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Dana Alison Levy

Die verflixten
Fletcher-Boys
machen Ferien

Aus dem amerikanischen Englisch
von Catrin Frischer

Mit Ilustrationen
von Maria Karipidou

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1. Auflage 2017

© 2016 Dana Alison Levy

Die Originalausgabe erschien 2016

unter dem Titel »The Family Fletcher takes Rock Island«

bei Delacorte Press, an imprint of Random House Children’s books,

a division of Random House LLC,
a Penguin Random House Company, New York

Permission for this edition was arranged through

the Nancy Gallt Literary Agency

© 2017 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Catrin Frischer

Lektorat: Katja Gabriel

Illustrationen und Vorsatz: Maria Karipidou

Umschlaggestaltung: Maria Karipidou

Herstellung: eS

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-16548-2
V001

www.cbt-buecher.de

lnhaltsverzeichnis

Kapitel 1
… in dem die Fletchers nach Rock Island zurückkehren, ein Ort, an dem die Zeit stillsteht

Kapitel 2
… in dem sowohl die Guten, die Bösen und das Eis vorkommen

Kapitel 3
… in dem Sam findet, dass es mit der Nachbarschaft bergab geht

Kapitel 4
… in dem Frog beschließt, Tiertrainer zu werden

Kapitel 5
… in dem erklärt wird, was das Problem mit dem Leuchtturm ist, doch Jax den Boten am liebsten erschießen würde

Kapitel 6
… in dem Eli vor einer Herausforderung steht und alles verloren sein könnte

Kapitel 7
… in dem sich manche Fletchers der Situation gewachsen zeigen, einige dann aber doch nicht

Kapitel 8
… in dem Eli es schwierig findet, das Gleichgewicht zu halten

Kapitel 9
… in dem ein Brunch mit einer Portion Überraschung serviert wird

Kapitel 10
… in dem Sam auf einer imaginären Bank sitzt, um sich die Zeit zu vertreiben

Kapitel 11
… in dem es sehr hilfreich ist, über Bord zu gehen

Kapitel 12
… in dem die Sache langsam interessant wird

Kapitel 13
… in dem Spionieren schwerer ist als gedacht

Kapitel 14
… in dem man es immer noch mit dem Internet versuchen kann, wenn sonst nichts klappt

Kapitel 15
… in dem Elis Geburtstag mit einem Platschen anfängt

Kapitel 16
… in dem Sam keine Perücke aufsetzen will (Zeus aber schon)

Kapitel 17
… in dem die Spione auffliegen

Kapitel 18
… in dem die Strafe nicht dem Verbrechen angemessen ist

Kapitel 19
… in dem anscheinend alles schiefgeht

Kapitel 20
… in dem sich Lucy alles anhört

Kapitel 21
… in dem Sam klar wird, dass die Show weitergehen muss – obwohl ihm was anderes lieber wäre

Kapitel 22
… in dem für Sam und Lili Showtime ist

Kapitel 23
… in dem die Fletchers (und Elon) stürmischen Beifall ernten

Kapitel 24
… in dem es soweit ist, die Insel zu verlassen

Für Eri in Liebe und Dankbarkeit
für all die wunderschönen Sommer.
Du bist die beste große Schwester
auf der ganzen Welt.

Kapitel 1

… in dem die Fletchers nach Rock Island zurückkehren, ein Ort, an dem die Zeit stillsteht

Käpt’n Jims Inselnachrichten

August, 6 Uhr

Das dürfte mal wieder ein schöner Tag auf Rock Island werden, mit Temperaturen um die 25 Grad und einer kräftigen Brise für die Segler. Und wo wir gerade von den Seglern sprechen, gehört irgendjemandem der schwarze Labrador namens Gus? Wenn ja, dann kommen Sie doch bitte zur Station der Küstenwache. Gus hatte sich in Tauwerk verheddert und sabbert seit seiner heroischen Rettung den wachhabenden Offizier voll.

»Wir verpassen noch das Schiff«, jammerte Frog von der hintersten Bank des Vans. Er war in der dritten Reihe angeschnallt, mit dem Hund Sir Puggleton und zwei Katzenkäfigen, die Zeus, den 8 ½-Kilo-schweren-Maine-Coon-Kater, und das sechs Monate alte Kätzchen Lily beherbergten. Alle grummelten das leise, unzufriedene Grummeln von Tieren, die sich ihrer misslichen Lage ergeben hatten. Frogs drei ältere Brüder hatten sich in die mittlere Sitzreihe gequetscht, auch sie grummelten hin und wieder. Keiner war richtig froh.

»Wir haben Zeit. Wir schaffen das«, sagte Dad. Aber Eli bemerkte, dass er den Kopf verdrehte und auf den Verkehr linste, der die Autobahn verstopfte.

»Selbstverständlich schaffen wir das!«, dröhnte Papa, der sich beim Fahren so weit übers Lenkrad gelehnt hatte, als wollte er mit schierer Willenskraft durch den Verkehr pflügen. »Bis jetzt haben wir noch nie eine Fähre verpasst.«

»Doch, haben wir!«

Jax und Eli waren gleichzeitig damit herausgeplatzt.

Jax und Eli waren gleichzeitig damit herausgeplatzt.

Eli warf seinem älteren Bruder nur einen Blick zu und überließ ihm das Reden. Man konnte sich darauf verlassen, dass Jax sich an die Tatsachen hielt.

»Weißt du noch, Papa? In dem Jahr, als wir zum Memorial Day fahren wollten. Und dann war da ein Unfall auf der Autobahn? Und wir saßen …«

»Wir saßen VIER STUNDEN fest«, warf Sam ein. Er unterbrach sein irres Simsen für einen Moment und schaute von seinem Handy auf. »Und ich hab an dem Wochenende ein Fußballturnier verpasst. Das war das Schlimmste.«

»Ja, und Sir Puggleton hat ins Auto gekotzt«, ergänzte Frog.

»Und wir mussten in diesem ekligen Motel übernachten«, sagte Eli. Bei der Erinnerung daran zog sich seine Nase kraus.

»Ach ja, das Modermotel. Haben wir es nicht so genannt? Sind das nicht schöne Familienerinnerungen, Leute?«, fragte Dad.

»Meine Herren, ich muss doch bitten. Wir sind nur etwa zehn Minuten vom Anleger entfernt. Wir haben jede Menge Zeit. Vielleicht nicht ganz so viel, wie wir hätten, wenn nicht jemand versäumt hätte, seinen Koffer ins Auto zu stellen, was ein Umkehren erforderlich gemacht hat, um das nachzuholen«, – hier hielt Papa mit einem auf Dad gerichteten Blick inne – »aber wir haben noch Zeit. Keine Bange.«

Und tatsächlich, kaum hatte er das gesagt, schwenkte Papa auch schon auf die Abfahrt von der Autobahn ein. Eli wusste, dass es jetzt nicht mehr weit war. Jax und Sam ließen beide die Fenster runter und die kräftige, warme, salzige Seeluft wehte durch die Kühle des klimatisierten Autos. Sir Puggleton fing ernsthaft an zu bellen, denn er wusste, dass die Freiheit zum Greifen nah war.

Eli machte die Augen zu und ließ sich vom Geruch überwältigen, während das Auto die letzten paar Kurven vor dem Anleger nahm. So roch ein richtiger Hafen, nach Dieselmotoren, Fisch und Möwen und den gebratenen Meeresspezialitäten des Restaurants am Fähranleger. Und so roch der August, in dem die Fletchers an Bord der Fähre gingen und die zwanzig Meilen Atlantik überquerten, die das Festland von Rock Island trennten. Sie waren fast da.

Natürlich mussten sie erst noch auf die Fähre …

»Frog. FROG! Bitte, gib jetzt jemandem die Hand! Du läufst nicht voraus!«, rief Dad. Reisetaschen und Kühlboxen schleppend konnte er Frogs aufgeregten Sprüngen nicht so schnell folgen. Papa stand noch in der langen Autoschlange und wartete darauf, den Van in den Bauch der Fähre fahren zu können.

»Jax, fang doch bitte deinen Bruder ein«, ordnete Dad an, als Frog gerade noch einem verschreckt anmutenden älteren Ehepaar ausweichen konnte und Richtung Gangway rannte.

»Kann Sam ihn nicht holen? Ich hab hier dieses blöde durchgeknallte Pelztier.« Jax hievte Lilis Katzenkäfig hoch, in dem sie sich wie eine Gefolterte gebärdete.

»Na, ich hab diesen pelzigen Durchgeknallten«, antwortete Sam. Sein Arm war schon ganz lang, weil Zeus’ Käfig so schwer war. »Na gut. Dann nimm aber meinen Ball«, sagte er, kickte seinen Fußball rüber zu Jax und rannte hinter Frog her. Jax grölte auf und schoss nach vorn, um den Ball abzufangen, bevor er über den Kai ins Wasser rollen konnte. Lili, der die ruckartigen Bewegungen eindeutig missfielen, jaulte lauter.

»Diese blöde kleine Katze!«, sagte Jax. Er klemmte sich den Ball unter einen Arm und versuchte den baumelnden Katzenkäfig zu stabilisieren. »Kann sie nicht einfach mal den Rand halten?«

»Du machst ihr Angst«, sagte Eli. »Weißt du, auch ohne Worte kommunizieren Tiere ganz deutlich. Lili teilt dir auf ihre Weise mit, dass sie Angst hat.« Er zerrte an Sir Puggleton, dessen Krallen sich in die Planken der Gangway bohrten, weil er unbedingt festen Boden unter den Füßen behalten wollte. Sir Puggleton verabscheute Boote und die Ausdrucksmöglichkeit seiner Wahl war offenbar die totale Verweigerung jeglicher Fortbewegung.

Jax zuckte mit den Achseln. »Sie macht mich fertig mit diesen Geräuschen, aber …« Lili gab plötzlich einen verzweifelt hackenden Laut von sich. »Igitt! Welche ›geheime Botschaft‹ vermittelt denn so ein Katzenhacken?«

»Lasst uns einfach an Bord gehen, Jungs. Da können wir dann alles saubermachen.« Dad sah geschafft aus, und Eli fiel auf, dass sie ziemlich allein auf dem Kai standen.

»Froschgesicht! Komm jetzt sofort her!«, kommandierte Sam. Widerwillig drehte Frog sich um. Sam war so ziemlich der einzige Fletcher-Bruder, auf den Frog mal hörte.

»Aber ich hab da kleine Fische gesehen. Und Krebse ganz tief am Grund«, sagte er.

»Die können wir uns auch auf der Insel angucken. Du willst doch bestimmt nicht die Fähre verpassen, oder? Wir können dich ja hier lassen, wenn du willst …« Sam sah Frog fragend an.

Frog kreischte auf, kam angelaufen und packte Sams Hand. Mehr oder weniger geordnet reihten sich die Fletchers in die Schlange vor der Fähre ein.

Eli schaute sich um. Sie versperrten die komplette Gangway. Ganz vorne stand Sam, der mit dreizehn praktisch schon so groß war wie ein Erwachsener. Er war ziemlich struppig, denn Sommerferien bedeuteten für ihn, dass er sich nicht die Haare schneiden lassen musste. Neben Frog wirkte er noch viel größer, denn trotz seiner sechseinhalb Jahre war Frog noch immer kleiner als alle anderen künftigen Erstklässler seiner Schule. Im Sommer wurde Sam gerade mal so braun, dass er neben Frog nicht mehr blass wirkte, aber wie Brüder sahen die beiden immer noch nicht aus. Natürlich nicht, dachte Eli, er und Jax ja auch nicht. Jax hatte sich am Ende des Schuljahres den Afro abrasiert, weil er fand, dass der im Sommer zu warm war. Aber Elis blasse Haut bekam Sonnenbrand und Sommersprossen, während Jax von vornherein dunkel war und nur noch dunkler wurde. Und Jax rutschte auch nicht andauernd eine Brille die verschwitze Nase runter. Wenigstens war Eli immer noch größer als Jax, obwohl Jax ihm gern unter die Nase rieb, dass er trotzdem immer fünf Monate älter bleiben würde.

Sie gingen über die Gangway und kletterten die schmale Eisentreppe der Fähre hoch, ihre Stimmen hallten, ihre Schritte schepperten. Endlich, endlich hatten die Fletchers das oberste Deck erreicht und nach der Dunkelheit im Treppenhaus blinzelten sie in die Sonne. Drängelnd und schubsend steuerten sie auf ein paar Liegestühle zu, auf die sie mit einem Seufzen ihre Lasten abluden.

Die Fähre nahm Fahrt auf, sobald sie den Hafen hinter sich gelassen hatte. Wie immer hielt Frog sich die Ohren zu und vergrub sein Gesicht in Papas Schoß, als das Schiff laut tutete. Dann waren sie endlich auf dem Weg. Hinter ihnen wurde das Festland langsam kleiner und verschwand schließlich im Nebel, der irgendwie trübe und hell zugleich war. Ein salziger Film legte sich auf ihre Haut.

Papa seufzte tief und glücklich. »Nichts auf der Welt ist so gut wie der Moment, in dem die Fähre nach Rock Island ablegt. Seit über vierzig Jahren nehme ich diese Fähre. Mimi und Boppa sind wahrscheinlich schon ein Dutzend Mal davor übergesetzt. Und nichts als Sand, Felsen, Meer und Himmel am anderen Ende.«

»Und Eis«, sagte Frog. »Und all die Krebse und Hummer. Glaubt ihr, dass Gar Baby noch da ist?« Gar Baby war sein geliebter Einsiedlerkrebs vom letzten Sommer.

»Krebse leben nicht besonders lange«, fing Eli an. »Möwen und andere Fressfeinde …«

»Aber ja! Im Moment wollen wir nicht näher auf die raubtierhaften Gewohnheiten von Möwen eingehen, wenn’s recht ist, Eli«, unterbrach Papa ihn. Er sah Frog besorgt an, denn der war bekannt dafür, hemmungslos in Tränen auszubrechen, wenn man ihn mit den harten Lektionen der Natur konfrontierte. »Lasst uns lieber von Eis sprechen! Welche Sorte werdet ihr nehmen?«

»Cappuccinokaramell, wie immer«, sagte Eli entschlossen.

Die anderen Jungs antworteten schnell.

»Schokolade.«

»Cookieteig.«

»Softeisbecher.«

»Wenn es doch mal ein paar neue Sorten geben würde«, sagte Sam. »Die haben schon ewig dasselbe Zeug.« Er seufzte. »Und nirgendwo hat man ein ordentliches Netz.«

Papa sah ihn komisch an und Sam redete schnell weiter. »Aber, was soll’s. Ich kann’s gar nicht erwarten anzukommen! Wie die Wellen wohl sind? Ich wette, dieses Jahr mach ich ein paar total abgefahrene Touren.«

»Und wer will schon neue Sorten?«, fragte Jax so, als ob er seine Insel verteidigen wollte. »Alles ist perfekt, so wie es ist. Das beste Eis, die besten Priele, der beste Leuchtturm. Warum soll sich daran was ändern?«

»Hey, ich geh zuerst auf den Leuchtturm!«, brüllte Sam, der sein Handy einen Moment lang vergaß. »Ihr könnt unten rumlaufen, aber ich klettere als Erster rauf.«

»Von wegen! Wir können alle hochklettern. Ich will sehen, ob Seehunde auf den Felsen sind – und das sieht man nur von dort«, sagte Eli.

»O ja, und ich will eine Wasserschlacht, unten gegen oben«, sagte Jax. »Unten kriegt den Schlauch!«

Der Leuchtturm mit den riesigen Streifen war vielleicht das Beste an Rock Island. Er stand gleich neben dem Grundstück der Fletchers und das leere Innere mit der Wendeltreppe war für die Öffentlichkeit frei zugänglich. Und an ihrem Ende der Insel waren die Fletchers die ganze Öffentlichkeit. In der Nähe gab es nur noch eine riesige Kapitänsvilla, die seit Jahren leer stand, weil sie irgendwelchen Leuten gehörte, die weit weg wohnten, und ein paar kleine Hütten mit alten Ehepaaren, die kein Interesse an Leuchttürmen hatten. Das Fletcherhaus war auch winzigklein, eine ehemalige Fischerhütte, die im Laufe der Jahre zu ihrer derzeitigen Größe von zwei Zimmern und einem Schlafboden ausgebaut worden war. Aber wen störte schon, wie klein das Haus war, schließlich konnten sie nach nebenan in den Leuchtturm ausweichen.

»Wir gehen alle zusammen hoch, so wie immer«, sagte Jax. Sam nickte. Er war überstimmt.

Eli seufzte zufrieden. Er liebte Rock Island und die Gleichförmigkeit des Sommers, die Aktivitäten, die Tradition geworden waren und sich jetzt anfühlten wie bedeutende Rituale: zum ersten Mal die Leuchtturmtreppen hochrennen, die erste Eiswaffel, das erste Bad in den Wellen. »So wie immer«, wiederholte er Jax’ Worte.

»Ich will, dass alles für immer und ewig so bleibt«, sagte Frog. Er hatte sich an Papa gekuschelt, das Schaukeln der Fähre machte ihn schläfrig.

»Ein bisschen müssen die Dinge sich ändern«, sagte Dad, der sich mit einem Sweatshirt unter dem Kopf auf eine Bank gelegt hatte. »Guckt euch doch mal an, Jungs. Ein Jahr älter und größer und auf der Suche nach neuen Abenteuern.«

Jax schüttelte den Kopf. »Nein! Rock Island verändert sich nicht. Das steht sogar auf dem Schild am Hafen. Willkommen auf Rock Island, wo die Zeit still steht. Da bleibt alles immer gleich. Und deshalb finde ich es so schön.«

Kapitel 2

… in dem sowohl die Guten, die Bösen und das Eis vorkommen

E-Mail vom 1. August

AN: LUCY_CUPCAKE

VON: PAPABÄR

BETREFF: Geschafft

Hey, Lucy,

wir sind jetzt offiziell auf der Fähre. Angesichts des Versuchs, gestern um Mitternacht zu packen, und des Verkehrs heute Morgen kommt mir das vor wie ein Sieg. Wer weiß, was wir vergessen haben … Wenigstens hab ich vier Jungs dabei und Tom, das ist schon mal gut. Wie du auf dem Foto im Anhang sehen kannst, haben wir den ganzen hinteren Teil der Fähre für uns allein … wahrscheinlich weil das verdammte Kätzchen die ganze Zeit jault, was Sir Puggleton in artenübergreifendem Mitgefühl zum Bellen veranlasst. Nur Zeus hält in wahrhaft wunderbarer katzenhafter Würde den Mund. Puh.

Na egal, ich kann’s nicht erwarten … Fast fünf herrliche Wochen Strandleben! Ich bin ein bisschen neidisch auf Tom, das gebe ich zu. August ist ein toller Monat, um Lehrer zu sein. Aber ich werde auch ab und zu ein bisschen schwänzen – wenn’s gar nicht anders geht, erzähle ich allen, dass die Internetverbindung ausgefallen ist. Schließlich befinden wir uns 20 Meilen vor der Küste auf hoher See.

Ich freue mich schon, dich wiederzusehen. Kurz vor Labour Day, jippieh! Wir bewahren dir Sand und Sonne auf!

Alles Liebe

Dein Bruder

Auf der weißen mit Muschelgrus bedeckten Auffahrt war der Van noch nicht mal zum Stehen gekommen, als Jax und Sam die Türen aufrissen und rauspurzelten.

»Ahhh! Wir sind da! Wir sind da! Es sieht genauso aus wie immer!«, grölte Jax und rannte mit voller Kraft voraus auf das kleine Haus mit dem grauen Schieferdach zu. Sir Puggleton folgte ihm mit der Nase dicht am Boden, er musste all die aufregenden neuen Gerüche aufnehmen. Jax atmete auch ein. Es roch nach Meer, nach sonnenbeschienenem Gras und nach den wilden Heckenrosen, die an der Auffahrt blühten wie verrückt.

»Hä? Was hast du denn erwartet? Dass es sich in eine Mietskaserne verwandelt hat? Das Haus steht hier schon seit hundert Jahren so, Blödmann«, sagte Sam. Aber er grinste, als er Jax in den Schwitzkasten nahm. Jax jaulte auf und stürzte sich auf Sams Knie, woraufhin sie beide lachend auf den Rasen fielen.

Das Nugget – der Goldklumpen, wie es genannt wurde – war ein ziemlich knorriges Haus, das aussah, als wären die Räume recht gedankenlos aneinander gebaut worden. Und so sah es aus, weil es genau so gewesen war. Die ursprüngliche Ein-Raum-Fischerhütte war von verschiedenen Besitzern bis zu ihrer derzeitigen Form ausgebaut worden. Papas Eltern, Mimi und Boppa, hatten sie gekauft, als Papa und Tante Lucy noch Babys gewesen waren. Seitdem hatte sich nicht viel verändert. Drinnen gab es eine große Küche, ein kleines Wohnzimmer und zwei winzige Schlafzimmer (eines davon war Papas Arbeitszimmer) und einen Schlafboden mit vier Betten und einer Leiter zum Hoch- und Runterklettern. Natürlich gab es auch ein Badezimmer, das ging von der Küche ab. Eine Außendusche in einem schattigen Holzverschlag und eine rückwärtige Terrasse, auf die sich Karnickel und manchmal sogar Rehe verirrten, vervollständigten das Anwesen. Es war winzig. Und es war oft sehr heiß. Und es war unmöglich, die Mücken draußen zu halten, weil alle Rahmen der Fliegengitter verzogen waren. Es war das perfekte Haus, fand Jax jedenfalls.

»Keiner haut ab, bevor das Auto entladen ist«, sagte Papa, der Koffer und Büchertaschen schleppte.

»Und lasst diese Katzen raus, bevor sie den Verstand verlieren«, ergänzte Dad. »Sorgt dafür, dass Lili ihr Halsband trägt. Wir wollen sie nicht verlieren!« Das Kätzchen Lili war noch nie auf Rock Island gewesen, im Gegensatz zu Zeus, der die Insel als sein persönliches Königreich betrachtete. Die Fletchers hatten gelernt, die hintere Terrasse morgens mit Vorsicht zu betreten, denn dort legte Zeus der Familie oft einen besonders schönen Mäusekopf oder ein Stückchen Kröte hin.

Widerstrebend kehrten die Jungs zum Auto zurück. Was sie mitnahmen, spiegelte die besonderen Vorlieben eines jeden wider. Sam schnappte sich die riesigen Kartons mit Frühstücksflocken, Erdnussbutter und Kartoffelchips, die er so hoch stapelte, dass er den Weg kaum noch sehen konnte. Eli holte vorsichtig Teleskop und Mikroskop aus dem Wagen, die in Handtücher eingewickelt waren – und weigerte sich mit jemandem zu reden, bis er beides sicher drinnen auf der ausgeblichenen Couch abgelegt hatte. Frog nahm seine Netze und Sammeleimer und kam sogar bis zum Ende der Auffahrt, wo er alles fallen ließ, um sich auf die Jagd nach Grashüpfern zu machen. Jax schnappte sich das Netz mit den Fußbällen, Schlagbällen, Baseballhandschuhen und anderem Zubehör, dann klemmte er sich die mobilen Tornetze unter den anderen Arm und brachte sie in den großen Garten. Als er um die Hausecke bog, schaute er auf und schrie – laut und schrill.

»Was ist los?«, brüllte Papa, ließ die Taschen fallen und sprintete Richtung Garten. Frog folgte ihm auf den Fersen. Dad und Jax’ restliche Brüder stürzten im selben Moment aus der Hintertür. Jax bemerkte das kaum. Die Sportsachen lagen unbeachtet vor seinen Füßen – er konnte nur noch glotzen.

Vor ihm lag – wie erwartet – der große Garten, von Büschen gesäumt und mit hohem Gras, durch das sich ein sichtbarer Pfad schlängelte. Wie überall auf der Insel gab es nur niedriges Gestrüpp und Bäume, die vom Seewind niedergedrückt und verbogen worden waren, der sandige Boden ließ lediglich die willensstärksten Gräser und Wildblumen sprießen. Das Dünengras und der Pfad, den die Fletchers durch jahrelanges Hin- und Herlaufen gebahnt hatten, lag zwischen dem Nugget und dem Leuchtturm von Rock Island. Und jetzt das! Der Pfad wurde jäh versperrt von einem riesigen Maschendrahtzaun, der um den ganzen Leuchtturm herum gezogen worden war und nun groß und widerwärtig hinter dem Garten aufragte und die Fletchers von dem Ort fernhielt, den sie als Teil ihres Zuhauses betrachteten. Was war hier los? So lange die Fletchers zurückdenken konnten, hatte sich niemand um den Leuchtturm gekümmert und sie hatten nach Herzenslust die Wendeltreppe hochklettern und oben mit dem Fernglas nach Seehunden Ausschau halten können. Und jetzt diese … diese … diese Bedrohung. Plötzlich wurde Jax ganz schlecht. Wer machte denn so was?

»Himmel noch mal, Jackson, wenn nicht gerade was brennt – einer deiner Brüder zum Beispiel –, dann darfst du nicht so loskreischen«, sagte Papa mit einer Hand auf der Brust. »Man schreit nicht ›Mord‹, es sei denn es handelt sich um einen Notfall.«

»Das ist doch ein Notfall!«, sagte Jax hitzig. Sahen seine Väter das Ding vor ihren Nasen denn nicht? »Was zum Geier ist hier los? Warum können wir nicht zum Leuchtturm?«

»Nanu. Wie seltsam.« Papa starrte hoch. »Das ist wirklich seltsam.«

»Da ist ein Betreten verboten-Schild«, sagte Sam. Er war dem Pfad so weit gefolgt, wie es ging, und lehnte sich jetzt an den Zaun. Obwohl er fast so groß war wie Dad, wirkte er mickrig vor dem hohen Metallgitter.

»Jason, hast du was von der Sperrung des Leuchtturms gehört?«, fragte Dad.

Papa schüttelte den Kopf, die Sonnenbrille verbarg seine Augen. Aber er hatte die Lippen zusammengepresst, daher wusste Jax, dass Papa den Zaun genauso wenig mochte wie er.

»Offenbar müssen wir uns Informationen verschaffen. Aber keine Panik, Jungs«, sagte Dad, der auf Sam zuging. »Vielleicht hat die Stadt ja nur Reparaturen ausführen lassen, womöglich wird der Leuchtturm sogar gestrichen. Oder? Wahrscheinlich gibt es eine ganz einfache Erklärung.«

Die letzten Worte waren an Papa gerichtet, so als wollte er eigentlich nur ihn beruhigen.

Sie schauten alle zum Leuchtturm hoch. Der sah genauso aus wie immer. Weiß, rund und imposant, mit einem dicken roten Streifen um die Mitte. Die Farbe war ausgeblichen, fand Jax, und an einigen Stellen blätterte sie ab. Aber wen störte das? Was, wenn der Turm wochenlang gesperrt war? Sie waren nur einen Monat auf der Insel.

Langsam ging die Familie um den Zaun herum. An der Vorderseite war das Tor mit einer riesigen Kette verschlossen. Jax glotzte, dann machte er die Augen zu. Er hatte sich doch ganz bestimmt verguckt! Am Zaun, gleich neben einem weiteren Betreten verboten-Schild hing noch ein Schild mit der Aufschrift: Zu verkaufen – Anfragen an das Gemeindebüro. Und darunter auf einem kleineren Schild stand: Verkauf anstehend.

Jax drehte sich und trat mit voller Wucht gegen einen Stein – und gleich noch einen, obwohl das seinen Zehen ziemlich wehtat. Seine Augen waren heiß und juckten, er hatte fast das Gefühl, weinen zu müssen.

»Was heißt anstehend?«, fragte Frog.

»Das heißt, dass jemand ihn kaufen wird. Den Leuchtturm kaufen«, sagte Sam dumpf. »Aber wie können die so was machen? Wie kann das sein, dass er zu verkaufen ist?«

Papa, der das Schild angestarrt hatte, wandte sich schließlich ab und schüttelte sich ein bisschen. Er lächelte die Jungs an, aber es wirkte gezwungen. »Manchmal werden Leuchttürme von Bürgervereinen gekauft, die versprechen, sich gut um sie zu kümmern«, sagte er. Er redete in diesem übertrieben zuversichtlichen Ton, den er auch bei schwierigen geschäftlichen Telefonaten einsetzte. »Vielleicht ist es so was.« Damit machte er sich auf den Rückweg zum Nugget. Schnell.

Die Jungs guckten noch eine Sekunde länger zum Leuchtturm, dann folgten sie ihm.

»Nachher rufe ich Käpt’n Jim an und lass mir die Story erzählen. Okay, Jax?«, sagte Papa über die Schulter hinweg. Käpt’n Jim war einer der Wenigen, die das ganze Jahr über auf der Insel lebten, und er wusste alles. »Wie Dad schon sagte, keine Panik. Es könnte eine ganz einfache Erklärung geben. Also lasst uns einfach auspacken – und vielleicht ist dann ja noch Zeit, schnell mal ins Wasser zu gehen. Hört sich das gut an?«

Jax’ Blick streifte seine Brüder. Sie sahen so unsicher aus, wie er sich fühlte. Was sollten sie machen, wenn der Leuchtturm sie nicht so willkommen hieß wie sonst … Eli trat schließlich vor.

»Komm, Jax, Schere, Stein, Papier – um das Bett am Fenster«, sagte er. Die beiden kämpften immer um das Bett am Fenster, das den geringsten Kopffreiraum, aber den interessantesten Ausblick bot.

Jax nickte und ging mit Eli zurück zum Haus, Papas Spur folgend. Dad, Frog und Sam kamen hinterher.

»Wird gebaut am Leuchtturm?«, fragte Frog. »Der Zaun sieht so aus wie ein Baustellenzaun. Das wäre doch toll, wenn hier Bagger und Raupen wären.«

Jax guckte Frog sauer an, er konnte nicht anders. »Wir wollen keine Bagger und Raupen. Wir wollen in den Leuchtturm!«

Frogs Lächeln verglomm und er schob seine Hand in die von Dad. Jax fühlte sich noch mieser. Das war nicht ganz die Rückkehr nach Rock Island, von der er geträumt hatte.

Später, als das Auto entladen, als er Elis Stein mit Papier geschlagen, als sie die Fußballtore aufgestellt und angefangen hatten zu spielen, da ging es Jax wieder besser. Wenigstens solange er nicht zum Maschendrahtzaun guckte. Beim Fußballspielen bestand er darauf, nur das dem Zaun abgewandte Tor anzuspielen, damit er dem Ungetüm, das seine Insel verschandelte, den Rücken kehren konnte.

Schließlich warfen sich die Brüder verschwitzt und durstig auf die Liegestühle, wo sie hechelten wie Sir Puggleton nach ausgiebigem Toben.

»Haben wir Limonade?«, fragte Sam.

»Nee, war noch keiner bei Mr Hooper«, sagte Eli. Hoopers Lebensmittelladen war das einzige richtige Geschäft auf Rock Island – und das lag weit weg auf der anderen Seite der Insel, beinahe zehn Kilometer die verträumte Straße entlang, die sich mitten durch die Insel schlängelte.

»Und was ist mit Eislollis?«, fragte Jax. Er ließ den Kopf über die Stuhlkante hängen und genoss das Schwindelgefühl, das der Kopfüberzustand mit sich brachte.

»Nee. Noch war niemand im Laden«, wiederholte Eli.

»Haben wir Eis?«, sagte Frog begierig und setzte sich kerzengerade hin. »Oooh! Ich will ein Eis!«

»Es war noch niemand im Laden«, sagte Eli ärgerlich. »Denkst du, wir konnten Eis in unsere Taschen packen? Wir haben kein Eis, weder am Stiel noch im Becher und keine …«

Er hielt inne. Jax hob den Kopf. Aus der Ferne kam ein Geräusch, ein Geräusch, das sie sehr gut kannten, doch das auf Rock Island in all den Jahren des Fletcherlebens noch nie vernommen worden war.

»Ist das etwa …«, sagte Jax.

Sir Puggleton fing an zu bellen, es war sein lautes Ich-habe-etwas-anzukündigen-Bellen.

»Eiswagen! Eiiheiswahagen!« Frog gab Töne von sich, die zwischen Gurgeln und Schreien lagen, während er wie ein Irrer im Kreis herumrannte. »Er ist hier! Hier gibt es einen Eiswagen. Eiiheiswahagen!« Mit einem letzten durchdringenden Schrei, der so hoch war, dass Fledermäuse ihn hätten hören können, verschwand er um die Hausecke.

Die anderen Fletchers folgten ihm. Ein Eiswagen auf Rock Island? Wer hätte das gedacht? Zu Hause in Shipton gab es so was selbstverständlich. Und der kam immer in ihre Straße und wartete geduldig, bis Frog so laut geklingelt hatte, dass noch sämtliche Kinder zwei Straßen weiter Bescheid wussten. Frog war so was wie ein Eiswagengroupie, dachte Jax, als er auf den Wagen zu rannte. Als nächstes würde er den Fahrer bestimmt um ein Autogramm bitten.

Bis die Jungs ihre Väter eingefangen und die Straße erreicht hatten, war der Wagen schon ein paar Häuser weiter, er fuhr aber langsam. Sie rannten hinterher und er hielt direkt vor dem alten Haus der Wheelrights. Im Gegensatz zu den anderen Ferienhäusern ringsum war dies das große, stattliche Haus eines Kapitäns. Es stand schon eine Ewigkeit leer, länger, als irgendeiner der Fletcher-Boys zurückdenken konnte. Offenbar gehörte es irgendwelchen reichen Leuten, die im Ausland wohnten und sich nie die Mühe machten, mal vorbeizuschauen. Nun sah es aber ganz so aus, als wären sie zurückgekommen.

Schnell umringten die Fletchers die Verkaufsluke des Eiswagens und brachten lautstark ihre Bestellungen hervor, wobei sie noch ein »bitte« und »danke« anfügten, wenn Dad Blickkontakt zu ihnen herstellen konnte.

»Oooh, seid ihr die Fletchers? Vals Eltern haben gesagt, heute würden Jungs ankommen. Und da seid ihr schon!«

Die Stimme und die Person, die zu ihr gehörte, lenkte alle Jungs bis auf Frog vom Eis ab. (Frog hatte sich seine Schokoladen-Oreo-Knusper-Waffel gesichert und verschlang sie mit Genuss.) Sie sahen ein Mädchen, so etwa dreizehn Jahre alt, das selbstbewusst am eindrucksvollen Zaun des Wheelright-Hauses lehnte. Jax stöhnte laut und tat als müsste er kotzen – allerdings nur im Kopf. Manche Mädchen waren total in Ordnung. Olivia, die in der Nachbarschaft wohnte und Fußball spielte, war ganz okay. Und Dylan aus seiner Klasse, die Eishockey spielte, und Kate, deren Mutter Meeresbiologin war und schon mit Teufelsrochen und Delphinen geschwommen war – die beiden waren auch okay. Sogar Sams Freundin Emily Shawble, die Sam letztes Jahr davon überzeugt hatte, bei der Schultheateraufführung mitzumachen, war ziemlich witzig und cool. Aber dieses Mädchen hier schien eins von der allerschlimmsten Sorte zu sein. Sie hatte ein bauschendes kurzes Röckchen und glitzerige Sandalen an und eine große, blöde Sonnenbrille auf der Nase, die praktisch ihr ganzes Gesicht verdeckte.

»Von süßen Jungs haben sie aber nichts gesagt, was, Val?«, fuhr sie fort.

Jax guckte sich um. Da war noch ein zweites Mädchen mit einem bescheuerten Wickelkleiddings und einer verspiegelten Sonnenbrille. Sie hatte auch noch einen großen Schlapphut auf, der den größten Teil ihres Gesichts verbarg, und – was noch komischer war: Sie hielt ihr Handy hoch, so als würde sie alle filmen. Jax merkte, wie sein Gesicht heiß wurde. Aber das erste Mädchen guckte ihn nicht an. Sie guckte Sam an. Das Mädchen in dem bescheuerten Wickeldings drückte irgendwas auf ihrem Handy und legte es hin, dann machte sie den Mund auf.

»Hallo, ihr! Ich bin Valerie Galindo – kurz: Val – und das ist meine Freundin Janie. Sie ist diese Woche zu Besuch.«

Das andere Mädchen, Janie, löste sich vom Zaun und streckte die Hand aus, als würde sie erwarten, dass sie die schüttelten. »Wahnsinn, euch kennenzulernen«, sagte sie, wobei sie über den Rand ihrer Sonnenbrille linste.

Aber Sam hatte sich schon über seinen überbreiten Erdbeersahne-Keksdoppeldecker hergemacht und Jax musste sich um einen schmelzenden Mars-Riegel kümmern. Während die Mädchen geredet hatten, war Frog einfach weggegangen. Eli, der wahrscheinlich Gelegenheit zur Flucht witterte, folgte ihm, wobei er an den Rändern seiner Regenbogenwaffel entlang saugte. Nur Jax und Sam standen noch da. Jax starrte seinen Bruder an.

»Hey«, sagte Sam schließlich mit einem Kinnzucken. »Ich bin Sam. Das ist mein Bruder Jax. Wir sehen uns bestimmt noch.« Er drehte sich um und machte sich auf den Weg zurück zum Nugget.

Jax beeilte sich, ihn einzuholen. Dabei sah er noch jemanden, der etwas jünger war als die tussigen Mädchen, am Straßenrand kauern, dort, wo aus Pflaster Sand wurde. Wer auch immer das war, die Person hatte sich eine Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen und trug dreckige abgeschnittene Shorts und hielt eine Käferschachtel in der Hand, die bebte, weil sich darin was bewegte. Jax blieb einen Moment stehen, um das zu beobachten.

»Schlange«, sagte die Person leise und ohne zu Jax aufzuschauen. »Bloß eine Strumpfbandnatter.«

Jax nickte. »Cool«, sagte er, dann machte er sich wieder auf und holte seinen Bruder ein.

»Was war das denn?«, fragte Sam, der mit seinem Doppeldecker fertig war und etwas wehmütig wirkte. »Diese Mädchen waren ziemlich komisch. Und die eine … Val … Warum hat die ein Video von uns gemacht? Was sollte das denn?« Jax sagte nicht, was ihn wirklich beschäftigte, nämlich dass diese Mädchen Sam »süß« genannt hatten. Er befürchtete, Sam würde ihm eine verpassen, wenn er das ansprach. Aber Sam zuckte nur mit den Achseln.

»Egal. Komische Mädchen sind komisch. Aber ich erzähl dir mal was viel Interessanteres. Dass dieser Eiswagen diese Straße runterfährt, ist bahnbrechend. Mein Englischlehrer würde sagen, dass ist der alles verändernde Schlüsselmoment. Jeden Tag Eis – vielleicht zwei Mal am Tag! Bahnbrechend.« Sam starrte in die Ferne, vermutlich stellte er sich ein Leben vor, in dem der Eiswagen vor dem Haus dauerparkte und ihm nie das Taschengeld ausging.

Jax stimmte ihm zu, und da sie mittlerweile die anderen eingeholt hatten, mussten sie solange Frogs ganz besonderem Eiswagensong zuhören, bis Jax ihm drohte, ihn mit seiner dreckigen Sportsocke zu knebeln. Und so liefen sie laut und lachend wieder zurück zum Nugget. Die Sonne hing tief und warm am Himmel, die Brise war stärker geworden und raschelte im Dünengras, das aussah wie eine sich im Wind kräuselnde Wasserfläche. Der Geruch nach Meer war jetzt noch intensiver, und Jax konnte es kaum erwarten, zum Strand aufzubrechen. Er war fast völlig glücklich, wenigstens solange er nicht zu weit über die hintere Terrasse hinausguckte. Morgen würden sie erfahren, was los war mit ihrem Leuchtturm. Vielleicht hatte Dad ja recht. Vielleicht war das nur irgendeine langweilige erwachsene Steuersache oder so. Heute konnte er also genauso gut alles genießen, was an Rock Island immer noch perfekt war.