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Buch

Die Tochter der einflussreichen Politikerin Kari Lise Wetre wird vermisst – ein Routinefall für Hauptkommissar Fredrik Beier. Kurz darauf wird Beier nach »Solro« beordert, einen alten Hof vor den Toren Oslos. Fünf Männer wurden auf dem Sitz der christlichen Sekte »Gottes Licht« grausam abgeschlachtet. Das Gelände des Hofs erinnert an einen Hochsicherheitstrakt, und im Keller des Gebäudes stoßen die Ermittler auf ein Labor, das auf monströse Experimente hinweist. Von den restlichen Mitgliedern der Sekte fehlt jede Spur, unter ihnen die vermisste Annette Wetre ...



Autor

Ingar Johnsrud, Jahrgang 1974, wuchs in Holmestrand auf. Er studierte Publizistik und Filmwissenschaft und arbeitete fünfzehn Jahre als Journalist bei einem der größten norwegischen Medienunternehmen. Sein erster Thriller um den Osloer Ermittler Fredrik Beier, Der Hirte, wurde als bestes Krimidebüt für den Maurits-Hansen-Preis nominiert, und in seiner Heimat wird Johnsrud als neuer Star der skandinavischen Spannungsliteratur gefeiert.

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Ingar Johnsrud

Der Hirte

Thriller

Deutsch von
Daniela Stilzebach

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Wienerbrorskapet« bei Aschehoug & Co., Oslo.

Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert, wofür wir uns herzlich bedanken.

Copyright der Originalausgabe © Ingar Johnsrud 2015

Published by agreement with Salomonsson Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Leena Flegler

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotiv: plainpicture/NordicLife/Terje Rakke

WR · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-18685-2
V002

www.blanvalet.de

In jeder heterogenen Population, wie z. B. der humanen, spielt die Auswahl – die Selektion – eine entscheidende Rolle. Je strenger die Selektion, umso besser wird sich die Art erhalten.

Die Auswahl der besten, lebensfähigsten Exemplare einer Art wurde ursprünglich durch die Natur selbst getroffen – sowie durch Menschen, solange sie nur in Übereinstimmung mit der Natur handelten. Die ersten menschlichen »Eingriffe« erfolgten nämlich nicht wider die Natur, sondern vielmehr, um die natürlichen Prozesse zu unterstützen. Dass die hierfür gewählten Methoden strittig und unserer Auffassung nach in Teilen grausam waren, steht auf einem anderen Blatt, doch stellt sich heute die Frage, ob der moderne Mensch, indem er das entgegengesetzte Extrem zelebriert und alles, was schwach und gebrechlich ist, zu fördern sucht, nicht vielleicht neuerliche Grausamkeiten begeht, die sich hinsichtlich der Barbarei an den alten messen können.

Aus der Einleitung zu Rassenhygiene von Jon Alfred Mjøen, Jacob Dybwads Forlag, 1938.
Jon Alfred Mjøen starb 1939.

Teil 1

1

Im Halbdunkel räumte die Flugbegleiterin das unberührte Tablett mit Räucherlachs, Wolfsbarsch aus dem Bosporus und Wiener Apfelstrudel ab. Sie arbeitete zügig und so routiniert, dass sie nicht einmal mehr hinsehen musste. Flüchtig schaute sie zu ihm hinüber. Bekam den gleichen Ausdruck im Gesicht wie so viele, die ihn aus nächster Nähe sahen. Wie bei einer kurzen Bildstörung, nur dass sie nicht hätte sagen können, was genau es war. Als sie sich nach dem Champagnerglas streckte, legte er die Hand auf ihre. Sie zog sie sofort wieder weg.

Langsam schob er das Rollo vor dem Fenster nach oben. Die anderen Passagiere schliefen. Eine blinkende Lampe draußen auf dem Flügel sorgte für blasse Reflexe auf der Scheibe. Dort unten, weit unten, schwammen goldene Lichter. Europa. Das letzte Mal war lange her. Er schloss die Augen, strich mit den Zeigefingern über die Kante der Maske und dachte an alles, was hinter ihm lag.

Der Staub hatte träge in der leichten Nachmittagsbrise getanzt. Die glühend heiße Sonne war in einen blass graublauen Schleier gehüllt. Die Steppe lag tausend Meter über dem Meeresspiegel, hier war die Luft dünn, der Luftwiderstand niedrig. Die Voraussetzungen hätten nicht besser sein können.

Reglos kauerten sie hinter der Scharte im alten Minarettturm auf der Steintreppe. Die Außentemperatur betrug fast vierzig Grad. Hier drinnen war es nur unmerklich kühler.

Er versuchte, die Augen zu entspannen. Blinzelte und starrte hinab in die Wolken, wohl wissend, dass Hvalen mit dem Fernrohr alles im Blick hatte. Das Treffen dauerte bereits seit fast vier Stunden an. Sollte der Gouverneur es bis Anbruch der Dunkelheit zurück in sein verschanztes Heim schaffen, würde er seine Sachen packen müssen.

Hvalen tippte ihm auf die Schulter. Er wusste, was das bedeutete. Er legte die Hand an den Ladegriff und sah durch das Visier hinüber zu der ungestrichenen rostbraunen Wand. Ein barhäuptiger Mann in dunkler Weste und hellem perahan tunban, dem traditionellen Gewand afghanischer Männer, hatte die Balkontür geöffnet. Das war Hassam, der Informant, der den Gouverneur hierhergelockt hatte.

Hassam trat zur Seite und machte dem älteren Mann Platz am schmiedeeisernen Balkongeländer. Gouverneur Osmal Abdullah Kamal. Das Fadenkreuz glitt über den braunen Turban, dann weiter über den üppigen, grau melierten Bart. Schweigend blickten die beiden Männer über die Mohnfelder.

Durch den Rückstoß verlor er das Ziel kurz aus dem Blick. Als er das Gewehr senkte, erkannte er, dass die .338 Lapua Magnum etwa fünf Zentimeter neben dem Brustbein eingedrungen war. Das Projektil hätte sein Ziel schlimmer verfehlen und nichtsdestoweniger töten können. Trotzdem hämmerte Verdruss in seinen Schläfen. Anstatt ein apfelsinengroßes rotes Loch in das helle Gewand des Gouverneurs zu schlagen, riss die Brust regelrecht entzwei. Eine hellrote Fontäne aus Blut prasselte auf den Balkon, auf Hassam und die Wand hinter den beiden nieder. Der Körper schleuderte gegen die Tür, wo er jäh innehielt. Für einen kurzen Augenblick blieb der Gouverneur leicht vornübergebeugt stehen, bevor das dünne Holz in seinem Rücken nachgab. Staub wirbelte auf, als die Leiche auf dem Boden aufschlug.

Ladegriff. Das Klirren der leeren Hülse auf der Treppe.

Neben den Sandalen des Gouverneurs krümmte Hassam sich zusammen. Womöglich betete er. Vielleicht hatte ihn auch Panik ergriffen. Oder er schauspielerte für die herbeieilenden Leibwächter. Es spielte keine Rolle mehr. Der Schütze richtete die Waffe in der Brise neu aus und erhöhte den Druck auf den Abzug. Im nächsten Augenblick kippte Hassams Körper zur Seite. Hirn, Blut, Haut und Schädelsplitter bildeten an der Wand des Lagers einen orangeroten Heiligenschein.

Der Schütze blinzelte, als wäre sein Auge eine Kamera und sein Blinzeln das winzige, kaum fassbare Dunkel, wenn der Spiegel hinunterklappte und die Zeit gefror. Dies war sein Augenblick, für immer festgehalten.

»Leb wohl, Hassam«, murmelte Hvalen.

Der Schütze wickelte das Gewehr in ein Tuch. Während Hvalen noch sein Fernrohr zusammenpackte, stand er auf und stieg die drei Stufen hinauf zu dem Mann, der gefesselt auf dem Treppenabsatz über ihnen lag. Fliegen surrten um das geronnene Blut auf seiner Stirn. Unmöglich zu erkennen, ob der alte Imam mit der Augenbinde bei Bewusstsein war. Sein Atem ging schnell und gurgelnd. Der Schütze zog die automatische Pistole aus dem Holster, doch Hvalen schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig.«

Vor dem Minarett gaben sie einander die Hand.

»Die Organisation wünscht dir viel Glück in Norwegen«, sagte Hvalen zum Abschied.

Er schnaubte.

2

»Fredrik Beier. Mit i, nicht y.«

»Adresse?«

»Sorgenfrigaten sechs. In Majorstua.«

»Im Heineckegården?«

»Bitte?«

»Heißt der Häuserkomplex nicht Heineckegården? Und Sie sind geboren in …«

»In … Hier in Oslo. Spielt das irgendeine Rolle?«

»Tut mir leid, ich meinte das Jahr. Wie alt sind Sie?«

»Achtundvierzig. Ich bin achtundvierzig.«

Der Hauptkommissar streckte sich auf dem Ledersofa nach vorne, griff nach dem Löffel, den er für den Pulverkaffee gebraucht hatte, und drehte ihn, bis er sein erschöpftes Spiegelbild darin fand. In dem gebogenen Metall waren die feinen grauen Strähnen an den Schläfen kaum zu sehen. Allerdings hatte es den Anschein, als wäre ihm der schmale, akkurat gestutzte Bart im Rausch aufgemalt worden.

Vor ihm saß der Polizeipsychologe. Über ihm hing ein Poster von Ernest Hemingway mit freiem Oberkörper. Er posierte ausdruckslos mit einer doppelläufigen Schrotflinte.

»Hat Hemingway sich nicht erschossen?«

»Genau wie sein Vater.«

»Ist es für einen Psychologen nicht ein bisschen merkwürdig, sich einen Kerl an die Wand zu hängen, der sich das Hirn weggeblasen hat?«

»Genauso merkwürdig wie Ihre Adresse, könnte man meinen. Dass ausgerechnet Sie in einer Straße namens ›Sorgenfrei‹ wohnen«, entgegnete der Psychologe und nickte in Richtung der dicken Patientenakte auf dem Tisch.

Der Ermittler schnaubte. Die Adresse war bestenfalls Zufall. »Meine Exfrau hat die Wohnung ausgesucht.«

»Sie waren also verheiratet? Kinder?«

»Drei … Zwei. Zwei, meine ich.«

»Drei oder zwei?«

»Eins ist gestorben.«

»Das tut mir leid. Was ist passiert?«

Dieser Hirnkriecher mit dem Doppelkinn zog das Haargummi im Nacken straff.

Hierher kamen Polizisten aus der ganzen Stadt, um sich auszukotzen. Der Gestank von Verbitterung, Unzulänglichkeit und Angst, der hier tagtäglich über die schmutzig weiße Textiltapete schwappte, war ekelhaft. Das Sprechzimmer hatte die Größe einer Zelle, und Fredrik Beier brauchte Luft. Der abgenutzte Lederbezug des Sofas quietschte unter ihm, als er aufstand. Der lange Körper reichte fast bis an die Decke. Er stellte sich ans Fenster. Die fleckigen Gardinen flatterten über die regennasse Alufensterbank.

Der Psychologe machte sich nicht mal die Mühe, sich zu ihm umzudrehen. Als Fredrik über die Schulter blickte, sah er nur den strähnigen Pferdeschwanz und den schweißglänzenden Scheitel. Das Gehirn darunter musste mariniert sein mit den finstersten Polizistengeheimnissen. Dieser Kerl war wirklich die Polizeilatrine Oslos. Einen Teufel würde er tun, mit diesem Kerl über seinen Sohn zu sprechen.

»Wohnen Sie mit Ihren Kindern zusammen?«

Fredrik rieb sich die Augen. »Nein. Sie wohnen in Tromsø. Bei ihrer Mutter. Alice. Und deren neuem Mann.« Es knackte schmerzhaft im linken Knie, als der Polizist sich wieder aufs Sofa setzte. »Ich bin nicht freiwillig hier. Es hieß, das hier oder eine längere Beurlaubung.«

Der Psychologe fuhr mit dem Daumen über die Falte seines Doppelkinns. »Weil Sie nicht glauben, dass Sie krank sind?«

Der Tonfall ließ keinen Zweifel daran, was er von Selbstdiagnostikern hielt.

»Psycho?«, antwortete Fredrik und sah ihn an. »Nein.«

3

Der Junihimmel hing grau über dem Jernbanetorget. Vor dem Autofenster eilten die Bewohner Oslos mit Regenschirmen und Allwetterjacken vorbei. Fredrik klappte die Sonnenblende nach unten, warf einen Blick in den Spiegel und strich sich durch die kurzen Haare. Dann angelte er seine neue Brille aus der Tasche. Ein Metallgestell, die Gläser groß, beinahe viereckig. Damit sah er aus wie ein ostdeutscher Spion, fand er. Das gefiel ihm. Er verzog den Mund, fuhr sich mit den Fingerspitzen über den Bart und spähte verstohlen zu seinem Nebenmann hinüber.

»Kari Lise Wetre«, wiederholte Oberkommissar Andreas Figueras, diesmal lauter, und trommelte mit den Daumen auf das Lenkrad. »Stand sie nicht eine Zeit lang unter Personenschutz?«

Fredrik lehnte den Kopf zurück. Über der Nackenstütze lag eine Holzkugel-Sitzauflage. »Es ist nie was dabei rausgekommen.«

Der Partner schnalzte mit der Zunge – jetzt erinnerte er sich wieder. Sie bogen in die Kongens gate ein und fuhren in Richtung des verwaisten Zentrums. Zwischen die Büros und Verwaltungsgebäude verirrten sich bloß Touristen, einfache Angestellte und die verlorenen Seelen dieser Stadt. Die Tristesse eines Stadtteils namens Kvadraturen.

»Worum ging es in dem Fall noch mal?«, fragte Andreas. »War das nicht irgend so eine Homogeschichte?«

»Tja. Sie war Zeugin, als ein homosexuelles Paar vor dem Colosseum-Kino verprügelt wurde. Ein paar Tage vor dem Prozess rief ein Mann bei ihr an und drohte damit, ihr den Unterleib aufzuschlitzen, wenn sie aussagte. Es wurden noch mehr Leute bedroht, aber bei ihrem Bekanntheitsgrad haben natürlich die Alarmglocken geschrillt.«

»War ja klar, dass sie eine Sonderbehandlung bekam. Verfluchte Politiker«, knurrte Andreas, zog sich die Brille aus den silbergrauen Locken und setzte sie auf. Andreas war einige Jahre älter als er, trotzdem war Fredrik sein Vorgesetzter.

»Irgendwelche Verbindungen zu dieser Sache?«, fuhr er fort, nachdem Fredrik die großzügige Einladung ausgeschlagen hatte, Gift und Galle gegen ihre Volksvertreter zu spucken.

»Nichts, was darauf hinweist, nein.«

»Aber jetzt ist ihre Tochter verschwunden?«

»Die Tochter und das Enkelkind. Sie gehören angeblich irgendeiner eigenartigen Glaubensgemeinschaft an.«

»Ein neuer Scheißfall also«, stöhnte Andreas und reckte das ohnehin schon ausladende Kinn. Wenn er nicht gerade verärgert war – was selten vorkam –, war Andreas mit seinen unergründlichen Augen, dem südländischen Teint und dem kantigen Gesicht womöglich der attraktivste Polizist der ganzen Stadt.

Fredrik schloss die Augen und dachte an die Frau, der sie gleich gegenübertreten würden. Sie war extrem stilsicher, fast schon unnorwegisch. Stellvertretende Vorsitzende der Kristelig Folkeparti, kurz KrF, seit sie verloren hatte, was die Medien damals die Schlacht um den Chefposten der Partei genannt hatten. Im Fernsehen war sie eine der wenigen Politiker, die die Kunst beherrschten, aufrichtig rüberzukommen, ohne auch nur ansatzweise heuchlerisch zu wirken.

Sie parkten auf dem Schotterplatz vor dem elegant geschnittenen Gebäude der Oslo Militære Samfund, das direkt an die Festung Akershus grenzte. Fredrik schob die Cordjacke zurecht, stopfte das weiße T-Shirt in die Jeans und sah zu seinem Partner hinüber. Andreas besaß drei naturweiße Hemden, drei graue Hosen und zwei schmal geschnittene Anzugjacken. Die Sachen standen ihm gut. Fredrik sah ihn selten in etwas anderem.

»Es ist eine Feier für Kriegsveteranen«, erklärte Fredrik, als sie an den beiden bauchigen Kanonen am Eingang vorbeiliefen. Drinnen roch es nach Zitrone und Garnelen. In dem großen Festsaal saßen rund einhundert Männer und ein paar wenige Frauen: Nazijäger, Islamistenjäger, Friedensritter. Dem Armeechef und einer Handvoll profilierter Veteranen waren Ehrenplätze unter den Porträts des Königspaars zugeteilt worden. Kari Lise Wetre saß am hinteren Ende des Saals, wo der königliche Leitspruch Alt for Norge – »Alles für Norwegen« – in goldfarbenen Lettern unter die Decke gemalt worden war. Sie unterhielt sich lebhaft mit ihren beiden Tischherren. Der eine war ein stattlicher rothaariger Mann in den Fünfzigern. Sein Bart erinnerte an eine Raupe mit aufgestellten Härchen. Der andere war ein gebrechlicher Alter, der augenscheinlich bereits früh im Leben schwer verletzt worden war. Brandwunden, wie es aussah. Die Haut über seinem Schädel wirkte brüchig und verblasst, wie Pappe, die feucht geworden und wieder getrocknet war. Die kalkweißen Hände ruhten auf dem runden Griff eines schwarzen Gehstocks.

Fredrik bahnte sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch und fing Wetres Blick auf. »Hauptkommissar Beier. Wir haben telefoniert …«

Die KrF-Politikerin sah erleichtert zu ihm auf.

»Meine Herren, ich muss leider zum Ende kommen. Darf ich Ihnen Stein Brønner vorstellen. Er ist Kriegshistoriker«, sagte sie und lächelte in Richtung Raupenlippe. »Und das ist Kolbein Ihme Monsen. Herr Monsen ist einer unserer Helden des Zweiten Weltkriegs.«

Der Veteran starrte den Hauptkommissar mit dunklen, klaren Augen an. »Beier …«, murmelte er und gab ihm die Hand. Dann zog er einen gravierten Klappkamm aus der Brusttasche, auf dem in verschnörkelter Schrift »KIM« eingraviert war. Leicht zittrig presste er die Haarstoppeln in seinem Nacken wieder an ihren Platz.

Andreas wartete im angrenzenden Salon. An den Wänden hingen handgezeichnete Karten und Gemälde von Offizieren mit finsteren Gesichtern.

Die Politikerin hielt sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf. »Ich bin wirklich enttäuscht darüber, wie lange das gedauert hat. Es ist über einen Monat her, dass ich die Polizei kontaktiert habe.«

Andreas’ Blick flackerte beunruhigend.

»Ihre Tochter ist eine erwachsene Frau«, gab er zurück. »Da wir nach wie vor nicht mit Sicherheit sagen können, ob ein Verbrechen vorliegt, wäre es immer noch möglich, dass sie ganz einfach keinen Kontakt mehr haben möchte« – Andreas sah sie über die Brille hinweg an – »mit ihren Eltern.«

Wetre holte tief Luft, doch Fredrik kam ihr zuvor.

»Was mein Kollege versucht zu sagen, ist, dass wir erst diverse Maßnahmen hinsichtlich der Schweigepflicht und so ergreifen mussten. Sowohl die Ermittlungsbehörden als auch das Jugendamt sind aufrichtig besorgt um das Wohlergehen Ihres Enkels … William?«

»William David Wetre Andersen. Er wird bald vier.«

»Richtig. Tja, das Jugendamt hatte bereits zu einem früheren Zeitpunkt Probleme mit der Glaubensgemeinschaft, der Ihre Tochter angehört. Insofern haben wir die Ermittlungen unter der Annahme eingeleitet, dass es sich um einen Vermisstenfall handeln könnte

»Wunderbar.« Wetre bedachte Andreas mit einem durchdringenden Blick.

Dann setzten sie sich.

4

Hätte er schätzen müssen, hätte er auf fünfundvierzig getippt, auch wenn er wusste, dass sie älter war. Schon über fünfzig. Ihr Alter war ein Grund, warum sie nur stellvertretende Vorsitzende geworden war. Die dunklen Haare waren im Nacken hochgesteckt, und sie trug ein schmal geschnittenes graues Kostüm. Um ihren Hals hing ein kleines Silberkreuz.

»Ich habe Annette seit einem halben Jahr weder gesehen noch gesprochen«, erklärte sie.

Ihre Stimme klang jetzt tiefer als zuvor. Offenbar wollte Wetre den Eindruck erwecken, dass sie Herrin ihrer Gefühle war. Kein ungewöhnlicher Zug bei Personen, die es gewohnt waren, dass andere zu ihnen aufsahen. Schwäche galt ihnen als unverzeihlich. Am meisten die eigene.

»In aller Regel verzweifeln Eltern doch daran, dass ihre Kinder rebellieren. Dass sie sich betrinken, mit Drogen experimentieren, Sex haben, was weiß ich? So war es bei uns nie. Meine Tochter ist wütend auf mich, weil sie der Ansicht ist, ich wäre zu liberal. Und ich bin wütend auf sie, weil sie mit meinem Enkelkind abgetaucht ist. Und weil sie ein erzkonservatives Weibsstück ist.« Wetre verzog das Gesicht, ehe sie fortfuhr: »Für Annette …«

Der Stuhl knarzte, als sie sich zurücklehnte und den Blick starr zur Decke richtete, als würden die Worte, nach denen sie suchte, irgendwo dort oben unter dem Stuck stehen.

»Annette lebt ausschließlich für Gott.«

Wetres Haar war glatt und gepflegt, jedes einzelne lag akkurat an seinem Platz. Ständig wanderte ihre Hand nach oben, um jegliche Widerspenstigkeit im Keim zu ersticken.

Es hatte schon im Teenageralter begonnen. Annette hatte sich geweigert, mit ihnen in die Kirche zu gehen, weil sie die dortige Pfarrerin verabscheut hatte. Homophile Pfarrer im Allgemeinen. Jede Abweichung von der Liturgie. Die Kirche spotte ihrem eigenen Gott, war ihre Ansicht gewesen.

Wetre lachte kurz und schüttelte den Kopf. Die feinen Fältchen um ihre Augen schienen ein wenig deutlicher hervorzutreten, als es die Kameras für gewöhnlich preisgaben. Trotzdem war die Politikerin ihrem Alter Ego aus dem Fernsehen verblüffend ähnlich, wie er fand. Das diskrete Make-up war perfekt aufgetragen, der rote Mund strahlte Glaubwürdigkeit und Wärme aus. Und noch etwas stellte er zögernd fest: Der Farbton ihres Lippenstifts war gerade so dunkel, dass er sinnlich wirkte. Dezent elegant. Das war kein Lippenstift, das war eine Hinwendung an Kopf, Herz und den Schwanz.

Wahrhaftig einer Politikerin würdig.

»Trotzdem hatten wir einen gewissen Respekt voreinander. Erst als sie ein Teil von Gottes Licht wurde – dieser Glaubensgemeinschaft, wie Sie es nennen –, änderte sich auch das.«

Ein rothaariger Schwede servierte ihnen Kaffee. Wetre wartete, bis er ihren Tisch wieder verlassen hatte.

Vor sieben Jahren hatte Annette angefangen, Gottesdienste von Gottes Licht zu besuchen, einem Ableger der Filadelfia-Gemeinde. Sie hatte ihre Ausbildung zur Laborantin nur wenige Monate, bevor sie ihre letzte Prüfung hätte ablegen sollen, abgebrochen.

»So verflucht dumm«, sagte die Politikerin und atmete schwer aus.

Dann hatte Annette ihre Wohnung auf dem Sankthanshaugen verkauft, die ihre Eltern ihr geschenkt hatten, und war auf das Gelände der Gemeinde gezogen. Dort hatte sie Per Olav kennengelernt, Williams Vater. Kirchlich hatten sie nicht heiraten wollen. Stattdessen hatten sie sich für irgendeine Art Zeremonie entschieden.

»Wir waren nicht mal eingeladen.« Wetre blinzelte und rieb sich mit den schlanken Zeigefingern über die Unterlider. »Das Ganze musste wohl sehr schnell gehen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Annette mit jemandem ins Bett gegangen wäre, ehe das Verhältnis … gesegnet worden war. Sie verstehen schon, so ein Mädchen ist sie nicht.«

»Es wirkt nicht so, nein.«

»Das Glück war nicht von langer Dauer. Per Olav starb, als William gerade auf die Welt gekommen war. Irgendeine Infektion … Im Krankenhaus konnten sie nicht allzu viel dazu sagen. Die Lotterie des Lebens. Oder Gottes Wille – das kommt wohl darauf an, wen Sie fragen«, sagte Wetre nachdenklich.

Andreas sah von seinem Notizblock auf. »Wo befindet sich diese Glaubensgemeinschaft?«

»Im Maridalen. Auf einem Hof, den sie Solro nennen. Mein Mann und ich dürfen sie dort nicht besuchen. Niemand dürfe sie besuchen, sagt Annette. Irgendeine paranoide Überzeugung, die sie dort haben.«

Wetre spreizte die Finger. Musterte ihre perfekt rot lackierten Nägel.

Allerdings hatte Annette ihre Eltern besucht. Nicht oft, aber doch ab und zu. Womöglich waren es die Tränen der Mutter gewesen, die sie angerührt hatten, jedes Mal, wenn die ihr Enkelkind sah. Vielleicht war es auch ein Anflug von schlechtem Gewissen, das gute Leben einfach aufgegeben zu haben, das die Eltern ihr ermöglicht hatten. Doch mittlerweile war ein halbes Jahr vergangen. Ein halbes Jahr ohne ein einziges Wort.

»Ich hatte an einer Radiodebatte teilgenommen, über junge Schwangere und Abtreibung. Ich bin gegen Abtreibung. Man findet nicht viele in meiner Partei, die dafür sind. Aber ich bin andererseits auch der Meinung, dass es Situationen gibt, in denen eine Abtreibung als Alternative ermöglicht werden sollte. Das hat Annette offenbar gehört. Sie hatte einen Wutausbruch und schrie mich an, ob ich gewollt hätte, dass sie William abgetrieben hätte …« Wetre verdrehte die Augen. »Als hätte das eine irgendetwas mit dem anderen zu tun. Sie war der Ansicht, ich würde mich über die Schöpfung erheben. Ich hätte mit Gott gebrochen. Seither haben wir keinen Kontakt mehr.« Sie senkte den Blick. »In den vergangenen Monaten habe ich sie täglich angerufen. Mein Mann und ich haben unzählige Nachrichten geschickt, wir haben regelrecht um ein Lebenszeichen gebettelt. Zweimal sind wir auf dem Hof gewesen, aber dort wurden wir schroff abgewiesen. Sie haben Männer unten am Zufahrtsweg postiert, Wachleute.« Sie begegnete Fredriks Blick. »Bei einer Glaubensgemeinschaft …«

Draußen schlüpfte Fredrik unter Wetres schwarzen Regenschirm. Sie schlenderten am Umweltministerium in der Nedre Slottsgate vorbei. Um sie herum fiel Sommerregen. Andreas war mit dem Auto zurück zur Dienststelle gefahren.

»Was wissen Sie über diese Glaubensgemeinschaft? Über Gottes Licht?«, fragte Fredrik.

»Erinnern Sie sich noch an Bjørn Alfsen junior?«

Er schüttelte den Kopf.

»Bjørn Alfsen hat seine Eltern und den großen Bruder bei einem Autounfall verloren. Als Alleinerbe des Familienkonzerns Alfsen Skogindustrier war er mit einem Mal Hunderte Millionen schwer. Hätte er seine Karten clever ausgespielt, wäre er noch heute einer der reichsten Männer Norwegens. Aber Mitte der Siebziger, kurz nach dem Tod seines Großvaters, verkaufte er alles, und im Laufe weniger Jahre hatte er das gesamte Familienvermögen verjubelt. Partys, fehlgeschlagene Investitionen – riesige Summen verschwanden in einer Diamantengrube in Südafrika. Er kooperierte mit dem Apartheid-Regime, wurde dann von ein paar dortigen Geschäftsleuten über den Tisch gezogen. Die frühen Achtziger hat er quasi im Gerichtssaal verbracht – Konkurse, wütende Geschäftspartner«, erläuterte Wetre.

Der Fluch des Geldes, dachte Fredrik. Die erste Generation verdient ein Vermögen, die zweite Generation verwaltet es, und die dritte verprasst es. Nicht allzu verwunderlich im Grunde. Etwas wertzuschätzen, wofür man nie hatte kämpfen müssen, musste unendlich schwer sein.

»Über Jahre war er verschwunden. Mitte der Neunziger tauchte er urplötzlich wieder auf: als einflussreicher Sponsor der Pfingstgemeinde«, sagte sie.

»Da war er also wieder reich?«

»Ich weiß nicht … Solche Millionärskinder haben wohl immer irgendwo noch ein paar Kronen versteckt. In Wertefragen war er allerdings überaus konservativ geworden. Fing an, eine Reihe von Forderungen an die Gemeinden zu stellen, die er unterstützte – Forderungen, denen nicht alle nachkommen wollten. Es kam zum großen Bruch, er kehrte ihnen den Rücken und gründete seine eigene Sekte.«

»Gottes Licht«, murmelte Fredrik.

»Er nennt sich sogar Pastor.«

Fredrik sah an den Fassaden der Fachwerkhäuser am Christiania torv hinauf. Hier standen einige der ältesten Bauwerke der Stadt. Sie waren von Leuten mit viel Geld errichtet worden. Heute wusste niemand mehr, wer sie gewesen waren.

Der Asphalt vibrierte unter ihren Füßen, als eine Straßenbahn schwerfällig an ihnen vorbeiratterte.

»Ich erinnere mich noch an Gottes Licht – es muss jetzt elf, zwölf Jahre her sein, als sie massiv auf die Straße gingen, oder nicht?«

»Stimmt genau. Gegen eine Gesellschaft, die sich angeblich im moralischen Verfall befand«, sagte Wetre. »Damals demonstrierten sie gegen den Bau von Moscheen. Sie demonstrierten vor Krankenhäusern, in denen Abtreibungen vorgenommen wurden. Sie tauchten bei gleichgeschlechtlichen Hochzeiten auf, machten Radau, auch vor Kirchengemeinden mit Pfarrerinnen. Gott werde uns bestrafen, sagten sie, und dass das Jüngste Gericht bevorstehe … Irgendwann beruhigte es sich wieder, und sie verschwanden von der Bildfläche. Ich dachte damals ehrlich gesagt, die Sekte hätte sich aufgelöst.«

Vor dem Parlament, in dem Kari Lise Wetre einen Großteil ihres Erwachsenenlebens verbracht hatte, blieben sie stehen, um sich voneinander zu verabschieden. Sie war immer schon eine Person des öffentlichen Lebens gewesen. Er fragte sich, wie es wohl sein mochte, eine Mutter zu haben, die das ganze Land kannte. War dies der Grund für Annettes Verschwinden? Die verspätete Rebellion eines Politikerkindes?

»Warum bezeichnen Sie sie als Sekte?«

»Weil sie genau das sind. Sie beanspruchen die Wahrheit für sich. Haben einen starken Anführer. Dann die Isolation auf diesem Hof. Die Aussicht auf das Jüngste Gericht.« Wetre zählte die Argumente an den Fingern ab. »Das ist doch wie aus dem Lehrbuch – oder finden Sie, dass sich das nach einem Ort anhört, an dem ein Kind aufwachsen sollte?«

Statt seine Antwort abzuwarten, streckte sie die Hand aus.

»Also dann, ich muss eine Wahl gewinnen. Danke, dass Sie uns helfen. Wir wissen das sehr zu schätzen, mein Mann und ich.«

Sie lächelte – wie im Fernsehen.

5

Der Gestank fauliger Erde vermischte sich mit dem Duft kross gebratenen Specks.

Fredrik schob die Balkontür auf. Blinzelte auf den kleinen Hof hinunter. Kalte Sommerluft umarmte ihn, und seine Brustwarzen wurden hart. Er lehnte sich über das Geländer und hievte die schwankenden Blumenkästen auf den Betonboden. Stinkende braune Flüssigkeit sickerte daraus hervor und lief ihm zwischen die Zehen. Die Blumen, die sich in Violett und Rot zur Sommersonne hin recken sollten, hingen schleimig über die Ränder. Es war Anfang Juli.

Sein Blick streifte sein Spiegelbild in der Balkontür. Eine helle Jeans war alles, was er trug. Sowie er die Kästen herübergehoben hatte, hatte sein Knie angefangen wehzutun, und er hinkte leicht. Sein Gesicht war schmal, mit markanten Wangenknochen. Den dünnen Bart, der zu den Mundwinkeln hin auslief, hatte er seit seiner Jugend. Ein paarmal hatte er ihn abrasiert, sich aber nie mit dem Anblick anfreunden können. Üppige Augenbrauen bogen sich über den schmalen Augen. »Du hast den Blick eines alten Labradors«, hatte sie zu ihm gesagt, als er sich erneut zu ihr gelegt hatte. »Dir kann man einfach nichts abschlagen.« Er wusste, dass sie Hunde mochte. Aber er wollte nicht daran erinnert werden, dass er sich wie einer aufführte.

Auf der Schwelle zur Küche blieb er stehen. Es war lange her, seit er so dagestanden hatte. Wie ein Gast in seiner eigenen Wohnung. Er lebte allein, trotzdem war es keine klassische Junggesellenbude. Die Arbeitsplatte war sauber, die Spülmaschine voll beladen, und die meisten leeren Flaschen steckten in Plastiktüten. Die Wände waren weiß geblieben, nur die Fliesen über dem Kühlschrank waren rot und orange. Leuchtend rot, schrill orange. Es war ihre Idee gewesen. Als sie auszog, hatte er die Poster vom Eiffelturm und der rauchenden Katze mit Zwicker abgehängt und stattdessen eigene aufhängen wollen: die gelb-schwarze Replik vom Rolling-Stones-Konzert 1969 auf dem Altamont. Das Poster vom Kalvøyafestival 1977 – Smokie als Headliner und ein vom Himmel stürzender deutscher Doppeldecker. Doch dazu war es nie gekommen. Stattdessen war sie hier. Wieder.

Groß und nackt stand sie am Kühlschrank. Er ließ den Blick auf den blassen, breiten Pobacken ruhen, die eine noch immer leicht gerötet. Über diesem sicheren, runden Ankergrund erhob sich ihr schönster Körperteil: der anatomisch perfekte Bogen des Kreuzbeins, der die Taille in Richtung Zentrum zog und ihr die Kontur eines Cellos verlieh. Die Jahre und die Schwangerschaften hatten an ihr gezehrt, sie rundlicher gemacht und Spuren hinterlassen. Wie Wellen in einem geschliffenen Feuerstein. Eine reife Frucht, dachte er, als er sie mit zusammengekniffenen Augen betrachtete.

»Was starrst du denn so?« Sie warf den zerzausten Pferdeschwanz über die Schulter und sah ihn misstrauisch an. »Woran denken Sie, Herr Beier?«

Er grinste. Sie hielt eine Bratpfanne in der Hand. Und ganz nackt war sie nicht. Sie hatte sich seine Küchenschürze um den Hals gehängt. In Höhe der Brüste war ein gelber Streitwagen auf den weißen Stoff gedruckt, darunter ein grauer Dorschkopf. Womöglich irgendein Logo. Für was, wusste er nicht.

Zufriedenes Schweigen senkte sich herab. Brotkrümel, Bratfett, Reste von Eigelb und Tomaten hatten auf den Tellern Spuren hinterlassen. Fredrik nahm einen Schluck von seinem lauwarmen Kaffee und blätterte in der Dagens Næringsliv, ohne wirklich hinzusehen. Auf der Stereoanlage im Wohnzimmer lief immer noch Diana Krall. Die Playlist zusammenzustellen hatte sich am Vorabend bezahlt gemacht.

»Das Leben sollte nur aus solchen Samstagen bestehen«, stellte Alice fest, beugte sich leicht vor, schrieb ihre SMS fertig und fuhr dann fort: »Der Flieger geht in ein paar Stunden. Ich muss allmählich los.«

Sie hob den Blick und grinste ihn keck an.

Sie hatte sich ein weites, rotes Oberteil übergeworfen, das ihre Figur umspielte. Jetzt würde sie also wieder nach Hause fliegen, nach Tromsø, zu Erik. Ihrem neuen Mann. Um ihre grünen Augen bildeten sich zarte Lachfältchen. Auf dem Nasenrücken konnte er vage Sommersprossen erahnen.

»Er hat keine Ahnung, dass du hier bist …«

»Und mit dir schlafe? Ich glaube, so was würde er sich nicht mal in seinen kränksten Fantasien ausmalen.«

»Hast du noch einen anderen?«

Alice kniff die Augen zusammen. »Bestimmt nicht, Fredrik.« Und nach einer Weile: »Irgendwo muss es ja Grenzen geben.« Einen Augenblick lang sah sie ihn prüfend an. »Und wie steht’s mit … ihr …«

»Bettina? Mit Bettina ist alles in Ordnung.«

»Trefft ihr euch noch?«

»Das tun wir.«

»Schlaft ihr miteinander?«

»Yes.«

»Prima. Ist es was Ernstes?« Ihre Stimme klang um einen Halbton höher.

»So lala.«

»Was macht sie noch mal? Irgendwelches Polizeizeug, oder nicht?«

Er lächelte sie an. Er wusste genau, dass sie es wusste. »Sie arbeitet für den Polizeipräsidenten.«

»Richtig, das war es, ja.«

Er schob den Küchenstuhl nach hinten. Stand auf und trug die Teller zur Spüle. Er wollte über etwas anderes reden.

»Wusstest du übrigens, dass dieser Hof hier Heineckegården heißt? Er wurde nach dem Architekten benannt, der ihn entworfen hat. Georges Heinecke.«

Alice sah ihn überrascht an. »Seit wann interessierst du dich für Architektur?«

»Schöne Sachen hab ich schon immer gemocht«, sagte er und nickte in Richtung ihres Oberkörpers. Sie reagierte nicht darauf. »Hat mir der Polizeipsychologe erzählt.«

Auf Alices Stirn bildete sich eine Furche, die ihm nicht gefiel. Warum hatte er ihr nichts davon erzählt? Verdammt, aber er erzählte es ja jetzt.

»Es ist nichts Ernstes. Ich hatte nur wieder ein paar Anfälle. Angst, meint der Typ.« Er grinste schief. »Er meint, es wäre ›stressbezogen‹. Ich hab die Order, weniger zu arbeiten. Da passt es doch gut mit den Ferien. Ich freu mich, die Kinder zu sehen.«

Alice warf ihm diesen Blick zu, den sie immer hatte, wenn sie sich überlegen fühlte, und der ihm sagte: Ich kenne dich. Ich kenne dich besser als die meisten anderen. Besser als alle anderen. Ich weiß genau, was in dir vorgeht.

»Wie ist der Psychologe?«

»Keine Ahnung. Ich war nur da, um mir den Stempel abzuholen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Einer der Chefs macht sich wohl Sorgen um mich. Da brauchte ich den Stempel, um weiter draußen arbeiten zu dürfen.«

Alice schlüpfte in ihren teuren, durchsichtigen Regenponcho, und er folgte ihr in den Flur.

»Du verstehst hoffentlich, dass ich nicht mit zu der Beerdigung kommen kann. Die Reise wäre für mich und die Kinder zu lang, und Jacob und Sofia kannten sie ja kaum.«

»Ich hab gar nicht damit gerechnet. Ich schaff es schon, sie allein unter die Erde zu bringen.«

Sie legte ihm die Hand an die Wange. »Kommt Bettina?«

Er nickte.

»Fein. Dann ist sie vielleicht doch nicht ganz so schlimm.«

Sie lächelte ihn gekünstelt an, und sie umarmten sich kurz.

»Pass auf dich auf, Fredrik. Die Kinder freuen sich. Sie vermissen ihren Vater, weißt du. Sorg dafür, dass sie sich wohlfühlen.«

»Na klar«, antwortete er und gab ihr einen Klaps auf den Hintern.

Er hatte gerade eine Dose Carlsberg aufgemacht, als das Handy klingelte. Er ließ die Mailbox rangehen. Trank erst gemächlich sein Bier aus, bevor er ins Schlafzimmer schlenderte und das Handy vom Nachttisch nahm.

Es war Synne Jørgensen gewesen. Seine Vorgesetzte, eine der Leiterinnen der Abteilung für Gewalt- und Sexualdelikte bei der Osloer Polizei.

»Fredrik, ruf mich an. Es gab ein Massaker … bei dieser Sekte auf Solro. Ich schick einen Wagen, um dich abzuholen.«

6

Dicke Regentropfen klatschten gegen die Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer peitschten hin und her. Er konnte kaum die Äcker um ihn herum erkennen.

Erst als sie an der Ruine der Margaretakirche vorbei waren, die am Nordufer des Maridalsvannet emporragte, stellte der junge Kollege am Steuer das Blaulicht aus und drosselte das Tempo. Es war gerade mal zwei Wochen nach Johannis, und trotzdem dämmerte es schon. Nicht ein einziger schlammbespritzter Rennradfahrer weit und breit.

Sie bogen von der Hauptstraße ab. Ein Stück weiter wichen die Felder dichtem Nadelwald, den ein Schotterweg zerteilte. Minuten später waren die Bäume vor ihnen in blinkendes Rot und Blau getaucht.

Sie hielten am Ende einer langen Kolonne aus Streifenwagen und Rettungswagen an.

»Danke fürs Mitnehmen«, sagte Fredrik und nahm seine Regenjacke vom Rücksitz.

Die Luft war kalt, und der Regen dämpfte den Geruch von nasser Erde und Moos.

Eine kleine Gestalt mit blondem, steif gegeltem Haar winkte ihn unter einen dichten Nadelbaum. Es war Polizeidirektorin Synne Jørgensen.

»Guten Abend«, japste sie.

Ein Feuerzeug flammte auf, sie richtete sich gerade auf und nahm einen tiefen Zug. Die Zigarette knisterte. Das runde Gesicht mit der kleinen, flachen Nase und den ungeschminkten Augen wirkte für einen Moment fast schon zufrieden. Dann fingerte sie an ihrer Regenjacke nach der Tasche, um die Zigaretten sicher zu verstauen.

»Ist es wirklich ein guter Abend?«, fragte er süffisant.

Sie rümpfte die Nase.

»Das da ist richtig heftig, Fredrik. Wir haben fünf Tote. Mit mehreren Schüssen auf kurze Distanz getötet – der eine noch im Pyjama im eigenen Schlafzimmer hingerichtet. Keine Verletzten. Aber eben auch keine Überlebenden.«

Endlich hatte sie die Tasche ertastet.

»Ist Annette Wetre unter …«

»Nein«, fiel Synne ihm ins Wort. »Alles Männer. Aber wir haben noch keine Namen.«

»Und du bist dir sicher, dass das hier Solro ist? Wo ist dann der Rest dieser Glaubensgemeinschaft?«

Sie presste die Zunge gegen die Piercingnarbe in der Unterlippe. »Es steht mit großen Buchstaben ›Solro‹ über dem Eingang des Haupthauses, insofern bin ich mir einigermaßen sicher. Aber hier ist keine lebende Seele mehr. Der Rest der Gemeinde ist schlicht und einfach verschwunden.«

Mit drei Zügen hatte sie die halbe Zigarette geraucht. Jetzt brach sie die Spitze ab, angelte die Schachtel wieder hervor und ließ den Stummel hineinfallen, ehe sie erneut nach der Jackentasche tastete.

»Komm mit.« Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und stiefelte hinaus in das Unwetter.

Ein schmaler, matschiger Pfad führte durch den Wald zu einer abschüssigen Lichtung, auf der es im blauweißen Licht kräftiger Scheinwerfer von Polizisten in Regenkleidung nur so wimmelte. Die Fläche entsprach etwa der Größe eines Basketballfeldes, und am rückwärtigen Waldrand standen ein weißes Landhaus und links davon eine kleine rote Scheune. Auf dem Gehweg zur Scheune errichteten zwei Polizisten über zwei leblosen Körpern hektisch ein Zelt.

In der Mitte der Rasenfläche lagen zwei weitere Leichen: die eine auf dem Rücken, die andere mit ungelenk verdrehten Beinen auf der Seite. Teile des Gesichts hatte die Kugel zerfetzt.

»Wann ist das passiert? Wer hat es gemeldet?«

Synne führte ihn in einem Bogen um die Leichen herum hinauf zum Haupthaus. »Der Anruf ging um 12.56 Uhr in der Notrufzentrale ein. Anonym. Angeblich handelt es sich um eine Art Rache. Im Namen Allahs.« Sie warf einen Blick über die Schulter. »Es hat eine Weile gedauert, bis wir den Ort gefunden hatten. Solro ist nicht der offizielle Name …«

»Ich weiß«, murmelte Fredrik. »Als du angerufen hast …«

»… hatte ich es gerade geschafft, mir einen ersten Überblick zu verschaffen. Sebastian ist auch schon unterwegs. Wir haben Großalarm geschlagen.«

Über der hölzernen Eingangstür hing ein breites Brett, auf das jemand in großen Lettern »Solro« geschrieben hatte. Drinnen hatte die Spurensicherung bereits eine Kiste mit Schuhüberziehern, Latexhandschuhen und Mundschutze bereitgestellt. Die Längswand zierte ein riesiges Gemälde von Jesus in einer Tunika, der aus einer glühenden Sonne herauszutreten schien.

»Rache. Im Namen Allahs«, wiederholte Fredrik langsam und streifte sich die Regenjacke ab. »Es sollte also eine Art religiöse Abrechnung sein?«

»Hast nicht du gesagt, diese Glaubensgemeinschaft sei dem Islam gegenüber ziemlich kritisch eingestellt? Und habe gegen Moscheen und so demonstriert?«

»Ja, klar, aber Demos und Fünffachmord sind schon noch zwei Paar Schuhe.«

»Da sagst du was«, murmelte Synne.

Welche Art von Wahnsinn führte bitte schön dazu, dass jemand eine Glaubensgemeinschaft mitten in einem Wald aufsuchte? Und fünf Gemeindemitglieder hinrichtete? Fredrik fragte sich, was der Mörder … oder die Mörder sich wohl gedacht hatten, als sie hier in diesem Flur standen. Als sie die unordentliche Reihe von Kleiderhaken vor sich sahen. Namensschilder mit krakeligen Druckbuchstaben, hingekritzelt von unbeholfenen Kinderhänden. Hatten sie innegehalten und die Namen gelesen? Da, ein leerer Holzknauf mit dem Namen Annette. Oder der daneben, an dem eine Schirmmütze mit Tierpark-Logo hing. Knapp einen Meter über dem Boden. William.

Mucksmäuschenstill musste es gewesen sein, als sie sich hineinschlichen. Womöglich hatten sie einen kurzen Blick ins Spielzimmer geworfen und gesehen, dass alles Spielzeug dort ordentlich in einer Kiste lag. In der Küche dürften sie den Geruch von Schmierseife wahrgenommen haben. Waren sie durch die Nähstube geschlichen, wo Strickzeug in Körben lag und die Plastikabdeckungen über die Nähmaschinen gestülpt worden waren, damit keine kleine Hand zu Schaden kam, sollte einer der Jungen oder Mädchen auf die Idee kommen, vor den Erwachsenen aufzustehen? Spätestens an der Treppe hinauf zum ersten Stock hatten sie begriffen, dass noch alle schliefen, dass sie vollkommen wehrlos waren. Trotzdem waren die Täter weitergegangen. Hatten sich nach oben geschlichen. Dorthin, wo sich die anderen aufhielten.

Im Treppenaufgang hing ein weiteres Jesusbild. Ein Porträt von beinahe anderthalb mal anderthalb Metern Größe: Christus mit Dornenkrone, offener Wunde auf der Stirn und Blutspuren über der Wange. Das überdimensionierte Gesicht weckte in Fredrik starkes Unbehagen. Das Gesicht war so detailgetreu gemalt, dass jede Pore, jede kleine Unreinheit ihm förmlich entgegenzuschreien schien.

Doch es war nicht nur das Gefühl, jemandem zu nahe zu kommen. Es war mehr als das. Es war die Absicht desjenigen, der entschieden hatte, dass das Bild dort hängen sollte. Es stand für das Letzte, was die Bewohner dieses Hauses allabendlich getan hatten: Bevor sie zu Bett gegangen waren, hatten sie sich die Leiden Jesu vor Augen geführt. An jedem Abend und an jedem verfluchten Morgen. Sie hatten es womöglich nicht einmal geschafft, sich die Zähne zu putzen oder aufs Klo zu gehen, ehe sie auch schon an die Niedertracht der Welt erinnert worden waren.

Der breite Flur, der sich oberhalb der Treppe anschloss, wies Anzeichen eines Handgemenges oder einer überstürzten Flucht auf. Sämtliche Türen standen offen, überall war Kleidung und Spielzeug verstreut, eine gerahmte Luftaufnahme des Hofs war von der Wand gefallen und das Glas zerbrochen.

»Hat sich die Presse schon gerührt?«, fragte er.

»Nein. Und hoffentlich bleibt es fürs Erste dabei. Ich will den Tatort erst unter Kontrolle bringen, bevor Fotografen hier herumschwirren.«

»Gut. Ich muss Kari Lise Wetre informieren, bevor die Zeitungen bei ihr anrufen.«

Langsam bewegten sie sich auf das letzte Zimmer am Ende des Flurs zu. Der Raum war klein und altmodisch eingerichtet. Vor dem Fenster hingen weiße Spitzengardinchen, auf der Fensterbank stand eine blühende Begonie. Die Bettdecke war zu Boden gerutscht, und der Bewohner des Zimmers kniete vor seinem Bett. Ein kleiner, bleicher Mann in einem blau-weiß gestreiften Schlafanzug. Die Wange auf dem Laken. Weit aufgerissene Augen starrten ins Leere.

»Pastor Alfsen«, stellte Fredrik fest.

»Wer?«

»Bjørn Alfsen junior. Er hat die Glaubensgemeinschaft geleitet.«

Fredrik beugte sich vor und studierte das Gesicht des Toten. Sein Schädel war teils kahl, die verbliebenen Haare grau und kurz geschnitten. Den Henriquatre-Bart erkannte er von den Bildern wieder, die Wetre ihm geschickt hatte. Direkt über dem rechten Ohr des Pastors klaffte ein kleines rotschwarzes Loch. Blut hatte die Matratze dunkel gefärbt.

»Beim Nachtgebet hingerichtet«, konstatierte Synne trocken. »Und guck mal hier.«

Sie zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche und hob damit das zerknitterte Laken an.

Die kurzen Finger des Pastors waren angeschwollen, weil ein grüner Seidenschal straff um beide Handgelenke geknotet worden war. Synne richtete den Kugelschreiber auf den Schal. Fredrik kniff die Augen zusammen, um sich die zierliche weiße Aufschrift genau anzusehen.

»Arabisch.«