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Das Buch

Die Zukunft: Die Menschheit hat die Grenzen unseres Sonnensystems hinter sich gelassen und auf fremden Planeten neue Kolonien gegründet. Eines Tages erreicht die Menschen auf Crucible eine geheimnisvolle Botschaft aus den Tiefen des bisher unerforschten Universums: Schickt Ndege. Man steht vor einem Rätsel: Was hat die Nachricht zu bedeuten? Wer hat sie geschickt? Und warum soll ausgerechnet Ndege Akinya zu einem unbekannten Planeten reisen? Gemeinsam mit einer Gruppe von Wissenschaftlern macht sich Goma, Ndeges Tochter, auf, um diese Fragen zu beantworten. Es ist der Beginn einer atemberaubenden Expedition, an deren Ende vielleicht sogar das Geheimnis des Reisens mit Lichtgeschwindigkeit gelöst werden kann. Ein Geheimnis, dem nicht nur die Bewohner Crucibles auf die Spur kommen wollen …

Enigma ist das packende Finale von Alastair Reynolds großer Trilogie, in der er die Geschichte der Familie Akinya erzählt – eine Geschichte, die Hundertausende von Jahren in die Zukunft und in die Weiten des Universums hineinreicht.

Die Poseidons Kinder-Trilogie:

Erster Roman: Okular

Zweiter Roman: Duplikat

Dritter Roman: Enigma

Der Autor

Alastair Reynolds wurde 1966 im walisischen Barry geboren. Er studierte Astronomie in Newcastle und St. Andrews und arbeitete viele Jahre als Astrophysiker für die Europäische Raumfahrt Agentur ESA, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er lebt in der Nähe von Leiden in den Niederlanden. Von Alastair Reynolds sind unter anderem im Heyne Verlag erschienen: Unendlichkeit, Himmelssturz, Aurora, Okular und Duplikat sowie Die Medusa-Chroniken, die er gemeisam mit Stephen Baxter verfasste.

Mehr über Alastair Reynolds und seine Romane erfahren Sie auf:

Alastair Reynolds

Enigma

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der englischen Originalausgabe

POSEIDON’S WAKE

Deutsche Übersetzung von Irene Holicki

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Deutsche Erstausgabe 09/2017

Redaktion: Ralf Dürr

Copyright © 2015 by Alastair Reynolds

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von shutterstock/3000ad

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-18615-9
V001

www.diezukunft.de

Für Louise Kleba, mit der alles anfing

I have come to the borders of sleep

The unfathomable deep

Forest where all must lose

Their way, however straight

Or winding, soon or late;

They cannot choose.

– Edward Thomas

1

Eines Abends beschloss Mposi Akinya, seine Schwester zu besuchen. Er nahm sich einen Wagen und fuhr vom Parlamentsgebäude im Herzen von Guochang durch das Regierungsviertel und dicht besiedelte Wohngebiete. Als er endlich die bewachte Anlage um ihr Haus erreichte, ging er zu Fuß zum Tor und zeigte seinen Ausweis vor, obwohl ihn die Wachen durchwinken wollten, ohne einen Blick auf seinen Berechtigungsnachweis zu werfen.

Er ging weiter zur Haustür, klopfte an und wartete, bis Ndege ihm öffnete. Die Arme vor der Brust verschränkt, blieb sie zunächst in der Tür stehen und versperrte ihm mit schief gelegtem Kopf den Weg. Ihre abweisende Miene verriet keine Freude über sein Kommen. Sie war immer noch größer als er, obwohl sie inzwischen beide im Greisenalter waren. Mposi hatte ein Leben lang ertragen müssen, dass sie auf ihn herabschaute.

»Ich habe dir Grünbrot mitgebracht.« Er reichte ihr die in Papier gewickelten Laibe. »Es ist noch ganz frisch.«

Sie nahm das Päckchen, schlug das Papier auf und roch misstrauisch an dessen Inhalt. »Ich hatte dich erst gegen Ende der Woche erwartet.«

»Ich weiß, ich komme unangemeldet, aber ich verspreche dir, es dauert nicht lange.«

»Also gut. Ich habe viel zu lesen.«

»Wann wäre das jemals anders gewesen, Schwester?«

Ndege zögerte noch einen Moment, dann lenkte sie ein, ließ ihn ins Haus und führte ihn in die Küche. Sie musste am Tisch gesessen haben, denn ihre schwarzen Notizbücher waren aufgeschlagen, und er sah die eng beschriebenen Spalten mit den sonderbaren Symbolen, die skizzenhaft zueinander in Beziehung gesetzt waren. Bis auf die Bücher und eine kleine Schatulle mit Medikamenten gegen Sauerstofftoxikose war der Tisch leer. Mposi setzte sich an die andere Seite des Tisches.

»Ich hätte dir Bescheid geben sollen, dass ich hierher unterwegs bin, aber ich konnte die Neuigkeit keinen Augenblick länger für mich behalten.«

»Eine Beförderung? Eine neuerliche Erweiterung deiner Befugnisse?«

»Diesmal geht es ausnahmsweise nicht um mich.«

Sie sah ihn kurz an, blieb aber immer noch stehen. »Du erwartest wahrscheinlich, dass ich Chai koche?«

»Nein, heute nicht, vielen Dank. Und das Grünbrot ist ganz allein für dich bestimmt.« Er klopfte sich auf seinen gut gepolsterten Bauch. »Ich habe schon im Amt gegessen.«

Die große, schlanke Ndege nahm die Notizbücher vom Tisch und stellte sie sorgfältig in ihr Bücherregal, bevor sie sich auf dem Stuhl niederließ. Dann sah sie ihn an und wedelte ungeduldig mit den Händen. »Heraus damit, was immer es ist. Schlechte Nachrichten?«

»Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher.«

»Hat es mit Goma zu tun?«

»Nur indirekt.« Mposi legte die Hände auf den Tisch. Er wusste nicht recht, wie er anfangen sollte. »Was ich dir jetzt verraten werde, ist streng geheim. Auf ganz Crucible ist lediglich eine Handvoll Personen eingeweiht, und ich wäre dir sehr dankbar, wenn das auch so bliebe.«

»Meinen Hunderten von Besuchern werde ich es sicher nicht erzählen.«

»Hin und wieder bekommst du durchaus Besuch. Ein Privileg, das wir nur mit viel Mühe durchsetzen konnten.«

»Und das lässt du mich auch niemals vergessen.«

Ihr Ton war scharf geworden, und vielleicht war ihr das selbst aufgefallen. Sie schluckte und kräuselte mit reuevollem Blick die Lippen. Schweigen trat ein. Mposi ließ den Blick durch die Küche wandern und betrachtete die kahlen, leeren Flächen. Er hatte den Eindruck, dass seine Schwester ihr Leben allmählich zu einem Exponat stilisierte – ein strenges Stillleben, reduziert auf das Wesentliche. Seine eigene Regierung hatte sie zur Gefangenen gemacht, aber Ndege spielte bereitwillig mit und verzichtete gern auch auf die Annehmlichkeiten und Zugeständnisse, die ihr noch verblieben waren.

Irgendwo im Haus tickte eine Uhr.

»Es tut mir leid«, sagte sie endlich. »Ich weiß, du hast dich sehr für mich eingesetzt. Aber allein in diesem Haus zu sitzen und zu wissen, wie die Welt von mir denkt …«

»Wir haben ein Signal aufgefangen.«

Der Satz stand so zusammenhanglos im Raum, dass Ndege die Stirn runzelte. »Ein was?«

»Ein Funksignal – sehr schwach, aber eindeutig nicht natürlich – aus einem Sonnensystem in mehr als zwanzig Lichtjahren Entfernung, das eigentlich niemand aus den besiedelten Systemen bisher erreicht oder erforscht haben kann. Interessanterweise wurde die Stärke des Signals deutlich schwächer, je weiter man sich vom Zentrum des Systems entfernte – das heißt, es wurde nicht in alle Richtungen abgestrahlt, sondern war gezielt auf uns gerichtet. Damit nicht genug – es geht dabei um dich.«

Zum ersten Mal, seit er gekommen war, zeigte sie zumindest einen Funken Interesse, wenn auch nur zögerlich und unter Vorbehalt.

»Um mich?«

»Ganz eindeutig. Dein Vorname wird erwähnt.«

»Es gibt viele Leute, die Ndege heißen.«

»In letzter Zeit nicht mehr. Wir wurden gebeten, dich zu schicken. Schickt Ndege, auf Suaheli. Mehr ist in der Nachricht nicht enthalten. Die Übertragung wurde einige Stunden lang wiederholt und brach dann ab. Diesen Teil des Alls beobachten wir natürlich, aber seither haben wir nichts mehr gehört.«

»Von wo kommt das Signal?«

»Von einem System mit Namen Gliese 163, etwa siebzig Lichtjahre von uns entfernt. Jemand oder etwas hat sich die Mühe gemacht, dort einen Radiosender aufzubauen und uns diese Nachricht zu schicken.«

Ndege nahm die Information so ruhig und konzentriert auf, wie es ihre Art war. Mposi und seine Schwester hatten ihr ganzes Leben zusammen verbracht, und er hatte gelernt, nicht nur die Gemeinsamkeiten, sondern auch die Unterschiede zwischen ihnen zu erkennen. Er redete gern, reagierte auf alles, war ständig in Bewegung und engagierte sich für dieses und jenes. Ndege war die Besonnene, Nachdenkliche, die so gut wie alles hinterfragte.

Sie öffnete die Schatulle mit den Medikamenten, holte eines der Injektionssprays heraus und drückte es sich auf den Unterarm.

»Der Sauerstoff macht mir zurzeit zu schaffen.«

»Mir geht es genauso«, gestand er. »In den ersten Jahren war es hart, dann dachte ich lange Zeit, ich hätte mich angepasst – ich könnte ohne Medikamente leben. Aber das Blut hat ein langes Gedächtnis.«

Sie legte das Spray in die Schatulle zurück, schloss den Deckel und schob den Behälter beiseite.

»Wer hat dieses Signal denn nun geschickt?«

»Das wissen wir nicht.«

Die Uhr tickte weiter. Mposi musterte Ndege, stellte Vergleiche zu seinen eigenen Alterserscheinungen an und überlegte, wie viel von ihrer Gebrechlichkeit wohl auf den Zahn der Zeit und den physiologischen Stress bei der Anpassung an einen neuen Planeten und wie viel auf die Folgen ihrer Gefangenschaft und die öffentliche Bloßstellung zurückzuführen sein mochte. Sie hatte ein schmaleres Gesicht als er, und nach einem kleinen Schlaganfall vor dreißig Jahren war eine leichte Asymmetrie zurückgeblieben. Ihr kurzes weißes Haar war dünn – soweit er wusste, schnitt sie es selbst. Ihre Haut mit den vielen alten Narben und Verfärbungen glich einer Landkarte. In seinen Augen war sie uralt, doch an manchen Tagen erkannte auch er sein eigenes Gesicht kaum wieder, wenn er in den Spiegel schaute, und starrte den vermeintlich Fremden erschrocken an.

Und manchmal genügte eine Veränderung im Licht oder in ihrer Mimik, und sie war wieder die Schwester, mit der er in jungen Jahren auf dem Holoschiff den Helden gespielt hatte.

»Du glaubst, es könnte von unserer Mutter kommen.«

Mposi nickte kaum merklich. »Es ist eine Möglichkeit, mehr nicht. Wir wissen nicht, was aus der Dreieinigkeit – Chiku, Eunice, Dakota – geworden ist.«

»Und du meinst, die drei wollen, dass ich hinfliege und mich mit ihnen treffe?«

»Es sieht ganz danach aus.«

»Dann ist es nur schade, dass ihnen niemand gesagt hat, dass ich ein hinfälliges altes Weib bin, das unter unbefristetem Hausarrest steht.«

Mposi lächelte zuckersüß, ohne sich provozieren zu lassen. »Ich war immer der Auffassung, dass jedes Problem auch eine Chance in sich birgt. Du weißt von den beiden Raumschiffen, die wir derzeit bauen?«

»Manchmal lässt man mich zum Himmel aufschauen.«

»Offiziell haben sie – nach ihrer Fertigstellung – die Aufgabe, unseren Einflussbereich zu erweitern und Handelsbeziehungen zu anderen Systemen aufzubauen. Inoffiziell ist nichts in Stein gemeißelt. Man hat die Fühler ausgestreckt, um möglicherweise mit einem der beiden Schiffe eine Expedition zu starten. Da du in dem Signal ausdrücklich erwähnt wirst, hätte es eine gewisse Folgerichtigkeit, dich mit an Bord zu nehmen.«

»Ist das dein Ernst?«

»Absolut.«

»Dann verstehst du weniger von Politik, als ich dachte. Ich bin eine Ausgestoßene, Mposi – gehasst von Millionen. Bevor man mir erlaubt, Guochang oder gar das System zu verlassen, trägt man lieber meinen Kopf an einer Stange durch die Straßen.«

»Im Moment steht alles noch in den Sternen. Die Expedition wäre erst in vier bis fünf Jahren startbereit, selbst wenn wir die Vorbereitungen beschleunigen würden. Wenn du dich jedoch bereit erklärst, daran teilzunehmen, und ich es so darstelle, als würdest du dich selbstlos aufopfern, um … ich weiß nicht, Crucibles Stellung zu verbessern, dann könnte das dazu führen, dass deine Haftbedingungen sofort erleichtert würden.«

»Meinungsbildung zu betreiben – darauf verstehst du dich.«

»Zu irgendetwas muss ich doch zu gebrauchen sein. Aber was ich sagen will, ist Folgendes: Selbst wenn du dich prinzipiell dazu bereit erklärst, bist du noch nicht automatisch verpflichtet, tatsächlich an der Expedition teilzunehmen. Bis dahin kann alles Mögliche passieren. Es könnte Probleme mit dem Schiff geben, oder wir könnten nicht durchsetzen, dass es einem anderen Zweck zugeführt wird. Vielleicht entdecken wir auch, dass das Signal nur ein Zufallstreffer war. Oder du erfüllst die medizinischen Kriterien für die Auszeit nicht. Du könntest sogar …«

»… sterben.«

»So schonungslos wollte ich es nicht ausdrücken.«

»Ich habe genügend Abenteuer erlebt, Bruder. Genau wie du. Und das ist das Ergebnis – ich bin eingesperrt und werde von allen gehasst.«

»Du hast dich ein einziges Mal verrechnet.«

»Und das hat vierhundertsiebzehntausend Menschen das Leben gekostet. Glaubst du wirklich, dass sich das mit einer einzigen Tat sühnen lässt?«

»Nein. Aber ich glaube, du hast bereits mehr als genug gebüßt. Überlege es dir, Ndege. Du brauchst dich nicht sofort zu entscheiden.«

»Darf ich mit Goma darüber sprechen?«

»Vorerst lieber nicht. Wenn und falls diese Expedition in greifbare Nähe rückt, kann man bestimmte Aspekte an die Öffentlichkeit bringen. Doch bis dahin sollte die Sache unter uns bleiben. Bruder und Schwester teilen sich eine große Verantwortung – so wie es immer war.«

Ihr Blick drückte Verständnis, aber auch etwas Mitleid aus. »Du sehnst dich nach den alten Zeiten zurück.«

»Ich bemühe mich, es nicht zu tun. Das ist die Art alter Männer, und ich bin nicht gern ein alter Mann.«

»Würdest du mitfliegen, wenn du die Chance hättest?«

»Aus medizinischen Gründen würde man es mir niemals gestatten. Ich bin reif dafür, in Konservierungslösung eingelegt und in ein Schauglas gesteckt zu werden.«

»Und ich nicht?«

»Vergiss nicht, Ndege – du wurdest namentlich genannt. Das ist ein großer Unterschied.«

Sie kniff ein Auge zu, wie immer, wenn sie verwirrt war. »Was habe ich, was du nicht hast? Wir sind zusammen aufgewachsen. Wir haben das Gleiche erlebt.«

Mposi schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Seine Knie knackten, und ein leises Ächzen entfuhr ihm. »Das ließe sich vermutlich nur in Erfahrung bringen, wenn man das Signal beantworten würde.« Er nickte zu dem Päckchen hin, das er mitgebracht hatte. »Iss das Grünbrot, solange es noch frisch ist.«

»Danke, Bruder.«

Sie erhob sich und begleitete ihn zur Tür. Nachdem sie sich umarmt und Wangenküsse getauscht hatten, kehrte sie ins Haus zurück, und er stand alleine draußen.

Er schaute über die Mauer der Anlage. Die Kuppeln und Ellipsoide dieses alten Viertels von Guochang wurden immer grüner, dahinter erhoben sich rechteckig und fahl die späteren Bauten. Der Abendhimmel hatte sich verdunkelt, und allmählich traten die Ringe hervor. Sie waren auch bei Tag vorhanden, aber zu sehen waren sie fast immer nur bei Nacht. Sie stiegen über den Horizont, wölbten sich über den Zenit und sanken auf der anderen Seite wieder zum Horizont hinab – eine funkelnde Lichterprozession aus tausend winzigen Bruchstücken. Jedes folgte seiner eigenen Bahn, dennoch fügten sie sich zu einem gebänderten Strom zusammen. Ein Schauspiel von betörender Schönheit, hätte man nicht gewusst, was es wirklich bedeutete.

Die Ringe waren noch nicht da gewesen, als die ersten Menschen Crucible erreichten. Sie waren eine Wunde – eine bleibende Erinnerung an einen einzigen katastrophalen Fehler. Obwohl in edelster Absicht begangen, blieb er unverzeihlich. In jenen wilden, hitzigen Zeiten, als die Gesetze für die neue Welt noch im Entstehen waren, hatten viele Ndeges Hinrichtung gefordert.

Mposi war es gelungen, seine Schwester vor der Exekution zu bewahren. Gegen den Himmel war er machtlos.

Die Piste befand sich innerhalb des Reservats, war aber gegen die Elefanten abgeschirmt. Nachdem Goma gelandet war und das alte weiße Flugzeug abgestellt hatte, sammelte sie ihre Sachen ein, kletterte hinaus und ging zu einem schweren Tor in einem vier Meter hohen Elektrozaun. Sie sperrte auf und betrat den in sich abgeschlossenen Bereich mit den Forschungsgebäuden und Fahrzeugen. Im Lauf der Jahre hatte sich das Reservat ausgedehnt, aber das Zentrum bildete nach wie vor ein Kleeblatt von dicht beieinanderstehenden und durch Gänge verbundenen Kuppeln. Sie legte die kurze Strecke bis zur ersten Kuppel zurück und stieg über die Metalltreppe zum Eingang hinauf. Die Gitterstufen klirrten unter ihren Schnürstiefeln.

Drinnen, wo es weniger heiß und feucht war, lag Tomas auf seiner Lieblingskoje, naschte Grünbrot aus einer Papiertüte und blätterte in aufwendig gedruckten Forschungsunterlagen. Als Goma eintrat, lächelte er ihr über die Seiten hinweg zaghaft zu.

»Heim kehrt der Jäger. Wie ist es gelaufen?«

»So wie erwartet.« Goma nahm ihre Sonnenbrille ab und steckte sie in eine Hüfttasche. »Mein Antrag sei gut formuliert und überzeugend begründet, und die Entscheidung würde mir zu gegebener Zeit mitgeteilt werden.«

Tomas nickte verständnisinnig. »Mit anderen Worten, wieder die gleiche Abfuhr.«

»Wir können es nur immer wieder versuchen. Wie sind die Werte für die Alpha-Herde?«

Er rieb sich die Nasenwurzel und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen eine Zahlenkolonne, die mit Tinte überschrieben war. »In der letzten Saison zwei Stufen niedriger. Messbarer Rückgang bei einer ganzen Batterie von Variablen, alle auf drei Sigma signifikant. Vorsichtshalber lasse ich die Ergebnisse noch einmal durchlaufen, aber ich glaube, wir wissen schon jetzt, wie die Kurven aussehen werden.«

»Ja.« Sie wollte schon sagen, er könne sich die Mühe sparen – das Ergebnis wäre sicher das Gleiche –, aber in einem Winkel ihres Herzens hoffte sie doch, dass irgendwo in den Zahlen ein Fünkchen Hoffnung verborgen sein könnte. »Ich bin gekommen, um mit Ru zu sprechen.«

»Sie ist bei den Elefanten. Beta-Herde, glaube ich, Forschungszone Zwei. Du siehst erschöpft aus – soll ich dich hinfahren?«

»Nein, ich komme schon klar, aber Ru macht mir Sorgen. Pass auf, lass die Analyse noch einmal durchlaufen, ja? Isoliere auch die Untergruppe von Agrippa – wenn ein Signal zu finden ist, möchte ich nicht, dass es im Rauschen untergeht.«

»Wird gemacht. Ach ja, gute Arbeit – auch wenn es nicht geklappt hat.«

»Danke«, sagte Goma skeptisch.

Sie verließ die Kuppel, nahm den zweiten Elektro-Buggy, warf ihre Sachen in die hintere Mulde, schnallte sich in den Fahrersitz und fuhr durch das Automatiktor im inneren Zaun in den Hauptteil des Reservats. Dort beschleunigte sie und folgte einem holprigen, kurvenreichen Pfad, wo sie gründlich durchgeschüttelt wurde. Das Reservat mit seinen Steppen und dichteren Baumbeständen stieg von der Ebene aus sanft an. Auf der Erde hätte eine Elefantenpopulation dieser Größe alles bis auf die Wurzeln kahl gefressen, aber auf Crucible waren die Pflanzen das ganze Jahr über unglaublich wuchsfreudig. Hätten die Elefanten sie nicht in Schach gehalten, die ganze Zone wäre binnen weniger Jahre wieder unter dichtem Urwald verschwunden.

Goma kam an vereinzelten kleinen Gebäuden oder Geräteschuppen vorbei. Hier und dort entdeckte sie Elefanten, manchmal von Büschen und Bäumen verdeckt. Vor Kurzem hatte es geregnet, nun glänzte ihre Haut, und manchmal sahen sie Felsblöcken oder kleinen Bergen – der sichtbaren Geologie einer uralten Welt – zum Verwechseln ähnlich. Meistens hielten sie Abstand, misstrauisch, wenn auch nicht wirklich ängstlich. Sie erspähte einen oder zwei Einzelgänger abseits der größeren Herden und umfuhr sie in weitem Bogen. Bullen strotzten vor Testosteron und konnten unberechenbar werden. Im Laufe von Generationen und mit dem schwindenden Einfluss der Tantoren kam die alte Herdendynamik wieder zum Durchbruch.

Schon bald war sie an der Forschungszone, und da war auch die Beta-Herde – die Tiere wurden mit Früchten und Grünbrot angelockt und dann dazu gebracht, an Kognitionsspielen teilzunehmen. Goma und Ru hatten das Forschungsprogramm zusammen entworfen, aber die Gestaltung der einzelnen Aufgaben blieb weitgehend Ru überlassen. Die Aufgaben waren notgedrungen immer einfacher geworden, denn die durchschnittliche Intelligenz der Tiere ging langsam zurück. Die komplexen Tests – die einen hohen Grad von Abstraktionsvermögen erforderten – waren inzwischen überholt. Nur Agrippa konnte sie einigermaßen regelmäßig bestehen, und für eine zuverlässige Probandin war sie zu alt und zu gewieft.

Ru stand hoch aufgerichtet in ihrem eigenen Buggy, eine Schirmmütze tief über die Stirn gezogen. Ein Notebook ruhte auf ihrem rechten Unterarm, in der anderen Hand hielt sie einen Eingabestift, mit dem sie ihre Beobachtungen festhielt.

Goma fuhr langsamer, um das Experiment nicht zu stören. Sie hielt den Buggy an, schnappte sich ihre Sachen und ging den Rest der Strecke zu Fuß.

Die Herde umfasste etwa dreißig Tiere und wurde von der Matriarchin Bellatrix angeführt. Eine Stufe unter ihr standen ältere Weibchen, männlichen Geschlechts waren nur einige Kälber und Jungtiere.

Ru hatte auf einer Lichtung die kognitiven Spiele für den heutigen Tag aufgebaut, nun wurde ein Elefant nach dem anderen dazu ermuntert, sein Glück zu versuchen. Spiegel sollten die Selbstwahrnehmung testen. Töpfe mit Futter darunter wurden vertauscht, und der richtige musste gefunden werden, Scheuklappen dienten einem ähnlichen Zweck. Stabile aufrechte Bretter waren mit beweglichen Symbolen versehen – einfache Logik-, Assoziations- und Gedächtnisaufgaben, bei denen richtige Lösungen erkennbar belohnt wurden. Werkzeuge und andere Gegenstände mussten miteinander kombiniert werden, um etwa Früchte aus einem Behälter herauszufischen. Mit dem ihr eigenen Fleiß hatte Ru diese Tests den ganzen Tag über in verschiedenen Zusammenstellungen abgearbeitet. Die Elefanten waren im Allgemeinen willig, aber nur bis zu einer gewissen Grenze. Goma wusste, wie frustrierend es wurde, wenn die Belohnungen nicht mehr reizvoll genug waren.

»Ich könnte ein paar gute Nachrichten vertragen«, sagte Goma, als sie in Hörweite war.

»Dann fang doch damit an. Hast du diese Idioten ordentlich niedergemacht?«

»Bildlich gesprochen.«

»Heißt das, wir kriegen einen brandneuen Zaun?«

»Das ist noch nicht entschieden, aber ich denke, ich habe eine gute Begründung geliefert.«

»Ich hatte nichts anderes von dir erwartet. Trotzdem, das sind samt und sonders Arschlöcher.«

»Ganz so weit würde ich nicht gehen.«

»Oh, ich schon.« Ru sprang von ihrem Buggy. »Die spielen doch nur mit uns. Sie könnten uns das Zehnfache dessen geben, was wir verlangen, ohne dass in ihrem Förderbudget ein Loch entstehen würde. Aber wir gehen im Rauschen einfach unter.«

Sie gingen aufeinander zu.

»Da wir gerade von Rauschen sprechen«, sagte Goma. »Wie ich von Tomas höre, sehen die Werte nicht gut aus.«

»Eher trostlos. Aber wieso wundert uns das? Vor drei Jahren konnte ich noch ein Damebrett in den Sand zeichnen und mit Bellatrix eine ganz passable Partie Go spielen. Jetzt fährt sie bloß noch mit dem Rüssel über die Quadrate – so als würde sie sich fast an das Spiel erinnern, wüsste aber nicht mehr, worum es dabei geht. Das ist keine generationsübergreifende Verschlechterung – hier können wir praktisch zusehen, wie ein einzelner Elefant seine Intelligenz verliert.«

»Mit einem gewissen kognitiven Abbau aus Altersgründen müssen wir rechnen. Menschen leiden darunter, warum nicht auch Dickhäuter?«

»Aber einen derart radikalen Verfall haben wir noch nie erlebt.«

»Ich weiß – ich versuche nur, die Sache etwas weniger deprimierend darzustellen. Bist du schon den ganzen Tag hier draußen?«

»Nun ja, ich habe mich verrannt. Du weißt ja, wie das geht.«

Sie trafen zusammen, umarmten und küssten sich und hielten sich für ein paar Sekunden fest. Goma rückte Rus Mütze zurecht, dann trat sie zurück, musterte die andere mit prüfendem Blick und registrierte ihre steife Haltung und das leichte Zittern der Hand, die immer noch das Notebook hielt. Ru war größer und kräftiger gebaut als Goma, aber dennoch weniger robust.

»Das reicht für heute. Lass uns einpacken und nach Hause fahren.«

»Diese Testreihe muss ich noch beenden.«

»Nein, jetzt ist Schluss.« Goma legte ihre gesamte Autorität in diese Worte, obwohl sie nur zu gut wusste, dass ihre Frau es nicht gut aufnahm, wenn man sie bedrängte.

»Es war nur ein langer Tag. Wenn ich eine Nacht geschlafen habe, ist alles gut.«

Sie verstauten die Ausrüstung in den hinteren Mulden ihrer Fahrzeuge. Goma programmierte ihrem Buggy ein, Rus Fahrzeug zu folgen, und stieg zu ihr ins Führerhaus. Als sie das Handschuhfach vor dem Beifahrersitz öffnete, sah sie ohne große Überraschung, dass es leer war.

»Hast du nicht einmal deine Medikamente mitgenommen?«

»Ich wollte noch zurückfahren und sie holen.«

»Bei den Elefanten entgeht dir nicht die geringste Kleinigkeit – warum fällt es dir so schwer, mit dir selbst genauso sorgfältig umzugehen?«

»Mir geht es gut«, beteuerte Ru. Doch nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Können wir noch kurz bei der Alpha-Herde vorbeifahren? Ich möchte einen Blick auf Agrippa werfen.«

»Agrippa kann warten – du brauchst deine Medizin.«

Alle Appelle verhallten ungehört, noch dazu, da Ru am Steuer saß. Sie lenkte den Buggy auf einen schmaleren Pfad, das hintere Fahrzeug folgte, und bald waren sie auf einem kleinen Hügel angelangt und schauten über den bevorzugten Sammelplatz der Alpha-Herde. Unweit davon stand, über und über grün, ein Versorger-Roboter, der an dieser Stelle zur Bewegungslosigkeit erstarrt war, als die Informationswelle nach dem Zusammenbruch des Mechanismus Crucible erreichte.

Sie hielten an. Goma sprang als Erste hinaus, ging um den Buggy herum und half Ru herunter.

»Da ist sie. Hinten liegt ein Fernglas, wenn du es brauchst.«

»Nein, es geht auch so.« Goma beschattete ihre Augen, um nicht vom grellen Platinweiß der Wolken geblendet zu werden. Sie brauchte nur ein paar Sekunden, um Agrippa ausfindig zu machen, die Matriarchin der Herde, aber diesmal wurde die Freude über das Wiedersehen rasch von Besorgnis verdrängt.

Mit Agrippa stimmte etwas nicht.

»Sie bewegt sich sehr langsam.«

»Das ist mir schon vor ein paar Tagen aufgefallen«, sagte Ru. »Sie hat eine Weile gelahmt, aber das ist etwas anderes. Ich weiß, sie ist alt, doch sie hatte immer eine innere Kraft, die sie durch alles hindurchgetragen hat.«

»Wir sollten ihr Blut abnehmen.«

»Einverstanden. Wenn nötig, holen wir sie rein. Vielleicht ist es nur eine Infektion, oder sie hat etwas gefressen, was ihr nicht bekommen ist.«

»Mag sein.«

Keine von beiden wollte aussprechen, was offensichtlich war: Agrippa zeigte eher Symptome von Altersschwäche als von irgendeiner Erkrankung, die sich mit Medikamenten oder Transfusionen behandeln ließ. Sie war einfach eine alte Elefantendame – die älteste in der ganzen Herde.

Den Kognitionswerten nach allerdings auch die intelligenteste. Die Einzige, die noch die meisten Tests erfolgreich absolvieren konnte und damit bewies, dass sie einen inneren Monolog führte, über ein Identitätsbewusstsein verfügte, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung erkannte und die Bedeutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie den Unterschied zwischen Leben und Tod begriff. Agrippa konnte selbst keine Sprachlaute bilden, aber sie verstand einen, wenn man mit ihr sprach und konnte symbolische Antworten formulieren. Sie war der letzte Tantor – der letzte Elefant, in dem das Feuer wahrer Intelligenz glühte.

Doch nun war Agrippa alt geworden, und ihre unmittelbaren Nachkommen waren zwar klüger als die übrige Herde, aber nicht mehr so intelligent wie ihre Mutter. Ihre Kinder hatten ihrerseits Kinder hervorgebracht, in denen ihre Gene noch weiter verwässert waren, und diese Elefanten waren kaum noch von den anderen zu unterscheiden. Das Signal war so schwach, dass man nur mit sorgfältiger statistischer Analyse das Vorhandensein von erweiterten kognitiven Fähigkeiten nachweisen konnte.

»Wir dürfen sie nicht verlieren«, sagte Ru nach einer Weile.

»Wir werden sie verlieren.«

»Dann ist alles aus. Dann sind wir gescheitert.«

»Es gibt auch weiterhin Arbeit für uns. Das wird immer so sein. Schließlich müssen wir uns nach wie vor um alle diese Elefanten kümmern.«

»Sie leiden nicht einmal darunter. Das ist es, was mir wirklich nahegeht. Wir leiden. Es zerreißt uns das Herz, wenn wir zusehen müssen, wie sie Jahr für Jahr mehr von dem verlieren, was sie einst hatten. Aber ihnen ist es egal. Sie vermissen es nicht, Tantoren zu sein – sie haben weite Räume, genügend Futter, ein Schlammloch, um sich darin zu suhlen – was wollen sie mehr?«

»Die Tantoren waren keine normale Phase in der Elefantenentwicklung«, gab Goma zu bedenken. »Wir können es ihnen nicht vorwerfen, wenn ihnen nichts daran liegt. Kümmert es die Hunde, dass sie nicht so klug sind wie die Bonobos? Kümmert es die Ameisen, dass sie nicht so klug sind wie die Hunde?«

»Aber mich kümmert es.«

Goma legte ihr die Hand auf die Schulter und zog sie schweigend an sich. Auch sie spürte Rus wachsende Verzweiflung – sie teilte das Gefühl, dass ihnen etwas Glanzvolles, Kostbares wie Quecksilber durch die Finger glitt. Je mehr sie sich bemühten, es zu messen, zu bewahren, desto schneller verrann es. Aber Goma brauchte Rus Stärke, und Goma musste ihrerseits für Ru stark sein. Sie waren wie zwei Bäume, die sich gegenseitig stützten.

»Lass uns nach Haus fahren«, schlug Goma vor. »Ich muss meine Mutter anrufen – ich habe ihr versprochen, sie morgen zu besuchen, aber Agrippas Blutabnahme geht vor.«

»Das kann ich doch machen«, erbot sich Ru. »Du weißt, wie wichtig die Routine für Ndege ist.«

»Kannst du ihr das verübeln?«

»Sicher nicht. Ich bin die Letzte, die ihr irgendetwas verübeln würde.«

Einige Tage danach betrat Mposi am frühen Abend das Parlamentsgebäude in Guochang und sah, dass ihn im Vorzimmer seines Büros eine Besucherin erwartete.

»Goma«, strahlte er. »Was für eine schöne Überraschung.«

Seine Begeisterung fand keinen Widerhall, seine Nichte ließ sich nicht einmal ein Lächeln entlocken.

»Kann ich mit dir sprechen? Unter vier Augen?«

»Natürlich.«

Zuvorkommend führte er sie in sein Büro und spielte auch weiterhin den perfekten Gastgeber, obwohl nichts in ihrem Verhalten darauf schließen ließ, dass es sich um einen Höflichkeitsbesuch handelte. Das wäre auch ungewöhnlich gewesen, zumindest in letzter Zeit. Als Goma beruflich wie privat noch nicht so engagiert gewesen war, hatte sie ihn oft zu einem Spaziergang durch den Parlamentspark abgeholt, und sie hatten sich gegenseitig Geschichten erzählt und harmlosen Klatsch ausgetauscht. Mit jäh aufwallender Traurigkeit erkannte er jetzt, wie viel Freude ihm diese Treffen bereitet hatten, die von keiner Seite mit beruflichen Verpflichtungen belastet gewesen waren.

»Chai?«, bot er an und zog die Jalousien zu. Die untergehende Sonne war so dick und rot wie eine reife Tomate.

»Nein. Ich bleibe nicht lang. Sie kann nicht mit.«

Er lächelte. Beide standen noch. »Sie?«

»Meine Mutter. Ndege.« Goma hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Sie war klein und zierlich und wurde leicht unterschätzt. »Diese alberne Expedition – ich meine die, von der du glaubst, dass ich nichts darüber weiß.«

Mposi schaute zur Tür, um sich zu vergewissern, dass er sie beim Eintreten geschlossen hatte.

»Du solltest dich setzen.«

»Ich sagte doch, ich bleibe nicht lang.«

»Trotzdem.« Er deutete auf den Besucherstuhl und ließ seinen massigen Körper in den Sessel auf seiner Seite des Schreibtischs sinken. »Ich hatte ihr ausdrücklich untersagt, mit irgendjemandem darüber zu sprechen.«

»Ich bin ihre Tochter. Dachtest du wirklich, sie könnte so etwas lange vor mir verheimlichen?«

»Du solltest informiert werden, sobald die Planungen etwas konkreter geworden waren.«

»Du meinst, wenn es allgemein bekannt gemacht würde.«

»Ich bin kein Dummkopf, Goma, und ich kann dich verstehen. Aber geheim ist nun einmal geheim. Was hat sie noch erzählt?«

»Gibt es denn noch etwas?«

»Bitte, keine Spielchen.«

Goma schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Ein Signal irgendwo aus dem interstellaren Raum.«

Mposi rieb sich die Stirn. Er spürte bereits den schmerzhaften Druck, der sich hinter seinen Augen aufbaute. »Mein Gott.«

»Eine mögliche Verbindung zur Dreieinigkeit – Chiku, Eunice und Dakota. Ich kann mir gut vorstellen, dass das für sie von Interesse ist. Sie hat ihre Mutter verloren – musste zusehen, wie sie von einem Alien-Roboter entführt wurde. Aber mir geht es eher um Dakota.«

»Den Elefanten?«

»Die Tantorin. Wenn das Signal von Eunice kommt, ist vielleicht auch Dakota da draußen. Muss ich dir erklären, warum mir das am Herzen liegt?«

»Nein, ich glaube, das liegt auf der Hand.« Für Mposi waren Gomas wissenschaftliche Berichte immer zu theoretisch und für einen Laien schwer verständlich gewesen, aber wenn er die Zusammenfassungen überflog, wusste er ungefähr, wohin ihre Argumentation zielte. »Es war nur ein Signal, und es wurde nicht wiederholt. Wir versuchen seit sechs Monaten, es wiederzufinden.«

»Aber du glaubst, die Nachricht ist echt, und sie ist auch für uns bestimmt. Und du glaubst, sie könnte mit der Dreieinigkeit zu tun haben.«

»Das habe ich deiner Mutter gesagt. Im Vertrauen.«

»Wenn du ihr Vorwürfe machen willst, weil sie dein kleines Geheimnis verraten hat, kriegst du noch viel größere Probleme.«

»Du meine Güte, Goma. Das klingt ja fast wie eine Drohung.«

»Du sollst wissen, dass es mir bitterernst ist.«

»Ich verstehe. Vollkommen.«

»Dann will ich nicht viele Worte machen. Was immer diese Nachricht enthält, Ndege fliegt nicht mit.«

»Ich finde, das sollte eigentlich deine Mutter entscheiden.«

»Das wird sie nicht. Nicht mehr. Ich gehe an ihrer Stelle. Ich bin nur ein Viertel so alt wie sie und viel stärker.«

»Wie dem auch sei, Ndege ist noch am Leben. Und sie hat sich bereit erklärt, an der Expedition teilzunehmen.«

»Weil du sie in die Enge getrieben hast.«

»Ich habe sie lediglich darauf hingewiesen, dass es zeitnah für sie von Vorteil sein könnte, sich freiwillig für eine solche Mission zu melden.«

»Du hast sie mit der Aussicht auf eine Begnadigung geködert. Das hätte ich nicht von dir gedacht.«

»Es war vollkommen aufrichtig gemeint.« Mposi griff nach dem Briefbeschwerer auf seinem Schreibtisch – der Schädel eines Seeotters, blank poliert wie ein Kieselstein. Ein Geschenk seines Halbbruders, das durch den Weltraum zu ihm gekommen war. »Ich finde es ein starkes Stück, Goma, dass du mir Vorhaltungen machst, wie ich Ndege behandle. Frag doch deine Mutter, wenn du mir nicht glaubst.«

Er hatte die Stimme nicht erhoben, doch sein Zorn hatte eine ernüchternde Wirkung auf die Besucherin. Goma sah ihn zerknirscht und traurig an und schien sich zu schämen.

»Ich will nur nicht, dass man ihr falsche Hoffnungen macht.«

»Ich doch auch nicht«, beteuerte Mposi sanft und legte den Schädel zurück. Mit einem satten Geräusch landete er auf der Tischplatte. »Nach allem, was deine Mutter durchmachen musste, hätte ich ihr doch niemals etwas in Aussicht gestellt, was sich nicht erfüllen lässt. Aber ist das dein Ernst – würdest du wirklich an ihrer Stelle mitfliegen? Du liebst diese Welt, du liebst deine Arbeit. Und du hast mit Ru eine wunderbare Lebensgefährtin. Warum willst du das alles aufgeben?«

»Weil ich Ndege die Reise ersparen möchte. Ich habe eure Schiffe gesehen, sie kreisen am Himmel wie zwei neue Monde. Sie sind riesig. Du kannst mir nicht einreden, dass sie nicht Tausenden von Menschen Platz bieten können.«

»In der ursprünglichen Form schon«, räumte Mposi ein. »Aber wenn eines der Schiffe für eine Fernexpedition umgerüstet werden sollte – und das steht noch nicht fest –, müsste vieles umgestaltet werden.«

»Für Ru ließe sich bestimmt noch ein Plätzchen finden.«

Mposi traute seinen Ohren nicht. »Du hast auch mit ihr schon gesprochen?«

»Nein, ich habe dein Geheimnis gewahrt. Außer mit Ndege habe ich mit niemandem darüber gesprochen. Bist du jetzt zufrieden?«

»Einigermaßen.«

»Aber ich werde Ru fragen. Sie ist sicher ebenso an Dakota interessiert wie ich. Wir haben die Tantoren verloren, Mposi. Wir haben die schönste Überraschung verloren, die wir als Spezies jemals erleben werden. Neue Freunde – neue Gefährten. Und wir lassen sie sterben. Denn Ru und ich haben nie etwas anderes getan, als den Niedergang, das Schwinden ihrer Intelligenz zu dokumentieren. Nun haben wir die Chance, den Kontakt zu einem der ursprünglichen Tantoren oder zumindest einem ihrer Nachkommen wieder aufzunehmen. Selbst wenn dabei nicht mehr herauskäme als frisches Genmaterial, wäre das ein Anfang. Das weiß auch Ru. Ich bin sicher, sie wird mitkommen wollen.«

»Hast du Ndege mitgeteilt, was du vorhast?«

»Ich habe ihr erklärt, dass ich mit dir darüber sprechen würde.«

»Und war ihr das recht? Nein – du brauchst mir nicht zu antworten. Ndege will dich ebenso schützen wie umgekehrt. Sie will sicher nicht, dass du fortgehst.«

»Doch letzten Endes liegt die Entscheidung bei dir, Onkel. Lieferst du deine Schwester einem Abenteuer aus, das sie nicht überleben wird, oder setzt du auf deine Nichte?«

»Wenn du es so ausdrückst, klingt es ganz einfach.«

»Das ist es auch, Onkel. Du brauchst nur zu erlauben, dass ich auf diesem Schiff mitfliege.«

Er stand kurz davor, Ja zu sagen. Aber er würde – durfte – die Entscheidung nicht überstürzen. Zu viel stand auf dem Spiel. Die Sache war weitaus komplexer, als Goma ahnte.

»Ich wollte deiner Mutter etwas Gutes tun.«

»Das kannst du immer noch. Bis das Schiff fertig ist, dauert es doch noch eine Weile.«

Er seufzte, denn er sah, worauf sie hinauswollte. »Nach allem, was ich höre, noch weitere fünf Jahre.«

»In diesen fünf Jahren hast du genügend Zeit, Ndege das Leben zu erleichtern. Wirst du mit dieser Geschichte jemals an die Öffentlichkeit gehen?«

»Wenn erst publik wird, dass die Pläne für eines der Schiffe geändert werden, müssen wir wohl oder übel einige Informationen freigeben. In ein oder zwei Jahren vielleicht.«

»Dann kannst du der Welt verkünden, Ndege hätte sich freiwillig für die Expedition gemeldet. Gönne ihr diesen Moment. Außer uns dreien braucht niemand zu erfahren, dass sie nicht mitfliegen wird.«

»Mit uns dreien wäre es nicht getan. Man müsste beurteilen, ob du aus medizinischer Sicht für eine Auszeit geeignet bist. Dafür gibt es keine Garantien.«

»Diese Belastungen stehe ich wahrscheinlich immer noch besser durch als meine Mutter.«

»Du bringst mich in eine schwierige Situation.«

»Das freut mich. Dann weißt du endlich, wie sich das anfühlt. Nimm mich in die Expedition auf, und reserviere auch einen Platz für Ru. Ich frage nicht noch einmal, Onkel. Und was ich vorhin sagte …«

»Ja?«

»Das war keine leere Drohung. Aber du kannst gerne davon ausgehen, dass ich hart verhandeln werde.«

Sein Lächeln war voller Zuneigung, er war stolz auf sie, doch sie machte ihm auch ein wenig Angst. »Du bist zu schade für die Wissenschaft, Goma. Wir hätten eine großartige Politikerin aus dir machen können.«