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Das Buch

Pen öffnete die Augen. Sie lag eingerollt auf der Seite, die Beine leicht ausgestreckt. Das obere Bein war eingeschlafen. Die enge Jeans hatte die Blutzirkulation abgebunden. Sie erinnerte sich nicht daran, sich auf die Seite gewälzt zu haben. War sie eingeschlafen, so wie ihr Bein? Sie spähte zum erleuchteten Zifferblatt des Weckers hinüber. Halb vier. Sie machte die Augen wieder zu. Und hörte Schritte. Die Wucht ihres Herzschlags raubte ihr den Atem. Sie vernahm nichts anderes als das Hämmern ihres Herzens. Dann einen neuerlichen leisen, kratzenden Schritt. Nicht innerhalb des Apartments, sondern auf dem Asphalt direkt vor ihrem Fenster. Das Fenster befand sich über ihrem Gesicht. Zitternd zog sie den Vorhang beiseite. Ihr gefror das Blut in den Adern …

Mit einem ausführlichen Verzeichnis aller im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Werke von Richard Laymon.

Der Autor

Richard Laymon wurde 1947 in Chicago geboren und studierte in Kalifornien englische Literatur. Er arbeitete als Lehrer, Bibliothekar und Zeitschriftenredakteur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete und zu einem der bestverkauften Spannungsautoren aller Zeiten wurde. 2001 gestorben, gilt Laymon heute in den USA und Großbritannien als Horror-Kultautor, der von Schriftstellerkollegen wie Stephen King und Dean Koontz hoch geschätzt wird.

Besuchen Sie auch die offizielle Website über Richard Laymon unter www.rlk.stevegerlach.com

RICHARD LAYMON

DAS AUGE

ROMAN

Aus dem Amerikanischen
von Sven-Eric Wehmeyer

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Die Originalausgabe ALARMS
erschien bei Mark V. Ziesing

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Vollständige deutsche Erstausgabe 10/2017

Copyright © 1992 by Richard Laymon

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Published in arrangement with Lennart Sane Agency AB

Redaktion: Catherine Beck

Umschlagillustration: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-17654-9
V001

www.heyne-hardcore.de

Für Kathleen und Kelly Laymon,

meine Mom und meinen Dad – die mich
auf die Welt brachten, mit Liebe
aufzogen und mir immer zur Seite standen

Alles Liebe

1

Bodie rutschte und zappelte auf dem Stuhl mit der steinharten Rückenlehne herum, um irgendwie eine bequeme Sitzposition zu finden. Es war unmöglich. Das Design dieses Stuhls war zweifellos dem Hirn eines Sadisten entsprungen.

Genau wie die Musik.

Er hätte in diesem Moment im Kino sein können. Oder zu Hause in seinem Apartment, ausgestreckt in seinem gemütlichen Polstersessel, mit einem Buch in der Hand. Stattdessen saß er hier in Wesley Hall auf einem Stuhl, der seinen Hintern und sein Kreuz malträtierte wie eine Knochenmühle, und lauschte einem Streichquartett.

Die Musik plätscherte und trillerte vor sich hin.

Stinklangweilig. Doug Kershaw oder Charlie Daniels, ja, das waren Jungs, die wussten, wie man mit einer Geige umging.

Melanie würde selbstverständlich niemals auf die Idee kommen, rhythmisch mit dem Fuß aufzustampfen und mal so richtig beschwingt einen runterzufiedeln.

Sie saß dort würdevoll wie eine Leichenbestatterin, steif, den Rücken durchgedrückt, und spielte etwas, das klang wie der Soundtrack zu einem Film namens »Vier Waschlappen beim Teetrinken«.

Melanie die Melancholische.

Sie sah aus wie eine mit Selbstentleibung liebäugelnde Lyrikerin. Mager, fast so ausgemergelt wie ein Kadaver. Glattes schwarzes Haar, das bis auf die Schultern herabhing. Große dunkle, traurige Augen in einem Gesicht, das so weiß war, dass man beinahe befürchtete, die Schädelknochen hindurchschimmern zu sehen. Ein außergewöhnlich langer, bleicher, verwundbarer Hals. Und die Kropfkette natürlich – eines dieser samtenen Bänder, die sie immer um die Kehle geschlungen hatte.

Für Bodie waren ihre Kropfbänder etwas sehr Erotisches. Vor allem, wenn das alles war, was sie trug.

»Wenn ich das losbinde«, hatte er mal gefragt, »wird dann dein Kopf runterfallen?«

»Vielleicht.«

Er hatte Melanies Beine gespreizt und hinter ihren Nacken gegriffen, um das eng sitzende Band zu lösen.

»Noch nicht«, hatte sie geflüstert, die Hände um die Ohren geklammert, und dann gesagt: »Jetzt.«

Sensibel, verletzlich und ruhelos, aber nicht ohne Sinn für Humor.

Bodie veränderte seine Sitzposition. Es half ein wenig, die Beine übereinanderzuschlagen. Dieses Mal war er klug genug gewesen, einen Platz in der ersten Reihe zu wählen. Beim letzten Konzert hatte er so beengt und eingequetscht gesessen, dass ihm sogar die kleine Erleichterung, die das Kreuzen der Beine mit sich brachte, verwehrt gewesen war. Er sah auf seine Armbanduhr. Zehn vor neun. Fünfzig Minuten geschafft, siebzig noch in Aussicht. Er fragte sich, ob er es so lange aushalten konnte.

Das soeben vollendete Stück erntete leisen Applaus, und Bodie klatschte lauter als alle anderen.

Sie halten mich bestimmt für einen besonders dankbaren Zuhörer, dachte er. Und sie haben recht. Ich bin dankbar, dass es vorbei ist.

Melanie blickte ihn an. Ihre Miene blieb unverändert. Kühl, ernst und ziemlich hochmütig, wie es sich im Rahmen des Anlasses geziemte. Bodie zwinkerte.

Melanie wandte die Augen rasch ab, errötete jedoch. Die Farbe überflutete den milchigen Ton von Hals und Gesicht. Sie krümmte sich ein wenig, bevor sie den Rücken noch straffer durchdrückte, sich die Violine fest unters Kinn klemmte und steif und reglos wartete, bis die Musik wiederaufgenommen wurde.

Das neue Stück war dem letzten verdächtig ähnlich.

Und weiter geht’s. Immer weiter.

Bodies Blick streifte erneut seine Armbanduhr. Es waren erst zwei Minuten vergangen.

Keine Sorge, sagte er sich. Es wird ein Ende finden. Irgendwann. Und danach: Freiheit. Sich dehnen und strecken. Abschalten. Entspannen. Einen netten langen Spaziergang zu Sparkey’s. Eine Salami-Pizza, einen Riesenkrug Bier. Erleichterung.

Du musst nur noch bis zehn Uhr durchhalten.

Gibt es wirklich Menschen, die solche Musik genießen?, überlegte er. Der Saal war ziemlich voll. Ausgeschlossen, dass es sich bei sämtlichen Anwesenden um Geliebte, Verwandte oder Freunde der Künstler handelte. Nun ja, viele waren Studenten und Dozenten von der Musikabteilung. Sie werden es wahrscheinlich einfach wegschlucken, genauso wie Melanie …

Sie zuckte, als hätte ihr jemand von hinten einen Tritt verpasst, doch in ihrem Rücken war niemand. Sie warf sich die Arme vors Gesicht. Die Geige plumpste ihr in den Schoß. Der Cellist zu ihrer Linken wich der Spitze ihres durch die Luft fliegenden Bogens aus. Sie gab keuchende Würgegeräusche von sich. Die Geige fiel zu Boden, während ein krampfartiges Zittern ihren Körper erschütterte.

Bodie sprang auf und rannte zu ihr hinüber.

Ein Anfall?

Herzinfarkt? Epilepsie?

Stolpernd kam er direkt vor Melanie zum Stehen, achtete darauf, nicht auf die Violine zu treten, und packte ihre Handgelenke. Ihre stockstarren Arme zuckten in seinem Griff, als würden Stromstöße hindurchgejagt.

»Melanie!«

Sie reagierte nicht auf seine Stimme.

Er zwang ihre Arme nach unten und hielt sie gegen die Seiten ihres wild zuckenden Körpers gedrückt. Ihr Gesicht war wenige Zentimeter vor seinem – verzerrt und grau, die Augen so verdreht, dass nur das Weiße darin zu sehen war. Ihre Zunge hing schlaff aus dem Mund. Speichel tropfte ihr Kinn hinab. Ihr pfeifender Atem wehte Bodie heiß ins Gesicht.

Jemand lief in ihn hinein. Er begriff, dass sie von einer Menschentraube umgeben waren. Die Leute murmelten, manche stellten Fragen, andere äußerten lautstark Ratschläge.

»Zurück!«, blaffte er.

Er hatte Angst. Noch nie hatte er solche Angst gehabt. Melanie sah aus, als würde sie umgebracht – von innen in Stücke gerissen oder durch Elektrizität hingerichtet.

»Sanitäter«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Ich rufe die Sanitäter.«

»Ja, schnell!«, schrie Bodie.

Melanies Stuhl lehnte sich plötzlich nach hinten, als sie die Füße gegen den Boden stemmte. Bodie zog an ihren Armen. Der Stuhl kippte mit einem dumpfen Poltern um, und sie schlingerte ihm entgegen. Bodie wurde aus dem Gleichgewicht gebracht und taumelte rückwärts. Irgendjemand versuchte ihn aufzufangen, schaffte es jedoch nicht. Er stürzte zu Boden, mit Melanie über sich. Ihre Stirn zertrümmerte sein Nasenbein.

Mit einem Mal hörte das Beben auf, und die Starre wich aus ihren Gliedern. Sie lag reglos da. Bodie schmeckte Blut und spürte, wie es seine Kehle hinabrann und sich über seine Oberlippe und Wangen ergoss. »Bist du in Ordnung?«, fragte er.

Melanie schüttelte den Kopf. »Ich muss nach Hause«, nuschelte sie. Sie sah zu der Menge auf, die sich um sie geschart hatte. »Tut mir leid«, sagte sie und brach in Tränen aus.

Sie versicherte allen, dass sie beide wieder einigermaßen in der Spur waren. Den Sanitätern hatte man vorläufig noch nicht Bescheid gegeben. Bodie schlug ein Angebot, sie zum Krankenhaus zu fahren, aus. Er hielt ein Taschentuch auf die Nase gepresst und erklärte, er würde Melanie selbst zur Kontrolluntersuchung ins Krankenhaus bringen. Sie nickte. Ihre Augen waren stark gerötet, aber sie weinte nicht mehr. »Wir werden schon klarkommen«, sagte sie. »Vielen Dank. Ihnen allen herzlichen Dank für Ihre Anteilnahme.«

Ein Mitglied des Streichquartetts brachte Melanie ihren Instrumentenkoffer. »Ist alles drin«, versicherte ihr das Mädchen. »Deiner Geige geht es bestens.«

Ein paar Leute aus dem Pulk blieben an ihrer Seite, als sie den Zuhörerraum verließen – sie äußerten Mitgefühl oder aufmunternde Worte, stellten Fragen, waren bereit, bei einem Rückfall zu helfen. Professor Trueblood, der Leiter der Musikabteilung, ging ihnen voraus und öffnete die Türen. »Mein Wagen steht direkt da hinten. Ich werde Sie zur Notaufnahme fahren, darauf bestehe ich«, sagte er.

»Wirklich, mir geht es gut«, erklärte Melanie ihm. »Trotzdem besten Dank. Ich bin in Ordnung.«

»Ich kümmere mich um sie«, sagte Bodie durch sein vollgesogenes Taschentuch.

»Sie haben selbst eine gewisse Zuwendung nötig, junger Mann.«

»Ich komme schon klar.«

Professor Trueblood beobachtete vom Eingang zu Wesley Hall aus, wie sie die Betonstufen hinabeilten. Als sie seinem Blickfeld entschwunden waren, gingen sie langsam nebeneinander her.

Schweigend liefen sie durch die warme Nacht. Dann fragte Melanie: »Wie geht’s deiner Nase?«

»Sie wird’s überleben.« Er schniefte. »Ich glaube, das Bluten hat aufgehört.«

»Es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe.«

»Es ist nichts.« Er sah sie an. »Magst du mir erzählen, was passiert ist?«

»Oh, Bodie«, flüsterte sie. Sie schlang den Arm um seinen Rücken und ließ ihre kleine warme Hand auf seiner Hüfte ruhen. »Es ist etwas furchtbar Schreckliches.«

»Ich weiß. Das habe ich gesehen.«

»Nicht das. Was ich meine, ist … das, was ich gesehen habe

»Was hast du gesehen?«

»Meinen Dad. Es muss Dad gewesen sein. Oder meine Schwester.« Die Hand um Bodies Hüfte zog sich fester zusammen. »Mein Gott. Er … er ist bestimmt tot. Einer von ihnen ist jedenfalls tot, garantiert. Ich … verdammt noch mal.« Sie schluchzte. »Ich weiß nicht, wer. Aber ich glaube, es ist Dad. Als es das letzte Mal passiert ist, war es Mom.«

Bodie hielt inne. Er wandte sich um und blickte in ihre feucht glitzernden Augen. Ihr Kummer schnürte ihm die Kehle zu und versetzte ihm einen heftigen Stich in die Brust. Doch ihre Worte … Was hatte sie gesagt?

Er stopfte das Taschentuch weg und fasste sie sanft bei den Schultern. Zu spät wurde ihm bewusst, dass Blut an seinen Fingern klebte. »Ich will das verstehen«, sagte er.

Melanie versteifte sich. Sie beugte den Kopf und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. »Da ist etwas über mich hergefallen«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Aber nicht nur über mich. Es war dunkel und laut und rannte auf mich zu, und ich wusste, ich musste ausweichen, oder es würde mich umbringen, aber ich hatte keine Zeit, es war zu schnell und hat mich erwischt. Es hat mich erwischt.«

Bodie zog sie zärtlich an sich. Sie vergrub das Gesicht an seinem Hals. Er fühlte die Nässe und das Kitzeln ihrer Wimpern. »Das hat sich in deinem Kopf abgespielt?«, fragte er leise. »Während du … gezittert hast und so?«

Er spürte sie nicken. »Himmel«, murmelte er.

»Als es schon mal passiert ist, war ich elf und im Sommerlager. Damals war es Mom.«

Sie hatte Bodie vom Verlust ihrer Mutter erzählt. Sie war in der Badewanne ausgerutscht, hatte sich den Kopf angeschlagen und war ertrunken. »Du hattest eine Art Vision – wie heute Abend?«, fragte er.

»Nicht genau wie heute Abend. Doch, ja. Deshalb weiß ich, dass Dad tot ist.«

»Du weißt es nicht«, widersprach Bodie. »Jedenfalls nicht mit Bestimmtheit.«

Sie gab keine Antwort.

»Komm. Lass uns ins Apartment zurück. Du kannst zu Hause anrufen. Vielleicht ist alles in bester Ordnung.«

In ihrer Wohnung, zwei Blocks vom Campus entfernt, stand Bodie still hinter Melanie, während sie die Nummer wählte. Ihr Kopf hing herab. Auf den Schultern ihrer weißen Bluse prangten die rostroten Flecken, die seine Finger dort hinterlassen hatten.

Sie lauschte eine ganze Weile in den Hörer hinein, legte dann auf und drehte sich zu ihm um. »Es ist keiner rangegangen.«

Bodie sah auf die Uhr. Halb zehn. Nach Pazifik-Zeit war es jetzt halb neun. »Vielleicht sind sie zum Abendessen ausgegangen oder so. Warum versuchst du es nicht in ungefähr einer Stunde noch mal?«

»Das wird zu nichts führen.«

»Du kannst nicht sicher sein«, sagte er. »Wie oft hast du diese … Visionen schon gehabt?«

»Eine wie diese nur ein einziges Mal. Eine so starke wie diese. Als Mom getötet wurde.«

»Warum hast du mir nie was davon erzählt?«

Sie schwieg einen Augenblick lang und nahm ihn fest in die Arme. »Ich wollte nicht, dass du mich für eine Verrückte hältst.«

»Zum Teufel, das wusste ich doch schon.«

»Ich liebe dich, Bodie.«

»Siehst du? Das beweist, dass du eine Verrückte bist.«

»Ja.«

»Also, was willst du tun?«

»Nach Hause fahren.«

»Jetzt sofort?«

»Ja. Ich muss. Ich kann es nicht aushalten.«

»Willst du, dass ich mitkomme?«

»Würde es dir was ausmachen?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Du kannst rechtzeitig für deine Montagskurse zurückfahren, und ich kann so lange bleiben, bis …« Sie zuckte die Achseln.

»Vielleicht stellen wir fest, dass alles in Ordnung ist.«

Sie erwiderte nichts darauf.

Während sie einander festhielten, dachte Bodie über den Ausflug nach. Das Haus ihres Vaters in Brentwood, Kalifornien, lag wahrscheinlich mehr als acht Fahrstunden von Phoenix entfernt. Wenn sie um zehn loskamen, würden sie gegen sechs Uhr morgens ankommen, fünf Uhr pazifischer Zeit.

Eine lange Fahrt, vor allem, wenn man ohne Schlaf startete. Bodie empfand jedoch einen Anflug von Aufregung angesichts der Reise – ein Trip durch die nächtliche Wüste, Melanie an seiner Seite, vielleicht eine Kaffeepause an einem Diner. Es würde wie ein kleines Abenteuer sein, obwohl der Anlass alles andere als erfreulich war.

»Lass uns zusammenpacken«, sagte er, »und Gas geben.«

2

»Er hat Haus angezündet. Er denken, ›Haha, ich verbrenne Leiche, dann keine Leiche.‹ Er denken, ›Ich schlaues Kerlchen.‹ Nicht besonders schlau. Braucht mehr als brennendes Haus, um Leiche loszuwerden. Hat sie bloß wie ein Stück Rindfleisch gekocht.«

Der Gerichtsmediziner vom Los Angeles County grinste und nickte weise, als seine Bemerkung bei Teilen seines Publikums Kichern und Stöhnen hervorrief. Pen sah sich um. Der elegante Asiate, eine Mischung aus Quincy und Charlie Chan, hatte die Zuhörerschaft in seinen Bann geschlagen. Alle waren begeistert, kauften ihm jedes Wort ab, fraßen ihm förmlich aus der Hand.

Sie war froh darüber, schlussendlich genug Mut aufgebracht zu haben, an einem dieser Treffen teilzunehmen. Obwohl sie bislang erst eine Geschichte verkauft hatte, war es etwas ganz Besonderes für sie, zwischen so vielen Krimiautoren zu sitzen.

Gary Beatty lehnte sich auf seinem Platz zur Seite, wodurch seine Schulter ihre streifte. Er nahm die schlanke Zigarre aus dem Mund. »Der Mann versteht zu reden«, sagte er und verzog auf Sam-Spade-Art den Mundwinkel. »Zu schade, dass er kein Englisch spricht.«

Gary war die erste Person gewesen, die sie heute Abend hier getroffen hatte. Sie war früh angekommen, hatte in einer Nebenstraße nah des Los Angeles Press Club einen Parkplatz gefunden, war mit ihrem aufgespannten Schirm durch den Regen gehastet und hatte sich kaum an der Bar des Presseclubs niedergelassen, als er sich auch schon auf den Hocker neben ihr schwang.

»Hey, Allen«, begrüßte er den Barkeeper.

»Wie geht’s, Gary?« Die Stimme von Allen, einem Asiaten, klang wie die von Paul McCartney. »Was kann ich für dich tun? Coors oder Bud?«

»Bring mir ein Coors.«

Allen mixte Pens Wodka-Tonic fertig und stellte ihn vor ihr ab. Pen ließ ihre Handtasche aufschnappen. Gary schüttelte den Kopf. »Das geht auf mich«, sagte er.

»Nein, wirklich …«

»Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.«

»Tja …«

»Zwing mich nicht, dich mit Gewalt zu überreden, Süße. Wir könnten beide allzu viel Spaß daran entwickeln.«

Sie unterhielt sich und trank zwanzig Minuten lang mit Gary. Dann führte er sie hoch zum Versammlungsraum.

»Das wird die Spreu vom Weizen trennen. In diesem Fall: die echten Kerle von den Weicheiern«, meinte Gary, als die Deckenlampen erloschen.

»Glaubst du, er zeigt Leichen?«, fragte Pen.

Gary warf den Kopf in den Nacken und blies einen Rauchkringel aus. »Es würde mich nicht im Geringsten wundern.«

Die ersten Bilder zeigten die Hauptniederlassung der Gerichtsmedizin von Los Angeles und eine Flotte goldener Transporter. Untermalt wurden die visuellen Informationen von durch einen Leichenbeschauer runtergeleierter statistischer Daten bezüglich der Größe seiner Abteilung, ihres Jahresetats und der Anzahl an Leichen, mit denen man es im vergangenen Jahr beziehungsweise im Monatsdurchschnitt zu tun hatte. Wie Pen bemerkte, machte sich Gary Notizen. »Unser Geschäft floriert«, sagte der Gerichtsmediziner. Sein Tonfall klang ziemlich vergnügt.

Dann wurde es langsam unangenehmer.

Ein Foto vom Obduktionsraum. Operationstische aus Edelstahl. Tabletts mit Operationsbesteck. Waagen, um das Gewicht herausgeschnittener Organe zu bestimmen. Abgeschrägte Liegen mit Abflussrinnen am Fußende, um die Flüssigkeiten aufzufangen.

Pen wurde bewusst, dass sie den Atem anhielt. Sie stieß ihn aus, holte tief Luft und nahm einen Schluck vom Wodka-Tonic, den sie von der Bar mit raufgenommen hatte.

Das nächste Bild zeigte ein Feld im Sonnenlicht. Einer der goldenen Lieferwagen stand neben ein paar Polizeiautos. Etliche Männer standen am oberen Bildrand bis zu den Knien im Unkraut. »Netter Platz zum Picknicken, aber wir haben Kundschaft.« Der Diaprojektor klickte und summte. Die Kundschaft erschien.

Eine Frau. Sie lag ausgestreckt, mit dem Gesicht nach unten. Ihre Haut war blaugrau und aufgebläht. Ihre nackten Fußsohlen waren schmutzig. Neben ihr sah man die Schuhe und Knöchel der Männer von der vorherigen Einstellung. »Sie noch nicht lange hier liegt. Die Nacht über vielleicht.«

Eine Nahaufnahme ihres Hinterns. Was aus der entfernteren Ansicht ausgesehen hatte wie ein dunkler Schmutzfleck, entpuppte sich eindeutig als Quetschung um eine Bisswunde herum. »Unser Mörder macht großen Fehler. Knutschflecken. Zahnspuren nicht ganz so gut wie Fingerabdrücke, aber fast. Gut für uns, schlecht für ihn. Vielleicht wir kriegen Speichelprobe. Wenn er etwas absonderte, wir können Blutgruppe über Speichel ermitteln. Ihn einordnen und besser bestimmen.«

Das Bild wich einem anderen.

Eine weitere nackte Frau. Üppiger gebaut als die andere. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf einem Tisch in der Autopsie. Der kleine Mann trat nah an die Leinwand heran und wies mit einem Finger auf ihr Hinterteil. Beide Pobacken waren eine einzige violett-graue Masse. »Leichenflecke. Wenn Herz zu schlagen aufhört, wirkt Schwerkraft aufs Blut. Blut sackt ab.« Er zeigte auf weitere Flecken auf den Schulterblättern und den Rückseiten ihrer Beine. »Sieht wie schlimmster Knutschfleck der Welt aus. Doch wir wissen, sie schlug nach dem Tod auf den Rücken. Mutter Natur man kann nicht zum Narren halten.«

Gary ächzte. »Welch ein Witzbold«, murmelte er.

Pen atmete so scharf wie zitternd ein. Sie fühlte sich leicht benommen und schwach. Irgendwas stimmt nicht mit mir, dachte sie. Zu viel Wodka? Sie wollte noch einen Schluck nehmen, traute sich allerdings nicht.

Das nächste Dia präsentierte einen Mann.

Er lag lang rücklings auf einem Tisch. Ein blaues Tuch verdeckte sein Gesicht. Er war nackt. Seine Haut war rot. »Dies keine Leichenflecke, dies kein Sonnenbrand, dies Zyanose. Blausucht.« Er fuhr fort.

Pen starrte auf den schlaffen Penis der Leiche, zwang sich, den Blick abzuwenden, sah wieder hin.

Sie schloss die Augen. Ihr Gesicht fühlte sich kalt und taub an. Sie rieb mit einer Hand darüber. Es war feucht.

Das, dachte sie, nennt man kalten Angstschweiß.

Himmel.

Was mache ich hier?

Dann folgte die Großaufnahme einer ausgemergelten toten Miene. Ein Mann mit Schnurrbart und etwas Weißem in den Haaren seines linken Nasenlochs. »Natur immer emsig arbeitet«, sagte der fröhliche Leichenbeschauer.

In Pens Ohren klingelte es.

Er wies auf den weißen Fleck. »Fliegeneier. Fliegeneier wie kleine Uhren, sehr nützlich. Wir wissen, sie nach dem Tod dort abgelegt, also …«

Pen stellte ihren Drink auf dem Boden ab und ergriff Regenschirm und Handtasche. Sie erhob sich auf ihre wackeligen Beine, schob sich an Garys Knien vorbei und ging an der Seitenwand des Raums entlang bis zum oberen Ende der Treppe. Das enge Treppenhaus wirkte sehr steil. Sie hielt inne und fragte sich, ob sie den Abstieg wagen würde. Sollte ich verdammt noch mal schleunigst tun, dachte sie. Muss hier raus, bevor ich kotze.

Sie hängte sich den Schirmgriff über das linke Handgelenk, klammerte sich an das hölzerne Geländer und ging langsam die Treppe hinab.

Ihr Mund füllte sich unablässig mit Speichel. Die Treppenflucht erschien ihr finsterer, als sie sollte. Wenn sie blinzelte, herrschte darin eine stahlblaue Aura. Sie krallte sich am Geländer fest, ließ die Hand daran hinabgleiten und war darauf gefasst, noch fester zuzupacken, falls ihre Beine nachgaben.

Du wirst in Ohnmacht fallen oder dich übergeben, dachte sie. Entweder das eine oder das andere. So oder so. Unvermeidlich.

Mein Gott, was für eine Katastrophe.

Fliegeneier.

Sie würgte, ihre Kehle brannte und dehnte sich, und Tränen stiegen ihr in die Augen.

Dann hatte sie den Fuß der Treppe erreicht und atmete tief die frische kühle Luft ein. Es half. Der Regen klang wohltuend, wie er da vor ihr aufs Pflaster prasselte. Er schien inzwischen stärker zu fallen als zuvor.

Sie fühlte sich nach wie vor zittrig, aber ihre Sicht war klarer, und der kalte Krampf in ihrem Magen schien sich zu lösen. Sie schürzte die Lippen und riss dann den Mund weit auf. Die Taubheit war aus ihren Wangen gewichen.

Während sie den Regenschirm aufspannte, überlegte sie, was sie anstellen sollte. Eins war klar, sie konnte nicht zurück nach oben. Was zwei Möglichkeiten offen ließ: entweder quer durch den Hinterhof zur Presseclub-Bar und warten, bis die Versammlung endete, oder zurück nach Hause.

Gary würde eventuell in der Bar vorbeischauen, nachdem die Sitzung beendet war. Doch darauf konnte sie sich nicht verlassen. Und wenn er auftauchte, könnte das außerdem Ärger geben.

Wahrscheinlich würde es darauf hinauslaufen, dass sie ihn sich mit mehr oder weniger Mühe vom Hals halten musste.

Am besten einfach verschwinden.

Sie trat aus dem Eingangsbereich. Der Regen trommelte auf ihren Schirm, während sie den Hof durcheilte und die Betonstufen zum Parkplatz hinunterlief.

Zwanzig Minuten später zog sie die Wohnungstür hinter sich zu und hängte den tropfenden Regenschirm an seinen Haken. Sie drückte den Hintern gegen die Tür, um sich Halt zu verschaffen, zog die Stiefel aus und trug sie ins Schlafzimmer, während sie auf dem Weg dorthin die Lichter einschaltete.

Es tat gut, sich aus den Klamotten zu schälen. Sie schob den feuchten Rock auf einem Kleiderbügel in den Schrank, schlüpfte in ein Paar alter Mokassins und zog ihren Morgenrock an, der angenehm weich auf ihrer Haut lag.

Im Badezimmer schaltete sie das Licht ein, bevor sie in die Küche ging und eine Flasche Burgunder aus dem Kühlschrank holte.

Ein Glas Wein, ein gutes Buch, ein langes heißes Bad – das wahre Luxusleben. Dafür lohnte es sich, nach Hause zu kommen.

Mit einem leisen, aber vernehmlichen Knall kam der Korken aus der Flasche.

Sie trug den Wein zur Essecke und entnahm der Vitrine ein Kristallglas, das sie füllte, als sie zurück im Badezimmer war. Sie trank, und der Wein war in ihrem Mund zunächst schneidend kalt und dann, als sie schluckte, angenehm warm. Seine Hitze durchströmte sie, breitete sich in ihrem ganzen Körper aus.

Schön, dachte sie.

Das wird sehr schön sein, weitaus netter, als in der Presseclub-Bar herumzusitzen.

Mit Gary hätte sich was entwickeln können.

Vergiss es.

Er hätte lediglich versucht, sie direkt rumzukriegen. Wie alle Typen. Wenn man nicht willig war, versuchten sie es mit Gewalt. Zur Hölle mit ihnen.

Sie stellte Glas und Flasche neben der Wanne ab – ganz am Ende, damit sie gut rankäme, wenn sie drinsaß. Sie kniete sich hin, stöpselte den Abfluss zu und drehte das Wasser auf. Sie regelte die Temperatur auf das richtige Maß, gerade so heiß, dass man es noch aushalten konnte, trocknete sich die Hände ab und ging ein Buch holen.

Ihr lose gebundener Bademantel stand offen. Sie ließ es so, da sie sich wohlfühlte und außerdem zu träge war, ihn anständig zu verknoten.

Sie betätigte den Lichtschalter in dem Zimmer, das als ihr Büro fungierte. Auf der Ecke ihres Schreibtischs lag der neue Roman von Dean R. Koontz. Es wurde langsam spannend, war aber ein Hardcover. Bücher mit festem Einband waren im Bad tabu.

Sie näherte sich ihrem Bücherregal und jaulte vor Schmerz, als sich die spitze Ecke des Tischs in ihren Oberschenkel grub. Sie umklammerte die Stelle und ließ sich auf den Stuhl fallen.

»Jesus«, zischte sie.

Als der Schmerz abklang, hob sie die Hand. Kein Blut an ihrem Bein, aber ein Stück der obersten Hautschicht war abgeschabt, stand weiß ab und legte das rosig schimmernde Fleisch darunter frei.

Ein Schauer durchfuhr sie, und sie stieß verärgert die Luft aus.

Verdammt, warum habe ich nicht darauf geachtet, wohin ich laufe? Das wird ein Vergnügen, wenn es mit dem heißen Badewasser in Berührung kommt.

Von ihrem Sitzplatz aus konnte sie das Wasser rauschen hören.

Sie machte Anstalten, sich zu erheben.

Und dann fiel ihr Blick auf den Anrufbeantworter neben ihrer Schreibmaschine. Das rote Licht brannte. Sie sah genauer hin.

Vier Anrufe in Abwesenheit? Ziemlich betriebsamer Abend.

Sie spulte das Band zurück, drückte auf Wiedergabe, wandte sich ab und ging Richtung Bücherregal.

»Hallo Schatz.« Pen erkannte die Stimme des Mannes nicht. »Schade, dass du nicht da bist. Ich wollte mich mit dir über meinen großen harten Schwanz und deine saftige dampfende Fotze unterhalten.«

Die Worte verschlugen ihr den Atem. Sie wirbelte herum und glotzte das Aufnahmegerät aus braunem Plastik an.

»Wie fändest du es, wenn ich dir das Hirn rausficken würde, hä? Ja, ich schiebe ihn dir direkt in …«

Sie stürzte zum Tisch, Arm und Zeigefinger ausgestreckt, um die Stimme mit einem Knopfdruck zum Schweigen zu bringen. Der Apparat kam ihr zuvor. Ein leises Piepen signalisierte das Ende der Nachricht.

Pen hatte weiche Knie. Sie stützte sich auf dem Schreibtisch ab, die Ellbogen durchgedrückt, die Handflächen auf das kühle Holz gelegt.

Zweite Nachricht.

Dieselbe Stimme.

»Was hältst du davon, wenn ich meine Zunge in …«

Sie hämmerte auf die Stopptaste.

Schloss die Augen. Senkte den Kopf. Atmete heftig ein und aus, während ihr das Herz in der Brust hämmerte.

Verfluchter geisteskranker Perverser. Gut, dass ich nicht zu Hause war. Besser Fliegeneier als …

Pen öffnete die Augen. Erblickte flüchtig das blonde Haarbüschel zwischen ihren Beinen. Zog ruckartig den Bademantel zusammen und schnürte den Gürtel fest zu. Sah auf das Gerät.

Vielleicht hat der Drecksack nach zwei Anrufen aufgegeben.

Sie drückte auf schnellen Vorlauf und beobachtete, wie der Zähler sich drehte. In Ordnung, dritte Nachricht. »… spritze in deinem Maul ab. Ich will dir meine Ladung die Kehle runter …«

Sie knallte die Faust auf die Auswurftaste. Die Kassette schnellte empor. Sie riss das Band aus dem Anrufbeantworter und schleuderte es weg.