida – unsere Wintersoldatin, deren halber Körper durch Metall ersetzt wurde –, First Sergeant Tak Fujimori, Starshina Irina Uljanowa und ich, Master Sergeant Michael Venn, bilden die Besatzung des ersten Oscars.
Im zweiten befinden sich Commander Frances Borden, Corporal Dan Johnson – der von allen DJ genannt wird –, Sergeant Kiyuko Ischikawa, Polkownik Litwinow (dessen Vornamen ich nicht kenne) sowie die geheimnisvollen Angehörigen des Bedienpersonals, die ehemaligen Bediensteten und rechten Hände der Gurus, Aram Kumar und Krishna Muschran. An Bord der anderen drei befinden sich die übrigen Russen.
Auf meinen Rat hin – und angesichts der Eistorpedos, die uns von allen Seiten bedrohen – haben wir angehalten und versucht, uns zu verteidigen. Mittlerweile haben wir jedoch vor den vogelähnlichen Geschöpfen kapituliert, die wir auf dem Mars und andernorts jahrelang bekämpft haben. Wir nennen sie Antagonisten, abgekürzt Ants beziehungsweise Antags.
Starshina Uljanowa hat sich dieser Kapitulation erbittert widersetzt. Tak und Jacobi mussten sie niederringen. Inzwischen liegt sie mucksmäuschenstill in ihrer Hängematte hinter Jacobi. Ihr Dienstgrad entspricht ungefähr dem Corporal-Rang, den DJ innehat, aber sie hat auch ein paar der Befugnisse eines Sergeants. Es geht ihr immer noch schlecht.
Auf ihren Wangen und der Stirn steht Schweiß, und sie starrt mit zusammengepressten Lippen zur unbeleuchteten Kabinendecke hinauf. Ihr Instinkt gebietet ihr weiterzukämpfen – auch wenn das selbstmörderisch wäre. Dazu müssten wir entweder den Antags Widerstand leisten (die vermutlich gekommen sind, um uns zu retten) oder versuchen, unsere eigenen Leute zu besiegen. Ich mache ihr deswegen keinen Vorwurf. Sie ist von Vorgesetzten und Soldaten umgeben, die noch keine Zeit hatten zu erklären, womit wir es im Großen und Ganzen zu tun haben. Abgesehen davon sprechen wir kein Russisch, und mit ihrem Englisch ist es nicht weit her.
Doch irgendwas ist komisch an ihr, so als würde sie Stimmen lauschen, die wir Übrigen – abgesehen von mir – nicht hören können. Aber ist es wirklich möglich, dass sie etwas Ähnliches durchmacht wie ich und DJ?
Vielleicht nicht das Gleiche wie DJ, eher wie ich.
Das sind alles natürlich nur unbestätigte Vermutungen, aber wenn ich recht habe, heißt das nicht zwangsläufig, dass Uljanowa verrückt ist. Immerhin hat man mich selbst gerade aufgrund der Stimmen, die ich höre, zum Mars zurückgeschickt und dann gemeinsam mit DJ zum Titan verfrachtet.
Auf dem Mars kamen DJ, Kazak und ich im ersten Drifter mit einem Pulver in Berührung. Dieses Pulver wird von tief im Boden vergrabenen Fragmenten eines uralten Kristalls produziert, der vor Milliarden von Jahren auf den Mars gestürzt ist – zusammen mit den Bruchstücken eines explodierten Eismondes. Wir haben das Pulver Eismondtobak getauft.
Dass ich seine Botschaften empfangen kann, ist der Grund, warum mich Commander Borden vor meiner Exekution aus dem Madigan Hospital gerettet hat. Ich bin einer der Auserwählten. Welche Ehre. Genau wie DJ. Unser Lieblingsmongole Kazak – eigentlich Sergeant Temur Nabijew – gehörte auch zu uns, aber er starb vor meiner Rückkehr auf dem Mars.
In unseren Köpfen drängelt sich uraltes Geschichtswissen mit den geraubten Erinnerungen gefallener Kameraden. Manchmal ist es, als würde man auf einer Wolke tanzen – unmöglich, aber wenn man nicht daran glaubt, stürzt man auf jeden Fall ab.
Ich werde das eigenartig schöne Bild von Captain Coyle nicht los, wie sie sich in ihren absonderlichen Tod fügt. Als sie den Befehl der Gurus auf der Erde befolgte und versuchte, den ersten Drifter auf dem Mars in die Luft zu sprengen, verwandelten sie und ihre Kameradinnen sich in glänzend schwarzes Glas. Wir dachten, daran wären sie gestorben.
Aber einige kamen zurück, um uns heimzusuchen. Feinde zu absorbieren und zu vereinnahmen ist eine der Methoden, wie sich die uralten Archive erhalten. Das ist es, was die Kristalle des Drifters enthielten: einen Zugang zu Aufzeichnungen, hinterlassen von unseren frühesten Vorfahren, die vor Milliarden von Jahren die äußeren Eismonde unseres Sternsystems bevölkert haben.
Riesige, intelligente Käfer.
Zum ersten Mal besuchte Coyle mich, als ich zur Erde zurückgekehrt war und ins Madigan Hospital eingesperrt wurde. In dieser ersten Zeit verwirrte mich ihre Präsenz noch. Es war keine richtige Stimme und erinnerte mich eher an Sprechblasen aus einem Comic. Leere Sprechblasen. Doch schon bald füllten sie sich, und das, was von Coyle übrig war, tat auf ihre gewohnt barsche Weise sein Bestes, um mich Schritt für Schritt in die Gepflogenheiten und Techniken des Käferarchivs einzuweisen.
Sie machte mich mit dem halbautomatischen Verwalter bekannt, der die Käfer-Erinnerungen herausgibt. Vorausgesetzt, man erweist sich als geeignet, indem man die richtigen Fragen stellt.
Die Käfer gibt es schon längst nicht mehr, aber ihre Stimmen hallen immer noch nach. Im Madigan und auf meinem Weg zurück zum Mars durchlebte ich Teile ihrer Geschichte. Beobachtete diese urtümlichen Vorfahren sowohl der Menschen als auch der Antags, wie sie sich durch die eisigen Krusten ihrer Monde einen Weg nach oben gebohrt und die Sterne entdeckt haben.
Auf diesen Monden hat sich das erste Leben entwickelt, lange bevor die Erde grün wurde. In tiefen Ozeanen, die von radioaktiver Reststrahlung erwärmt wurden – ebenso wie von den unerschöpflichen Gezeitenkräften, mit denen ihre Gasplaneten an ihnen zerrten. Ich erfuhr, dass auch früher schon Wesen wie die Gurus in unser Sonnensystem eingedrungen waren und Kriege provoziert hatten. Ich fand heraus, dass sich die Käfer vor sehr langer Zeit gegenseitig bekriegt haben – in einem Klassenkampf, der sowohl die Form als auch den Charakter des äußeren Sonnensystems veränderte.
Dabei waren große Mondbruchstücke in den Mars eingeschlagen, darunter auch die Drifter.
Und damit haben die Käfer dazu beigetragen, dass Leben auf der Erde entstehen konnte.
Schließlich warnte Coyle mich, dass sie in Kürze wirklich sterben würde. Doch zuvor stellte sie noch eine Verbindung zwischen mir und dem weiblichen Antag her, mit dem ich jetzt in direktem Kontakt stehe. Sie wartet auf der anderen Seite des dunklen Ozeans, um uns vor unseren eigenen Streitkräften zu retten.
Danach verstummte Coyles Stimme, und alles, was von ihr noch übrig war – die gesammelten Daten, die ihr Leben und ihren Leib dargestellt hatten –, entfaltete sich vor meinem inneren Auge wie ein wunderschöner Bildteppich. Captain Coyle konnte nicht mehr sprechen, handeln oder Informationen verarbeiten, aber sie erteilte mir immer noch Anweisungen.
Typisch Coyle.
Sie können jetzt hineingehen, aber lassen Sie es bitte bleiben
Mein Großvater war Colonel bei den Rangers. Meine Großmutter war eine gute Soldatenfrau und sehr klug. Unter anderem hat sie mir erklärt, dass Gott alles vermag. Aber dass selbst er einen Mann nicht dazu bringen kann, seine Meinung zu ändern.
»Darum gibt es Kriege«, sagte sie. Und sie wusste, wovon sie sprach. In zwei Kriegen hat sie einen Ehemann, zwei Söhne und eine Tochter verloren. Nur meine Mutter war ihr geblieben, die dreißig war, als ihre Schwester damals starb. »Männer sind so verdammt stur, dass sie andere so lange beleidigen und beschimpfen müssen, bis sie keinen Rückzieher mehr machen können. Und als Nächstes beschließen sie, unsere Kinder in den Tod zu schicken. Kaum einer von den Kerlen, die den Befehl zu einem Krieg erteilen, geht selbst an die Front. Dafür sind sie zu alt. Und zu feige. Jeder Anführer, der einen Krieg verliert oder auch nur einen anzettelt, sollte sich vor eine Tribüne voller Heldenmütter in ihren besten Sonntagskleidern hinstellen und sich eine Kugel in den Kopf jagen. Das ist meine Meinung, aber behalt das alles bitte für dich, okay? Deine Mutter regt sich immer nur auf, wenn ich so rede.«
Als ich acht war, ließen sich meine Eltern scheiden. Bis dahin hatte ich mein Leben auf Militärstützpunkten verbracht. Dabei besuchte ich in raschem Wechsel fünf oder sechs Schulen. Sie waren alle wie Bunker gebaut, und ich hasste jede einzelne von ihnen. Meine Mutter glaubte an das Gute in den Menschen. Während die menschliche Rasse wie zum Trotz alles unternahm, um sie vom Gegenteil zu überzeugen.
Nach ihrer Scheidung entwickelte sie ein Faible für gut aussehende, verrückte Männer und landete zumeist in den Armen von unehrenhaft entlassenen Armeeangehörigen oder Bankräubern. Ich hatte das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Zumindest glaube ich, dass ich so gefühlt habe. Vielleicht hat es sich auch einfach so ergeben. Nichts von alledem hat mich daran gehindert, ein Skyrine zu werden. Aber jetzt verfolgt es mich.
Träume vom Fischmarkt
In den vorderen Hängematten unseres Oscars versuchen Joe und Jacobi, die Kommunikation aufrechtzuerhalten.
»Die Elritzen lassen nichts von sich hören«, sagt Jacobi. »Vielleicht sind sie im Eimer.«
Wir anderen können nur den kristallklaren und geheimnisvollen Geräuschen lauschen, die unsere weit verstreuten Sensoren in der kalten Tiefsee auffangen – und die Entscheidung der Antags abwarten. Wir sprechen kaum und baumeln schlaff wie abgehängte Rinderhälften in unseren Hängematten.
Unsere Elritzen sind fingergroße silberne Drohnen, und sie funktionieren wie die Schnurrhaare von Katzen. Sanft gleiten sie zwischen den Antags und uns hin und her. Dabei überwachen sie die Bewegungen der Antag-Schiffe hinter den großen dunklen Felsgraten, in denen sich das alte Archiv von Titan verbirgt.
Die Eistorpedoschwärme der Antags haben sich uns nicht weiter genähert und schweben reglos im Wasser. Also können wir wohl immer noch hoffen. Aber wir haben kapituliert. Worauf sollen wir also hoffen?
Während wir uns in den Oscars von der Station entfernten, schwenkten gerade weitere Schiffe in den Orbit um Titan ein – mit menschlicher Besatzung. Eines von ihnen war der große Kasten, neuer und wesentlich schwerer bewaffnet als der Spuker, der uns hierhergebracht hat. Auf dem Weg zu diesem Saturnmond hat es der Spuker in der Marsumlaufbahn zwar noch geschafft, ein paar der Spannungslinien des Kastens zu durchtrennen, ehe sie vollständig einsatzbereit waren. Aber so ein Coup wird uns nicht noch mal gelingen.
Ich frage mich, was Muschran und Kumar durch den Kopf geht. Sie haben sich auf all dies vorbereitet und jahrelang von ihrer Verbindung zu den Gurus profitiert. Es ist vermutlich besser Bescheid zu wissen, als im Dunkeln zu tappen, aber wir stecken trotzdem in der Scheiße. Dieser Krieg ist von vorn bis hinten ein Riesenschwindel. Aber gilt das nicht für die meisten Kriege? Sie töten immer die Tapferen, die Loyalen und Hingebungsvollen, kurz und gut: unsere Besten.
Irgendwie fühle ich mich damit nicht gemeint. Ich bin nicht einer der Besten. Vielleicht Joe, Tak oder Kazak. Dass ich nicht zu den Besten gehöre, bedeutet ja vielleicht, dass ich am Leben bleibe … Aber das ist Schwachsinn. Kriege behandeln alle gleich. Kriege sind blind, brutal und gemein. Sie kennen keine Moral. Dauern sie lange genug, geben sie alles, um sämtliche Hoffnungen und Träume zu zerstören.
Kriege haben es darauf abgesehen, alle zu töten.
Aber bis heute ist ihnen das noch nie gelungen.
Klar ist, dass die Kavallerie, die in diesem Moment hinter uns in Titans kaltes Meer abtaucht – weitere Maschinen, die noch mehr Menschen transportieren –, nicht mehr auf unserer Seite steht. Sie wissen es vielleicht nicht, aber sie jagen uns, damit die Menschheit keinen Zugang zur Geschichte der Käfer hat – zu den Archiven auf Titan und vielleicht auch an anderen Orten in unserem System. Unsere gemeinsamen Förderer, die Gurus, wollen verhindern, dass wir Menschen und Antags von unserer Käferherkunft erfahren – oder von den alten Kriegen, die die Gurus geschürt haben. Wenn wir hier auf Titan sterben und wenn Titan ein für alle Mal zerstört ist, wird dieser Krebs nicht metastasieren.
Es ist jetzt unsere Pflicht zu überleben, selbst wenn wir uns dafür mit dem Feind verbünden müssen.
Kalte Schützengräben
Über unseren Köpfen tut sich was. Wir hören das widerhallende, in die Länge gezogene Klagen des dicken Packeises. Es klingt, als würde ein Idiot in einer leeren Kathedrale auf der Orgel spielen. Dieses zutiefst beunruhigende und geistlose Geräusch wird noch vom leise knarrenden Klicken der Antag-Maschinen untermalt, die draußen in der Dunkelheit die Stellung halten. Warum machen sie uns nicht einfach kalt?
Sie verstecken sich in den Zellen und Waben des alten Archivs – das ich mittlerweile in Gedanken Käfer-Karnak nenne, weil es mich irgendwie an antike ägyptische Tempel erinnert. Nach Milliarden von Jahren übermittelt Käfer-Karnak immer noch die Geschichte der Käfer jedem, der auf den Eismondtobak reagiert. Ich könnte auf Empfang gehen, wenn ich wollte, aber der wird wesentlich besser, wenn ich mich dazu mit meinem Antag-Kontakt kurzschließe, und der scheint momentan abgelenkt zu sein.
Vielleicht wartet sie darauf, dass ihre Kameraden sich darüber einig werden, wie nützlich wir sind. Daumen hoch oder runter. Haben sie eigentlich Daumen? Vielleicht halten die Antags uns für Lockvögel. Möglicherweise ist ihnen schon mal was Ähnliches passiert – vielleicht erst vor Kurzem. List und Tücke. Sie verhalten sich auffällig vorsichtig.
Ob sie wohl ebenso große Schwierigkeiten hat, mich zu hören. Ja, wir sind verwandt, aber das heißt noch lange nicht, dass wir auch zusammenpassen.
Und damit uns bei alledem nicht langweilig wird, verschärfen unsere Ersatzdruckanzüge noch die Situation, indem sie uns nach wie vor durch den Wolf drehen. Mit Drähten und Klingen schneiden sie in unserem Innern durch Fleisch und Knochen – vermutlich, um uns schneller und reaktionsstärker zu machen.
Was von der Eisstation noch übrig war, ist mittlerweile wahrscheinlich verschwunden. Nachdem unsere Samen damit fertig waren, Oscars auszuscheißen, und wir uns davongemacht haben, müssen vom Kasten noch weitere Samen heruntergefallen sein und auch noch den Rest zerstört haben.
Mit diesen Samen lässt sich eine Menge Gewicht einsparen, wenn man Waffen an Orte im Sonnensystem transportieren will, wo an Rohstoffen kein Mangel herrscht – Orte wie Titan, der über und über mit Methan, Ethan und Silen bedeckt ist und auf dem es mehrere Vorkommen von natürlich entstandenen Wachsen, Ölen und Plastikmaterialien gibt.
Aber auch bei einem Rohstoffüberfluss zählt unter Zeitdruck nur größtmögliche Effizienz. Die Station war bereits vorverarbeitet, und die Samen haben sich vermutlich wie hungrige Mastiffs hineingefressen. Was wohl mit den Leichen passiert ist? Vielleicht sind sie auch zu Bestandteilen von nagelneuen Waffen geworden. Wie kann man noch menschlich bleiben, wenn man es mit derart teuflischem Erfindungsreichtum zu tun bekommt?
»Antag-Bewegung voraus«, sagt Jacobi.
Aus dem dritten und vierten Gefährt hört man aufgeregte Gespräche in russischer Sprache – sie klingen unglücklich und schrill. Litwinow schüttet vor den Truppen in den Transportern voller Dissidenten sein Herz aus. »Wir werden nichts tun!«, ruft er auf Russisch und gleich darauf auf Englisch. »Wir sind jetzt hier, und wir haben keine andere Wahl mehr. Wenn wir umkehren, werden unsere Leute uns umbringen.«
Ich betrachte Jacobis sichelförmig beleuchtetes Gesicht, das hinter der Helmkante gerade noch zu erkennen ist. Dann lasse ich den Blick zu Joe in der Hängematte neben ihr weiterwandern. Unsere Anzüge knarren in den Schlingen. Hier sind wir zu sechst. Wie viele Russen stecken in den letzten beiden Oscars? Keine volle Besatzung. Keinesfalls sechs. Möglicherweise nur drei und damit nicht genug, um richtige Teams zu bilden, die den Stress miteinander teilen und die Panik bezwingen können.
Da wir nicht zusammen gekämpft haben und nicht genug Zeit hatten, einander kennenzulernen, haben sie keinen großen Eindruck bei mir hinterlassen. Abgesehen von Litwinow natürlich und denjenigen, die auf dem Roten gestorben sind … und Uljanowa, die auf der anderen Seite unseres Oscars leise vor sich hinsingt.
Eine ganze Weile vergeht. Im zweiten Oscar meldet Borden eine lockere Formation weicher Ziele. Sie sind organisch. »Sieht wie ein Fischschwarm aus«, sagt sie. »Ob die wohl von hier stammen?«
Niemand antwortet. Keiner von uns kann es bestätigen oder verneinen. Wir schließen unsere Helmplatten, aktivieren die Visierdisplays und konzentrieren uns auf die Streitkräfte vor uns. Ich sehe keine weichen Ziele oder irgendetwas anderes, das sie mit organisch gemeint haben könnte – wabbelig und lebendig. Stattdessen kommen weitere Maschinen in Sicht, zwölf an der Zahl. Sie sind länger und dicker als die Oscars und werden von Spähern eskortiert, wie wir sie noch nie gesehen haben – Robotfalken mit gezackten Schwingen von zehn Metern Spannbreite, ausgestattet mit Blitzerwaffen und Behältern voller Schneidewerkzeuge. Schlachtervögel, schießt es mir durch den Kopf.
»Die Oscars werden gleich wie Hummer aufgeknackt«, ertönt DJs Stimme aus Litwinows Schiff.
»Halt’s Maul!«, sagt Ischida, die selbst ein halbes Krustentier ist.
Die Diskussion im vierten Gefährt hat sich inzwischen zu einem Streit ausgewachsen, in den sich nun auch die Besatzung des fünften einmischt. Die Russen verlieren den Zusammenhalt. Litwinow ist nicht bei ihnen und hat nicht genügend Einfluss auf sie.
Es tut weh, ihnen zuzuhören.
Uljanowa singt immer noch leise vor sich hin. Aber dann öffnet sie die Augen und sieht mich direkt an.
Sie lächelt.
Reflexartig lächle ich zurück. Verdammt.
Joe tippt sich an den Helm und dreht sich in der Hängematte zu mir herum. Er blickt mich forschend an. Hat er es mitbekommen? Ich versuche mich zu fassen.
Uljanowa hat sich wieder abgewandt.
»Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Mitstreiter und wir am gleichen Strang ziehen«, sagt Joe.
Ich möchte keine weitere Instauration erleben, keinen Guru-Moment mehr. Nicht hier und nicht jetzt. Aber was für eine Rolle spielt die Starshina bei dieser Sache?
Wir sehen zu, wie sich die Falken mit den Zackenflügeln in dem dichten Eispudding auffächern, sich vor und hinter uns postieren, um alle Fluchtwege zu blockieren. Bestenfalls bedeutet das nur, dass die Antags sehr, sehr vorsichtig sind. Das würde mich nicht überraschen, angesichts unserer gemeinsamen Geschichte. Und ich finde unsere neue Beziehung ja selbst merkwürdig.
Sie tun alles, um uns von Verteidigungsmanövern oder Angriffsversuchen abzuhalten. Aber was sollten wir mit unseren fünf Oscars auch schon gegen ihre zwölf großen Schiffe ausrichten? Vielleicht so tun, als hätten wir kapituliert, und dann zuschlagen, sobald sie in ihrer Wachsamkeit nachlassen?
Wer weiß schon, was vor unserer derzeitigen Waffenruhe hier auf dem Titan passiert ist? Sicher hat es jede Menge Fallen und Kriegslisten gegeben.
»Worauf zum Teufel warten die?«, stößt Jacobi hervor.
Das Gleiche frage ich mich auch. Wir leisten keinen Widerstand. Wie werden sie uns hier rausschaffen, sich um uns kümmern? War das nicht der Deal? Wie lange können sie und wir es uns noch erlauben, hier herumzuhängen?
Was halten sie von den neuen Menschenschiffen, die von der Oberfläche herabtauchen und zweifellos alles vernichten wollen?
Schließlich fange ich ein paar verwirrende Gedanken meines Antag-Gegenübers auf. Ihre Schiffe im Orbit werden angegriffen. Genau wie auf dem Mars sind wir alle ins Visier geraten. Die Unterstützer der Gurus wollen die Menschen genauso aufspüren und vernichten wie die Antags. Und auf dem Mars haben wir viele Hinweise gefunden, dass die Antags in ganz ähnliche Fraktionen zerfallen sind.
Frage.
Wieder die Stimme des Archivverwalters. In der Regel ertönt sie, wenn Entscheidungen anstehen. Im Moment fallen mir jedoch keine relevanten Fragen ein. Außerdem befassen sich die Käfererinnerungen nicht mit gegenwärtigen Situationen und ihren möglichen Folgen. Oder etwa doch? In der Stimme des Verwalters liegt eine gewisse Dringlichkeit. Vielleicht weiß er etwas oder ist tief in meine Gedanken eingedrungen und schlau genug, um seine eigenen Vermutungen anzustellen.
Frage.
Aber was? Ich wähle einfach eine der zahllosen Fragen aus, die mir durch den Kopf schwirren. Wenn wir Titan verlieren …
»Gibt es noch weitere Archive wie dieses?« Ich fühle, dass DJ meine Frage gutheißt.
Unbekannt. Soweit ich beurteilen kann, was du weißt, wird es schon bald einen massiven Einsatz von Kräften geben, die diesen Mond zerstören sollen.
Frage.
»Wissen wir bereits genug, um allein zu überleben?«
Unbekannt.
»Wo sind die Archive, von denen du weißt?«
Darüber gibt es kein gesichertes Wissen. Auf den kalten Monden in den staubigen Zonen könnte es noch welche geben. Oder vielleicht haben es unsere Ingenieure geschafft, ein paar Archive auf größeren Welten fern der Sonne zu errichten. Damals, bevor unsere eigenen Kriege uns fast ausgelöscht hätten.
Aha, denke ich. »Die Antag erlaubte uns einen kurzen Blick auf etwas, das sie als ›Sonnen-Planet‹ bezeichnet. Ist das einer der Orte, die du meinst?«
Kann sein. Vielleicht war das die letzte Welt, auf der unsere Art gelebt hat, bevor wir ausstarben. Seither sind viele Millionen Sonnenzyklen vergangen, aber möglicherweise hat diese Welt ihr eigenes Archiv bewahrt. Allerdings wären seine Verbindungen nach außen unterbrochen und die gespeicherten Erinnerungen bestenfalls unvollständig. Und es ist gut möglich, dass diejenigen, die ihr Gurus nennt, es bereits gefunden und vernichtet haben.
Eine ganz schön ausführliche Antwort. Wir wissen nicht, was für uns geplant ist. Wenn wir hierbleiben, werden wir auf keinen Fall überleben. Wir würden im Handumdrehen überwältigt oder in eine aussichtslose Hightech-Schlacht verwickelt werden.
Und als ob das allein nicht spannend genug wäre, gibt es da auch noch das Problem, dass mein Antag-Kontakt zwar möglicherweise wirklich das ist, was sie selbst behauptet – ein mitfühlendes Wesen, das sich für unser Überleben einsetzt. Aber trotzdem trauert sie genau wie die anderen Antags um ihre Gefallenen und kann uns auf den Tod nicht leiden.
Außerdem wissen sie, dass die meisten von uns die gleichen Gefühle für sie hegen. Sie vertrauen keinem von uns, und wir werden ihnen nicht vertrauen, selbst wenn sie uns eine Chance geben sollten. Auch wenn der Tobak und die Käfererinnerungen uns einreden, dass wir einander vertrauen sollen.
In einer von Vorsicht gefärbten Kommunikation lässt die Antag mich wissen, dass die Verhandlungen nur langsam vorankommen. Nicht alle in ihrer Einheit glauben, dass menschliche Gefangene ihnen nützen würden. Sie hat nur wenige Unterstützer, und es gibt einen erbitterten Streit über uns, bei dem sie den gegenwärtigen Plan verteidigt und sich für unser Überleben starkmacht.
Aber wenn auf ihren Schiffen die Gegenseite die Oberhand gewinnt, werden wir vielleicht alle eingesammelt und gerettet, nur um gleich darauf nackt im eiskalten Meer ausgesetzt zu werden. Oder wir werden gefoltert und anschließend exekutiert.
Aber das ist nur ein Zwischenstand, wie sie mir versichert. Sie gibt alles, um die anderen davon zu überzeugen, dass sie recht hat. Sie argumentiert mit dem Ehrenkodex der Antags und der Loyalität gegenüber den Vorfahren, deren Erbe durch unser aller Adern fließt.
Die Käfer.
Der Ehrenkodex der Antags?
Um Himmels willen. In was für eine Situation habe ich uns da bloß gebracht? Was ist, wenn das alles nur ein Täuschungsmanöver ist? Wie konnten wir nur auf etwas Besseres hoffen?
In unserer runden Kabine schreit Starshina Uljanowa etwas auf Russisch. Sie versucht Litwinow dazu zu bringen, dass er uns den Befehl zum Kämpfen erteilt. Dass er irgendwas tut!
Viele Kilometer hinter uns und den Schiffen der Antags ertönt ein Wumm. Es ist so tief, dass es unsere Eingeweide durchdringt. Heftige Überdruckwellen erschüttern den Oscar und lassen ihn in den Fugen ächzen. Dann lässt der Druck wieder nach, und wir bekommen alle Kopfschmerzen, weil uns der Knall mit offenen Helmvisieren erwischt hat. Wir schließen und versiegeln sie und vertiefen uns in die Displays.
»Sie wollen abhauen!«, sagt Joe. Die russischen Besatzungen im vierten und fünften Transporter haben die Nase voll. Sie versuchen zu wenden und dorthin zurückzukehren, wo sie sich Rettung erhoffen – in die Arme der menschlichen Streitkräfte, die hinter uns ins tiefe Meer abtauchen.
Doch die Falken der Antags sind über und unter uns hinweggeglitten und positionieren sich nun zwischen den flüchtenden Gefährten und der Nachtschwärze der titanischen Tiefsee. Die Transporter versuchen mit Waffengewalt zu reagieren …
Aber Joe hat ihre Feuerkraft an unseren Hundertfüßer gekoppelt. Die anderen können nur kämpfen, wenn wir es auch tun.
Wie aus dem Nichts sind die widerspenstigen Oscars plötzlich in grelle Sphären aus glühend heißem Dampf gehüllt. Dann erklingt ein weiterer Knall, gefolgt von erneutem Überdruck, und gleich darauf prasseln herumwirbelnde Wrackteile gegen unsere Hülle, wie sehr harte Regentropfen.
»Wer zur Hölle war das?«, brüllt Litwinow. »Sanchez! Geben Sie die Waffen frei!«
»Das waren nicht die Antags«, erwidert Joe. Er hört sich kläglich an, als ob die ganze Sache inzwischen weit über das Maß des Erträglichen hinausgegangen wäre. Ich kann ihm da nur zustimmen. Jetzt sind wir nur noch drei. Wie viele Sekunden noch, bevor wir alle verglühen?
»Wir erkennen Fernstreckenblitze von einer der Maschinen aus dem Kasten«, sagt Borden, und Ischida bestätigt ihre Sichtung. »Sie kommen näher.«
Das ist wohl das, was man Friendly Fire nennt.
Wir haben keine Zeit mehr, sage ich zu meiner Antag.
Von jenseits der Mauern des Steinlabyrinths zischen Blitze an uns vorbei, berühren beinahe den Hundertfüßer und schießen in die Schatten vor uns. Die Antags erwidern das Feuer. Weit hinter uns leuchtet etwas hell auf, das Licht bricht sich in einer Wolke aus sulzigem Eis und lässt sie wie einen Diamanten funkeln. Die feste graue Eisdecke über uns erstrahlt wie in einem bizarren Sonnenaufgang.
Die Falken mit den breiten Schwingen umschwärmen unsere restlichen Oscars. Aus ihren vorschießenden Behältern fahren Werkzeuge heraus. Jetzt geht’s los.
»Die Antags beginnen mit der Bergung«, sagt Borden mit eigenartig ruhiger Stimme. Ist es das, worauf wir alle hoffen? Ist das unsere einzige Chance?
Eine Klinge schneidet wirbelnd in unsere Kabine und verfehlt nur um ein Haar Ischida. Der plötzlich ansteigende Kabinendruck presst uns die Helme fest auf die Schultern. Meine Skyrines fauchen wie Kätzchen, als die eiskalte Flut brüllend über sie hereinbricht. Aber unsere Anzüge erhalten uns am Leben.
Sobald der Schneidevorgang beendet ist, erzeugen schrill kreischende Schneidbrenner scharlachrote Bouquets aus ultraheißem Dampf, die so lange im Innern der Kabine blubbern, bis die Kälte sie wieder einsaugt. Von extremer Kälte zu dampfender Hitze und wieder zurück – und das alles binnen weniger Sekunden. Aber unsere Anzüge halten uns am Leben.
Auf meinem Display sehe ich noch mehr und größere Blitze hinter den Mauern von Käfer-Karnak hervorschießen. Sie durchdringen elektrische Gradienten und lassen die gesamte eisige See um uns herum in leuchtendem Grün erstrahlen – gefolgt von weiteren Sonnenaufgängen dahinter. Auf merkwürdige Weise fühle ich mich versöhnt. Geschätzt. Die Antags verteidigen uns. Aber sie töten auch Menschen. Dabei dreht sich mir der Magen um.
Die erste Reihe der Falken fährt graue Stahlkrallen aus und quetscht sie durch die Spalten, die sie mit ihren Klingen und Schneidbrennern geschaffen haben. Mit ihrer schieren Kraft brechen sie den Kopf des Oscars auf. Von einem der Falken schießen stachelbewehrte Tentakel herüber und gleiten durch die zerstörte Hülle herein. Sie zerschneiden unsere Haltegurte und schälen uns aus den Hängematten, wie Erbsen aus einer Schote.
Wir werden aus unserem Gefährt gerissen, wobei wir gegen die Ränder des Spalts knallen. Dann zerren die Greifarme uns durch die Finsternis, die immer wieder von blauweißen Flammen erhellt wird, auf eine noch größere Maschine zu, die wie ein gigantischer Wels hinter den Mauern aufsteigt. Ihr Kopf ist mehrere Dutzende Meter breit, und ihr dunkler Schlund verschlingt uns in einem Stück.
Darauf folgen drei Minuten, in denen wir durch die undurchdringliche Finsternis taumeln. Das Meerwasser wirbelt um uns herum und fließt ab. Wir sind im Bauch des Welses gelandet.
Unter uns geht flackernd ein kleines Licht an, dem links und rechts weitere folgen. Die Tentakel senken sich herab und schließen sich schmatzend um unsere Arme und Beine, heben uns erneut an und lassen uns durch eine ovale Tür in einen schmalen Tank fallen. Er ist mit einer kalten, brackigen Flüssigkeit gefüllt.
Schon bald gesellen sich weitere Gestalten dazu, die neben uns in den Tank platschen und sich in der Flüssigkeit winden – die Besatzungen der anderen Oscars. Die meisten der Lichter draußen verlöschen. Im Tank ist es zu dunkel, als dass wir einander erkennen können, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich bei einer der Gestalten in ihren Druckanzügen um DJ handelt. Eine andere könnte Jacobi sein, eine weitere Borden. Ich hoffe, ich habe recht, und sie sind wirklich beide hier. Eine etwas kleinere Gestalt könnte Kumar oder Muschran sein. Ich versuche durchzuzählen, aber wir werden andauernd rüde herumgewirbelt.
Wo ist Joe? Wo sind Ischida, Ischikawa, Litwinow und Uljanowa? Schließlich ebbt die Strudelbewegung ab, und wir sinken auf den schlammigen Boden hinab, wo wir in Haufen aufeinanderliegen. Wie Sardinen, die darauf warten, in Dosen abgepackt zu werden.
Durch die halb transparenten und vereisten Wände des Tanks dringt schwaches Licht. Mit einem Mal herrscht Stille, und man hört nur noch vereinzeltes Platschen. Mein Körper fühlt sich an, als würden wir aufsteigen und uns zurückziehen. Aber ich bin mir nicht sicher. Keiner macht ein Geräusch.
Wieso sind wir hier, und warum werden wir so behandelt? Hat man den Antags und uns nicht gesagt, wir sollten uns zusammentun und versuchen, gemeinsam ein großes Rätsel zu lösen?
Wie konnten wir nur in eine derart beschissene Lage geraten, und inwieweit ist Joe daran schuld, dass wir hier gelandet sind? Joe hat mich schon unzählige Male in Schwierigkeiten gebracht. Aber bei unserer ersten Begegnung war ich es, der echten Ärger verursacht hat – beziehungsweise auf die mir einzig mögliche Weise reagiert hat. Jetzt sind wir beide hier, und ich weiß nicht mehr, wie Joe zu mir, zu uns allen steht.
Hat er uns hintergangen? Ist er überhaupt noch am Leben?
Was macht man, wenn man glaubt, man hätte alle Teile eines Puzzles zusammengefügt, und im nächsten Moment wird es angehoben, geschüttelt und fallen gelassen – sodass man wieder ganz von vorn beginnen muss? Wie man auf so etwas reagiert, können sie einem in keinem Ausbildungscamp oder OCS und an keiner Militärschule beibringen. Dabei hilft nur Erfahrung. Aber kaum einer lernt je, wie man mit einem solchen Grad an Verwirrung und Verrücktheit umgehen soll. Dann stirbt man einfach.
Während ich auf dem Grund des Tanks herumrolle und das Knarzen und Klicken meines Anzugs höre, während ich den entfernten Spannungsgeräuschen der Drähte lausche, die sich durch mein Fleisch bohren – ein schier endloser Prozess –, versuche ich die Fassung zu bewahren. Ich erinnere mich daran, dass die Antags zwar mit der Weisheit des Käfergedächtnisses verbunden sein mögen, sie aber immer noch allen Grund haben, uns zu hassen.
Den Verrenkungen und dem leisen Stöhnen der anderen nach zu urteilen bereiten die Anzüge auch ihnen immer noch Schmerzen. Wenn man sich weniger bewegt, tun sie nicht ganz so weh. Immerhin halten sie uns warm.
Wir sind noch zehn oder zwölf. Viel weniger als zu Anfang auf dem Spuker. Wurden ein paar von uns aussortiert? Wählen die Antags uns aus wie Züchter in einem Zuchtbetrieb?
Nach einer Weile entspanne ich mich ein wenig, aber es ist kein schönes Gefühl. Ich kann immer noch mehr oder weniger gut denken, aber ich möchte lieber in vertrauten, sicheren Erinnerungen oder besser noch in Träumen versinken. Träumen von besseren Tagen und Nächten. Von Orten, an denen es den Wechsel von Tag und Nacht gibt. Ich glaube nicht, dass ich im Sterben liege. Aber wie kann ich mir da sicher sein?
Wenn man stirbt, wird man wieder zum Kind. So wie Captain Coyle. Nach ihrer Rückkehr hat sie mir das Zimmer eines kleinen Mädchens und ihre Comicsammlung gezeigt. Aber ich fühle mich noch nicht wie ein Kind. Obwohl mir Erinnerungen aus meiner Jugend, sogar böse Erinnerungen, immer wünschenswerter erscheinen. Und sei es nur, um die Schmerzen auszublenden. Aber ich kann jetzt nicht einfach aufgeben. Nicht nach all dem Mist, den ich den anderen zugemutet habe.
Und dann durchlebe ich, trotz meiner konzentrierten Aufmerksamkeit, einen Moment der Panik. Ich fange an zu schreien und wild um mich zu schlagen. In diesem beschissenen Tank kommt mir alles viel zu verschwommen vor, und ich weigere mich, die Nichtigkeit zu akzeptieren, die sich hier drinnen vor mir auftut. Weil ich wirklich wissen will, was als Nächstes passiert.
Ich möchte dabei sein, dort draußen. Ich will mehr darüber erfahren, was unsere Feinde im Schilde führen und wer sie sind. Ich meine, wer wirklich unsere Feinde sind. Herausfinden, wie die Gurus die Erde übers Ohr gehauen haben. Wenn man stirbt, erfährt man nichts mehr, dann ist man aus dem Spiel. Stimmt das? Ich bin mir nicht sicher, ob das immer so ist.
Für Captain Coyle hat das wohl nicht unbedingt gegolten. Aber sie hat sich in Glas verwandelt. Vielleicht ist das ja eine andere Kategorie Tod, und man wird dann zu einer Art Buch, in dem andere lesen können – auch wenn man selbst es nicht vermag. Und jetzt kann ich sie nicht mehr in meinem Kopf hören, weil ihr Transit abgeschlossen ist. Die Tinte in ihrem Buch ist getrocknet, und sie ist nun in den Erinnerungsspeicher unserer Altvorderen eingegangen.
Inwiefern unterscheidet sich das von einem echten Tod?
Es ist nur so, dass ich immer noch etwas bewirken möchte.
Deswegen, und auch weil mir der Hals wehtut und es keinen Sinn hat, um mich zu schlagen, halte ich inne. Ich stoße dabei sowieso nur permanent gegen die anderen, und ich möchte ihnen nicht wehtun.
Außerdem kann ich nicht mehr.
Ich wälze mich auf die linke Seite und versuche, durch meine verklebten Lider etwas zu erkennen. Durch die dunklen und beschlagenen Wände sehe ich die verschwommenen Umrisse von Antags, die wie Pinguine oder Seevögel mit den Flügeln schlagen. Sie schwimmen oder fliegen um unseren Tank herum. Sie beobachten uns. Fliegen sie, oder befinden sie sich wie wir in einer Flüssigkeit?
Wie ein ertrinkender Seemann an seinen Rettungsring klammere ich mich an diese Frage. Laut und wie ein Lehrer in der Schule sage ich zu mir selbst: »Vielleicht sind ihre Schiffe mit einer sauerstoffhaltigen Flüssigkeit gefüllt. Mit so etwas wie Freon, mit dem sich auch ein anderes Verhältnis zum Außendruck herstellen ließe. Vielleicht haben sie uns mit der gleichen Flüssigkeit übergossen. Aber möglicherweise ist es auch nur warmes Wasser, Meerwasser. Vielleicht stammen sie von einer Wasserwelt. Ich weiß es nicht. Ich habe überhaupt keinen Dunst und schwafle bloß so vor mich hin.«
So viel zum Thema Lehrer.
Ich versuche noch einmal, mich in die Erinnerung an bessere Zeiten zu flüchten, aber ich finde nicht mehr den Weg zurück zum Strand von Del Mar bei Sonnenuntergang. Wo ich Shorts, T-Shirts und Sandalen getragen habe. Wohin ich vor unserer Verpflichtung beim Militär mit Joe getrampt oder gelaufen bin, in der Hoffnung, dort Mädchen aufzureißen – oder dass Mädchen uns aufreißen. Ich war damals fünfzehn und Joe sechzehn. Wenn man das Alter der Mädchen in den Autos bedenkt, deren Schweinwerfer aufblitzten und die in der Nacht vorbeirumpelten oder -summten, hatten wir kaum eine Chance auf Erfolg.
Aber ich kann mich nicht in den guten Zeiten verlieren. Stattdessen bleibe ich immer bei jenem Tag hängen, als ich zum ersten Mal Joes Hilfe brauchte. Bei unserer ersten Begegnung, bevor wir Freunde wurden.