Buch
Es war einmal in Paris …
Sie ist Schauspielerin. Er ist Schriftsteller. Sie heißt Mia. Er heißt Paul. Sie ist eine Engländerin aus London. Er ist ein Amerikaner aus Los Angeles. Sie versteckt sich in Montmartre. Er lebt im Marais. Sie hat sehr viel Erfolg. Er nicht wirklich. Mia ist sogar ein weltweit gefeierter Star, aber Paul hat noch nie von ihr gehört, weil er in seiner ganz eigenen Bücherwelt lebt. Beide fühlen sich einsam, bis sie sich eines Tages in einem kleinen Restaurant begegnen. Obwohl Paul sie zum Lachen bringt und er Mias Ungeschicklichkeit unwiderstehlich findet, wissen beide, dass sie sich nicht verlieben dürfen …
Autor
Marc Levy wurde 1961 in Frankreich geboren. Nach seinem Studium in Paris lebte er in San Francisco. Mit siebenunddreißig Jahren schrieb er für seinen Sohn seinen ersten Roman, Solange du da bist, der von Steven Spielberg verfilmt und auf Anhieb ein Welterfolg wurde. Seitdem wird Marc Levy in fünfundvierzig Sprachen übersetzt, und jeder Roman ist ein internationaler Bestseller. Marc Levy lebt zur Zeit mit seiner Familie in New York.
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MARC LEVY
ER & SIE
Eine Liebe in Paris
Roman
Deutsch
von Amelie Thoma
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Die Originalausgabe erschien 2015
unter dem Titel »Elle & Lui«
bei Editions Robert Laffont, Paris.
Copyright der Originalausgabe © 2015
by Marc Levy/Susanna Lea Associates, Paris
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017
by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkterstr. 28, 81673 München
Redaktion: Gerhard Seidl
Umschlaggestaltung:
www.buerosued.de
Umschlagabbildung: Getty Images/Photodisc
ED · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-19614-1
V002
www.blanvalet.de
Für meinen Vater
Für meine Kinder
Für meine Frau
Eines Tages werde ich in der Theorie leben,
denn dort geht immer alles gut …
1
Der Regen troff von den Dächern und Fassaden, den Autos und Bussen, den Bürgersteigen und Fußgängern. Seit Beginn des Frühlings fiel er nahezu unablässig.
Mia kam von einem Treffen mit ihrem Agenten. Creston war ein Gentleman alter Schule, er sagte stets die Wahrheit, tat dies jedoch mit Takt. Elegant bis in die Ausdrucksweise, war er überall respektiert, und seine scharfen, aber nie verletzenden Bemerkungen wurden bei Dinnerpartys oft zitiert. Mia war sein Schützling, was im grausamen und oft rücksichtslosen Filmbusiness als unschätzbares Privileg gelten konnte.
An diesem Tag hatte er sich in einer Privatvorführung Mias neuen Film angesehen, und da sie ihn zu solchen Anlässen nie begleiten durfte, hatte sie in seinem Büro auf ihn gewartet.
Nachdem er seinen Regenmantel abgelegt hatte, hatte Creston es sich in seinem Sessel bequem gemacht und Mia nicht länger auf die Folter gespannt.
»Etwas Action, eine Prise Romantik, die Szenen geschickt um einen zu dünnen Plot konstruiert, aber wen schert das heute noch? … Das wird ein Riesenerfolg!«
Mia kannte Creston gut genug, um zu wissen, dass er nicht mehr dazu sagen würde.
Sie selbst sei wundervoll, fuhr er fort, ein wenig zu oft nackt, darauf müsse man das nächste Mal besser achten und nicht alle naselang ihren Hintern zeigen. Er werde ein Auge darauf haben, im Interesse ihrer Karriere, man würde als Schauspielerin ja so schnell in eine Schublade gesteckt.
»Sagen Sie mir frei heraus, was Sie von dem Film halten, Creston.«
»Du spielst fantastisch, und das ist schon eine Herausforderung angesichts dieser Rolle. Sicher kann man nicht immer nur Filme drehen, in denen die Leute den Herbst zwischen drei Seitensprüngen, zwei Ehebrüchen und einer Tasse Tee verbringen. Das hier ist ein Actionfilm, die Kamera bewegt sich viel, die Figuren ebenfalls … mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
»Die Wahrheit, Creston!«
»Es ist ein Scheißfilm, meine Liebe, ein schöner Scheißfilm, der die Kinokassen füllen wird, weil du und dein Mann die Hauptrollen spielen. Das allein ist es schon wert – und nur das, übrigens. Die Presse wird es lieben, euch gemeinsam auf der Leinwand zu sehen, und noch mehr wird sie es lieben, dass du ihn dabei in den Schatten stellst. Glaube mir, ich sage das nicht, um dir zu schmeicheln, sondern weil es offensichtlich ist.«
»Im Alltag gibt er den Ton an«, gab Mia mit einem matten Lächeln zurück.
Creston strich sich nachdenklich über den Bart. »Wie geht es euch als Paar?«
»Falls wir noch eins sind …«
»Vorsicht, Mia, keine Dummheiten.«
»Was für Dummheiten?«
»Du hast mich genau verstanden. Ist es denn so schlimm?«
»Der Dreh hat uns einander nicht gerade nähergebracht.«
»Das ist genau das, was ich jetzt nicht hören möchte, zumindest bis zum Filmstart. Der Erfolg dieses Meisterwerks basiert allein auf eurem Zusammenspiel, im Kino wie im Leben.«
»Haben Sie neue Drehbücher für mich?«
»Einige.«
»Creston, ich würde gern ins Ausland gehen, weit weg von London und seinem ewigen Grau. Ich möchte eine intelligente, sensible Rolle spielen, Dinge hören, die mich berühren, mich zum Lachen bringen, Gefühle teilen, und wenn es nur in einem ganz kleinen Film ist.«
»Und ich hätte gern, dass mein alter Jaguar niemals kaputtgeht, aber in Wahrheit nennt mich mein Automechaniker schon längst beim Vornamen. Ich habe alles darangesetzt, dir eine Karriere aufzubauen, du hast in England ein Riesenpublikum, Fans, die dafür bezahlen würden, dich das Telefonbuch vorlesen zu hören, und langsam beginnt man, dich überall auf dem Kontinent zu schätzen. In Anbetracht der Marktlage sind deine Gagen unverschämt hoch, und wenn dieser Film so erfolgreich wird, wie ich erwarte, wirst du bald die am besten dotierte Schauspielerin deiner Generation sein. Also, hab ein wenig Geduld, bitte. Sind wir uns einig? In ein paar Wochen rauschen die amerikanischen Angebote herein wie dieser Londoner Dauerregen. Du wirst bei den ganz Großen mitspielen.«
»Den großen Närrinnen, die lachen, obwohl sie traurig sind?«
Creston richtete sich in seinem Sessel auf und hüstelte. »Diesen und anderen, die glücklich sind. Und nun möchte ich diese Trauermiene nicht mehr sehen, Mia«, fügte er strenger hinzu. »Nach den Interviews wird es euch wieder besser gehen. Ihr werdet so viel lächeln müssen während der Promotiontour, dass es am Ende abfärbt.«
Mia trat ans Bücherregal, öffnete das Zigarettenkästchen, das dort stand, und nahm sich eine heraus.
»Du weißt, dass ich es nicht leiden kann, wenn man in meinem Büro raucht.«
»Warum haben Sie dann Zigaretten hier?«
»Für Notfälle.«
Mia sah Creston an und setzte sich wieder, die unangezündete Zigarette zwischen den Lippen. »Ich glaube, er betrügt mich«, sagte sie.
»Wer wird heutzutage nicht auf die ein oder andere Weise betrogen?«, gab er zurück, während er seine Post durchsah.
»Das ist überhaupt nicht komisch.«
Creston unterbrach seine Lektüre. »Tut er es gelegentlich oder die ganze Zeit?«
»Ändert das etwas?«
»Und du, bist du ihm nie untreu geworden?«
»Nein. Na ja, ein Mal, ein Kuss. Mein Filmpartner küsste wunderbar, und ich konnte es in dem Moment gut gebrauchen. Außerdem wirkte die Szene dadurch echter, das ist nicht wirklich untreu, oder?«
»Die Intention zählt. In welchem Film war das?«, fragte Creston mit hochgezogener Augenbraue.
Mia sah aus dem Fenster, und ihr Agent seufzte.
»Gut, nehmen wir an, dass er dich betrügt. Welche Bedeutung hat das schon, wenn ihr euch nicht mehr liebt?«
»Er ist es, der mich nicht mehr liebt. Ich liebe ihn noch.«
Creston öffnete seine große Schreibtischschublade, holte einen Aschenbecher heraus und riss ein Streichholz an. Mia nahm einen tiefen Zug, und er fragte sich, ob sie blinzelte, weil ihr der Rauch in die Augen stieg, hütete sich aber, ihr diese Frage zu stellen.
»Er war der Star und du eine Anfängerin. Er hat sich als der große Pygmalion gefühlt, doch dann hat seine Schülerin den Meister überholt. Ein herber Schlag für sein Ego. Vorsicht mit der Asche, ich hänge sehr an meinem Teppich.«
»Sagen Sie das nicht, das ist nicht wahr.«
»Und ob es wahr ist. Ich behaupte ja nicht, er sei ein schlechter Schauspieler, aber …«
»Aber was?«
»Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, wir reden später darüber. Ich habe noch Termine.«
Creston umrundete den Schreibtisch, nahm Mia behutsam die Zigarette aus der Hand und drückte sie im Aschenbecher aus. Dann legte er ihr einen Arm um die Schultern und schob sie zur Tür. »Bald wirst du spielen, wo es dir gefällt, New York, Los Angeles, Rom. Bis dahin mach keine Dummheiten! Einen Monat, das ist alles, worum ich dich bitte, deine Zukunft hängt davon ab. Versprichst du es mir?«
Vor Crestons Büro hatte Mia ein Taxi zur Oxford Street genommen. Immer wenn sie niedergeschlagen war, und das war in den letzten Wochen mehr als einmal vorgekommen, ging sie auf dieser pulsierenden Geschäftsstraße spazieren.
In den Gängen eines Kaufhauses hatte sie versucht, David zu erreichen, war jedoch nur an die Mailbox geraten.
Was trieb er an diesem Nachmittag? Wo steckte er seit zwei Tagen? Zwei Tage und zwei Nächte ohne ein einziges Lebenszeichen, abgesehen von der lakonischen Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu Hause: Er wolle auf dem Land etwas ausspannen, sie solle sich keine Sorgen machen. Sie tat genau das Gegenteil.
Zurück in ihrer Wohnung, hatte Mia beschlossen, sich am Riemen zu reißen. David sollte nichts von ihrem Kummer mitbekommen. Sie würde Haltung bewahren, ihn nicht einmal erahnen lassen, welch trostlose Gedanken sie während seiner Abwesenheit geplagt hatten, und vor allem würde sie keinerlei Fragen stellen.
Eine Freundin hatte Mia gebeten, sie zur Eröffnung eines Restaurants zu begleiten. Also beschloss sie, sich richtig in Schale zu werfen. Warum sollte sie David nicht auch ein bisschen eifersüchtig machen? Außerdem war es immer noch besser, von Unbekannten umgeben zu sein, als allein zu Hause Trübsal zu blasen.
Das Lokal war riesig, die Musik zu laut, der Saal brechend voll. Es war unmöglich, sich zu unterhalten oder auch nur einen Schritt zu tun, ohne jemanden zu berühren. Wer kann nur Gefallen an so einer Veranstaltung finden?, dachte sie, ehe sie sich ins Getümmel stürzte.
Am Eingang empfing sie ein Blitzlichtgewitter. Darum also war ihre Freundin so erpicht darauf gewesen, dass sie sie begleitete. Sie wollte sich auf den Celebrity-Seiten der Hochglanzmagazine wiederfinden, einmal vom flüchtigen Hauch des Ruhms gestreift werden. Mein Gott, David, warum lässt du mich an so einem Ort alleine rumstehen? Das werde ich dir hundertfach heimzahlen, Monsieur Ich-muss-mal-ausspannen.
Ihr Telefon klingelte, eine unterdrückte Nummer – um diese Zeit, das konnte nur er sein. Wie sollte sie ihn in diesem Tohuwabohu verstehen? Wenn ich Scharfschütze wäre, würde ich den DJ umlegen, dachte sie.
Sie sah sich suchend um: Sie befand sich genau zwischen Eingang und Küche. Die Menge schob sie langsam in Richtung Küche, doch sie beschloss, sich gegen den Strom durchzukämpfen. Sie nahm das Gespräch an und schrie: »Leg nicht auf!« Na bravo, meine Liebe, ich dachte, du wolltest ganz cool bleiben.
Sich eine Bresche schlagen, die Schnepfe auf ihren High Heels und den Tollpatsch zu ihren Füßen beiseiteschieben. Der skelettösen Bohnenstange, die sich rekelt wie ein Aal, auf den Zeh treten und um den Schönling herumdribbeln, der sie ins Visier genommen hat, viel Spaß, mein Junge, die sieht wirklich äußerst unterhaltsam aus. Nur noch zehn Schritte bis zur Tür.
»Bleib dran, David!« Halt die Klappe, dumme Kuh.
Den Türsteher mit Blicken anflehen, dass er ihr hilft, hier herauszukommen.
Endlich draußen, auf der vergleichsweise ruhigen Straße, an der frischen Luft. Nur weg von diesen Menschentrauben, die warten, um in die Hölle eingelassen zu werden.
»David?«
»Wo bist du?«
»Auf einer Veranstaltung …« Wie kann er es wagen, diese Frage zu stellen?
»Amüsierst du dich, Liebling?«
Heuchler! »Ja, es ist ganz lustig …« Wo hast du den Unsinn her!
»Und du«, Blödmann, »wo bist du …« Seit zwei Tagen?
»Auf dem Weg nach Hause. Kommst du bald?«
»Ich bin im Taxi …« Ein Taxi finden, schnell ein Taxi.
»Ich dachte, du bist auf einer Veranstaltung?«
»Ich war gerade am Gehen, als du angerufen hast.«
»Dann kommst du wahrscheinlich vor mir an. Wenn du müde bist, warte nicht auf mich, es ist überall Stau, selbst um diese Uhrzeit. London ist wirklich unmöglich geworden.«
Du bist unmöglich geworden! Wie kannst du mir sagen, dass ich nicht auf dich warten soll? Seit zwei Tagen tue ich nichts anderes, als auf dich zu warten.
»Ich lass das Licht an.«
»Wunderbar, ich küss dich, bis gleich.«
Ein schillernder Gehweg, Pärchen unter Regenschirmen …
… und ich, einsam wie der letzte Trottel. Film oder nicht, morgen ändere ich mein Leben. Nein, nicht morgen, gleich heute Abend!
2
PARIS, ZWEI TAGE SPÄTER.
»Warum passt grundsätzlich immer erst der letzte Schlüssel ins Schloss?«, schimpfte Mia.
»Weil im Leben einfach nichts passt, sonst wäre es hier im Treppenhaus ja auch nicht stockfinster«, gab Daisy zurück, während sie versuchte, das Schlüsselloch so gut es ging mit ihrem Handy zu beleuchten.
»Ich will mich nie wieder in die Idealvorstellung eines Menschen verlieben, ich möchte eine Realität, die mir entspricht. Ich möchte Gegenwart, nur noch Gegenwart.«
»Und ich möchte eine etwas weniger unsichere Zukunft.« Daisy seufzte. »Bis dahin, gib mir die Schlüssel, wenn du es nicht hinkriegst, mein Akku ist fast leer.«
Der letzte Schlüssel passte tatsächlich. In der Wohnung betätigte Daisy den Lichtschalter, doch alles blieb dunkel.
»Es scheint im ganzen Gebäude kein Licht zu geben.«
»Genau wie in meinem Leben«, bekräftigte Mia.
»Wir wollen mal nicht übertreiben.«
»Ich kann mir und anderen einfach nichts vormachen«, begann Mia wieder in einem Mitleid heischenden Ton, doch Daisy kannte sie zu gut, um darauf hereinzufallen.
»Erzähl keinen Quatsch, du bist eine talentierte Schauspielerin, es ist dein Job, anderen etwas vorzumachen … Ich hatte doch irgendwo Kerzen, warte mal, wenn jetzt nur mein Handy nicht …«
Der Bildschirm des Telefons erlosch.
»Und wenn ich einfach allen sage, sie können mich mal?«, flüsterte Mia.
»Schon mal darüber nachgedacht, mir zu helfen?«
»Sicher, aber man sieht wirklich überhaupt nichts.«
»Es beruhigt mich, dass dir das auffällt!«
Daisy tastete sich vorwärts, erfühlte den Tisch, umrundete ihn, stieß dabei einen Stuhl um und erreichte endlich schimpfend den Küchentresen. Immer noch tastend fand sie den Herd, nahm die Streichhölzer vom Regal und entzündete eine der Gasflammen.
Ein bläulicher Schimmer erhellte schwach die nähere Umgebung.
Mia setzte sich, während Daisy jedes einzelne Schubfach durchwühlte. Duftkerzen waren bei ihr tabu – eine Folge ihrer gastronomischen Leidenschaft: Nichts durfte das Aroma eines Gerichts stören. Da, wo bei manchen Lokalen das Schild »Keine Zahlung mit Kreditkarte« an der Ladentür hing, hätte sie gerne die Aufschrift »Kein Zutritt für zu stark parfümierte Leute« angebracht.
Endlich fand sie die Kerzen und zündete sie an. Der Schein der Flammen ließ den Raum aus der Dunkelheit treten.
Daisys Wohnung bestand im Wesentlichen aus ihrer Küche. Sie war der eigentliche Wohnraum und alleine größer als die beiden angrenzenden Schlafzimmer und das dazwischenliegende Bad zusammen. Auf der Arbeitsfläche drängten sich dicht an dicht in Terrakottatöpfen Thymian-, Lorbeer-, Rosmarinpflanzen, Dill, Oregano, Melisse und ein kleiner Gorria-Strauch. Diese Küche war Daisys Labor, in dem sie sich austobte und entspannte. Hier kreierte sie ihre Gerichte, ehe sie die Gäste ihres kleinen, zwei Schritte von ihrer Wohnung entfernt auf dem Montmartre gelegenen Restaurants damit beglückte.
Daisy war zu keinem großen Koch in die Lehre gegangen, sie hatte ihr Metier von ihrer Familie und von ihrer Heimat, der Provence, gelernt. Als Kind hatte sie, während ihre Altersgenossen im Schatten der Pinien und Olivenbäume spielten, ihrer Mutter zugesehen und sich jeden ihrer Handgriffe angeeignet.
Im Garten, der ihr Haus umgab, lernte sie, Kräuter auszulesen, und am Herd, sie zu kombinieren. Kochen war ihr Leben.
»Hast du Hunger?«, fragte sie Mia.
»Ja, vielleicht. Na ja, ich weiß nicht.«
Daisy nahm einen Teller mit Pfifferlingen und einen Bund glatte Petersilie aus dem Kühlschrank und erleichterte den Knoblauchzopf, der zu ihrer Rechten hing, um eine Knolle.
»Muss da Knoblauch ran?«, fragte Mia.
»Hast du heute Abend noch vor, jemanden zu küssen?«, gab Daisy zurück und begann, die Petersilie mit dem Messer fein zu hacken. »Erzählst du mir, was passiert ist, während ich koche?«
Mia holte tief Luft. »Es ist nichts passiert«, sagte sie dann.
»Du tauchst kurz vor Feierabend in meinem Bistro auf, mit einer Reisetasche unterm Arm und einem Gesicht, als wäre gerade die Welt untergegangen, und hast seitdem nicht einen Moment aufgehört zu jammern. Ich schließe daraus, dass du nicht hergekommen bist, weil du so große Sehnsucht nach mir hattest.«
»Irgendwie ist wirklich gerade die Welt untergegangen.«
Daisy hielt in ihren Vorbereitungen inne. »Ich bitte dich, Mia! Du kannst mir gern alles erzählen, aber ohne Seufzer und Theater, hier sind weit und breit keine Kameras.«
»Du würdest einen exzellenten Regisseur abgeben.«
»Kann schon sein. Ich höre.«
Und während Daisy in der Küche zugange war, berichtete Mia ihr, was sie hergeführt hatte.
Als plötzlich das Licht wieder anging, zuckten die beiden Freundinnen erschrocken zusammen. Daisy betätigte den Dimmer, um die grelle Beleuchtung etwas zu dämpfen, dann ließ sie die elektrischen Jalousien hochfahren, die einen herrlichen Blick über Paris freigaben.
Mia trat ans Fenster und fragte: »Hast du Zigaretten?«
»Auf dem kleinen Tisch da, keine Ahnung, wer die hier vergessen hat.«
»An Liebhabern scheint es dir ja nicht zu mangeln, wenn du nicht mal weißt, wer seine Zigaretten bei dir liegen lässt.«
»Wenn du rauchen möchtest, geh auf die Terrasse!«
»Kommst du mit raus?«
»Habe ich eine Wahl, wenn ich die Fortsetzung hören möchte?«
»Du hast also das Licht im Schlafzimmer angelassen?«, fragte Daisy und schenkte ihnen Wein nach.
»Ja, aber nicht im Ankleideraum. Da habe ich einen Hocker in den Weg gestellt, damit er sich daran stößt.«
»Ihr habt einen Ankleideraum?«, fragte Daisy. »Und dann?«
»Ich habe so getan, als schliefe ich. Er hat sich im Bad ausgezogen und lange geduscht, ehe er ins Bett kam und das Licht ausgemacht hat. Ich habe gewartet, dass er mir einen Kuss gibt und irgendetwas sagt. Aber er hatte wohl nicht genug ausgespannt: Er ist sofort eingeschlafen.«
»Gut, möchtest du meine Meinung hören? Egal, ich sage sie dir sowieso. Du bist mit einem Mistkerl verheiratet. Die simple, aber entscheidende Frage ist, ob seine Qualitäten ausreichen, um seine Fehler liebenswert erscheinen zu lassen. Nein, die eigentliche Frage ist, warum du in ihn verliebt bist, wenn er dich doch so unglücklich macht. Es sei denn, du bist genau deshalb in ihn verliebt, weil er dich unglücklich macht.«
»Ich war sehr glücklich mit ihm, am Anfang.«
»Das hoffe ich! Wenn es nicht mal mehr am Anfang schön wäre, würden die Traumprinzen aus der Literatur verschwinden und romantische Komödien kämen ins Regal für die Horrorfilme. Sieh mich nicht so an, Mia! Falls du wissen möchtest, ob er dich betrügt, musst du ihn das fragen, nicht mich. Und leg die Zigarette weg, du rauchst zu viel. Das ist Tabak, keine Liebe.«
Tränen rannen über Mias Wangen.
Daisy setzte sich neben sie, um sie in die Arme zu nehmen. »Wein dich ruhig aus, weine, wenn dich das erleichtert. Liebeskummer tut schrecklich weh, aber das wahre Unglück ist, wenn das Leben sich in eine Wüste verwandelt.«
Mia hatte sich geschworen, auf jeden Fall Haltung zu bewahren, aber Daisy gegenüber war es etwas anderes. Eine so lange, innige Freundschaft wie ihre, das war schon eher eine Wahlverwandtschaft. »Was meinst du mit Wüste?«, fragte sie und fuhr sich mit den Händen über die Wangen.
»Ist das deine Art, mich endlich zu fragen, wie es mir geht?«
»Fühlst du dich auch einsam? Meinst du, wir werden jemals glücklich sein?«
»Mir scheint, du warst es die letzten Jahre, und nicht zu knapp. Du bist eine bekannte und anerkannte Schauspielerin, ein Film bringt dir mehr ein, als ich in meinem ganzen Leben verdienen werde, und du bist … verheiratet. Hast du die Abendnachrichten gesehen? Wir haben wirklich kein Recht, uns zu beklagen.«
»Wieso, was ist passiert?«
»Keine Ahnung, aber wenn es eine gute Nachricht gäbe, wären die Leute auf der Straße, um sie zu feiern. Wie waren meine Pfifferlinge?«
»Deine Küche ist das beste Antidepressivum der Welt.«
»Was meinst du, warum ich Köchin werden wollte? Und jetzt ab ins Bett! Morgen rufe ich deinen Idioten von einem Ehemann an, sage ihm, dass du über alles im Bilde bist, dass er die tollste Frau überhaupt betrogen hat und dass du ihn verlässt, nicht für einen anderen, sondern wegen seiner eigenen Dummheit. Wenn ich erst aufgelegt habe, wird er derjenige sein, der unglücklich ist.«
»Das willst du nicht wirklich tun?«
»Nein, du wirst es tun.«
»Obwohl ich große Lust dazu hätte, ich kann nicht.«
»Warum? Willst du lieber weiter in diesem billigen Melodram mitspielen?«
»Weil wir die Stars in einem Film sind, der viel Geld gekostet hat und der in einem Monat in die Kinos kommt. Ich muss auch auf der Straße meine Schauspielkunst beweisen, in der wunderbaren Rolle der erfüllten Ehefrau – das perfekte Glück. Wenn die Leute die Wahrheit über David und mich erführen, wer würde uns das glückliche Paar auf der Leinwand dann noch abnehmen? Das würde mir der Produzent niemals verzeihen, ebenso wenig wie mein Agent. Und außerdem: Ich bin bereit, der Tatsache ins Gesicht zu sehen, dass ich betrogen wurde, aber auf die öffentliche Demütigung kann ich gern verzichten.«
»Sicher, man muss ganz schön abgebrüht sein, um diese Rolle erfolgreich durchzuziehen.«
»Was glaubst du, warum ich hier bin? Ich wäre niemals in der Lage, das länger durchzuhalten. Du musst mich bei dir verstecken.«
»Wie lange?«
»So lange du mich erträgst.«
3
An der Porte de la Chapelle angekommen, querte ein Saab Cabriolet drei Spuren, ohne sich um den Protest der anderen Fahrer zu scheren, und bog von der Périphérique auf die A1 Richtung Roissy-Charles-de-Gaulle ein.
»Warum muss eigentlich immer nur ich ihn vom Flughafen abholen? Dreißig Jahre sind wir schon befreundet, und ich könnte schwören, dass er sich noch nie revanchiert hat. Ich bin einfach zu nett, das ist das Problem! Ohne mich wären sie nicht mal zusammen. Ein kleines Dankeschön hat noch keinen umgebracht, aber nein, nichts!«, grummelte Paul mit einem Blick in den Rückspiegel. »Sicher, ich bin Jos Patenonkel, aber wen hätten sie auch sonst nehmen sollen? Pilguez? Nie im Leben, außerdem ist seine Frau schon die Patentante. Genau das meine ich, ich bin immer behilflich, ich verbringe mein Leben damit, behilflich zu sein. Ich sage ja nicht, dass ich das nicht gern mache, aber es wäre auch schön, wenn ab und zu mal einer an mich denken könnte. Lauren, zum Beispiel, als ich in San Francisco gewohnt habe, hat sie mich da jemals einer Assistenzärztin vorgestellt? Nicht, dass es daran im Krankenhaus gemangelt hätte, ebenso wenig wie an Fach- oder sonstigen Ärztinnen. Aber nein, nie! Sicher, die haben furchtbare Arbeitszeiten. Wenn der Typ hinter mir noch einmal aufblendet, lege ich eine Vollbremsung hin! Ich muss aufhören, Selbstgespräche zu führen. Arthur hatte ja damals gute Gründe, aber ich … mich werden sie wirklich noch für verrückt halten. Nur, mit wem soll ich sonst reden? Mit meinen Romanfiguren? Nein, ich muss wirklich damit aufhören, ich bin doch kein Opa. Alte Leute reden immer mit sich selbst. Wenn sie denn alleine sind, ansonsten reden sie miteinander oder mit ihren Kindern. Werde ich jemals Kinder haben? Auch ich werde langsam älter.«
Er betrachtete sich wieder im Rückspiegel.
Der Saab hielt an der voll automatisierten Schranke, Paul zog sein Ticket aus der Maschine. »Danke«, sagte er, während er die Scheibe hochfahren ließ.
Der Flug AF 83 wurde auf der großen Ankunftstafel als pünktlich angezeigt. Paul konnte es kaum erwarten.
Die ersten Reisenden kamen heraus, nur eine kleine Gruppe, vielleicht die Passagiere der ersten Klasse.
Nachdem sein erster Roman erschienen war, hatte Paul beschlossen, die Architektenkarriere vorerst auf Eis zu legen.
Das Schreiben hatte ihm ein ungeahntes Gefühl der Freiheit verschafft. Eines Tages hatte er damit angefangen, ohne groß nachzudenken, einfach weil er Gefallen daran gefunden hatte, Seite um Seite mit Buchstaben zu bedecken. Beinahe dreihundert Seiten, um genau zu sein, bis er das Wort »Ende« tippte. Jeden Abend zog die Geschichte ihn in ihren Bann, er ging fast gar nicht mehr aus und aß meist vor seinem Computer. Nacht für Nacht verbrachte Paul in einer erdachten Welt, glücklich in Gesellschaft seiner Figuren, die seine Freunde geworden waren. Unter seiner Feder wurde alles möglich.
Als der Text fertig war, ließ er ihn einfach auf seinem Schreibtisch liegen.
Ein paar Wochen später, nach einem harmlosen Abend, an dem Arthur und Lauren sich zu ihm zum Essen eingeladen hatten, nahm sein Leben eine jähe Wendung. Im Lauf des Abends hatte Lauren einen Anruf von der Krankenhausleitung bekommen und Paul gebeten, sich in sein Arbeitszimmer zurückziehen zu dürfen, damit sie ungestört telefonieren könne.
Gelangweilt von den Ausführungen ihres Chefs, hatte sie das Manuskript bemerkt und begonnen, es zu überfliegen, dann so gebannt gelesen, dass sie den Faden des Gesprächs verlor. Als Professor Krauss endlich auflegte, las sie einfach weiter. Eine gute Stunde später streckte Paul den Kopf herein, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei, und fand sie lächelnd in die Lektüre vertieft.
»Störe ich?«
Sie zuckte erschrocken zusammen. »Paul! Das ist großartig, weißt du das?«
»Findest du nicht, du hättest vorher fragen sollen, ob du es lesen darfst?«
»Darf ich es mit nach Hause nehmen, um es fertig zu lesen?«
»Normale Menschen beantworten eine Frage nicht mit einer anderen Frage.«
»Aber das hast du doch selbst gerade getan. Darf ich?«
»Gefällt es dir wirklich?«, hatte sich Paul zweifelnd versichert.
»Ja, wirklich«, hatte Lauren geantwortet, während sie die Seiten zusammenschob.
Dann hatte sie das Manuskript genommen und war ohne ein weiteres Wort zurück ins Wohnzimmer gegangen.
»Habe ich etwa ja gesagt?«, beharrte er, als er sie eingeholt hatte, um ihr dann ins Ohr zu flüstern, sie solle bloß Arthur nichts davon erzählen.
»Ja gesagt, wozu?«, fragte dieser.
»Ich weiß nicht mehr«, gab Lauren zurück. »Gehen wir?«
Ehe Paul reagieren konnte, standen die beiden schon auf dem Treppenabsatz und bedankten sich für den schönen Abend.
Weitere Reisende kamen nun aus dem Ankunftsbereich, diesmal waren es schon deutlich mehr, aber die beiden, derentwegen er hier war, waren nicht darunter.
»Was treiben die bloß! Müssen die erst noch das Flugzeug putzen? Was vermisse ich eigentlich am meisten, seit ich in Paris lebe? Das Haus in Carmel … Wie habe ich es geliebt, die Wochenenden dort mit ihnen zu verbringen, den Sonnenuntergang am Strand zu genießen. Sieben Jahre sind es nun bald. Kinder, wie die Zeit vergeht! Sie fehlen mir am meisten. Klar, es gibt Videoanrufe, schön und gut, aber es ist doch etwas ganz anderes, einen geliebten Menschen in den Arm zu nehmen, seine Gegenwart zu spüren. Ich muss mit Lauren über meine Migräneanfälle sprechen, das ist ihr Gebiet. Oder nein, sie wird mir nur alle möglichen Untersuchungen verordnen, das ist lächerlich, nicht jeder Kopfschmerz ist gleich das erste Anzeichen eines Hirntumors. Na ja, mal sehen. Kommen die jetzt bald mal raus da?«
Green Street war menschenleer. Nachdem Arthur den Ford Kombi geparkt hatte, hielt er Lauren die Beifahrertür auf und sie stiegen zusammen die Treppen ins oberste Stockwerk des viktorianischen Hauses hinauf, in dem sie wohnten. Es gab sicher nur wenige Paare, die dasselbe Appartement geteilt hatten, bevor sie einander kennenlernten, aber das ist eine andere Geschichte …
Arthur musste noch ein paar Skizzen für einen wichtigen Kunden anfertigen. Er küsste Lauren und entschuldigte sich, ehe er sich an seinen Architektenschreibtisch setzte. Lauren schlüpfte sofort unter ihre Decke und vertiefte sich wieder in Pauls Manuskript.
Mehrmals meinte Arthur, sie auf der anderen Seite der dünnen Trennwand lachen zu hören. Jedes Mal warf er einen Blick auf seine Uhr, ehe er den Stift wieder zur Hand nahm. Als er, später in der Nacht, Schluchzer hörte, stand er auf, öffnete behutsam die Schlafzimmertür und fand seine Frau in die Lektüre versunken vor.
»Was hast du?«, fragte er besorgt.
»Nichts«, antwortete sie, legte rasch das Manuskript beiseite und angelte sich ein Papiertaschentuch vom Nachttisch.
»Willst du mir nicht sagen, warum du traurig bist?«
»Ich bin nicht traurig.«
»Sieht es schlecht aus für einen deiner Patienten?«
»Im Gegenteil, mir scheint eher, er hat die besten Aussichten.«
»Und darum weinst du?«
»Kommst du ins Bett?«
»Nicht, ehe du mir nicht gesagt hast, was dich nicht schlafen lässt.«
»Ich weiß nicht, ob ich das darf.«
Arthur baute sich vor Lauren auf, entschlossen, ihr die Wahrheit zu entlocken.
»Es geht um Paul«, gab sie endlich nach.
»Ist er krank?«
»Nein, er hat geschrieben …«
»Was hat er geschrieben?«
»Ich muss ihn um Erlaubnis bitten, ehe ich …«
»Paul und ich haben keinerlei Geheimnisse voreinander.«
»Scheinbar doch. Bitte, besteh nicht darauf. Komm ins Bett, es ist spät.«
Am nächsten Abend rief Lauren Paul bei der Arbeit an.
»Ich muss mit dir reden. Ich habe in einer halben Stunde Dienstschluss, komm in die Cafeteria gegenüber dem Krankenhaus.«
Verunsichert zog Paul sich die Jacke über und verließ sein Büro. Vor dem Aufzug traf er auf Arthur.
»Wo gehst du hin?«, fragte Paul.
»Ich hole meine Frau von der Arbeit ab.«
»Kann ich mitkommen?«
»Bist du krank, Paul?«
»Ich erklär’s dir unterwegs, los, beeil dich, du alte Tranfunzel!«
Als Lauren aus dem Krankenhaus auf den Parkplatz trat, stürzte Paul gleich auf sie zu. Arthur zögerte einen Moment, ehe er ihm folgte.
»Wir sehen uns zu Hause«, sagte Lauren zu ihm. »Paul und ich haben etwas zu besprechen.«
Sie ließen Arthur einfach stehen und verschwanden in der Cafeteria.
»Hast du es zu Ende gelesen?«, fragte Paul, nachdem sie bestellt hatten.
»Ja, gestern Nacht.«
»Und, hat es dir gefallen?«
»Sehr. Ich habe einiges wiedererkannt, was mich betrifft.«
»Ich weiß, ich hätte dich um Erlaubnis bitten sollen.«
»Das hättest du tun können.«
»Es wird sowieso niemand außer dir die Geschichte je zu Gesicht bekommen.«
»Genau darüber wollte ich mit dir sprechen. Du musst sie an einen Verlag schicken. Ich bin sicher, sie werden sie veröffentlichen.«
Paul wollte davon nichts wissen. Erstens vermochte er sich beim besten Willen nicht vorzustellen, dass sein Manuskript einen Verlag interessieren könnte, und selbst wenn, war ihm der Gedanke unerträglich, dass Fremde lesen würden, was er geschrieben hatte.
Lauren führte alle erdenklichen Argumente an, aber Paul blieb stur. Als sie ihn zum Abschied um die Erlaubnis bat, Arthur in das Geheimnis einzuweihen, tat Paul, als hätte er es nicht gehört.
Zu Hause angekommen, gab sie Arthur das Manuskript. »Hier«, sagte sie. »Wir sprechen darüber, wenn du es gelesen hast.«
Nun war es Lauren, die Arthur immer wieder lachen hörte oder in der Stille die Rührung vernahm, die ihn beim Lesen bestimmter Passagen ergriff. Drei Stunden später kam er zu ihr ins Wohnzimmer.
»Und?«
»Er hat sich offenbar von unserer Geschichte inspirieren lassen, aber es hat mir sehr gut gefallen.«
»Ich habe ihm geraten, es an einen Verlag zu schicken, doch davon wollte er nichts wissen.«
»Das kann ich verstehen.«
Pauls Manuskript veröffentlicht zu sehen, wurde für die junge Ärztin zur fixen Idee. Sobald sie ihn traf oder am Telefon sprach, stellte sie ihm immer dieselbe Frage: Hatte er sein Manuskript weggeschickt? Paul verneinte jedes Mal und bat sie, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Eines späten Sonntagnachmittags klingelte Pauls Handy. Es meldete sich nicht Lauren, sondern ein Lektor von Simon & Schuster.
»Sehr witzig, Arthur«, hatte Paul genervt ausgestoßen.
Überrascht gab der Anrufer zurück, er habe soeben die Lektüre eines Romans beendet, der ihm sehr gefallen habe, und würde nun gerne den Autor sprechen.
Die Verwechslung zog sich noch eine Weile hin. Überzeugt, Arthur am anderen Ende der Leitung zu haben, reihte Paul eine flapsige Replik an die andere. Zunächst noch amüsiert, schlug der Lektor ihm schließlich vor, ihn am nächsten Tag in seinem Büro aufzusuchen, dann hätte er den Beweis, dass es sich nicht um einen Scherz handelte. Paul kamen ernste Zweifel.
»Wie kommen Sie an mein Manuskript?«
»Ein Freund hat es mir in Ihrem Namen gegeben.«
Nachdem der Mann ihm die Verlagsadresse genannt hatte, legte er auf. Paul begann, in seiner Wohnung herumzutigern. Als er es nicht länger aushielt, sprang er in seinen Saab und fuhr quer durch die Stadt ins San Francisco Memorial Hospital.
In der Notaufnahme verlangte er, Lauren zu sprechen, und zwar so-fort! Die Schwester entgegnete, er sehe nicht besonders krank aus. Paul warf ihr einen finsteren Blick zu. Notfälle seien im Leben nicht immer medizinischer Natur, sie habe genau zwei Sekunden, um Lauren anzupiepsen, sonst werde er ein Riesentheater machen. Die Schwester gab dem Sicherheitsbeamten ein Zeichen. Zum Glück erschien in diesem Moment Lauren, bemerkte Paul und ging erfreut auf ihn zu.
»Was treibst du denn hier?«
»Hast du einen Freund, der Lektor ist?«
»Nein«, antwortete sie, den Blick auf ihre Schuhspitzen geheftet.
»Hat Arthur einen Freund, der Lektor ist?«
»Auch nicht«, murmelte sie.
»Ist das schon wieder einer von euren Streichen?«
»Diesmal nicht.«
»Was hast du getan?«
»Nichts Schlimmes. Die Entscheidung liegt immer noch ganz bei dir.«
»Kannst du mir das jetzt mal erklären?«
»Der Freund einer meiner Kollegen ist Lektor. Ich habe ihm das Manuskript gegeben, um eine unabhängige Meinung zu hören.«
»Dazu hattest du kein Recht.«
»Vor einiger Zeit hast du auch einmal in meinem Namen gehandelt, ohne mich vorher um Erlaubnis zu bitten, und heute bin ich dir dankbar dafür. Ich habe dem Schicksal ein bisschen auf die Sprünge geholfen, na und? Wie gesagt, die Entscheidung liegt allein bei dir.«
»Welche Entscheidung?«
»Andere an dem teilhaben zu lassen, was du geschrieben hast. Du bist nicht Hemingway, aber deine Geschichte kann den Menschen, die sie lesen, ein wenig Freude bringen. Das ist schon mal nicht schlecht, in diesen Zeiten. Ich muss jetzt arbeiten.«
Ehe sie in der Notaufnahme verschwand, drehte sie sich noch einmal um. »Komm bloß nicht auf die Idee, dich zu bedanken.«
»Mich zu bedanken, wofür?«
»Triff dich mit diesem Mann, Paul, sei kein Dickkopf. Arthur habe ich übrigens noch nichts davon erzählt.«
Paul traf den Lektor, dem sein Manuskript gefallen hatte, und erlag seinem Angebot. Jedes Mal, wenn er ihn das Wort »Roman« aussprechen hörte, hatte er größte Mühe, es mit jener Geschichte in Verbindung zu bringen, die in einer Zeit, in der es ihm nicht besonders gut gegangen war, seine Nächte erfüllt hatte.
Sechs Monate später erschien der Roman. Ein paar Tage darauf fand sich Paul im Aufzug mit zwei Arbeitskollegen wieder, die sein Buch in Händen hielten. Sie beglückwünschten ihn, während Paul wie versteinert nur darauf wartete, dass sie ausstiegen, um sofort wieder den Knopf ins Erdgeschoss zu drücken. Er floh in das Café, in dem er jeden Morgen frühstückte, doch dort bat ihn die Bedienung, das Exemplar zu signieren, das sie gekauft hatte. Pauls Hand zitterte, als er die Widmung schrieb. Er zahlte, fuhr nach Hause und begann, den Roman zu lesen. Mit jeder Seite, die er umblätterte, versank er etwas tiefer in seinem Sessel und hoffte, ganz mit ihm zu verschmelzen und nie wieder daraus aufstehen zu müssen. Er hatte in dieser Erzählung einen Teil seiner Selbst preisgegeben, seiner Kindheit, seiner Träume, Hoffnungen und Enttäuschungen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, ohne zu ahnen, dass Unbekannte all das eines Tages lesen würden. Oder, noch schlimmer, Leute, die er täglich sah, mit denen er zur Arbeit ging. Paul, der hinter seiner polterigen Gutmütigkeit eine fast krankhafte Scheu verbarg, saß da mit hängenden Armen und nur dem einen einzigen Wunsch, gleich seiner Romanheldin unsichtbar zu werden.
Ihm kam die Idee, alle in Umlauf befindlichen Exemplare zu kaufen. Er schnappte sich das Telefon, doch ehe er seinen Lektor über diesen genialen Plan informieren konnte, beglückwünschte der ihn schon zu dem Artikel, der am Morgen im San Francisco Chronicle erschienen war. Sicher, der Kritiker schone ihn nicht, aber alles in allem gebe das Stück doch eine gute Werbung für ihn ab. Paul legte einfach auf und stürzte zum nächsten Zeitungskiosk. Der Artikel unterstrich die klassischen Anfängerfehler des Romans, lobte den Autor jedoch dafür – und das war das Schlimmste –, dass er den Vorwurf der Gefühlsduselei nicht gefürchtet habe. In einer Zeit, in der Zynismus mehr gelte als Intelligenz, sei dies vielleicht als ein couragierter Akt des Widerstands zu werten, hatte der Journalist geendet. Paul glaubte zu sterben. Nicht eines raschen Todes, der ihm, offen gestanden, Erleichterung gebracht hätte, sondern langsam und qualvoll.
Sein Handy klingelte ununterbrochen, unbekannte Nummern erschienen auf dem Display, er drückte alle Anrufe weg. Schließlich nahm er den Akku heraus und verschwand vom Radar. Er ging nicht zum Cocktailempfang seines Verlegers, setzte die ganze Woche keinen Fuß ins Büro, blieb einfach zu Hause. Eines Abends reichte der Pizza-Lieferant ihm ein Exemplar seines Romans und bat ihn, es zu signieren. Er habe, fügte er hinzu, Paul am Vortag in den Abendnachrichten erkannt. Nach diesem Zwischenfall, der sich mit der Kassiererin des Lebensmittelladens wiederholte, verkroch sich Paul endgültig in seiner Wohnung. Bis Arthur kam, um ihn mit Gewalt aus seinem Bau zu holen. Im Gegensatz zu Paul freute sich Arthur über dessen Erfolg und brachte ihm gute Neuigkeiten.
Seine einzigartige Geschichte hatte die Aufmerksamkeit der Medien erregt. Maureen, die Assistentin des Architekturbüros, hatte für ihn liebevoll eine Pressemappe zusammengestellt. Die meisten ihrer Kunden hatten das Buch bereits gelesen und angerufen, um ihm zu gratulieren.
Ein Filmproduzent hatte versucht, ihn im Büro zu erreichen, und – dieses Bonbon hatte Arthur sich für den Schluss aufgehoben – in der Buchhandlung Barnes & Noble, deren Stammkunde er war, hatte man ihm gesagt, der Roman verkaufe sich wie geschnitten Brot. Bisher beschränke sich der Erfolg noch auf das Silicon Valley, aber wenn es so weitergehe, werde er sich bald aufs ganze Land ausdehnen, davon war der Buchhändler überzeugt …
Auf der Terrasse des Restaurants, in das Arthur seinen Freund geschleift hatte, teilte er ihm mit, es sei Zeit, sich zu rasieren, seine äußere Erscheinung ein wenig auf Vordermann zu bringen, den Verleger zurückzurufen, der im Büro zwanzig Nachrichten für ihn hinterlassen hatte, und vor allem das Glück zu genießen, das das Leben ihm bot, anstatt mit Leichenbittermiene herumzulaufen.
Paul schwieg einen langen Moment, holte tief Luft und dachte, dass es seine Lage nur verschlimmern würde, wenn er auch noch in aller Öffentlichkeit in Ohnmacht fiele. Als eine Frau, die ihn erkannt hatte, vom Nachbartisch herüberkam und fragte, ob sein Roman autobiografisch sei, gab ihm das den Rest.
In feierlichem Tonfall erklärte er Arthur, dass er nach reiflicher Überlegung in der vergangenen Woche beschlossen habe, das Architekturbüro in seine Obhut zu geben. Jetzt sei er selbst an der Reihe, sich ein Sabbatjahr zu gönnen.
»Um was zu tun?«, fragte Arthur betroffen.
Verschwinden, dachte Paul, schob jedoch einen anderen, unwiderlegbaren Grund vor, um sich die Moralpredigt seines Freundes zu ersparen: Er wolle einen zweiten Roman schreiben oder es wenigstens versuchen. Was konnte Arthur dem entgegensetzen?
»Wenn du das wirklich möchtest. Ich habe nicht vergessen, dass du unser Büro allein geführt hast, als es mir schlecht ging und ich mich für eine Weile nach Paris zurückgezogen habe. Wohin willst du gehen?«
Paul, der nicht die leiseste Ahnung hatte, antwortete, ohne zu überlegen: »Nach Paris. Du hast mir so von den Wundern der Lichterstadt vorgeschwärmt, ihren Bistros, ihren Brücken, den Vierteln voller Leben und den Pariserinnen … Wer weiß, mit ein bisschen Glück ist die charmante Floristin vielleicht noch da, von der du ebenfalls ganz begeistert warst.«
»Vielleicht«, gab Arthur trocken zurück. »Aber es war auch nicht alles so wunderbar, wie ich es dargestellt habe.«
»Weil du damals nicht besonders gut drauf warst. Ich dagegen brauche nur mal einen Tapetenwechsel … um meine Kreativität anzuregen, verstehst du.«
»Sicher, wenn es darum geht! Wann willst du abreisen?«
»Lass uns heute mit Pilguez und seiner Frau bei euch zu Abend essen. So kann ich euch allen Auf Wiedersehen sagen, und morgen geht’s ab nach Frankreich, auf ins schöne Leben!«
Pauls Vorhaben bekümmerte Arthur sehr. Er wollte ihm widersprechen, dass sein Entschluss überstürzt sei, dass es besser für ihr Büro wäre, wenn er ein paar Monate warten würde, ehe er seinen Plan in die Tat umsetzte, doch seine Freundschaft behielt die Oberhand. Wenn sich ihm, Arthur, eine solche Chance böte, würde Paul alles tun, um ihn zu unterstützen, das hatte er in der Vergangenheit schon einmal bewiesen. Was die Arbeit anging, das würde er schon hinbekommen.
Nachdem er sich von Arthur verabschiedet hatte, kehrte Paul in einer Art Schockzustand nach Hause zurück. Wie war er denn auf diese Schnapsidee gekommen? Nach Paris zu ziehen, ganz allein!
Mit großen Schritten durchmaß er seine Wohnung und suchte dabei fieberhaft nach Argumenten für diese verrückte und unmögliche Eskapade. Wenn Arthur es getan hatte, warum nicht auch er? Das zweite, weitaus schlagkräftigere Pro waren die Pariserinnen, das dritte, dass er tatsächlich versuchen könnte, noch einen Roman zu schreiben … den er nicht veröffentlichen würde … oder nur im Ausland. Sodass er nach San Francisco zurückkehren könnte, sobald die Aufregung sich gelegt hätte. Am Ende verschmolzen all diese Argumente zu einem einzigen: Schriftsteller … Amerikaner … Junggeselle … in Paris!
Und in Paris, wo er seit nunmehr sieben Jahren lebte, hatte Paul fünf weitere Romane geschrieben. Der Abenteuer mit den Pariserinnen müde – deren Stimmungsschwankungen ihm unbegreiflich blieben –, hatte er sich für ein Dasein als Single entschieden, oder vielleicht hatte sich auch das Singledasein für ihn entschieden.
Seine fünf Romane erzielten nicht den Erfolg, den er sich am Ende erhofft hatte, zumindest nicht in Europa oder den Vereinigten Staaten. Doch aus unerfindlichen Gründen waren sie in Asien, und speziell in Korea, Riesenbestseller.
Seit einigen Jahren hatte Paul eine Liebschaft mit seiner koreanischen Übersetzerin. Zweimal im Jahr kam Kyong ihn für genau eine Woche besuchen. Er war verliebter, als er sich eingestehen mochte. Das einzige Problem war, dass er bei ihr stets um Worte verlegen war.
Kyong liebte das Schweigen, Paul war es ein Graus. Er fragte sich häufig, ob er nicht zu schreiben begonnen hatte, um die Stille auszulöschen, so wie man weiße Flecken mit Tinte übermalt. Den Weg vom und zum Flughafen eingeschlossen, verbrachten Kyong und er vierzehneinhalb Tage pro Jahr miteinander. Wenn Kyong bei ihm war, betrachtete er sie stundenlang, ohne sagen zu können, ob sie wirklich schön war oder ob nur er es so empfand. Ihr Gesicht war so eigenartig, ihr Blick so durchdringend, wenn sie sich liebten, dass er sich manchmal fragte, ob er nicht mit einer Außerirdischen schlief.
Obwohl sie sich selten sahen, hatten sie ihre Gewohnheiten. Wenn Kyong in Paris war, liebte sie es, ins Kino in der Rue Apollinaire zu gehen – als wäre der Saal wichtiger als der Film, der dort gezeigt wurde –, über die Passerelle des Arts zu schlendern und bei Berthillon ein Eis zu essen, selbst im tiefsten Winter. Sie las gern französische Zeitungen, verbrachte viel Zeit in Buchläden, bummelte durchs Marais oder durch die Fußgängerzonen des Les-Halles-Viertels und ging die Rue de Belleville hoch, obwohl der Weg hinunter viel weniger beschwerlich gewesen wäre. An schönen Tagen trank sie ihren Tee am liebsten im Garten des Musée de la Vie Romantique in der Rue Chaptal, sie besah sich die Sammlung des Musée Camondo in der Rue de Monceau und liebte es, wenn Paul ihr Blumen schenkte und sie auf dem Nachhauseweg zu Sträußen band. Es gefiel ihr, bei Vannaut, der unten in Pauls Haus einen kleinen Laden hatte, Käse auszuwählen, sie mochte von Paul angesehen und begehrt werden, seine Bücher mochte sie weniger, aber die waren das Bindeglied, das sie zusammengebracht hatte.
Kyong beschäftigte Pauls Gedanken auch, wenn sie nicht da war, dann vielleicht sogar noch mehr. Warum fand er sie so reizvoll, warum fehlte sie ihm so sehr?
Sobald er ein Manuskript beendet hatte, kreuzte sie bei ihm auf, frisch und strahlend und ganz offenbar immun gegen die Müdigkeit, die normale Menschen nach einem elfstündigen Flug niederstreckte. Nach einem bescheidenen Frühstück, bestehend aus Eiern mit Mayonnaise, einem gebutterten Brot und einem Panaché – vielleicht war das ja die Geheimwaffe gegen Jetlag, eine Idee, die noch ihrer wissenschaftlichen Überprüfung harrte –, nach diesem Frühstück, das sie unverrückbar im Café an der Ecke Rue de Bretagne und Rue Charlot einzunehmen wünschte – er musste sich informieren, woher die Hühner kamen, die die Mayonnaise-Eier des Café le Marché legten, sollte dieses eines Tages dichtmachen –, gingen sie hoch in Pauls Wohnung. Kyong duschte, ehe sie es sich an seinem Schreibtisch bequem machte, um das Manuskript zu lesen. Paul setzte sich ihr gegenüber ans Fußende des Betts und sah ihr dabei zu. Was stets völlige Zeitverschwendung war, da sie während der gesamten Lektüre keine einzige Regung zeigte. Ihm schien es immer, als würde ihre Beurteilung seines Romans darüber entscheiden, ob sie anschließend zu ihm kam. Als ob sich in seinem Fall das »auf Wunsch gerne mehr« verwandelte in ein »wenn mir deine Kapitel gefallen, gerne mehr«. Was Paul so sehnlich erwartete, war also weniger das Urteil derjenigen seiner Übersetzerinnen, der er durch die üppig fließenden koreanischen Tantiemen einen substanziellen Teil seines Einkommens verdankte, sondern der Moment, an dem sie sich ihm hingeben würde.
Er liebte es, zu schreiben und im Ausland zu leben, liebte Kyongs halbjährliche Besuche, und wäre eine gewisse Einsamkeit, die er den Rest des Jahres empfand, nicht der Preis dafür gewesen, wäre ihm sein neues Leben nahezu perfekt erschienen.
Die Schiebetür glitt zur Seite, und Paul seufzte erleichtert auf.
Arthur schob einen Gepäckwagen vor sich her, während Lauren ihm aufgeregt zuwinkte.