Zum Buch
Freundinnen – jede Frau hat sie, jeder braucht sie. In der heutigen westlichen Welt gilt Freundschaft unter Frauen als Selbstverständlichkeit. Doch ein Blick zurück zeigt: noch vor einigen Jahrhunderten waren »Freundinnen« so gut wie unbekannt, Freundschaften unter Frauen waren verpönt. In der Antike galten Frauen als das schwache Geschlecht, nur Männer seien intellektuell und emotional fähig, wirklich tiefgehende Freundschaften zu entwickeln und zu pflegen. Und auch heute noch gibt es Kulturen, in denen Frauen keine eigenständigen Freundschaften pflegen dürfen.
Anhand zahlreicher Quellen werfen Marilyn Yalom und ihre Co-Autorin Theresa Donovan Brown einen höchst informativen und unterhaltsamen Blick auf die Entwicklung und das Verständnis von Frauenfreundschaft im Wandel der Zeit: von der Bibel und den Römern bis zur Aufklärung, von der Frauenbewegung der 60er Jahre bis zu Sex and the City.
Zu den Autorinnen
MARILYN YALOM ist Senior Scholar am Clayman Institute for Gender Research an der Stanford University. Sie hat zahlreiche Sachbücher veröffentlicht und lebt mit ihrem Ehemann, dem Buchautor und Psychoanalytiker Irvin D. Yalom, in Palo Alto, Kalifornien.
THERESA DONOVAN BROWN ist preisgekrönte Autorin von Sachbüchern und Belletristik zum Thema Freundinnen. Sie hat Creative Writing an der Stanford University studiert und einen MBA von der Haas School of Business der Berkeley University.
MARILYN YALOM
Theresa Donovan Brown
Freundinnen
Eine Kulturgeschichte
Aus dem amerikanischen Englisch
von Liselotte Prugger
Für Irv und Paul
Inhalt
Vorwort
Einleitung
TEIL I
Als das Erscheinungsbild der Freundschaft männlich war
EINS Auf der Suche nach Freundschaft in der Bibel
ZWEI Philosophen und Kleriker
TEIL II
Als die Geschichte Frauenfreundschaften entdeckte
DREI Prämoderne Nonnen
VIER Klatsch und Seelenverwandte
FÜNF Précieuses
SECHS Patriotische Freundschaften
SIEBEN Romantische Freundschaften
ACHT Quilt, Gebet, Verein
NEUN Studentinnen, Stadtmädchen und die »Neue Frau«
ZEHN Eleanor Roosevelt und ihre Freunde
ELF Von Partnerschaft zu schwesterlicher Beziehung
TEIL III
Persönlicher Kontakt im 21. Jahrhundert
ZWÖLF Freundtimität
DREIZEHN Geben und Nehmen: Freundschaft in der Marktwirtschaft
VIERZEHN Können Frauen und Männer »nur Freunde« sein?
EPILOG Frauenfreundschaft: Was bleibt
Danksagung
Anmerkungen
Personenregister
Vorwort
Dieses Buch verdankt sein Entstehen dem Verlust von Diane Middlebrook, einer Frau, die mir sehr nahestand. Als Diane im Dezember 2007 starb, verlor ich eine Freundin, die mehr als drei Jahrzehnte lang meine Kollegin und Vertraute war – und Schriftstellerin wie ich. Erst in den Monaten nach ihrem Tod wurde mir schmerzlich bewusst, wie wertvoll und unersetzlich mir ihre Freundschaft gewesen war. Andere, die Diane kannten, teilten diese Wahrnehmung. Als ich miterlebte, wie entschlossen Diane gegen ihren Tumor ankämpfte, der sie schließlich besiegte, als ich sah, welche Stütze das Schreiben ihr bis ganz zum Schluss war, konnte ich mir nichts Besseres vorstellen, um ihr Andenken zu ehren, als ein Buch über Frauenfreundschaften zu schreiben.
In Amerika nehmen wir es als selbstverständlich hin, dass Frauen ihre Freunde selbst wählen und so viel Zeit mit ihnen verbringen können, wie sie wollen. Unbekümmert gehen wir davon aus, dass das ganz »normal« sei. Doch in vielen Teilen der Welt müssen Mädchen und Frauen noch heute ihre Väter, Mütter, Ehemänner, Brüder oder ältere Schwestern um Erlaubnis fragen, wenn sie sich mit ihren Freundinnen treffen wollen – sofern sie überhaupt Freundinnen haben dürfen. Selbst in Amerika unterstehen Freundschaften oft der elterlichen oder ehelichen Kontrolle. Zumindest ist es so, dass Eltern versuchen, ihre Kinder zu denjenigen Kindern zu lenken, die sie als »geeignet« betrachten, und eine Eheschließung bedeutet oft, dass die frischgebackene Ehefrau weniger Zeit für ihre alleinstehenden Freunde hat. Auch bei uns wird die Freiheit einer Frau, ihre Freunde selbst auszuwählen und Zeit mit ihnen zu verbringen, von familiären, wirtschaftlichen und kulturellen Erwägungen eingeschränkt.
Das Thema Freundschaft ist weniger glamourös als das Thema Liebe, das nach wie vor die Hauptrolle im Leben und in der Literatur beansprucht, von der Welt der Publizistik ganz zu schweigen. Auch ich bekenne mich schuldig, meinen Beitrag zu der Flut von Büchern geleistet zu haben, die sich um die Liebe drehen (wie etwa mit Wie die Franzosen die Liebe erfanden), ohne ihre nahe Verwandte einzubeziehen. In den vielen Monaten meiner Zusammenarbeit mit Theresa Donovan Brown haben wir die Schnittstellen zwischen Liebe und Freundschaft untersucht und oft feststellen müssen, wie schwierig es ist, eindeutige Unterscheidungen zu treffen. Was ist Freundschaft? Und wie sehr unterscheidet sie sich wirklich von Liebe?
Theresa und ich, Freundinnen und zugleich Kolleginnen, sind uns durchaus bewusst, dass wir von einer besonderen Warte aus schreiben. Was wir über Frauen als Freundinnen zu sagen haben, ist zweifellos von unserer eigenen Lebenssituation beeinflusst. Wenngleich wir hoffen, dass wir unseren Blick über den Tellerrand unserer begrenzten nordkalifornischen Enklave hinaus richten und die Erfahrungen vieler anderer Frauen anderswo miteinbeziehen können. Heutzutage ist Freundschaft das Geburtsrecht aller Amerikanerinnen und für viele von ihnen der wohl kostbarste Bereich ihres Privatlebens. Wenn wir einen Blick zurück in die Geschichte werfen, so ist es höchst spannend zu sehen, wie Freundschaft sich als echte Alternative für Frauen entwickelt hat. So wertvoll und wichtig diese Beziehungen für jeden von uns sind – nicht nur für Frauen, sondern für alle, denen Frauen am Herzen liegen oder die auf Frauen setzen –, so warnt die Geschichte der Freundschaft unter Frauen uns doch davor, diese als selbstverständlich zu betrachten.
Marilyn Yalom
Einleitung
Haben Frauen mehr Freunde oder Männer? In den Vereinigten Staaten sind es aller Wahrscheinlichkeit nach die Frauen. Der Volksmund sagt, dass Frauen üblicherweise geselliger, offener, empathischer, fürsorglicher, kollegialer und »freundlicher« sind als Männer. Die Medien verstärken dieses Stereotyp mit Filmen, Fernsehserien und Frauenromanen, in denen die engen Beziehungen thematisiert werden, die viele Mädchen und Frauen im Laufe ihres Lebens eingehen. Darüber hinaus haben einige wissenschaftliche Studien aufgezeigt, dass Frauen tiefere, intimere Freundschaften entwickeln als Männer und dass Freundschaften zwischen Frauen sowohl für ihre eigene seelische Gesundheit als auch aus evolutionärer Sicht für das Überleben ihres Nachwuchses von entscheidender Bedeutung sind.1 Wenn bei verheirateten Paaren die Frau zuerst stirbt, vereinsamt der Mann häufig, wird depressiv oder physisch krank, während im umgekehrten Fall die zurückbleibende Frau oft von ihren Freunden aufgefangen wird.2 Heutzutage werden gute Freunde – ob Frauen oder Männer – für das Wohlbefinden amerikanischer Frauen jeden Alters als unverzichtbar angesehen.
Der Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Freundschaftsmustern ist seit mindestens 25 Jahren ein heißes Thema sowohl in der Populärkultur als auch in der Wissenschaft.3 Die meisten wissenschaftlichen Studien kommen zu dem Schluss, dass Unterschiede zwischen Männerfreundschaften und Frauenfreundschaften bestehen. Ein Sozialwissenschaftler definierte es so: »Wenn Männer sich treffen, pflegen sie eine ›shoulder-to-shoulder‹-Beziehung – wir machen etwas gemeinsam –, während Frauen eher zu ›face-to-face‹-Beziehungen tendieren.«4 Viele Frauen vertrauen sich einander an, während Männer einfach nur gern zusammen abhängen. Nicht selten sind die sozialen Beziehungen unter Männern von Konkurrenzdenken geprägt, und das hindert sie daran, ihren Freunden Schwächen und Sorgen zu offenbaren. So beschränken Männer vertrauliche Unterhaltungen häufig ausschließlich auf ihre Partnerinnen, Ehefrauen oder platonischen Freundinnen. Damit können sie nach außen hin ein unabhängiges und selbstständiges Bild von sich vermitteln – klassische »männliche« Eigenschaften.
Andererseits wird einer auch noch so erfolgreichen Frau ohne enge Freunde nachgesagt, ihr mangele es an dem emotionalen Kapital, das lange mit dem weiblichen Geschlecht in Verbindung gebracht wurde. Von heranwachsenden Mädchen und Frauen um die 20 wird angenommen, dass sie sich emotional auf ihre Freundinnen verlassen, wenn es um Empathie und Feedback geht. Während junge Frauen in den Anfängen einer Ehe sich vielleicht von zeitraubenden Freundschaften zurückziehen, scheinen sie später wieder Freundinnen zu finden, wenn sie welche brauchen: Sie halten Ausschau nach Kolleginnen und Mentorinnen, wenn sie über die Anforderungen des Arbeitsplatzes diskutieren; sie kommunizieren mit anderen Müttern, wenn sie ihre Kinder großziehen; sie vertrauen einander persönliche Geheimnisse an, wenn sie die Wechseljahre oder eine Scheidung durchmachen, und sie stützen einander, wenn sie an Krebs oder anderen Krankheiten leiden oder wenn ein Ehepartner gestorben ist. Wie oft haben wir Frauen sagen hören: »Ohne meine Freundinnen hätte ich es nie geschafft.«
Diese besondere Rolle von Frauen als Freundinnen hätte die Menschen in grauer Vorzeit überrascht. Fast alle Dokumente über Freundschaften in den ersten 2000 Jahren der Geschichte des Abendlandes – von 600 v. Chr. bis 1600 n. Chr. – betreffen Männer. Natürlich wurden fast alle diese Dokumente von Männern für Männer geschrieben. Aber hinter dem Augenmerk auf Männerfreundschaften steht weit mehr als die Frage einer geschlechterbezogenen Autoren- und Leserschaft. Männliche Autoren erhoben die Freundschaft zu einem männlichen Unternehmen, notwendig nicht nur für das private Wohlbefinden, sondern auch für die staatsbürgerliche und militärische Solidarität. Wenn ein antiker griechischer Philosoph die Freundschaft als edelste Form menschlicher Beziehung beschwor, fand er Frauen nicht der Erwähnung wert, denn sie waren keine Staatsbürger, keine Soldaten, und sie hatten keinen Anteil am öffentlichen Leben. Abgesondert im häuslichen Bereich griechischer Wohnstätten mochten Frauen zwar untereinander Freundschaften gepflegt haben, aber was hätte das schon zum öffentlichen Wohl beigetragen?
Darüber hinaus galten Frauen ganz allgemein als »schwächer« als Männer, und einer negativen Sicht auf Frauenfreundschaften zufolge, die noch lange nach den Griechen und Römern fortbestand, waren sie von ihrer Konstitution her für ernsthafte Freundschaft ungeeignet. Ihre Rivalitäten, ihre Eifersüchteleien und ihr Mangel an unverbrüchlicher Loyalität sollten den Frauen noch Jahrhunderte später um die Ohren fliegen. So warf noch Mitte des 19. Jahrhunderts die britische Saturday Review die Frage auf, ob Frauen überhaupt zu Freundschaften innerhalb ihres eigenen Geschlechts fähig seien.5 Die überaus produktive kalifornische Autorin Gertrude Atherton vertrat 1902 die Auffassung, dass »die perfekte Freundschaft zweier Männer die tiefste und höchste Empfindung ist, zu der der endliche Geist fähig ist; Frauen verpassen das Beste im Leben.«6 Und C. S. Lewis, der Autor der Chroniken von Narnia, schrieb 1960, dass die Anwesenheit von Frauen in Männerzirkeln zur »modernen Herabwürdigung der Freundschaft« beitrage; solche Frauen sollten ihrem »endlosen Geschwätz« überlassen und daran gehindert werden, den gehobenen Austausch männlicher Geister zu beschmutzen.7 Und heute fokussieren Filme und TV-Shows auf niederträchtige Cliquen gehässiger Teenager und die sexuellen Rivalitäten junger Frauen und folgen damit einer Tradition von Stereotypen, die seit langem den Wert von Frauen als Freundinnen infrage stellen.
Es gibt zahlreiche Belege für Freundschaften unter der griechischen und römischen Bürgerschaft, unter Klerikern und Kreuzfahrern des Mittelalters und Humanisten der Renaissance. Obschon durch Raum, Zeit, Sprache und Kultur getrennt, benutzten sie eine Vielzahl von Genres, wie Briefe, Traktate, Memoiren und Erzählungen, um extensiv über die Vorzüge von Männerfreundschaften zu schreiben. So behandelt zum Beispiel das mitreißende französische Rolandslied (um 1100) die heroische Freundschaft zwischen Roland und Olivier auf dem Schlachtfeld. Damit folgt es einer literarischen Tradition, die bis 2000 Jahre zurückreicht zu den Figuren von Achilles und Patroklus in Homers Ilias und sogar noch weiter zur babylonischen Geschichte von Gilgamesch und Enkidu. Im Gegensatz dazu waren Frauenfreundschaften in der klassischen oder mittelalterlichen Literatur kein Thema, einmal abgesehen von den seltenen Fällen, die sich üblicherweise um eine heterosexuelle Liebesaffäre rankten, bei der eine Frau die Rolle der Vertrauten einer anderen übernahm.
Im Mittelalter entsprangen in der stillen Zurückgezogenheit christlicher Klöster enge Freundschaften unter den Mönchen, die zusammen lebten, arbeiteten und beteten. Ehrwürdige Führer und zukünftige Heilige wie Anselm von Canterbury (1033–1109) und Bernard von Clairvaux (1090–1153) schrieben zahlreiche Briefe, die tiefe Zuneigung zu anderen Männern des Klerus ausdrückten, ob sie nun hochrangige Persönlichkeiten waren wie Äbte, Prioren oder Bischöfe oder nur einfache Mitbrüder. Aber um 1109, als Anselm starb, tauchten vergleichbare Briefe von Frauen auf, die in Nonnenklöstern lebten. Die Briefe der Hildegard von Bingen (1098–1179), auf Lateinisch geschrieben wie diejenigen des Heiligen Anselm, bezeugen die engen Freundschaften, die Frauen in den Klöstern verbanden. Hildegards starke Persönlichkeit bahnt sich in den vielen Episteln Weg, die sie an Frauen schickte, welche sie kannte und liebte. Heute umfasst ihre Korrespondenz ebenso wie die des Heiligen Anselm drei Bände. Aber trotz der zahlreichen Freundinnen, die ihre Briefe erhielten und beantworteten, war Freundschaft in der Öffentlichkeit nach wie vor entschieden männlich geprägt.
Ein klassisches Beispiel dafür, dass Männer die Freundschaft für eine ausschließlich männliche Domäne hielten, liefert der berühmte italienische Humanist Leon Battista Alberti (1404–1472) mit seinem Traktat »Vom Hauswesen«, in dem er eine Szene beschreibt, die ein reicher florentinischer Händler kurz nach seiner Hochzeit erzählt: »Da fielen wir auf die Knie, sie und ich, und beteten zu Gott, … dass Er uns die Gnade erweise, in Frieden und Harmonie zusammenzuleben … und er möge mir Reichtum, viele Freunde und Ehre schenken, ihr aber tadellosen Ruf, Ehrbarkeit und die Gabe, eine tüchtige Hausfrau zu sein.« Ob Alberti die Worte des Händlers allen Ernstes so verstanden haben wollte oder nicht: Jedenfalls spiegelte er die Sehnsüchte italienischer Ehemänner wider, für die eine Freundschaft mit anderen Männern im Alltagsleben eine herausragende Stellung einnahm – was im Umkehrschluss für Frauen nicht galt, die angewiesen waren, ihre Aktivitäten auf ihre Familien und den Haushalt zu beschränken.8
Im 16. Jahrhundert beschrieb der französische Schriftsteller Michel de Montaigne (1533–1592) das typische Beispiel einer Männerfreundschaft. Seine relativ kurze, aber leidenschaftliche Beziehung zu Étienne de La Boétie, die in einem der bekanntesten Essays Montaignes – Von der Freundschaft – Unsterblichkeit erlangte, baute auf den Figuren der griechischen und lateinischen Literatur auf, die beide Männer gemeinsam studiert hatten. In dem Versuch, ihren klassischen Idealen gerecht zu werden, strebten sie eine Verbindung an, die keinen geringeren Anspruch hatte, als Aristoteles’ Vorstellung von »einer Seele in zwei Körpern« Genüge zu tun. Nach seinem allzu frühen Tod fand La Boétie als ständige Präsenz und unerschöpfliche Quelle der Inspiration Eingang in Montaignes Werken. Als Montaigne sich die Frage stellte, warum er La Boétie liebte, beschwor seine Antwort das Mysterium ihrer gegenseitigen Anziehungskraft herauf: »Weil er’s war, weil ich’s war.«
Montaignes öffentliche Äußerungen zu Frauen als Freundinnen waren, typisch für frühere Epochen, durch und durch negativ. Er schrieb, dass »das schöne Geschlecht gewöhnlicherweise nicht hinlänglichen Stoff zur Unterhaltung besitzt … dabei scheinen ihre Seelen nicht fest genug zu sein, um den Druck eines so scharf geschürzten und dauerhaften Knotens auszuhalten.«9 Ironischerweise ging Montaigne am Ende seines Lebens die engste Freundschaft seit La Boéties Tod ausgerechnet mit einer Frau ein – mit der jungen Marie de Gournay, die ihn bei der Redaktion der letzten Ausgabe seiner Essays unterstützte und sich ausschließlich seinen literarischen und persönlichen Bedürfnissen widmete.
Angesichts dieser langen Geschichte der Glorifizierung von Männerfreundschaften stellt sich die Frage: Wie kommt es, dass Frauen das Erscheinungsbild der Freundschaft ebenfalls für sich beanspruchen konnten? Sicher ist, dass Frauen in der Vergangenheit immer irgendeine Art von Beziehung zu anderen Frauen pflegten, auch wenn dies nicht dokumentiert wurde. Aber ab wann wurde die Freundschaft zwischen Frauen in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und als wertvolles Element ihres Lebens zelebriert? Mit Ausnahme der Nonnen des Mittelalters hinterließen Frauen in Europa erst ab dem 15. Jahrhundert schriftliche Aufzeichnungen über ihre Haltung zur Freundschaft. Sobald die lateinische Sprache von den diversen Landessprachen verdrängt wurde, nahmen Frauen den Federkiel entspannter zur Hand und schrieben immer öfter an ihre Freundinnen. Manche verfassten auch Essays und Romane, und so haben wir seit dem Roman Buch von der Stadt der Frauen von Christine de Pizan, der um 1405 auf Französisch geschrieben wurde, einen Beleg für Frauenfreundschaften aus Sicht der Frauen. In Italien schrieb Moderata Fonte (1555–1592) einen Minidialog über die Freundschaft, basierend auf dem Argument, dass »Frauen mit anderen Frauen leichter Freundschaften schließen als mit Männern« und dass solche Freundschaften von längerer Dauer sind.10
Zu der Zeit, als Fonte 1592 starb, war eine neue Ära für Frauenfreundschaften angebrochen – nicht nur auf dem Kontinent in Frankreich und Italien, sondern auch auf der anderen Seite des Kanals in England. Dort erlangten viele Frauen der Ober- und Mittelschicht neue Freiheiten, unter anderem auch, Freundschaften mit anderen Frauen zu schließen. Shakespeares Theaterstücke spiegeln die von Frauen neu entdeckten Allianzen wider, vorwiegend zu dem Zweck geschmiedet, einander vor törichten Männern zu beschützen (wie beispielsweise Beatrice und Hero in Viel Lärm um nichts und Portia und Nerissa im Kaufmann von Venedig).
In der Folge gestanden die Salons, gegründet von französischen Précieuses und englischen Blaustrümpfen des 18. Jahrhunderts den Frauen in den gesellschaftlich höchst angesehenen Freundschaftszirkeln ihrer Zeit Bürgerrechte zu. Unabhängig davon, ob es sich um getrennt- oder gemischtgeschlechtliche Salons handelte, ermunterten sie ihre Mitglieder, sich nach potenziellen Freunden umzusehen, mit denen sie sich in der Abgeschiedenheit ihrer Privatgemächer treffen konnten. Zum Ende des 18. Jahrhunderts waren Freundschaften mit anderen Frauen zu einem geachteten, zeitaufwendigen Teil des weiblichen Alltags geworden – auf Platz zwei nach der Fürsorge für die Familie. Allerdings muss man sagen, dass dieses Modell hauptsächlich auf vermögende Frauen zugeschnitten war; die bäuerliche Bevölkerung konnte schon froh sein, wenn sie genügend Zeit fand, ihre Familie, die Tiere und die Landwirtschaft zu versorgen; und Frauen der Arbeiterklasse konnten die Nettigkeiten, die von einer Freundschaft unter Bessergestellten erwartet wurden, nicht erbringen. Arbeiterinnen mussten die Pflege ihrer Freundschaften auf Notfälle beschränken, wenn eine Freundin der anderen etwa bei der Niederkunft, bei Krankheiten oder in einem Todesfall beistand. Doch bei den privilegierteren Frauen war die Einladung von Freundinnen in die Privathäuser ein Hinweis auf ihre gesellschaftliche Stellung. Diese Entwicklung war nicht auf Europa beschränkt. Zur Zeit der Amerikanischen Revolution hatten sich die Rituale der Freundschaft in allen 13 Kolonien etabliert. Freundinnen aus derselben Gegend statteten einander regelmäßig Besuche ab; lagen ihre Häuser weit voneinander entfernt, überbrückten Briefe die Distanz. Die bemerkenswerte Korrespondenz zwischen Abigail Adams und Mercy Otis Warren bietet uns ein detailliertes Bild einer Freundschaft zwischen zwei beispielhaften amerikanischen Frauen.11 Beide bezeichneten sich als Ehefrauen von Staatsbediensteten und als Mütter mehrerer Kinder mit zahlreichen Verantwortlichkeiten im Haushalt; ungeachtet dessen opferten sie beträchtliche Zeit dafür, ihre Freundschaft – vorwiegend brieflich – am Leben zu erhalten, da sie weit entfernt voneinander lebten – Abigail in Braintree, Massachusetts, und Mercy in Plymouth.
Wenn die Zeit um 1600 in Europa den Beginn einer eher zögerlichen gesellschaftlichen Anerkennung des Anspruchs von Frauen auf Freundschaft markierte, so war 1800 der Wendepunkt, der das Erscheinungsbild der Freundschaft sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten veränderte. Freundschaft wurde zunehmend als weibliches und nicht nur männliches Unterfangen angesehen. Man kann sogar behaupten, dass der Freundschaftsbegriff besonders in der anglo-amerikanischen Welt feminisiert wurde. Frauen und Mädchen begannen einander Liebesbriefe zu schreiben, die sich nicht so sehr von der Sprache heterosexuellen Verlangens unterschieden. Worte wie Liebste, Liebling, Schatz, Herz, Liebe und Hingabe flossen wie selbstverständlich aus den Federn viktorianischer Mädchen und Frauen, wenn sie leidenschaftlich miteinander korrespondierten. Die Schaffung zahlreicher Vereine, basierend auf religiösen, ethnischen, politischen und kulturellen Interessen, bot Frauen aus der Mittel- und Oberschicht eine Möglichkeit, sich in sozialen Gruppen zusammenzufinden, die zahllose neue Freundschaften hervorbrachten. Die Errichtung von Mädchenschulen, Seminaren und Colleges (wie etwa Mount Holyoke, Vassar und Wellesley im Nordosten der Vereinigten Staaten; Randolph-Macon, Mary Baldwin und Agnes Scott im Süden und Mills an der Westküste) wurden Brutstätten für lebenslange Freundschaften.
Mit dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert hatte sich die Auffassung, Freundschaft sei ausschließlich oder zumindest vorwiegend eine männliche Domäne, größtenteils ins Gegenteil verkehrt. Frauen wurden als fürsorglicher, sanfter und liebevoller als Männer empfunden und folglich als für Freundschaften besser geeignet gesehen. Die Freundschaft als solche wurde mit dem weiblichen Charaktermerkmal der emotionalen Vertrautheit gekennzeichnet und war nicht länger ein Synonym für heroische oder staatsbürgerliche Kameradschaft – obgleich Männer immer wieder den Versuch starteten, die Hegemonie früherer männlicher Beziehungsformen wieder aufleben zu lassen. Frauenfreundschaften, einst von Männern verunglimpft und auch von den Frauen selbst oft als nicht viel mehr als ein Abfallprodukt familiärer Beziehungen erlebt, wurden nun hoch geschätzt. In den letzten 150 Jahren hat die Zahl von Frauenfreundschaften ständig zugenommen.
Eine Suche auf der Google-Ngram-Seite, welche die Häufigkeit des Auftretens bestimmter Wörter und Sätze in 5,2 Millionen digitalisierten Büchern in einem Zeitrahmen zwischen 1500 und 2008 erforscht, zeigt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen sprunghaften Anstieg des Begriffs »women friendships«, nachdem die Kurve dreieinhalb Jahrhunderte lang flach verlaufen war.12
Das vorliegende Buch über Freundschaft, das einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrtausenden umspannt, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aber unser Ansatz zielt darauf ab, ein vertrautes Thema auf radikal neue Art und Weise zu präsentieren. Wir werden die Entwicklung von Frauen als Freundinnen in bestimmten Zeitrahmen und in bestimmten Kulturen betrachten, denn wir glauben, dass Freundschaften ohne Berücksichtigung des Milieus, in dem sie stattfinden, nicht verstanden werden können. Deutsche Nonnen des Mittelalters, die »Gossips« in den Dörfern Englands des 16. Jahrhunderts, Aristokratinnen im Frankreich des 17. Jahrhunderts, Frauen in der Kolonialzeit des frühen Amerikas, Arbeitermädchen während der industriellen Revolution, Pionierinnen an der Westgrenze Amerikas, Feministinnen des 20. Jahrhunderts und Berufstätige des 21. Jahrhunderts – jede dieser Gruppierungen wird gestützt von den gesellschaftlichen Strukturen, die sie umgeben.
Wenn wir Freundschaft historisch betrachten, können wir vielleicht begreifen, weshalb diese wichtigen menschlichen Beziehungen – Frauenfreundschaften – einstmals an den Rand gedrängt wurden und weshalb sie heute schließlich die Vorherrschaft errungen haben. Warum ist uns das so wichtig? Weil die Vergangenheit Prolog ist. Weil wir Bewohner dieses übervölkerten, konfliktbeladenen Planeten lernen müssen, mit allen verfügbaren Beziehungsinstrumenten umzugehen. Das weibliche Freundschaftsmodell hat es schon immer gegeben, nur leider haben die einstigen Verwalter unserer gemeinsamen Geschichte das gerne unter den Tisch gekehrt. Damit ist jetzt Schluss. Die Kraft und oft auch die Weisheit dessen, was Frauen in Freundschaften suchen und finden, könnte zukünftige Generationen zu einem würdevollen und hoffnungsvollen Leben in friedlicher Koexistenz hinführen.
TEIL I
Als das Erscheinungsbild der Freundschaft männlich war
EINS
Auf der Suche nach Freundschaft in der Bibel
»Von deinem Freund und deines Vaters Freund lass nicht ab.«
— SPRÜCHE 27:10
»Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.«
— JOHANNES 15:13
In der hebräischen Bibel und im Neuen Testament sind die meisten Geschichten über Freundschaft reine Männerdomänen, aber oft können wir, verborgen in der Erzählung, doch eine unverkennbar weibliche Note erahnen. Zu einer Zeit, als Männer ein Monopol auf das Schreiben hatten und sich wenig dafür interessierten, was Frauen untereinander so trieben, überrascht es, dass wir überhaupt Aufzeichnungen von Frauenfreundschaften haben. Während die allseits bekannten Geschichten über Männerfreundschaften hervorstechen und uns vertrauter sind, erhellen einige wenige Porträts über weibliche Bindungen unser Verständnis für Freundschaften unter biblischen Völkern.
DAS BUCH HIOB
Im Buch Hiob ist die zentrale Figur ein angesehener Mann, der ein rechtschaffenes Leben führt. Doch Gott, angestachelt von Satan, beschließt, Hiob seines ganzen Besitzes zu berauben und dessen Kinder abzuschlachten. Und als sei das noch nicht genug, überzieht er Hiob von Kopf bis Fuß mit Geschwüren. Warum Gott das tut, irritiert Leser seit fast 3000 Jahren. Als Hiob dasitzt und mit seinem Schicksal hadert, besuchen ihn drei Freunde, trösten ihn und nehmen sich seines Kummers an: »Und saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte.«13 Eine ganze Woche lang spricht keiner von ihnen. Schließlich bricht Hiob das Schweigen mit einer berühmten (und durchaus verständlichen), von Selbstmitleid geprägten Schimpftirade, in der er den Tag seiner Geburt verflucht. Dann beginnt eine dramatische Interaktion, in welcher jeder Freund sich abwechselnd mit Hiob auseinandersetzt, versucht, ihm das Geständnis abzuringen, gesündigt zu haben, und ihm rät, Gottes Strafe ohne Wenn und Aber anzunehmen. Aber der von Schmerz gepeinigte Hiob beharrt weiterhin auf seiner Unschuld und wirft dabei elementare Fragen über das Wesen von Gut und Böse und göttlicher Gerechtigkeit auf.
Obwohl seine Freunde glauben, alles getan zu haben, um ihn ihres Mitgefühls zu versichern, schmäht Hiob sie als »leidige Tröster«, die seine Lage nicht wirklich nachvollziehen können: »Ich könnte auch wohl reden wie ihr. Wäre eure Seele an meiner statt.« Und das ist die Krux mit der Freundschaft, wie sie nicht nur von Hiob, sondern von Freunden in allen Jahrhunderten erlebt wird: Können wir uns wirklich in jemand anderen hineinversetzen? Können wir wirklich in die »Seele« eines anderen hineinschauen? Wie sollen wir uns verhalten, wenn unser Freund gequält, depressiv, ja selbstmordgefährdet ist? Hiob sagt, dass er seinen Freund nicht kritisieren würde, dass er nicht »Worte gegen euch zusammenbringen und mein Haupt also über euch schütteln« würde. »Ich wollte euch stärken mit dem Munde und mit meinen Lippen trösten« (Hiob 16:2–5). Im Zustand der Bedrängnis ist das, was ein Mensch braucht, liebevolle Zuwendung – jemand, der ihm die Hand hält, seine Sorgen nachempfindet und weder Kritik noch Schuldzuweisungen äußert.
Als Gott ihm höchstpersönlich erscheint, gesteht Hiob seinen Unverstand und unterwirft sich dem Urteil Gottes, des Herrschers. Seine Freunde spielen eine bedeutende Rolle bei Hiobs psychologischer Entwicklung, auch wenn sie nur Resonanzkörper für seine Beteuerungen sind. Sie sind da, als Hiobs Glück sich wieder zum Guten wendet, als Gott ihm seinen früheren, glücklichen Zustand wieder zurückgibt. Wir können davon ausgehen, dass sie sich als gute Freunde mit ihm darüber freuen.
DAVID UND JONATHAN
Die Geschichte Davids geht wie die Geschichte Hiobs auf die Zeit der Erzväter zurück, etwa um 1000 v. Chr. Wie im ersten und zweiten Buch Samuel beschrieben, liefert die erhabene Männerfreundschaft zwischen David und Jonathan ein Paradigma reiner Liebe, in welcher sich »das Herz Jonathans mit dem Herzen Davids« verband (1 Samuel 18:1). Als Jonathans Vater Saul seinen Dienern befiehlt, David zu töten, tritt Samuel für David ein und bewahrt ihn vor dem Tod. Saul will David vernichten, da er und nicht sein eigener Sohn dazu bestimmt ist, König von Israel zu werden. Aber Jonathan geht es nur um das Leben seines Freundes, und er sagt zu David: »Gehe hin mit Frieden! Was wir beide geschworen haben im Namen des HERRN und gesagt: Der HERR sei zwischen mir und dir, zwischen meinem Samen und deinem Samen, das bleibe ewiglich« (1 Samuel 20:42). In der Folge schmieden Jonathan und David eine Allianz aus brüderlicher Liebe und Loyalität, die sich auch auf ihre Nachkommen erstrecken wird.
RUTH UND NAOMI
Frauen als platonische Seelenverwandte, vergleichbar in etwa mit Jonathan und David, tauchen in der hebräischen Bibel nicht auf. Am nächsten kommen wir einer solchen Zuneigung zwischen Frauen in der Geschichte von Ruth und ihrer Schwiegermutter Naomi. Als Ruth Witwe wird, beschließt sie, Naomi zu folgen, statt zu ihrem eigenen Volk, den Moabitern, zurückzukehren. Sie spricht die berühmt gewordenen Worte: »Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott« (Ruth 1:16–17). Obwohl diese Frauen einer treu ergebenen Beziehung zueinander als fähig geschildert werden, kommt ihre Freundschaft über einen Mann zustande, der die Beziehung herstellt, in diesem Fall über Naomis Sohn, der zugleich Ruths Ehemann ist. Aber welche Motive auch immer Ruth zu ihrer Wahl veranlasst haben mögen: Ihre Bindung zu Naomi wirkt echt. Hier gibt es eine Frau, die sich zu einer ihr in Freundschaft verbundenen anderen Frau bekennt, und das trägt eheähnliche Züge. Es überrascht nicht, dass »Wo du hingehst …« heutzutage zu den Gelübden gehört, die Paare – ob heterosexuell oder gleichgeschlechtlich – bei ihrer Hochzeit ablegen.
FRAUEN IN MEHRFACHEHEN
An anderer Stelle der hebräischen Bibel ist der Ehemann oftmals eher eine Quelle für Reibereien als für Harmonie zwischen den Frauen. Denken Sie an die Geschichte von Abrahams Frau Sarah und ihrer Magd Hagar (Gen. 16). Da Sarah unfruchtbar ist, bittet sie Abraham, ihr ein Kind zu schenken, das Hagar austragen soll – lange vor den technologischen Fortschritten des 20. Jahrhunderts hatten die Hebräer schon ihre eigene Form von Leihmutterschaft. Hagar bringt Ismael zur Welt, doch die eifersüchtige Sarah jagt sie anschließend fort. Später empfängt Sarah dank Gottes Intervention tatsächlich noch einen eigenen Sohn, Isaak, doch damit ist die Rivalität zwischen den Müttern nicht beigelegt. Sie setzt sich mit den Söhnen Isaak und Ismael fort, die jeweils ein eigenes Volk gründen. Isaak setzt Abrahams hebräische Linie fort, während Ismael als Stammvater der arabischen Welt gilt.
Die Geschichte von Sarah und Hagar passt zur stereotypischen Darstellung von Frauen als Rivalinnen um die männliche Gunst, die bis zum heutigen Tage andauert. Eben diese Rivalität wird auch zwischen Leah und Rachel geschildert, zwei Schwestern, die Jakob (einem Enkel von Sarah und Abraham) als Ehefrauen zugeführt wurden. Jakob schuftet sieben Jahre lang, um Rachel zu heiraten, wird aber durch eine List verleitet, deren ältere Schwester Leah zur Frau zu nehmen. Dann muss er sieben weitere Jahre ackern, bis er endlich die Frau bekommt, die er von vornherein haben wollte. Nach vierzehn Jahren harter Arbeit steht er schließlich mit zwei Frauen da, Leah und Rachel, die aus unterschiedlichen Gründen eifersüchtig aufeinander sind.
Leah beneidet Rachel darum, dass Jakob Rachel mehr liebt als sie, und Rachel beneidet Leah darum, dass sie ihm Kinder geboren hat, während Rachel unfruchtbar geblieben ist. An dieser Stelle entspinnt sich zwischen den beiden Frauen ein Wettbewerb um das Kinderkriegen. Rachel präsentiert zunächst einen Sohn, der von ihrer Dienerin ausgetragen wurde, und später noch einen eigenen. Leah bringt mehr Söhne auf die Welt als Rachel, und als sie nicht mehr gebärfähig ist, weist sie ihre Dienerin an, Jakob weitere Kinder zu schenken. Alles in allem wird er Vater eines Ministammes von zahlreichen Söhnen und einer Tochter, Dinah. Statt Frauen als Schwestern und Freundinnen zu porträtieren, die einander bei der Niederkunft und beim Stillen zur Seite stehen, wie es sicherlich geschehen ist, beschreibt der biblische Autor sie vielmehr als eifersüchtige Rivalinnen um die Gunst des Ehemannes und als Konkurrentinnen beim Kinderkriegen. Wo liegt hier die historische Wahrheit?
Die hebräische Bibel präsentiert Geschichten über Geburten im Zusammenhang mit dem Kontinuum eines Stammes oder eines Volkes. So wichtig war die Vorstellung, das hebräische Volk vor dem Aussterben zu bewahren, dass man kein Problem damit hatte, wenn der Ehemann einer kinderlosen Frau mit den Dienerinnen seiner Frau mit deren Zustimmung oder sogar auf ihr Drängen hin für Nachkommen sorgte. Aber wenn wir zum Neuen Testament kommen, gewinnen individuelle Aktionen und Interaktionen allmählich Vorrang vor Stammesinteressen. Daher begegnen wir Beziehungen zwischen Nichtfamilienmitgliedern und Mitgliedern unterschiedlicher Stämme häufiger im Neuen Testament als im Alten Testament. Die Schilderungen von Jesus und den Aposteln im Evangelium liefern uns den Archetyp heutiger Männerfreundschaften.
JESUS UND SEINE JÜNGER
Die Apostel haben zum Teil sehr unterschiedliche Persönlichkeiten – Petrus, der unerschütterliche Führer, manchmal schwerfällig und feige und dann wieder brillant und grundsolide; Thomas, der störrische Pragmatiker; Matthäus, der Berechnende; Johannes, den Jesus am meisten liebte (wenn man Johannes’ eigenen Worten Glauben schenkt); Judas, der Bedürftige. Viele dieser Figuren haben Vorgeschichten, die ihrer Individualität unabhängig von Stammes- oder familiären Verbindungen zusätzlich Gewicht verleihen. Die meisten von ihnen werden als ganz normale Menschen beschrieben – Fischer, ein Steuereintreiber, ein aus der Art geschlagener Sohn eines wohlhabenden Vaters. Die Freundschaften, die wir überall im Evangelium erleben, sind mit zwei Ausnahmen, auf die wir noch zurückkommen werden, Männerbeziehungen. Die männlichen Verfasser des Neuen Testaments hatten keine Skrupel, Frauen in ihren Erzählungen in einigen wenigen Nebensätzen abzuhandeln. Selbst die Jungfrau Maria wird in einer bemerkenswerten Szene von ihrem damals berühmten Sohn ignoriert, der einem erwählten Gefährten eindeutig den Vorrang gegenüber der Familie gibt:
Als er noch zu dem Volk redete, siehe, da standen seine Mutter und seine Brüder draußen, die wollten mit ihm reden.
Da sprach einer zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir reden.
Er antwortete aber und sprach zu dem, der es ihm ansagte: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er reckte die Hand aus über seine Jünger und sprach: Siehe da, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder, Schwester und Mutter.
(Matthäus 12: 46–50)
Ungeachtet der signifikanten Unterschiede zwischen dem Neuen und dem Alten Testament verändert sich in den beiden Büchern im Hinblick auf Frauen relativ wenig. Was wir hören, sind Erwähnungen von Frauen, die das Wirken Jesu unterstützten, und von Frauen, die auch nach seinem Tod seine Anhängerinnen in der noch jungen Kirche blieben. Diese Frauen stellten finanzielle Mittel zur Verfügung, sorgten für Essen, Unterkunft und Orte der Begegnung, aber kaum eine von ihnen wurde auch nur der kleinsten persönlichen Entwicklung oder einer Schilderung ihrer Freundschaften für wert befunden.
ELISABETH UND MARIA
Eine Geschichte gibt es allerdings im Neuen Testament, die sich tatsächlich um eine Frauenfreundschaft rankt. Es ist die wunderbare Geschichte der Heimsuchung Mariä, als die junge Maria zu Beginn ihrer Schwangerschaft ihre Verwandte Elisabeth besucht, die nach langer Unfruchtbarkeit schließlich doch noch schwanger geworden ist. Wenn es um Schwangerschaft geht, kann man Frauen das Rampenlicht schließlich nur schwerlich verwehren.
In den kurzen, wortkargen Abschnitten der Bibel, in denen das Treffen der beiden werdenden Mütter von Johannes dem Täufer und Jesus erwähnt wird, hält sich der Verfasser der Heiligen Schrift stramm an sein Manuskript und bekräftigt den selbstgefälligen Dünkel der jungfräulichen Mutter Jesu. Elisabeths Schwangerschaft im fortgeschrittenen Alter ist so ungewöhnlich, dass Gabriel, der Erzengel der Verkündigung, sie Maria gegenüber als Beweis anführt, dass Gott allmächtig ist und folglich auch Maria schwängern kann, ohne dass sie ihre Jungfräulichkeit verliert.
Man kann davon ausgehen, dass Marias Besuch bei Elisabeth von Marias Familie gutgeheißen wurde, zumal sie mit dem Problem einer verlobten Jungfrau zu kämpfen hatten, die plötzlich schwanger war. Josef von Nazareths gutes Recht wäre es gewesen, Maria zu verstoßen und ihre Familie öffentlich der Schande preiszugeben. Aber Josef entschied sich – aus welchen Gründen auch immer – für Maria und das Kind. Kaum hatte Maria empfangen, ging sie »eilends« (Lukas 1:39) in das Hügelland von Judäa, wo Elisabeth und ihr Mann Zacharias lebten.
Als Maria dort eintraf und »als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leibe« (Lukas 1:41). Dieser Vorfall wird mit der Freude interpretiert, die Johannes der Täufer in der Gebärmutter empfand, als er des göttlichen Embryos Jesu gewahr wurde. Elisabeth und Maria sagen nichts darüber, wie es sich für die beiden anfühlt, die Unpässlichkeiten und Ängste der Schwangerschaft miteinander zu teilen, eine von ihnen bereits im sechsten Monat und die andere vielleicht noch von der morgendlichen Übelkeit geplagt, die im Frühstadium so häufig auftritt. Lukas berichtet, dass Maria drei Monate bei Elisabeth blieb, was bedeutet, dass sie bei Elisabeths Niederkunft anwesend gewesen sein muss.
Die Geschichte von Elisabeth und Maria dauert fort. Seit mehreren Jahrhunderten untermauert sie einen der wesentlichsten Glaubenssätze der Christenheit: Die Jungfrauengeburt des von Gott geschaffenen Menschen. In der Geschichte der Heimsuchung konzentriert Lukas sich auf das männliche ungeborene Leben, doch dicht unter der Oberfläche vibriert die elementare Macht des Zusammentreffens der beiden schwangeren Frauen. Die Stärke der Geschichte liegt in einer Kraft, auf die alle reagieren: in der Bindung zweier Frauen, die einander als Freundinnen lieben. Und seit undenkbaren Zeiten stehen Schwangerschaft und Niederkunft ganz oben auf der Liste der Situationen, in denen eine Frau die Freundschaft einer anderen Frau braucht und auch zugestanden bekommt.
Diese wichtige Geschichte geizt mit Einzelheiten. Fest steht, dass beide Frauen Hilfe brauchten. Wir wissen nicht, wie alt Elisabeth war und ab welchem Alter eine Frau in biblischen Zeiten definitiv als unfruchtbar galt. Was wir aber wissen, ist, dass es bei Schwangerschaften immer Komplikationen geben kann, und das gilt insbesondere für ältere Mütter. Auf der anderen Seite legen die gesellschaftlichen Gepflogenheiten der damaligen Zeit die Vermutung nahe, dass Maria, eine Jungfrau, tatsächlich sehr jung war – wahrscheinlich zwölf bis fünfzehn Jahre alt. Angesichts ihrer Mission können wir uns leicht ausrechnen, dass dieses Mädchen Angst hatte. Wir können uns vorstellen, wie viel Geborgenheit diese Frauen einander gegeben haben: einerseits Maria mit der physischen Kraft und der lebensbejahenden Aura der Jugend und als Gegenpol Elisabeth mit der praktischen und emotionalen Erfahrung einer reifen Frau.
MARIA MAGDALENA
Im Neuen Testament gibt es noch eine weitere besonders hervorgehobene Maria. Es ist Maria Magdalena, und über sie wissen wir sogar noch weniger als über die Mutter Jesu. Die wenigen Sätze, die sich in den vier Evangelien auf »die Magdalena« beziehen, lassen nur durchblicken, welchen Platz sie im Wirken Jesu einnahm. Sie und zwei andere namentlich erwähnte Frauen (Johanna und Susanna), die zu seinen Jüngerinnen zählten, »dienten« ihm »mit ihrer Habe« – was bedeutet, dass sie ihn materiell unterstützt haben (Lukas 8:3). Einmal, als Maria von einer geheimnisvollen Krankheit befallen wird, kann Jesus böse Geister aus ihrem Körper vertreiben. Seite an Seite mit Maria und der Schwester seiner Mutter, Maria von Cleophas, ist Maria Magdalena bei der Kreuzigung anwesend (Johannes 19:25), und am dritten Tag nach der Kreuzigung entdeckt sie die leere Grabkammer, in die Jesu Leichnam gelegt worden war. In der Tat ist sie die Einzige, die in allen vier Evangelien übereinstimmend als die Erste genannt wird, die das Verschwinden seines Leichnams entdeckte und glaubt, dass er wiederauferstanden ist (Matthäus 28:1–10, Markus 16:1–11, Lukas 24:1–11, Johannes 20:11–18). Sowohl bei Markus als auch bei Johannes ist Maria Magdalena diejenige, die den ungläubigen Aposteln Jesu die Nachricht von seiner Wiederauferstehung überbringt.
Wegen Maria Magdalenas Beteiligung an Schlüsselmomenten der Kreuzigung und der Wiederauferstehung vermuten einige Wissenschaftler und fantasiebegabte Schriftsteller, dass sie mehr war als nur eine Randfigur im Leben von Jesus – nicht nur seine eifrige Schülerin, sondern möglicherweise auch seine Geliebte oder Ehefrau. Untermauert wird diese These im nicht kanonischen Evangelium von Maria Magdalena, das in einer koptischen Übersetzung aus dem Griechischen überliefert ist und ausdrücklich erwähnt, dass Jesus Maria Magdalena mehr liebte als jede andere Frau.14 Die Person der Maria Magdalena hat die Arbeit von Religionswissenschaftlern inspiriert, die sich mit dem Neuen Testament befassen, allen voran Elaine Pagels15, von Schriftstellern wie Dan Brown im Da Vinci Code oder dem Komponisten Mark Adamo in seiner wunderbaren Oper The Gospel of Mary Magdalene. Für Maria Magdalena als Ehefrau Christi spräche, dass man sich fragen kann, warum Maria, Marias Schwester und Maria Magdalena die einzigen Frauen bei Jesus am Kreuz sind und warum Maria und Maria Magdalena sich gemeinsam zur Grabkammer aufmachen, um seinen Leichnam zu holen. Diese gemeinsamen Verrichtungen hätten seiner Mutter und seiner Frau zugestanden. Genauso wie wir weiter oben über die Freundschaft zwischen Elisabeth und Maria während ihrer Schwangerschaften spekuliert haben, fällt es ebenfalls nicht schwer, sich eine Freundschaft zwischen diesen beiden Marias vorzustellen – die eine die Mutter von Jesus, die andere seine Jüngerin und möglicherweise Frau. Es bedarf keiner großen Fantasie sich vorzustellen, wie sie gemeinsam trauern und versuchen, einander unter dem Kreuz zu trösten.
Und in diesem Sinne können wir uns auch Freundschaften zwischen Maria Magdalena, Johanna, der Ehefrau Chusas, und Susanna vorstellen, wenn wir die Geschichte bis in die Zeit zurückverfolgen, in der Jesus gewirkt hat. Alle drei haben nachweislich zu Jesus’ Lebensunterhalt beigetragen. Was haben sie wohl an ihren Herdstätten miteinander gesprochen, als sie das Brot und den Wein vorbereiteten, die später in der Eucharistie ritualisiert wurden? Wie gelang es den Gefährtinnen, als Trio zusammen mit den anderen Jüngern zu reisen, die Jesus folgten? Es war ein Novum, dass Jesus auch Frauen als seine Jünger akzeptierte. Mit Sicherheit schlossen die Frauen Freundschaften untereinander und vielleicht auch mit den Männern. Wir können die Skizzenhaftigkeit ihrer Beschreibungen in den Evangelien nur bedauern, in Anbetracht der Ehrerbietung, die den zwölf männlichen Jüngern erwiesen wurde, die der Welt das erste Modell einer christlichen Bruderschaft lieferten. Es sollten 1000 weitere Jahre ins Land gehen, bis Beispiele christlicher Schwesternschaft von Frauen dokumentiert wurden, die in die Fußstapfen Maria Magdalenas traten.