Buch
Martin Milne wird bereits seit drei Tagen vermisst, als Sergeant Logan McRae und sein Team eine Leiche finden. Der Tote liegt nackt, gefesselt und mit einer Plastiktüte über dem Kopf in einem Wald nahe der schottischen Küste. Doch es ist nicht Milne – es ist dessen Geschäftspartner. Ganz in der Nähe hatte man kurz zuvor die Studentin Emily Benton erschlagen aufgefunden. Hängen die Fälle womöglich zusammen? Die Ermittlungen leitet DCI Roberta Steel, die mit ihren Leuten aus Aberdeen in das Küstenstädtchen Banff kommt. Steel war früher McRaes Vorgesetzte, und das Verhältnis der beiden ist äußerst angespannt. Nun müssen sie sich zusammenraufen, um die beiden Morde aufzuklären. Oder sind es längst drei Morde? Von Martin Milne fehlt nämlich noch immer jedes Lebenszeichen …
Weitere Informationen zu Stuart MacBride sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Deutsche Erstausgabe August 2017
Copyright © der Originalausgabe
2016 by Stuart MacBride
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagfoto: © Getty Images/Liam Mcgrady/EyeEm
Neonschrift: Network
Redaktion: Eva Wagner
AB · Herstellung: kw
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-19791-9
V003
www.goldmann-verlag.de
Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz
Für
Twinkle, Brenda, Dolly Bellfield
und Jean.
– Drei Tage zuvor –
Er rollt auf die Seite, das Blut schießt aus seiner zertrümmerten Nase, rötet die Zähne. Blubbernde Bläschen in den Mundwinkeln. Dann ein Sprühregen scharlachroter Tröpfchen, als der Stiefel noch einmal mit voller Wucht seinen entblößten Bauch trifft. Und noch mal. Und noch mal.
Er zuckt nur hilflos. Kann sich nicht einmal wehren – wie auch, mit hinter dem Rücken gefesselten Händen? Er kann nur bluten und stöhnen, nackt auf dem feuchten Waldboden.
Seine Lippen bewegen sich, aber zwischen den eingeschlagenen Zähnen quellen nur breiige Wortfetzen hervor. »Gnnnnnnfnnnn … mmmmm … nnnngh …«
»Kapierst du jetzt?« Ein Stiefel trampelt auf seinen Kopf. Es knirscht und knackt. »Kapierst du jetzt, was passiert?«
Blut tropft auf den Teppich aus rostbraunen Kiefernnadeln, macht ihn dunkel und glänzend. »Nnnnngh …«
Eine andere Stimme: leise, zitternd. »Bitte. Bitte, ich tu auch alles, was von mir verlangt wird. Bitte.«
»Das will ich verdammt noch mal meinen.«
Ein schwarzer Plastik-Müllbeutel entfaltet sich knisternd und flattert einen Moment lang über ihm wie der Flügel einer riesigen Fledermaus. Dann wird er ihm mit einem Ruck über den Kopf gezogen. Das ratschende Geräusch von Paketklebeband zerreißt die Stille.
Und jetzt endlich bringt er die Luft zum Schreien auf.
– Mittwoch, Tagschicht –
In stillem Gedenken an die (noch nicht) Toten
1
Wo zum Teufel blieb Syd?
Der Song trudelte aus, und der DJ war wieder da. »War das nicht fantastisch? Gleich haben wir J. C. Williams am Mikrofon, die über ihr neuestes Buch, PC Munro und die Katze der Giftmörderin, sprechen wird. Aber jetzt hören wir erst mal Stacy mit den Elf-Uhr-Nachrichten und dem Wetter. Stacy?«
Logan schraubte den Verschluss auf seine Thermoskanne, legte sie aufs Armaturenbrett und schlang dann die Hände um den Plastikbecher. Die Wärme drang in seine Finger, fast bis in die durchgefrorenen Knochen. Dampfkringel mischten sich mit seinem Atem und beschlugen die Windschutzscheibe.
»Danke, Bill. Die Suche nach dem vermissten Geschäftsmann Martin Milne aus Peterhead wird heute fortgesetzt …«
Er schmiegte sich in seinen Sitz und verkroch sich tiefer in der Stichschutzweste wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Drückte die Knie zusammen und rieb sie ein bisschen aneinander, um die kratzige schwarze Hose Marke Police Scotland auch so richtig schön zu spüren. Nahm einen Schluck aus dem Thermosbecher.
Tee. Heiß und milchig. Manna vom Himmel. Na ja, eigentlich aus der Teeküche im Revier, aber es kam fast aufs Gleiche raus.
»… um seine Sicherheit besorgt, nachdem sein Wagen verlassen auf einem Rastplatz nahe Portsoy gefunden wurde …«
Logan wischte ein Guckloch in die Scheibe des Beifahrerfensters.
Kahle Bäume ragten zu beiden Seiten des Feldwegs auf. Dunkelgraues Wasser stand in den unregelmäßig geformten Schlaglöchern. Die kahlen Stängel alter Brennnesseln ragten aus dem gelblichen Gras wie die Speere einer längst untergegangenen Armee. Alles eingehüllt in den mattgrauen Kokon eines regnerischen Februartags.
Etwas Helles bewegte sich in der Ferne, dort, wo die Eichen und Buchen den regelmäßigen Reihen von Kiefern wichen – ein signalgelber Fleck, der gleich wieder vom Wald verschluckt wurde.
»… die Null-Eins-Null anzurufen, wenn Sie sachdienliche Informationen haben. Ein jugendlicher Autofahrer, der mit seinem Wagen in das Schaufenster des Poundland in Peterhead gerast war, hatte die Promillegrenze um das Sechsfache überschritten …«
Logans Handy, das neben der Thermoskanne lag, gab einen Glockenton von sich und rutschte vibrierend ein paar Zentimeter nach rechts. Er schnappte es, bevor es vom Armaturenbrett fallen konnte, und drückte mit dem Daumen auf das SMS-Icon.
Laz, ruf mich zurück – asap!
Keine Mätzchen, es ist dringend!
Wo zur Hölle steckst du?!?
DCI Steel wieder mal, diese verdammte Nervensäge. Schon das dritte Mal für heute.
»Lass mich in Ruhe. Ich bin bei der Arbeit, okay? Falls du nichts dagegen hast.«
Er löschte die Nachricht und starrte grimmig das leere Display an.
»… bei der Party zum achtzehnten Geburtstag eines Freundes acht Pints Cider getrunken …«
Zwei Scheinwerfer blitzten im Rückspiegel auf – die Kavallerie war eingetroffen. Und hatte hoffentlich Kekse mitgebracht.
»… bleibt in Untersuchungshaft. Die Leiche einer jungen Frau, die vor zehn Tagen in einem Waldstück bei Inverurie gefunden wurde, konnte jetzt zweifelsfrei identifiziert werden …«
Logan nahm noch einen Schluck Tee, dann klinkte er die Tür auf und kletterte hinaus, während ein verbeulter grüner Renault mit einem Ruck hinter ihm anhielt und mit quietschenden Scheibenwischern stehen blieb.
Alles roch nach Erde und Schimmel und Grünzeug.
»… Emily Benton, eine neunzehnjährige Philosophiestudentin aus Aberdeenshire …«
Die Tür des Renault öffnete sich mit einem Klacken, und ein Mann stieg aus, bekleidet mit einer schmuddeligen Cargohose und einer wattierten schwarzen Fleecejacke. Breites Grinsen im Gesicht, kurze graue Haare, die eine Landebahn aus rosig glänzender Kopfhaut säumten. Sein Atem dampfte in der nieseligen Morgenluft. »Ist ’n guter Tag dafür.« Er zog eine Baseballkappe aus der Gesäßtasche – schwarz, mit dem aufgenähten Schriftzug »Polizei« über einem Streifen mit schwarz-weißem Schachbrettmuster – und setzte sie auf, um seine kahle Stelle vor dem Regen zu schützen.
Logan prostete ihm mit seinem Thermosbecher zu. »Syd. Haben Sie Ihre vierbeinigen Kollegen mitgebracht?«
»Emily wurde zuletzt lebend gesehen, als sie am Samstagabend das Formartine House Hotel verließ …«
Syd bückte sich noch einmal in den Wagen und holte eine dicke lederne Leine hervor, die er sich um den Hals legte, unter den Armen durchzog und hinter dem Rücken festschnallte wie ein Paar Hosenträger Marke Eigenbau. »Ich dachte, Sie hätten diese Ecke schon mit Ihren Helferlein abgesucht.«
»… dringend gesucht wird in diesem Zusammenhang der Fahrer eines roten Ford Fiesta, der in der Nähe gesehen wurde.«
»Haben nichts gefunden.« Achselzucken. »Danke, dass Sie gekommen sind.«
»Keine Ursache.« Syd machte eine wegwerfende Handbewegung. »Irgendwann hat man auch Herr der Ringe mal über.« Er ging zum Heck des Wagens und öffnete die Klappe. Ein Golden Retriever sprang hinaus auf den Feldweg, wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, hüpfte um sein Herrchen herum und reckte die Nase zu ihm hinauf, das Maul weit aufgesperrt. »Na, willst du uns zeigen, was für ein guter Schnüffler du bist, Lusso? Hm? Ja, das willst du, nicht wahr?« Er kraulte den Hund hinter den Ohren. »Wird dir guttun, zur Abwechslung mal wieder den Hintern hochzukriegen und ein bisschen was zu arbeiten, du alter Fettkloß.«
»… einen Zeugenaufruf herausgegeben. So, liebe Hörer, haben Sie schon Pläne für den Valentinstag? Da gibt es nämlich einen geschäftstüchtigen Teenager, der seine Reservierung für ein romantisches Dinner für zwei versteigert, und zwar im Restaurant Silver Darling in –«
Logan schaltete das Radio aus und kippte den letzten Schluck Tee hinunter. Er zog eine gefütterte Warnjacke über seine Stichschutzweste. Dann griff er in den Seesack, der zwischen Vordersitz und Rückbank eingeklemmt war, und fischte einen Beweismittelbeutel aus braunem Papier heraus. »Bitte sehr.«
»Socken?«
»Noch besser.« Logan öffnete die Tüte und zog ein rotes T-Shirt hervor. Der Name der Firma war mit Farbflecken gesprenkelt: »Geirrød – Container-Management und Logistik«.
»Na ja, man kann nie wissen. Seit wir uns zur Ruhe gesetzt haben, hat Lusso nichts Anspruchsvolleres mehr ausgeschnüffelt als die Hinterteile anderer Hunde.« Syd entrollte eine Art kleine gelbe Signalweste, zog sie dem Golden Retriever über den Kopf und befestigte die Riemen hinter den Vorderbeinen des Hundes. Dann nahm er das T-Shirt, knüllte es zu einem Ballen zusammen, ging in die Hocke und hielt es Lusso unter die glänzende schwarze Nase. »Schön kräftig schnuppern.«
Logan zog ein Paar gefütterte Lederhandschuhe an. »Sind wir so weit?«
»Zu allen Schandtaten bereit.« Syd stand auf und schwenkte dann einen Arm im Bogen, bis er in den Wald auf der einen Seite des Wegs zeigte. »Auf geht’s, Lusso – such!«
Der Hund sprang eine Weile hin und her, dann senkte er die Nase auf die Erde und setzte sich schnüffelnd in Bewegung.
Sie folgten Lusso über den feuchten Laubteppich in das Dunkel des Waldes, duckten sich unter Ästen hindurch und stapften geräuschvoll durch spröde beigefarbene Büschel von abgestorbenem Farn.
Logan deutete mit einem Nicken auf den Hund. »Was schätzen Sie?«
»Ein Schuss ins Blaue, um ehrlich zu sein.« Syd steckte die Hände in die Hosentaschen. »Wenn Sie hinter Leichen, Bargeld oder Sprengstoff her sind, ist Lusso der Hund Ihrer Wahl, aber diese Fährtenarbeit …« Er lutschte an seinen Zähnen. »Na ja, man kann nie wissen.«
Der braune Moschusgeruch der Erde stieg auf und hüllte sie ein, wurde schärfer und antiseptischer, als sie die Grenze zwischen Laub- und Nadelwald überschritten. Allerdings machten nur die Wipfel der immergrünen Bäume ihrem Namen Ehre – hier unten in Bodennähe war alles schwarz und grau und struppig.
Weiter über eine Lichtung mit Büscheln von Heidekraut, gesäumt von Brombeergestrüpp.
Abwärts in eine kleine Schlucht.
Sie kletterten über einen umgestürzten Baum, dessen Wurzeln wie ein haariger Schild in die Luft ragten.
Dann ging es wieder steil bergauf. Keuchend und schnaufend kamen sie oben an.
Aber besonders beeindruckend war die Aussicht von der Anhöhe nicht – nur noch mehr dunkle Baumstämme, die sich den Hang hinunterzogen und irgendwann im Nebel und Nieselregen verschwammen.
Syd schniefte. »Ist natürlich ein Problem, dass Lusso schon so lange nicht mehr richtig gearbeitet hat – da denkt er vielleicht, dass wir einfach nur einen Spaziergang machen.«
Auch wieder wahr.
»Na ja, wenigstens haben wir –« Logans Handy dudelte mit seinem anonymen Klingelton los. Er schloss die Augen und sackte ein wenig in sich zusammen. Dann richtete er sich wieder auf und lächelte gequält. »Tut mir leid. Ich komm dann nach.«
Er fischte das Telefon aus der Tasche, während Syd den Abhang hinunterkraxelte, immer dem wedelnden Schwanz nach.
»McRae.«
Eine Frauenstimme. »Logan? Hier ist Louise von Sunny Glen.«
Und Logan sackte noch ein bisschen weiter zusammen.
Es knackte und raschelte, als Syd sich durch ein Dickicht aus toten Weidenröschen kämpfte, dann war es wieder still. Irgendwo in der Ferne gurrte eine Taube.
»Logan? Hallo?«
Tief durchgeatmet. »Louise.«
Ein Seufzer drang aus dem Hörer. »Ich weiß, es ist nicht leicht, Logan. Es ist einfach nur furchtbar, aber wir können nichts mehr für sie tun. Wenn es etwas gäbe, ich würde es tun, das wissen Sie.«
Natürlich wusste er das. Das machte es aber auch nicht leichter.
»Schon klar …« Er starrte auf seine Stiefel hinunter. Auf die Büschel von graugrünem Gras, die zwischen den schmutzigen Kiefernnadeln hervorlugten. »Wann?«
»Das liegt ganz bei Ihnen. Samantha ist … Sie waren der beste Freund, den sie sich hätte wünschen können, aber es ist nun mal so weit. Ihre Zeit ist gekommen.« Wieder ein Seufzer. »Es tut mir leid, Logan. Glauben Sie mir.«
»Okay. Ja, ich verstehe.«
»Wir haben eine Therapeutin, eine Spezialistin, mit der Sie reden können. Sie kann Ihnen helfen.«
Wieder blitzte ein neongelber Fleck irgendwo zur Rechten auf und verschwand gleich darauf im Unterholz.
Vier Piepser ertönten unter seiner Warnjacke, gefolgt von einer gedämpften Stimme. »Shire Uniform Sieben, sprechbereit?«
Logan zog den Reißverschluss auf und tastete unter der Weste nach dem Airwave-Handapparat. Er ließ ihn eingehängt, während er die Sprechtaste drückte. »Augenblick noch, Tufty.«
Dann hielt er das Handy wieder ans Ohr.
Louise redete immer noch: »… in Ordnung? Logan? Hallo?«
»Tut mir leid. Ich bin gerade ziemlich beschäftigt.«
»Sie müssen es nicht sofort entscheiden. Wir wollen Sie nicht zu irgendetwas drängen. Lassen Sie sich Zeit.«
»Ja, ich verstehe schon.« Die Stichschutzweste hielt ihn fest in ihrer Klett-Umarmung, quetschte seinen Brustkorb zusammen und sorgte dafür, dass alles schön drinnenblieb. »Freitag. Wir machen es am Freitag.«
»Sind Sie sicher? Wie gesagt, Sie müssen nicht –«
»Nein. Freitag, der Dreizehnte. Das hätte Samantha gefallen.«
»Es tut mir leid, Logan.«
»Ja, mir auch.« Er legte auf und ließ das Handy wieder in die Innentasche gleiten. Dann starrte er in den schweren grauen Himmel auf.
Freitag.
Als er ausatmete, war es, als ob jemand Gewichte an seine Lungenflügel und seinen Magen gehängt hätte, die alles nach unten zogen.
Noch einmal durchgeatmet.
Und noch einmal.
Und noch einmal.
Los, komm.
Er blinzelte. Rieb sich mit der Hand übers Gesicht, wischte einen Film aus kaltem Wasser weg und gab sich einen Ruck.
Dann drückte er wieder die Sprechtaste seines Airwave. »Tufty – bin sprechbereit.«
»Sarge, wir haben noch mal die Runde gedreht. Keine Spur von Milne. Sollen wir mal den Bach absuchen?«
»Warum nicht?«
Die Wassertropfen waren wie ein langsamer Trommelwirbel auf dem Waldboden.
»Sarge?«
»Was?«
»Können wir bald Schluss machen? Ich meine nur, weil Calamity schon ganz blau und lila im Gesicht ist. Das letzte Mal, dass ich jemanden mit so einer Hautfarbe gesehen habe, war im Obduktionssaal. Ist wirklich arschkalt hier draußen.«
»Sag ihr, wir hängen noch eine Stunde dran, und dann geht’s heim aufs Revier zu Tee und Keksen.«
»Sarge.«
Logan schlitterte den Abhang hinunter und folgte Syds Spur zwischen den Bäumen hindurch.
Die Stille lag wie eine Decke über dem Wald – die Nadeln unter seinen Füßen und die Äste über seinem Kopf verschluckten alle Geräusche bis auf die, die er selbst machte. Noch nicht einmal Mittag, und es wurde bereits dunkel. Die Wolken, die oben vorbeizogen, hatten sich schwarz verfärbt und schienen tiefer zu sinken. Als ob sie sich anschickten, von dem frostigen Nieseln auf sintflutartigen Schüttregen umzuschalten. War eine Stunde nicht ein bisschen übertrieben? Wäre vielleicht besser, einzupacken und es morgen noch mal zu versuchen.
Und danach wäre es dann das Problem von jemand anderem.
Ein Ping und ein Summen an seinem Brustkorb signalisierten den Eingang einer weiteren SMS auf dem Handy. Wozu überhaupt nachsehen? Es war bestimmt Steel. Es war immer Steel.
Wah-wah-wah, wieso hast du mich nicht zurückgerufen? Was ich von dir will, ist viel wichtiger als alles, was du gerade tust. Wah-wah-wah …
Er ließ das Handy stecken und ging weiter.
Es war nicht allzu schwierig, Syd zu folgen. Seine Stiefel hatten einen Trampelpfad durch die Nadeln gezogen, und die Schicht darunter war deutlich dunkler als die an der Oberfläche. Der Pfad schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch, führte im Zickzack bergab und bog links ab. Und dann –
Hatte da jemand gerufen?
Ja. Irgendwo ziemlich weit weg, aber trotzdem nicht zu überhören.
Logan blieb stehen und formte die Hände zu einem improvisierten Megafon. »SYD?«
Wieder ein Ruf.
Nein, immer noch kein Wort verstanden.
Die Nadeln rutschten unter Logans Füßen weg, als er den Hang hinunter- und auf der anderen Seite wieder hinaufrannte. »SYD?«
Auf der Kuppe angelangt hielt er inne. Ringsum Felsbrocken und Waldkiefern, vor ihm ein steiler Abhang, übersät mit Hunderten von kreisförmigen Stümpfen gefällter Bäume, dazwischen Geröll und Stechginster. Am Fuß des Hangs führte ein Waldweg entlang, jenseits davon wuchs ebenfalls Ginster.
Syd stand vor dem Gebüsch und wedelte mit den Armen wie ein Fluglotse, der eine landende Maschine dirigiert. Lusso lag zu seinen Füßen am Boden und wischte mit seinem haarigen gelben Schwanz über die Erde.
Logan versuchte es noch einmal. »WAS GIBT’S?«
Was immer Syd zurückrief, wurde von Wind und Regen verschluckt.
»Verdammter Mist.« Blieb ihm also nichts anderes übrig. Logan machte sich an den Abstieg, setzte die Füße immer quer zum Hang auf und machte einen Bogen um die dunkelgrünen Ginsternadeln. Ruderte wild mit den Armen, als ein Brocken Erde unter ihm wegrutschte und er das Gleichgewicht zu verlieren drohte.
Los, weiter …
Seine Sohlen klatschten auf den Weg, und er bremste schlitternd ab, knapp vor der Kante eines Entwässerungsgrabens, randvoll mit rostfarbenem Wasser.
Syd schniefte. »Na endlich.«
»Was?«
Er hob einen Finger und deutete auf eine mit Stechginster überwucherte Stelle. »Da drin.«
Logan strich seine Warnjacke glatt, dann stieg er über den Graben auf die andere Seite. »Wo? Ich kann nichts –«
»Noch ein Stück weiter.«
Noch zwei Schritte die Böschung hinauf und … Okay.
Da war eine halbkreisförmige Mulde im Boden, mit einem flechtenbewachsenen Granitbrocken an einem Ende. Die Stängel von abgestorbenen Unkräutern ragten durch das vergilbte Gras auf. Und genau in der Mitte lag flach auf dem Rücken der Körper eines Mannes. Nackt, die Hände hinter dem Rücken, ein Bein am Knie abgeknickt, sodass die Fußsohle das andere Schienbein berührte.
Sein Rumpf war ein Batikmuster aus lila, blauen und gelben Flecken mit grünlichem Saum. Die Blutergüsse verteilten sich unregelmäßig über die blassgraue, mit Regenwasser benetzte Haut.
Syds Stimme kam von der anderen Seite des Gebüschs. »Ist er das?«
Logan blies die Backen auf. »Schwer zu sagen …«
Der Kopf war mit schwarzem Plastik bedeckt – sah nach einer Mülltüte aus, die mit silberfarbenem Klebeband um den Hals befestigt war. Da war auch ein merkwürdiger Geruch – vielleicht Bleichmittel?
Die Farbe der Schamhaare war ein unnatürliches gelbliches Weiß. Könnte also Bleichmittel sein.
Wahrscheinlich Bleichmittel.
Da hatte jemand seine Spuren verwischt, hatte sicherstellen wollen, dass er keine identifizierbaren DNS- oder sonstige Spuren hinterließ. Tja, viel Glück auch. Irgendetwas blieb immer zurück.
Und da war noch ein anderer Geruch, fast verdeckt von dem des Bleichmittels – irgendetwas widerlich Süßes. Wie eine Portion Hackfleisch mit überschrittenem Verfallsdatum, die man in einer Ecke des Kühlschranks vergessen hat.
Eindeutig tot.
Logan zog den Reißverschluss seiner Jacke auf und griff nach dem Airwave. Tippte die Nummer der Einsatzleitung ein. »Shire Uniform Sieben an Bravo India, sprechbereit?«
Inspector McGregors Stimme tönte aus dem Lautsprecher. Sie klang ein wenig vernuschelt, als ob sie gerade etwas im Mund hätte. »Schießen Sie los, Logan.«
»Chefin? Ich glaube, wir haben gerade Martin Milne gefunden …«
2
»Sarge?« Tufty zog die Augenbrauen zusammen und riss die wasserblauen Augen weit auf. Der Hundeblick wurde komplettiert durch einen Schmollmund, der seine Wangen noch tiefer in das knochige Gesicht sinken ließ. »Nur für alle Fälle: Jemand plant für Montag eine Überraschungsparty, ja?«
Regentropfen klatschten auf den Schirm seiner Mütze, zischten durch die Nadeln der Bäume und kräuselten die Pfützen zu ihren Füßen.
»Montag?« Logan ging unter einer Kiefer in Deckung, wo das Schutzdach aus Nadeln den gröbsten Regen abhielt. Oben, zwischen den Ästen, berührte der Himmel fast die Baumwipfel. Schwer und dunkel.
»Na ja, eigentlich Dienstagmorgen. Ich weiß, dass die Nachtschicht bis sieben Uhr geht, und da wird kaum noch ein Lokal offen haben, aber irgendjemand organisiert doch was, nicht wahr?«
Logan tippte Calamitys Dienstnummer in sein Airwave. »Constable Nicholson, sprechbereit?«
Es knackte im Lautsprecher, dann war ihre Stimme zu hören: »Bin jetzt auf dem Weg zurück, Sarge. Ich habe die Straße an der Abzweigung abgesperrt.«
Tufty zog eine Schulter bis zum Ohr hoch. »Weil, das ist schließlich eine große Sache, nicht wahr? Kommt nicht alle Tage vor, dass man vom Polizeianwärter zum vollwertigen Gesetzeshüter befördert wird.«
»Hast du die Abdeckplane, Calamity?«
»Was soll das denn heißen? Natürlich hab ich die Abdeckplane.«
»Na, dann beeil dich mal. Tufty wird sich noch eine lebensbedrohliche rektale Stiefelvergiftung zuziehen, wenn ich mir sein Genöle noch länger anhören muss.«
Tufty zog einen Flunsch. Dann trat er vorsichtig einen Schritt näher und starrte auf die Leiche hinunter. »Ist doch komisch, oder? Wenn man das Gesicht so verdeckt, macht man den Menschen irgendwie weniger … menschlich. Als ob er gar keine eigene Persönlichkeit mehr hätte.«
»Es ist immer noch ein Mensch.« Logan hängte sein Airwave wieder in den Clip ein. Dann hielt er sich die hohlen Hände an den Mund und blies hinein, füllte den Hohlraum mit warmem Dampf. »Wie lange er wohl schon hier liegt?«
Tufty duckte sich und zwängte sich zwischen den struppigen Zweigen des Baums neben dem von Logan hindurch, bis er mit dem Rücken am Stamm lehnte. »In meiner ersten Woche im Dienst hatten wir diesen Motorradunfall. Eine junge Frau, eigentlich noch ein Mädchen, hatte die Kurve nicht gekriegt und war ungebremst durch einen Stacheldrahtzaun gerast. Hatte keinen Helm auf.«
»Bei dem vielen Regen dürften an der Leiche kaum noch Spuren zu finden sein. Aber vielleicht können wir an der Mülltüte noch Fasern sichern.«
»Hat ihr glatt den Kopf abrasiert.«
Und dann war da das Bleichmittel. Wenn derjenige, der die Leiche damit bearbeitet hatte, es hier an Ort und Stelle getan hatte, dann hatte er vielleicht nicht daran gedacht, sie umzudrehen, um auch an den Rücken zu gelangen. Da könnte sich noch DNS finden, die vor dem Regen und den Elementen geschützt war.
»Hab ewig danach gesucht.« Tufty runzelte die Stirn. »Gefunden hab ich ihn dann irgendwo in den Brennnesseln. Sie hat mit so einem verwirrten Ausdruck im Gesicht zu mir aufgestarrt. Total surreal …«
Der Feldweg war der offenkundige Zugang zum Ablageort. Allerdings waren keine Reifenspuren zu sehen. Also hatte der Täter die Leiche wahrscheinlich vom Wagen hierher getragen. Komisch, dieser ganze Aufwand, wo er ihn doch einfach aus dem Kofferraum hätte kippen können.
Vielleicht war die Straße gesperrt?
Oder vielleicht hatte das Opfer noch gelebt, als sie hier angekommen waren? Vielleicht hatte der Mörder ihn gezwungen, vom Wagen hierher zu Fuß zu gehen? Gott, welche Ängste der Mann ausgestanden haben musste! Nackt, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, wirst du den Waldweg entlanggetrieben, und die ganze Zeit weißt du: Wenn du am Ziel ankommst, bist du tot.
»Jedenfalls haben wir dann die zwei Teile wieder zusammengesetzt, und zack, plötzlich war sie wieder ein Mensch. Hab in meinem ganzen Leben noch nicht so viel gekotzt.« Er schüttelte sich, dann stieß er eine dampfige Atemwolke aus. »Siehst du das? Als Nächstes krieg ich wahrscheinlich Frostbeulen.«
»Du darfst jederzeit gerne die Klappe halten.«
Syd tauchte aus dem Wald hinter ihnen auf, die Hände tief in den Taschen vergraben, während der Golden Retriever gemächlich im Kreis um ihn herumtrabte. »Nichts.«
Logan zuckte mit den Schultern. »War den Versuch wert. Jedenfalls vielen Dank.«
»War nett, zur Abwechslung mal wieder rauszugehen und was zu tun. Das Rentnerleben ist gar nicht so der Hit, wie man immer meint. Ständig gibt’s irgendwas zu tun im Haus und im Garten, wohin man auch schaut …« Er schüttelte sich. »Wie eine Schubkarre – man hat’s immer vor der Nase.«
Lusso trabte zu Tufty hinüber und schnüffelte am Schritt des Constables.
»Ähh …« Tufty drückte sich flach gegen den Baum. »Er beißt doch nicht, oder?«
»Also, wenn ihr mich nicht mehr braucht, pack ich’s dann mal. Die Herrin des Hauses möchte, dass wir in den Baumarkt fahren. Angeblich muss das Gästezimmer neu tapeziert werden.«
»Wir melden uns dann wegen des Protokolls.«
»Und nicht zu vergessen das Bier, das Sie mir schulden.« Syd klatschte in die Hände. »Komm, Lusso, lass den Schniedel von dem armen Burschen in Ruhe. Wir fahren nach Hause.«
Ein Bellen – Tufty zuckte zusammen, dann machte der Golden Retriever kehrt und trottete hinter seinem Herrchen her den Hang hinauf, bis beide im Wald verschwunden waren.
Tufty strich mit der Hand über seinen Hosenlatz, als ob er dem Inhalt versichern wollte, dass der böse Wauwau weg war. Dann schielte er zu dem schweren grauen Himmel auf. »Ob es wohl kalt genug ist für Schnee?«
Wahrscheinlich.
Der Regen fiel.
Und fiel.
Und fiel.
Logan wurde es zu blöd. Er tippte Maggies Nummer in den Apparat. »Sprechbereit, Maggie? Können Sie mir ungefähr sagen, wann die Kollegen hier sind?«
»Soviel ich weiß, sind sie unterwegs, Sergeant McRae.«
»Also … wenn Sie irgendwas hören, sagen Sie uns Bescheid, ja? Es schüttet hier draußen wie aus Eimern.«
Er hängte das Airwave wieder ein, verschränkte die Arme und schob die Hände in die Armlöcher seiner Stichschutzweste.
Tufty machte ein Geräusch wie ein Furzkissen, aus dem die Luft entweicht. »Zum ersten Mal in meinem Leben freue ich mich regelrecht drauf, dass ein Sonderermittlungsteam angetanzt kommt und den Fall übernimmt. Sollen die doch zur Abwechslung mal im Regen rumstehen.« Er stampfte mit den Füßen. »Wie lange braucht man denn von Aberdeen hier rauf? Gehen die vielleicht zu Fuß oder was?«
»Schon vergessen, was ich vorhin über rektale Stiefelvergiftung gesagt habe?«
Und der Regen fiel.
»Noch ein bisschen zu dir rüber …« Logan zog an der Plane. Dann nickte er. »Okay, jetzt mach sie fest.«
Calamity legte einen Stein auf den Rand der blauen Plastikplane. Dann noch einen. Und noch einen. Der Regen hatte ihre schwarze Bobfrisur in wirre Strähnen aufgelöst, die an ihren Wangen klebten und ihr das Aussehen einer klatschnassen Krähe verliehen. Sie schniefte und zog eine behandschuhte Hand unter ihrer spitzen Nase durch. Jedes Mal, wenn sie sich bückte, troff Wasser von der Krempe ihrer Melone und prasselte auf ihre Warnjacke. »Ich kann meine Finger nicht mehr spüren.«
»Nur für alle Fälle – es gibt doch am Dienstagmorgen nach Dienstschluss eine Feier, nicht wahr? Wegen Tuftys Initiation?«
Calamity wuchtete noch einen Stein auf die Plane. »Ich dachte, Isla organisiert was.«
»Sei doch so nett und klär das, ja?« Er zupfte an der Plane und sicherte die letzte Ecke mit einem großen Quarzbrocken. »Wenn wir es nicht machen, wird er monatelang schmollen.«
Sie richtete sich auf und streckte sich, die Hände ins Kreuz gestemmt, während sie ihr improvisiertes Spurensicherungszelt betrachtete. »Was glaubst du – ist es Martin Milne?«
»Ich will’s hoffen.«
»Und wenn er’s nicht ist?«
Logan zog sich wieder unter den Baum zurück, winkte Calamity herbei und holte sein Handy hervor.
Sie schlüpfte unter den Zweigen durch und stellte sich neben ihn, während er durch die Fotos eines nackten Mannes scrollte, der rücklings auf dem Waldboden lag, eine mit Klebeband befestigte Mülltüte über den Kopf gezogen. »Er hat ein besonderes Kennzeichen.« Er zoomte die linke Schulter heran, wo unter dem vielfarbigen Regenbogen aus Blutergüssen gerade so ein Tattoo auszumachen war, und hielt ihr das Telefon hin. »Soll das ein Delfin sein, was denkst du?«
Sie kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schief. »Könnte ein Wal sein …? Nein, schau mal, es hat einen Stoßzahn – das ist ein Narwal.«
»Tatsächlich?« Er nahm das Handy wieder an sich und betrachtete stirnrunzelnd das Foto. »Könnte sein. Hatte Martin Milne ein Tattoo?«
»Weißt du, was ich glaube?« Calamity deutete mit der Schuhspitze auf die Abdeckplane. »Wir haben es mit einem Serienmörder zu tun.«
»Das ist nicht witzig.«
»Soll es auch nicht sein. Aber überleg doch mal – ein toter Mann, irgendwo in der Pampa abgelegt, mit einer Mülltüte über dem Kopf.«
»Calamity –«
»Und es ist auch nicht der erste Fall. Was ist mit dieser Studentin, Emily Sowieso, die vor anderthalb Wochen in einem Wald bei Inverurie tot aufgefunden wurde?« Calamity nickte, wie um sich selbst beizupflichten. »Wer weiß, ob nicht noch Dutzende Leichen in den Wäldern herumliegen, über den ganzen Nordosten verteilt.«
»Hast du wieder skandinavische Krimis geguckt?«
»Ich wette fünf Pfund, dass die Obduktion sexuelle Aktivitäten sowohl vor als auch nach Eintritt des Todes ergeben wird. Deswegen die Mülltüte – er entmenschlicht das Opfer, indem er sein Gesicht verdeckt. Der Täter will nicht, dass das Opfer ihn ansieht, während er sein Ding durchzieht.«
»Jetzt fang du nicht auch noch an. Tufty mit seinem Gerede von wegen ›sieht gar nicht wie ein Mensch aus‹ hat mir schon vollauf gereicht.«
»Meine Rede. Da liegt ein Mordopfer unter der Plane.« Sie zeigte darauf. »Ein Bruder, ein Vater, ein Sohn, ein Ehemann. Ein Mensch mit Hoffnungen und Träumen, wie du und ich. Und wir stehen hier und schwatzen über Tuftys Party. Entmenschlicht – das trifft’s.«
Ah …
Logan steckte sein Handy ein. »Wenn du meinst.«
»Und ich setze noch einen Fünfer darauf, dass wir die nächste Leiche finden, ehe zwei Wochen um sind.«
»Ruf Isla an. Ich will wissen, ob wir irgendwelche vermissten Personen mit einem Narwal-Tattoo am Arm haben.« Er runzelte die Stirn. »Obwohl, nein. Frag sie einfach nur nach Tätowierungen. Egal, ob es ein Delfin, ein Elefant, ein Narwal oder der Papst auf einem Einrad ist – wenn es einen Vermissten mit einem Tattoo am Arm gibt, will ich informiert werden.«
»Sarge.«
»Mit ein bisschen Glück kriegen wir das geklärt, bevor das SET aufkreuzt und alles zertrampelt.«
Calamity griff nach ihrem Airwave. »Constable Nicholson an Constable Anderson, sprechbereit?«
Eine piepsige Stimme tönte aus dem Lautsprecher – sie klang, als ob sie einem kleinen Mädchen gehörte. »Nur zu, Calamity.«
»Isla, kannst du etwas in der Vermisstendatei recherchieren …«
In diesem Moment ertönte ein ohrenbetäubender Pfiff. Oben auf der Kuppe stand Tufty und winkte. Ein Mann in einem langen Mantel erklomm hinter ihm mühsam den Hang, dann ein zweiter und ein dritter. Alle drei in Anzughosen, die bis zu den Knien mit Schlamm bespritzt waren.
Wenn man von den Teufeln spricht …
Die drei kamen den Hang heruntergestolpert, wobei sie sich in einer bewundernswert hirnlosen Demonstration von Teamgeist an den Händen hielten. So war sichergestellt, dass der Erste, der ausrutschte, die beiden anderen gleich mitreißen würde.
Immerhin war Tufty klug genug, Abstand zu halten. Er bahnte sich selbst seinen Weg zwischen Stechginster und Baumstümpfen hindurch, bis er vor Logan stand. Dann wies er mit dem Daumen auf die Anzugtypen. »Die hab ich gefunden, wie sie planlos durch den Wald geirrt sind. Können wir sie behalten?«
Der Größte der drei zupfte spitzige grüne Blätter von seinem marineblauen Mantel. »Wir sind nicht planlos umhergeirrt.« Regenwasser tropfte von der Krempe seines Filzhuts, eine andere Flüssigkeit von der Spitze seiner kleinen rosaroten Nase. Er schniefte, dann lüftete er seinen Hut, unter dem ein zur Igelfrisur gegelter blonder Haarschopf zum Vorschein kam. »Logan.«
»Sieh mal einer an. Defective Sergeant Simon Rennie, wie er leibt und lebt.« Logan lächelte, dann senkte er den Blick auf Rennies verdreckte Hosenbeine. »Haben wir in den Pfützen gespielt?«
»Ist ein einziger verdammter Sumpf hier. Mit Bäumen. Und Matsch. Ein matschiger, waldiger Sumpf.« Er setzte seinen Hut wieder auf. »Steel ist unterwegs. Inzwischen darf ich vorstellen: Das ist DC Owen …«
Owen war ein breitschultriger Koloss mit angegrauten Locken, die der Regen an seinen Kopf klatschte. Er nickte. »Sarge.« Seine Zähne sahen aus, als wären sie für einen dreimal so großen Mund bestimmt gewesen – ganz schief und krumm ragten sie aus dem zu kleinen Kiefer.
»… Und das ist DC Anthony ›Spaver‹ Fraser.«
Frasers Nase war für das gleiche überdimensionierte Gesicht bemessen wie Owens Zähne. »Sergeant.« Er wies mit dem Zinken auf die Plane. »Ist das unsere Leiche?«
»Noch nicht.« Logan wandte sich zu Tufty um und streckte die Hand aus. »Constable Quirrel, reichen Sie mir den Heiligen Holzstab der Tatort-Oberhoheit.«
Im ersten Moment blinzelte Tufty ihn nur verdattert an. Dann ging ihm offenbar ein Licht auf, denn zwei Sekunden später bekam Logan einen Ast in die Hand gedrückt. Er war nicht allzu groß – gut einen halben Meter lang, mit einem gegabelten Ende. »Bitte sehr.«
Logan bot ihn Rennie dar. »Nehmen Sie den Heiligen Stab an?«
Ein schiefes Grinsen. Dann nahm Rennie den kleinen Ast und hielt ihn in die Höhe, als ob er gerade Excalibur aus dem Stein gezogen hätte, und warf sich in Pose. »Hiermit nehme ich diesen Tatort für Detective Chief Inspector Roberta Tiberius Steel und das ruhmreiche Imperium der Sontaraner in Besitz!«
»Gratuliere.« Logan wischte sich die Borkenbrösel von der Handfläche. »Die Leiche ist weiß, männlich, mit einer Tätowierung am linken Oberarm. Massive Hämatome am Oberkörper, Kopf mit einer Mülltüte verhüllt. Polizeiarzt, Staatsanwalt, Rechtsmedizin und Spurensicherung sind informiert.« Er drehte sich um. »Tufty, Calamity: zusammenpacken, wir verschwinden hier.«
Calamity nahm das Airwave von einem Ohr ans andere und nickte.
Rennie runzelte die Stirn. »Aber was ist mit der Bewachung des Tatorts? Wollt ihr nicht –«
»Ist nicht mehr unser Tatort. Du hast den Heiligen Stab, schon vergessen?«
Rennies Augenbrauen kletterten in die Höhe, und dazwischen bildete sich eine kurze Reihe von Fältchen. »Aber –«
»Die Leiche wurde vermutlich über den Forstweg hergebracht. Schick jemanden los, nach Reifenspuren suchen. Und steh nicht so mit offener Futterluke da – du siehst aus wie ein Goldfisch.«
Es klickte, als Rennie den Mund zuklappte. »Können wir nicht einfach –«
»Eher nicht. Aber seht zu, dass euer obligatorischer Tatortzugang steht, ehe der Staatsanwalt und der Rechtsmediziner hier eintreffen, sonst zwingen sie dich, deinen Hut zu essen.« Logan klopfte ihm auf die Schulter. »Ach ja, und ich hätte gern meine Plane wieder, wenn ihr sie nicht mehr braucht.«
Bergauf war der Hügel wesentlich steiler als bergab, und als sie endlich oben anlangten, rann der Schweiß zwischen Logans Schulterblättern herunter bis in seine Unterhose. Er hielt auf der Kuppe inne und blickte sich zu dem improvisierten Spurensicherungszelt um, während sein Atem in dicken weißen Wölkchen aufstieg.
Calamitys Gesicht war ganz rot angelaufen und glänzte. Sie sah ihn an und verzog das Gesicht. »Irgendwie hab ich kein gutes Gefühl bei der Sache.«
»Das ist nicht der erste Mordfall, den die bearbeiten.«
»Nur zwei Sorten von Leuten tragen Filzhüte, Sarge: alte Knacker und Idioten.«
»Echt?« Tufty zog den Reißverschluss seiner Sicherheitsjacke herunter und klappte sie auf und zu. Dampf stieg von seiner Stichschutzweste auf. »Ich find die irgendwie cool.«
»Das bestätigt ja wohl meine These.« Sie nahm ihre Melone ab und fächelte sich damit Luft zu. »Und wieso hält er diesen Stecken in der Hand?«
»Er glaubt, dass der ihm Autorität verleiht. Was hat Isla gesagt?«
»Ein merkwürdiger Stock-Fetisch und ein Filzhut.« Calamity zog noch mehr Grimassen. »Er ist ein Idiot, nicht wahr?«
»Detective Sergeant Rennie ist kein Idiot.«
Unten am Fuß des Abhangs erteilte Rennie seinen Constables Anweisungen. Während sie den Tatort in Augenschein nahmen, stand er auf einem Baumstumpf und schwang den Heiligen Stab wie einen Taktstock. Jetzt kam er so richtig in Fahrt, er ruderte wild mit den Armen und ließ den Ast durch die Luft sausen.
Logan bleckte die Zähne. »Okay, er benimmt sich manchmal wie ein Idiot. Aber …«
Rennie rutschte aus und landete mit dem Hintern auf dem Forstweg.
»Korrigiere. Kein ›Aber‹.«
»Und so was machen die zum Detective Sergeant.« Calamity seufzte. »Isla sagt, wir haben ein halbes Dutzend Vermisste mit Tätowierungen in der Kartei. Und zwar in den letzten drei Jahren, einschließlich der ungelösten Fälle.«
»Ein halbes Dutzend?« Tufty stellte das Wedeln ein. »Und wie viele ohne Tattoos?«
»Hundertzwölf.« Sie zuckte mit den Schultern. »In der Hälfte der Fälle kommt ja niemand auf die Idee, uns Bescheid zu sagen, wenn Onkel Stinky wieder nach Hause kommt. Und die andere Hälfte …« Wieder ein Achselzucken.
Einer der Constables – Owen, nicht wahr? – half Rennie auf. Dann hob er den Ast auf und gab ihn seinem Sergeant zurück.
Das war ja auch wirklich eine ganz gute Idee.
Wahrscheinlich würde er früher oder später jemandem damit ein Auge ausstechen.
»Spielt wohl jetzt keine Rolle mehr. Ist ja nicht unser Fall. Sondern ihrer.« Logan steckte die Hände in die Hosentaschen. Trotzdem, konnte ja nicht schaden, ein wenig Interesse zu zeigen, nicht wahr? Nur für alle Fälle. Er räusperte sich. »Und von diesem halben Dutzend hat nicht zufällig einer ein Narwal-Tattoo am linken Oberarm?«
»Nee. Oder wenn, dann ist es nicht in der Datenbank.« Sie verschränkte die Arme und blickte hinunter auf den Drei-Mann-Vortrupp von Steels Sonderermittlungsteam. »Wenn ich mir die nur anschaue. Da läuft ein Serienmörder frei rum, und unsere einzige Hoffnung, ihn zu schnappen, sind Tweedledee, Tweedledum und ihr Chef: Tweedle-Dümmer.«
Dem war eigentlich nichts hinzuzufügen.
»Kommt, wir müssen schließlich auch noch anderswo für Recht und Ordnung sorgen.«
Logan drehte sich um und ging zum Wagen zurück.