cover

Ein Zeugnis von unglaublichem Mut

Was vermag ein einzelner Mensch gegen das Grauen einer ganzen Epoche auszurichten? Eine Menge, wie die wahre Geschichte Irena Sendlers zeigt: Warschau, 1942. Als Sozialarbeiterin hat die junge Polin Zugang zum hermetisch abgeriegelten Ghetto. Was niemand weiß: Sie geht von Tür zu Tür, um verzweifelten Eltern ihre Hilfe anzubieten und ihre Kinder vor der Deportation und dem sicheren Tod zu retten.

Unter abenteuerlichsten Umständen schmuggelt Irena nach und nach über 2 500 Kinder aus dem Ghetto – in Säcken, Kisten und Särgen, mit Schlafmitteln betäubt, durch Keller und Abwasserkanäle. Mit gefälschten Papieren geben sie und ihre vielen Helfer den Kindern eine neue Identität und verschafften ihnen in polnischen Familien, bei Freunden, in Waisenhäusern und Klöstern ein neues Zuhause. Die Namen der geretteten Kinder notiert sie und vergräbt die Liste unter einem Apfelbaum. Selbst als die Gestapo sie fasst und foltert, gibt sie ihr Geheimnis nicht preis und überlebt wie durch ein Wunder. Die Geschichte einer fast vergessenen Heldin – neu erzählt auf der Grundlage jahrelanger Recherchen und Interviews mit Überlebenden. Zutiefst berührend, spannend wie ein Roman und zugleich unglaublich inspirierend.

TILAR J. MAZZEO

IRENAS LISTE ODER

DAS GEHEIMNIS DES APFELBAUMS

Die außergewöhnliche Geschichte der Frau,

die 2 500 Kinder aus dem Warschauer Ghetto rettete.

Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schmalen

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Irena’s Childern bei Gallery Books, einem Imprint von Simon & Schuster, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Ansichten und Meinungen, die in diesem Buch ausgedrückt werden, sowie der Kontext, in dem die enthaltenen Bilder verwendet werden, müssen nicht unbedingt die Haltung oder die Grundsätze des United States Holocaust Memorial Museums, von Yad Vashem oder anderen Rechtegebern widerspiegeln. Die Veröffentlichung der Bilder mit Zustimmung der Museen bedeutet nicht, dass diese den Ansichten und Meinungen zustimmen oder diese unterstützen.

Copyright © 2016 by Trifecta Creative Holdings Inc.

© der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Amelie Roth, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung zweier Fotos von © Yad Vashem (oben) und © picture alliance/United Archives/WHA (unten)

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-16570-3
V001

www.heyne.de

Für Robert Miles

Reif sein ist alles

Inhalt

Vorwort

Prolog

KAPITEL 1

Irenas frühe Jahre

KAPITEL 2

Dr. Radlińskas Mädchen

KAPITEL 3

Diese Mauern der Schande

KAPITEL 4

Der Jugendkreis

KAPITEL 5

Anruf bei Dr. Korczak

KAPITEL 6

Der Moloch Ghetto

KAPITEL 7

Die Gleise nach Treblinka

KAPITEL 8

Die gute Fee vom Umschlagplatz

KAPITEL 9

Die letzte Meile

KAPITEL 10

Agenten des Widerstands

KAPITEL 11

Die Żegota

KAPITEL 12

Auf den Abgrund zu

KAPITEL 13

Alas Aufstand

KAPITEL 14

Aleja Szucha

KAPITEL 15

Irenas Hinrichtung

KAPITEL 16

Warschau kämpft

KAPITEL 17

Wie die Geschichten ausgingen

Schluss

Nachwort

Dank

Personenübersicht

Anmerkungen

Bibliografie

Vorwort

Krakau, 2009

Als ich zum ersten Mal in Polen war, irgendwann im Jahr 2009, war ich gekommen, um dort Urlaub zu machen. Mein Bruder und meine Schwägerin, beide für das US-Außenministerium tätig, lebten seit mehreren Jahren in Krakau und hatten davor bereits einige Zeit in Breslau verbracht. Sie hatten die Aufnahme Polens in die Europäische Union und den damit einhergehenden raschen zweiten postkommunistischen Wandel miterlebt. Ihre beiden kleinen Kinder – Zwillinge, die damals noch nicht einmal laufen konnten – lernten ihre ersten Worte auf Polnisch, und meine Schwägerin leitete eine internationale Schule außerhalb der Stadt.

Auf dem Papier sind wir alle drei katholisch, auch wenn wohl keiner von uns je ein besonderes Interesse an Religion gehegt hat. Da Krakau im Gegensatz zu Warschau während des Zweiten Weltkrieges nicht bombardiert oder zerstört wurde, ist die Architektur der Altstadt vom katholischen Erbe des Landes geprägt. Krakau ist eine schöne und in mancherlei Hinsicht mittelalterlich anmutende Stadt. Doch nur wenige Gegenden besitzen so viel Atmosphäre wie das historische jüdische Viertel in Kazimierz, in das viele Touristen pilgern, die Oskar Schindlers Fabrik und die gewundenen Straßen sehen wollen, in denen Teile von Spielbergs Film Schindlers Liste gedreht wurden. Wenn man sich allerdings ein Bild davon machen möchte, wie es in den 1940er-Jahren im Warschauer Ghetto aussah, ist es zwecklos, nach Warschau zu fahren. Es ist kaum mehr etwas davon übrig geblieben, da das Ghetto im Frühjahr 1943 zerstört wurde. Nach dem Warschauer Aufstand gut ein Jahr später wurde auch der Rest der Stadt weitestgehend dem Erdboden gleichgemacht, und nur zehn bis zwanzig Prozent der Gebäude blieben stehen. Warschau ist heute deshalb im Wesentlichen eine moderne Stadt.

Im Jahr meines Besuchs befand sich die Schule meiner Schwägerin gerade in der Endphase umfassender Bauarbeiten, der Schulhof wurde erneuert und war von Zäunen umstellt. Meine Schwägerin verbrachte, wie sie im Scherz erklärte, ihre Tage hauptsächlich damit, sich mit den Arbeitern ortsansässiger Baufirmen herumzustreiten, und hatte sich ein bunt gemischtes Arsenal an polnischen Schimpfwörtern zugelegt. Das Grundstück war jahrelang hügeliges Ackerland gewesen, und an einem seiner Ränder hatte man inmitten der Felder – und später der verstreut liegenden Vorstadthäuser – ein Wäldchen wachsen lassen. Als wir gemeinsam am Rand dieses Gehölzes standen, fragte ich, wem es gehörte und warum sich offensichtlich seit Jahrzehnten keiner darum kümmerte. Meine Schwägerin schwieg kurz und sagte dann mit einem Seufzer: »Weißt du, die Züge nach Auschwitz sind hier langgefahren. Nicht direkt hier, aber ganz in der Nähe.«

Anfangs war sie oft in diesem unberührten Wald spazieren gegangen. Doch am 1. November feiert man in Polen Allerheiligen, und überall im Land ist es Tradition, brennende Kerzen auf die Gräber der Toten zu stellen. Erst als sie diesen Feiertag das erste Mal in der Schule erlebte und am Straßenrand vor dem Wäldchen lauter Kerzen standen, begriff sie, dass dort etwas Schreckliches vorgefallen sein musste.

Später erzählten ihr Einheimische, dass sich der Vorfall 1945, zu Kriegsende, ereignet habe, als die Rote Armee die Deutschen zurückdrängte. Das Eintreffen der Sowjets war in Polen kein großer Anlass zur Freude. Viele Frauen – von Schulmädchen bis zu den ältesten Babcias – wurden in jenem Winter in Krakau von sowjetischen Soldaten vergewaltigt. Und nur wenige Deutsche, die auf Truppen der Roten Armee trafen, schafften es zurück über die Grenze in ihre Heimat. In ganz Polen fanden Hunderte Massaker wie jenes hier statt. Unter den Kommunisten hätte es niemand gewagt, Kerzen im Wald zu entzünden, doch nun war vieles anders. Es gab immer noch alte Männer und vor allem alte Frauen, die sich erinnerten. »So ist das hier überall«, sagte meine Schwägerin traurig. »Polen ist ein Friedhof voller anonymer Gräber, und was kann man schon tun, außer die Vergangenheit still und leise zu begraben?«

Wir gingen zurück in die Schule, und die hellen Stimmen fröhlicher Grundschulkinder schallten von überall her durch die Flure. Ich dachte an die Menschen, die hier gestorben waren, an die Gleise Richtung Auschwitz und die Geschichten von Babys, die ihren Müttern entrissen und gegen Backsteinmauern geschmettert worden waren. Ich dachte an meine kleine Nichte und meinen kleinen Neffen und daran, dass ich jeden umbringen würde, der meinen Kindern so etwas antäte. Ein paar Tage später fragte mich mein Bruder, ob ich Auschwitz sehen wolle, und ich sagte Nein.

Wenige Jahre danach war meine Schwägerin die Erste, die mir die Geschichte eines »weiblichen Oskar Schindler« erzählte: Irena Sendler oder – da die Nachnamen von Frauen im Polnischen mit einer weiblichen Endung versehen werden – Irena Sendlerowa. Obwohl diese beiden Gespräche weder zeitlich noch räumlich in einem Zusammenhang miteinander standen, bildeten sie dennoch den Ausgangspunkt dieses Buches. Es gelang mir nie, die Fäden zu trennen, die Irena Sendlers Geschichte mit dem Anblick der verlassenen polnischen Erde und den Stimmen der Schulkinder verbinden – und als Schriftstellerin habe ich aufgehört, es zu versuchen.

In ihrer Heimat Polen wird Irena Sendler heute als Heldin angesehen, auch wenn das eine relativ neue Entwicklung der postkommunistischen Ära ist. Jahrzehntelang war über ihre Geschichte – wie über so viele in ganz Polen – ein Mantel des Schweigens gebreitet worden. Gemeinsam mit ihren Freunden und einer Reihe engagierter Kollegen schmuggelte Irena Sendler Babys aus dem Warschauer Ghetto, in Koffern und Holzkisten an deutschen Wachen und der verräterischen Judenpolizei vorbei. Sie schleuste Kleinkinder und Kinder im Schulalter durch die stinkende und gefährliche Kanalisation nach draußen. Sie arbeitete mit jüdischen Jugendlichen zusammen – darunter viele vierzehn- und fünfzehnjährige Mädchen –, die später im Ghettoaufstand tapfer kämpften und ums Leben kamen. Und sie hielt durch diese Zeit hindurch an ihrer Liebe zu einem jüdischen Mann fest, den sie und ihre Freunde während des Krieges mühsam versteckten. Sie war ein zartes Persönchen mit eisernem Willen: eine ein Meter fünfzig kleine, zierliche junge Frau, bei Kriegsausbruch Ende zwanzig, die mit der Kraft und Klugheit eines erfahrenen Generals kämpfte und so in ganz Warschau und über die Religionsgrenzen hinweg aus Dutzenden normalen Menschen ein Heer von Helfern schuf.

Bevor sie von der Gestapo verhaftet und gefoltert wurde, rettete Irena Sendler das Leben von mehr als 2 000 jüdischen Kindern. Sie legte unter enormem Risiko eine Namensliste an, um die Kinder nach dem Krieg wieder mit ihren Eltern zu vereinen. Natürlich konnte sie nicht ahnen, dass mehr als neunzig Prozent der Familien ums Leben kommen würden, die meisten in den Gaskammern von Treblinka. Und genauso wenig konnte sie, eine Linksradikale und lebenslange Sozialistin, wissen, dass ihre Aktivitäten zu Kriegszeiten der Grund dafür sein würden, dass ihre Kinder im sowjetischen Kommunismus ins Visier der Herrschenden gerieten.

Doch obwohl Irena Sendler zweifelsohne eine Heldin war – eine Frau von gewaltigem, fast unermesslichem moralischem und physischem Mut –, war sie dennoch keine Heilige. Sie beim Erzählen ihrer Geschichte zu einer solchen zu stilisieren würde letzten Endes die Komplexität und Problematik der sehr menschlichen Entscheidungen, die sie treffen musste, herabwürdigen. Bei meinen Recherchen und Interviews in Israel und vor allem in Polen sagten die Überlebenden jener Zeit in Warschau immer wieder das Gleiche: »Über diese Jahre rede ich nicht gern mit jemandem, der sie nicht erlebt hat, denn wer nicht dort war, kann nicht verstehen, warum manche Menschen bestimmte Entscheidungen trafen und welchen Preis sie dafür zahlten.« Irenas Liebesleben war wild und chaotisch, und das Wissen, dass sie weder eine gute Ehefrau noch eine gute Tochter war, machte ihr zu schaffen. Sie setzte ihre schwache, kranke Mutter ohne deren Wissen großer Gefahr aus. Sie war leichtsinnig und hin und wieder kurzsichtig, ordnete das Konkrete dem Abstrakten unter und war bei aller Selbstlosigkeit manchmal vielleicht sogar selbstsüchtig. Später war sie im Grunde eine größtenteils abwesende und abgelenkte Mutter. Sie war gleichzeitig eine Heldin – obwohl sie das Wort verabscheute – und ein normaler Mensch mit Schwächen. Doch sie fühlte in sich eine Bestimmung und besaß ein starkes Gespür für Gerechtigkeit, was es ihr ermöglichte, durch ihr eigenes Beispiel andere in ihrer Umgebung zu besserem Handeln anzuspornen, als sie es sonst vielleicht an den Tag gelegt hätten, und gemeinsam etwas beeindruckend Richtiges und Mutiges zu leisten.

Beim Schreiben dieses Buches hat mich auch der Mut dieser »Anderen« beeindruckt, Dutzender Männer und hauptsächlich Frauen, die sich Irena stillschweigend anschlossen. Sie selbst sagte, für jedes Kind, dessen Rettung sie organisierte, hätten durchschnittlich zehn Warschauer ihr Leben riskiert. Ohne den Mut und die Opferbereitschaft ihrer Mitstreiter wäre ein Erfolg unmöglich gewesen. Irenas Unterstützer standen vor einer furchtbaren Wahl. Wer Juden half, wurde bestraft, indem man seine Familie vor seinen Augen hinrichtete, zuallererst die Kinder. Jedem, der ein Kind liebt, muss nicht erklärt werden, welche Qualen es mit sich bringt, um die Fragilität seines Lebens zu wissen, und die meisten von Irenas Helfern hatten kleine Kinder. Dennoch schrak keiner dieser Menschen zurück, wenn Irena Unterstützung brauchte. Niemand, so sagte Irena einmal, weigerte sich je, eines der jüdischen Kinder aufzunehmen.

Dies ist die Geschichte von Irena Sendler, den Kindern, die sie rettete, und den mutigen »Anderen«. Außerdem ist es die komplizierte und manchmal düstere, aber auch couragierte Geschichte des polnischen Volkes. Wenn Ihnen zu Beginn des Buches zu viele Namen vorkommen, bedenken Sie bitte, dass ich hier nur die Geschichten eines kleinen Teils der Menschen erzähle, von denen bekannt ist, dass sie Irena halfen. Und bedenken Sie, dass sich die Anzahl der Namen im Verlauf des Buches leider verringert. Ich erzähle die Geschichten all dieser Menschen, um ihnen zumindest eine gewisse Ehre zu erweisen. Ihr Leben und manchmal auch ihr Tod zeigen uns, wozu wir normalen Menschen angesichts des Bösen und des Schreckens fähig sind.

Prolog

Warschau, 21. Oktober 1943

Aleja Szucha. Irena Sendler kannte das Ziel. Die Vordertür schlug zu, und der schwarze Gefangenenwagen fuhr an. Sie hatte nur wenige Minuten gehabt, um sich anzuziehen, und ihr helles, kurzes Haar war vom Schlaf zerzaust.

Janka Grabowska war mit ihren Schuhen aus dem Haus angerannt gekommen und hatte sie ihr im letzten Augenblick in die Hand gedrückt, ohne sich um die brutalen Gestapo-Männer zu scheren. Irena hatte keinen Gedanken daran verschwendet, sie zuzuschnüren. Sie konzentrierte sich ganz auf eines: ruhig zu bleiben und ihren Gesichtsausdruck leer und gelassen zu halten. Nicht traurig zu gucken. Das war die Weisheit, die jüdische Mütter ihren Kindern mitgaben, wenn sie sie Fremden überließen. Irena war keine Jüdin, aber es stimmte trotzdem, dass eine kummervolle Miene gefährlich für sie gewesen wäre.

Sie dürfen nicht glauben, dass ich einen Grund zur Angst hätte. Sie dürfen nicht glauben, ich hätte Angst, wiederholte Irena stumm im Kopf. Wenn die Polizisten eine Ahnung davon bekämen, was sie verbarg, würde das, was ihr bevorstand, nur noch schlimmer werden.

Doch Irena hatte Angst. Große Angst. Im Herbst 1943 gab es im von den Nazis besetzten Polen keine Worte, die mehr Entsetzen auslösten, als »Aleja Szucha«, Szucha-Allee. Vielleicht galt das während des Krieges sogar für ganz Europa. Denn in dieser Straße befand sich der Warschauer Hauptsitz der Gestapo. Die Rohheit des Gebäudeäußeren schien dem, was die Deutschen drinnen taten, grausam angemessen zu sein. Aus dem Inneren des gedrungenen Komplexes hallten die Schreie derer, die verhört wurden. Wer überlebte, erinnerte sich hinterher an den Gestank von Angst und Urin. Zweimal täglich, gegen Mittag und am frühen Abend1, fuhren pünktlich schwarze Wagen des Pawiak-Gefängnisses vor, wo die Gefangenen in Zellen festgehalten wurden, und holten die geschundenen und gebrochenen Körper ab.

Irena schätzte, dass es jetzt gerade etwa sechs Uhr morgens war. Vielleicht schon halb sieben. Bald würde die Spätoktobersonne über Warschau aufgehen. Doch Irena war bereits seit Stunden wach, ebenso wie alle anderen Bewohner ihres Hauses. Janka, ihre treue Verbindungsfrau und gute Freundin, war am Vorabend zu einer kleinen Familienfeier anlässlich von Irenas Namenstag vorbeigekommen. Nachdem sie sich an Schnittchen und Kuchen gütlich getan hatten, zogen sich Irenas kranke Mutter und ihre Tante, die zu Besuch war, ins Schlafzimmer zurück. Janka hatte den Beginn der Sperrstunde bereits verpasst und musste über Nacht bleiben. Also bauten sich die jüngeren Frauen ein Schlaflager im Wohnzimmer und saßen bis spät in die Nacht wach, unterhielten sich und tranken Tee und Likör.

Es war schon nach Mitternacht, als ihnen die Augen zufielen, und um drei Uhr schliefen beide tief und fest in ihren provisorischen Betten. Doch im Hinterzimmer fand Irenas Mutter Janina keine Ruhe. Wie sehr sie es genossen hatte, das unbekümmerte Gemurmel der Mädchen zu hören! Die angespannte Kiefermuskulatur ihrer Tochter allerdings sagte ihr, dass Irena ein hohes Risiko einging, und das bereitete ihr als Mutter große Sorgen. Da ihre Schmerzen sie vom Schlafen abhielten, hing Janina ihren Gedanken nach. Plötzlich hörte sie im Dunkeln ein Geräusch, von dem sie wusste, dass es nicht hergehörte. Irgendwo trampelten schwere Stiefel durch ein Treppenhaus. Irena! Irena, zischte Janina so scharf, dass es bis in Irenas Träume drang. Die junge Frau fuhr hoch und wusste sofort, was die Angst in der Stimme ihrer Mutter zu bedeuten hatte. Diese wenigen Augenblicke, die Irena hatte, um einen klaren Kopf zu bekommen, retteten ihnen allen das Leben.

Was dann folgte, war das Getöse von elf Gestapo-Männern, die an die Wohnungstür hämmerten und Einlass verlangten. Die Angst verursachte Irena einen seltsamen, metallischen Geschmack im Mund, und durch ihren Brustkorb zuckten Wellen der Furcht, die sich wie elektrische Schläge anfühlten. Stundenlang spuckten die Deutschen Drohungen und Beleidigungen aus, stachen Kissen auf und wühlten in allen Ecken und Schränken. Sie rissen Bodendielen heraus und zertrümmerten Möbelstücke.2

Aber die Listen mit den Namen der Kinder fanden sie nicht.

Diese Listen waren alles, was zählte. Es handelte sich um dünne, leicht zerreißbare Stücke Zigarettenpapier, kaum mehr als aufgerollte Fetzen mit Irenas privaten Aufzeichnungen. Doch sie enthielten – verschlüsselt mithilfe eines Codes, den Irena selbst erfunden hatte – die Namen und Adressen von den vielen jüdischen Kindern, die Irena und ihre Freunde vor den Schrecken der Verfolgung durch die Nazis bewahrt hatten – Kinder, die immer noch an geheimen Orten in ganz Warschau und darüber hinaus versteckt und versorgt wurden. Im letzten Augenblick, bevor die Wohnungstür unter den Schlägen und Hieben nachgab und aufflog, hatte Irena die Listen, die auf dem Küchentisch gelegen hatten, zu Janka hinübergeworfen, die sie mit kühner Gelassenheit in ihren ausladenden Büstenhalter schob, tief unter die Armbeuge. Wenn die Gestapo Janka durchsucht hätte, wäre alles vorbei gewesen. Noch schlimmer wäre es gekommen, wenn sie sich Jankas Wohnung vorgenommen hätten, wo sich Juden versteckten. Irena konnte es kaum glauben, als die Deutschen selbst dafür sorgten, dass die belastendsten Beweise verschwanden: Sie sah gebannt zu, wie eine kleine Tasche voller gefälschter Ausweispapiere und ganzer Bündel illegaler Barmittel unter den Trümmern zerstörter Möbel begraben wurde. In jenem Augenblick wäre sie am liebsten auf die Knie gefallen. Und als sie begriff, dass die Deutschen weder Janka noch ihre Mutter, sondern nur sie selbst verhafteten, wurde ihr schwindelig vor Glück. Doch sie wusste, dass das Lachen, das in ihr aufstieg, gefährlich viel mit Hysterie zu tun hatte. Zieh dich an, befahl sie sich selbst. Zieh dich an und sieh zu, dass sie dich wegbringen. Sie stieg in den abgetragenen Rock, den sie nur wenige Stunden zuvor zusammengefaltet über die Rückenlehne eines Küchenstuhls gelegt hatte, knöpfte ihren Pullover so schnell sie konnte zu, um die Wohnung möglichst bald zu verlassen, bevor die Gestapo-Männer es sich anders überlegten, und lief barfuß hinaus, obwohl es ein kalter Herbstmorgen war. Das fiel ihr nicht einmal auf, bis Janka angerannt kam.

Doch nun, während das Auto sich in jeder Kurve neigte, hatte sie Zeit, über die Klemme nachzudenken, in der sie steckte. Es stand außer Frage, dass man sie früher oder später umbringen würde. Das war Irena bereits klar. So würde ihre Geschichte enden. Aus der Aleja Szucha oder aus dem Ghettogefängnis Pawiak, wo die Gefangenen zwischen den Folterverhören festgehalten wurden, war bislang niemand zurückgekehrt, genauso wenig wie aus den Arbeitslagern in Auschwitz oder Ravensbrück, in welche die unschuldigen »Überlebenden« der Gestapo gebracht wurden. Und Irena Sendler war nicht unschuldig.

Der Mercedes neigte sich scharf nach rechts, als er auf der Fahrt durch die noch schlafende Stadt nach Südosten abbog. Der direkteste Weg zu ihrem Ziel führte über die aus Vorkriegszeiten stammenden breiten Alleen Warschaus, erst westlich und dann südlich an der Trümmerwüste vorbei, die einst das jüdische Ghetto gewesen war. Während der ersten Jahre der Besetzung durch die Nazis war Irena manchmal drei- bis viermal täglich im Ghetto ein und aus gegangen und hatte jedes Mal eine Verhaftung oder die sofortige Hinrichtung riskiert, um andere zu retten: alte Kommilitonen, ihre jüdischen Dozenten … und Tausende kleiner Kinder. Jetzt, Ende 1943, gab es dort nur noch Ruinen und Schutt. Es war ein Totenfeld, ein endloser Friedhof. Das Ghetto war nach dem jüdischen Aufstand im Frühjahr desselben Jahres zerstört worden, und Irenas Freundin Ala Gołąb-Grynberg war seit dem Inferno verschwunden. Im Untergrund hieß es, Ala sei noch am Leben und befinde sich im Arbeitslager in Poniatowa, wo sie als eine von mehreren jungen Widerstandskämpfern heimlich den Ausbruch plane. Irena hoffte, Ala werde nach dem Ende dieses barbarischen Krieges zurückkehren und ihre kleine Tochter Rami aus dem Waisenhaus abholen, in dem Irena sie untergebracht hatte.

Das Auto kam ein paar Blocks nördlich der Stelle vorbei, wo einst die Freie Polnische Universität gestanden hatte. Auch diese Einrichtung war dem Krieg zum Opfer gefallen. Irena hatte ihr Sozialfürsorgestudium auf der anderen Seite der Stadt absolviert, an der Universität Warschau, doch sie hatte sich in den 1930er-Jahren oft auf dem Campus der Freien Polnischen Universität aufgehalten, wo dank der Dozentin Helena Radlińska ihre Widerstandszelle entstanden war. In den Tagen vor der deutschen Besetzung waren deren Mitglieder fast ausschließlich ehemalige Studentinnen von Dr. Radlińska gewesen. Jetzt war die Zelle Teil eines gut organisierten und unerschrockenen Netzwerks, und auch dazu hatte die Dozentin beigetragen. Dieses Netzwerk war für Irenas Häscher von großem Interesse. Die mädchenhaften, zarten Züge der Anfang-dreißigjährigen Irena trogen: Der Gestapo war gerade eine der wichtigsten Figuren des polnischen Untergrunds ins Netz gegangen. Irena konnte nur hoffen, dass die Deutschen das nicht wussten.

Die Wachsamkeit des Mannes in hohen Lederstiefeln, der mit verhedderter Peitsche und Gummiknüppel dicht an sie gedrängt saß, ließ nach. Seine Terrornachtschicht ging nun zu Ende. Irena saß auf dem Schoß eines anderen, den sie auf nicht älter als achtzehn oder neunzehn schätzte. Es kam ihr sogar so vor, als dösten beide. Irenas Gesichtsausdruck blieb unverändert, doch ihre Gedanken rasten. Sie hatte so vieles zu bedenken und so wenig Zeit.

Janka wusste genau, wie wichtig die Listen waren – und wie gefährlich. Würden sie entdeckt, würde eine Ganze Kette von Hinrichtungen folgen. Die Gestapo würde die jüdischen Kinder finden. Sie würde die polnischen Männer und Frauen umbringen, die für sie sorgten und sie versteckten. Zofia und Stanisław. Władysława und Izabela. Maria Palester. Maria Kukulska. Jaga. Und sie würde Irenas Mutter töten, auch wenn die kränkliche, bettlägerige Frau kaum erahnen konnte, welches Ausmaß Irenas undurchsichtige Aktivitäten angenommen hatten. Die Deutschen verfolgten strikt eine Strategie der kollektiven Bestrafung. Ganze Familien wurden aufgrund der Verfehlungen eines einzelnen Mitglieds erschossen. Irena konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie einmal mehr eine schlechte Tochter gewesen war. Sie war immer schon ihrem unbedacht idealistischen Vater ähnlicher gewesen, das wusste sie.

Wenn die Listen verloren gingen oder Janka sie aus Sicherheitsgründen vernichtete, hatte das ebenfalls dramatische Folgen. Wenn Irena tot war, konnte niemand die Informationen rekonstruieren. Irena war die Generalin dieser Bürgerarmee, und nur sie kannte alle Details der Aufzeichnungen. Sie hatte Müttern und Vätern, die nach Treblinka deportiert wurden, versprochen, ihren Kindern zu erzählen, wer sie geliebt hatte. Wenn sie starb, gab es niemanden, der dieses Versprechen einhalten konnte.

Außerdem quälte sie eine weitere Frage: Wer würde es Adam Celnikier sagen? Adam. Ihrem Adam. Irenas Mann Mietek Sendler saß irgendwo in Deutschland in einem Kriegsgefangenenlager und würde erst nach Wochen oder vielleicht Monaten von ihrer Hinrichtung erfahren. Doch wenn er noch lebte, würde die Nachricht irgendwann zu ihm durchdringen. Mietek und sie hatten sich allerdings bereits vor dem Krieg getrennt, und ihre Liebe galt nun Adam – Adam, der gerade von Freunden unter falschem Namen versteckt wurde. Als einer der wenigen überlebenden Juden Warschaus zählte er zu den Gejagten, und sein Leben war ständig in Gefahr.

Der Motor des Gestapo-Mercedes röhrte durch die ruhigen morgendlichen Straßen Warschaus. In jeder Kurve schraken die Männer kurz hoch. Irena musste sich nun auf das vorbereiten, was ihr bevorstand. Sie musste sich darauf vorbereiten, nichts preiszugeben, egal welcher Folter man sie aussetzte. Zu viele Leben hingen davon ab. Irena hatte ihr eigenes riskiert, um die Kinder vor der Entdeckung zu bewahren. Jetzt war sie entschlossener denn je, ihr Geheimnis mit ins Grab zu nehmen. Doch was, wenn ihre Kraft dafür nicht ausreichte? Würde sie selbst Adam und sein Versteck verraten, wenn die Schmerzen stark genug wären? Sie fragte sich, was sie wohl ertragen könnte. Als man ihr in den folgenden Tagen mit Knüppeln und Rohren die Knochen brach, kam sie von diesem Gedanken nicht los.

Es war ein kühler Morgen, und auch die Furcht ließ Irena frieren. Das Auto rollte nun geradewegs über eine breite Allee nach Osten und beschleunigte zum Ende der Fahrt noch einmal. Bald würden sie die Aleja Szucha und ihr Ziel erreichen. Dort würde man sie ausziehen, durchsuchen, schlagen und verhören. Die Gestapo würde sie mit Drohungen einschüchtern und mit Peitschenhieben und grausamen Foltern quälen, die im Augenblick noch unvorstellbar waren. Ihr standen ungleich kältere Zeiten bevor. Irena schob die Hände in die Manteltaschen, um sie kurz zu wärmen.

Als ihre Finger etwas Leichtes, Dünnes, Knisterndes berührten, blieb ihr fast das Herz stehen. Zigarettenpapier. Plötzlich erinnerte sie sich, dass sie einen Teil der Liste vergessen hatte. Darauf stand eine Adresse. Diese würde diejenigen verraten, die sie an jenem Morgen hatte besuchen wollen. Sie hielt ihr Leben zwischen den Fingern.