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Buch

Der britische Geheimdienst MI-6 bietet dem CIA-Operator Ryan Drake einen unerwarteten Deal an. Drake soll in Libyen einen hochrangigen Offizier von Gaddafis gefürchtetem Nachrichtendienst kidnappen. Im Gegenzug wird er jedes Mittel an die Hand bekommen, um seinem Gegner Marcus Cain, dem korrupten Vize-Chef der CIA, das Handwerk zu legen. Drake wittert die große Chance, endlich reinen Tisch zu machen und sammelt sein altes Team um sich. Doch in der Hitze der libyschen Wüste und vor dem Hintergrund eines drohenden Bürgerkriegs geraten die Ereignisse schnell außer Kontrolle. Denn nichts ist, wie es scheint – und wirklich niemand sagt die Wahrheit …

Autor

Will Jordan lebt mit seiner Familie in Fife in der Nähe von Edinburgh. Er hat einen Universitätsabschluss als Informatiker. Wenn er nicht schreibt, klettert er gern, boxt oder liest. Außerdem interessiert er sich sehr für Militärgeschichte. Will Jordan hat bereits jede Waffe abgefeuert, die in diesem Roman erwähnt wird.

Die Ryan-Drake-Romane bei Blanvalet:

1. Mission: Vendetta

2. Der Absturz

3. Gegenschlag

4. Operation Blacklist

5. Codewort Tripolis

6. Das CIA-Komplott

7. Kommando Black Site

8. Projekt Pegasus

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WILL JORDAN

CODEWORT

TRIPOLIS

Thriller

Aus dem Englischen

von Wolfgang Thon

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Deception Game« bei Canelo, London.

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Copyright © der Originalausgabe 2015 by Will Jordan

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlagmotiv: Umschlaggestaltung und -abbildung:

© Johannes Frick, Neusäß, unter Verwendung von Motiven

von Getty Images/Paul Bowen und Shutterstock.com

Redaktion: Rainer Michael Rahn

HK · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-20023-7
V002

www.blanvalet.de

PROLOG

Dehiba, Tunesien – 10. Mai 2009

Drake holte tief Luft. Die glühend heiße, trockene Luft dörrte seine Kehle aus. Der Wind peitschte kleine Sandkörnchen vor sich her, die ihm in die Augen stachen. Über ihm brannte die Sonne gnadenlos aus dem wolkenlosen Himmel und trieb ihm Schweißperlen auf die verbrannte, gerötete Haut. Über den belebten Hauptplatz flanierten Einheimische und kleine Touristengruppen, die dem Westler kaum Beachtung schenkten, der in abgerissen wirkender Kleidung neben einem kleinen Café an der Wand lehnte. Vielleicht waren es die Verletzungen und Blutergüsse, die ihm in den Augen der anderen das Aussehen von jemandem verliehen, dem man tunlichst aus dem Weg gehen sollte. Vielleicht hielt sie aber auch das gefährliche Flackern in seinem Blick auf Abstand. Was auch immer der Grund sein mochte, der Menschenstrom schien um ihn herumzufließen wie ein Fluss um ein unverrückbares Hindernis.

Drake hob den Kopf und richtete den Blick auf einen niedrigen Hügel in etwa einem Kilometer Entfernung, der das geschäftige Stadtzentrum überragte und auf dem sich noch die Reste verwitterter und eingestürzter Mauern der antiken Siedlung in den makellos blauen Himmel reckten und schwere Steinblöcke aus der verdorrten Erde ragten.

Dies war der Ort, wo es passieren sollte. Der Ort, an dem die aufreibenden Ereignisse der vergangenen Woche ihren endgültigen, tödlichen Höhepunkt erreichen sollten. Alles, wofür er gekämpft und wofür er so viele Opfer gebracht hatte, jeder Kompromiss, den er eingegangen war: All das hatte ihn hierher geführt.

Was heute hier geschah, entschied darüber, ob er leben oder sterben würde.

Sein Puls pochte laut und schnell in seinen Ohren und hätte fast das leise Signal des Handys übertönt, das er sich an den Kopf drückte. Der Mann, den er zu erreichen versuchte, reagierte gewöhnlich argwöhnisch auf Anrufe wie diesen. Er würde nicht gleich an den Apparat gehen – wenn überhaupt. Beeinflussen konnte Drake seine Entscheidung jedoch ohnehin nicht.

Er konnte nur warten und hoffen.

Das Klingeln verstummte unvermittelt. Die Verbindung war hergestellt.

»Sie leben also noch, Ryan«, bemerkte eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Eine sanfte, selbstbewusste und kontrollierte Stimme. Es war nicht die Stimme eines Mannes, dessen Schicksal derart auf Messers Schneide stand wie das von Drake. »Sie sind spät dran. Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, was auf dem Spiel steht?«

»Doch, haben Sie«, erwiderte Drake und hielt die Menschenmengen, die um ihn herumströmten, im Blick. »Ich habe, was Sie wollen.«

»Dann schlage ich vor, Sie bringen es mir, damit wir unser Geschäft abschließen können.«

Drake war klar, dass er sich jetzt entscheiden musste. Dies war seine letzte Chance, den Schwanz einzuziehen.

»Nein«, sagte er mit ruhiger Entschiedenheit.

Es gab eine kleine Pause. Ein Augenblick der Verwirrung und des Zweifels, und für einen kurzen Moment spürte Drake eine Schwäche hinter der undurchdringlichen Fassade. »Wie bitte?«

»Wir wissen beide, dass ich tot bin, sobald die Übergabe vollzogen ist. Weil ich zu viel gesehen habe und zu viel weiß, würden Sie mich niemals am Leben lassen.« Er war jetzt fest entschlossen. Der Rückweg war verbaut – er hatte keine andere Wahl, als nach vorne zu sehen. »Deshalb empfehle ich Ihnen, diesen Moment gut in Erinnerung zu behalten, denn so nah wie jetzt werden Sie nie wieder an das herankommen, was Sie wollen.«

Man musste seinem Gegner zugutehalten, dass er trotz des Widerstandes, der ihm entgegenschlug, erstaunlich gefasst blieb. Jemand anders hätte womöglich getobt und ins Telefon gebrüllt, dass Drake sich idiotisch verhielt und dafür büßen würde.

Dieser Mann aber war aus einem anderen Holz geschnitzt.

»Ryan, vielleicht haben Sie vergessen, warum wir überhaupt in dieser Lage sind«, fuhr die ruhige, sonore Stimme fort. »Falls ich Sie noch einmal daran erinnern muss: Ich bin durchaus willens, ein Stück von ihr für Sie an unserem Treffpunkt zu hinterlegen. Und Sie können mir glauben, es wäre ein Stück, das ihr schmerzlich fehlen würde.«

Drake schloss kurz die Augen und unterdrückte die Angst und den Horror, den diese Worte in ihm heraufbeschworen. Er wusste nur zu gut, dass sein Gegner diese Drohung wahr machen würde. Er war ein Sadist, der Gefallen daran fand, anderen Schmerzen zuzufügen. »Das würde ich Ihnen nicht raten«, erwiderte er und klang dabei selbstbewusster, als er sich fühlte.

»Ach, wirklich nicht? Klären Sie mich bitte auf.«

»Ich biete Ihnen etwas Besseres an.«

»Und das wäre?«

»Es gibt drei Möglichkeiten, wie diese Sache weitergehen kann. Erstens: Sie bringen sie um, ich veröffentliche die Dateien im Internet und beschäftige mich dann nur noch damit, Sie aufzuspüren. Und Sie können mir glauben: Ich bin gut darin, Leute zu finden, und willens, jeden wachen Moment meines Lebens der Suche nach Ihnen zu widmen. Wenn ich Sie dann gefunden habe, wird Ihnen alles, was Sie ihr angetan haben, wie ein Spaziergang vorkommen, verglichen mit dem, was ich Ihnen antun werde. Zweitens: Sie bringen mich um, bevor ich Sie erwische. Die Dateien wurden auf einen automatischen E-Mail-Server hochgeladen, und sollte ich es nicht mehr verhindern können, weil ich tot bin, wird innerhalb von zwei Stunden alles veröffentlicht, was Sie so mühsam zu vertuschen versuchen.« Er ließ diese Ankündigung wirken. »So oder so, Sie verlieren.«

»Genau wie Sie, Ryan«, erinnerte er ihn.

»Was hier auf dem Spiel steht, betrifft nicht nur Sie und mich: Wir wissen beide, worum es Ihnen in Wirklichkeit geht. Wollen Sie wirklich auf all das verzichten und zusehen, wie um Sie herum alles zusammenbricht?«

Wieder herrschte eine Pause. Der Spieler auf der anderen Seite wog die Risiken gegen die möglichen Vorteile ab. »Ich vermute, es gibt noch eine dritte Option?«

Drake sog noch einmal die staubige, stickige Luft ein. »Sie übergeben sie mir unverletzt. Dafür bin ich bereit, Ihnen nicht in die Quere zu kommen und niemandem zu verraten, was wir entdeckt haben. Und Sie sichern mir im Gegenzug zu, nicht nach mir zu suchen. Danach geht jeder seiner Wege. Ganz einfach.«

»Sehr heldenhaft von Ihnen«, bemerkte der andere sarkastisch.

»Ich bin kein Held und war noch nie einer«, sagte Drake, und das meinte er ernst. »Das hier ist nicht mein Krieg. Ich will nur, dass er aufhört.«

Das war’s. Er hatte alles gesagt und getan, was er konnte. Jetzt hing alles von dem Mann am anderen Ende der Leitung ab.

Und dann hörte er es. Keinen wilden Fluch, kein wütendes Knurren und auch kein zorniges Versprechen, dass er eines Tages dafür bezahlen würde.

Was Drake stattdessen hörte, war ein leises, amüsiertes Lachen. Es war das Lachen eines Mannes, der endlich die Falle zuschnappen ließ, die er so sorgfältig geplant hatte.

»Kommen Sie, Ryan. Wir wissen beide, dass diese Sache nur auf eine einzige Art enden kann.« Er hielt einen Moment inne und ließ seine Worte wirken. »Sehen Sie nach unten.«

Drake senkte den Blick und bemerkte etwas auf seinem fleckigen, zerknitterten Hemd. Einen kleinen roten Lichtpunkt, der sich vorher noch nicht dort befunden hatte. Der Punkt eines Ziellasers.

»An Ihrer Stelle würde ich nicht versuchen wegzulaufen. Sie werden aus zwei verschiedenen Richtungen anvisiert, und meine Freunde brennen förmlich darauf, den Abzug zu drücken.«

Sie hatten ihn entdeckt, irgendwie hatten sie es geschafft, ihn hier aufzuspüren, hatten vorhergesehen, wohin er gehen würde, und genau gewusst, was er als Nächstes vorhatte. Jetzt hatten sie ihn im Visier, und er steckte in der Falle.

Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, hielt ein Stück vor ihm ein schwarzes SUV. Die Hintertüren wurden aufgerissen, und ein paar Männer sprangen heraus. Männer, denen Drake bereits begegnet war. Männer, die in den vergangenen paar Tagen bereits mehrfach versucht hatten, ihn umzubringen, und die nicht zögern würden, es zu tun, wenn sie den Befehl dazu bekamen. Sie hielten die Waffen umklammert, die von ihren Jacken verdeckt wurden, und würden nicht zögern, auf ihn anzulegen, wenn er auch nur mit der Wimper zuckte.

»Wie schon gesagt, Ryan«, der Tonfall der Stimme am anderen Ende der Leitung verriet das Selbstvertrauen eines Mannes, der die volle Kontrolle hatte. »Diese Sache kann nur auf eine Art enden.«

Drake ließ sein Handy sinken, als das Zugriffsteam näher rückte.

TEIL EINS

AUSLIEFERUNG

Zurzeit ist von mindestens fünfundvierzig Ländern bekannt, dass sie am CIA-Programm zur Auslieferung von Terrorverdächtigen teilgenommen haben. In vielen dieser Länder gab es Geheimgefängnisse, in denen Inhaftierte unbefristet festgehalten und verhört wurden, ohne Rechtsmittel einlegen zu können. Die Zahl der Menschen, die auf diese Weise gefangen gehalten wurden, wird vermutlich niemals bekannt werden.

1

Arlington-Nationalfriedhof, Virginia – zwei Wochen zuvor

Die enorme Größe des Friedhofs von Arlington versetzte Drake jedes Mal aufs Neue in Erstaunen. Er erstreckte sich über mehr als sechshundert Hektar am Westufer des Potomac und war vom Weißen Haus aus in zwanzig Minuten zu Fuß zu erreichen. Der riesige Komplex befand sich sowohl geografisch als auch symbolisch dicht am Herzen der Nation. Seine Monumentalität und Ausdehnung dienten der ewigen Erinnerung an die Opfer, die seit den Zeiten des Bürgerkriegs bis heute von Generationen von Amerikanern gebracht wurden. Hier, unter dem wohltuenden Schatten blühender Bäume, hatten über vierhunderttausend amerikanische Kriegstote ihre letzte Ruhestätte gefunden. Ihre Gräber erstreckten sich in ordentlichen Reihen aus weißen Grabsteinen fast bis zum Horizont.

Es war ein ernüchternder Ort, der einen nachdenklich machte. Drake hatte ihn im Laufe der letzten Jahre mehr als einmal besucht – entweder, um gefallenen Kameraden die Ehre zu erweisen, oder auch nur, um mit seinen Gedanken allein zu sein.

Heute hatte ihn jedoch ein anderer Grund hierher geführt.

Am Roosevelt Drive wandte er sich nach links, dann stieg er einen grasbewachsenen Hügel zu einer Gedenkstätte auf der Anhöhe empor. Dabei kam ihm eine kleine Gruppe entgegen, die in die entgegengesetzte Richtung strebte. Es waren Männer und Frauen aller Altersgruppen, aber sie schienen so vertraut miteinander, dass sie höchstwahrscheinlich einer großen Familie angehörten. Ein alter Mann im Zentrum der Gruppe, der sich beim Abstieg vom Hügel schwer auf einen Wanderstock stützte, war vermutlich der Grund ihres Besuches. Er trug eine dunkelblaue Marinemütze, auf der in verwitterten goldenen Buchstaben der Name eines Kriegsschiffes zu lesen stand. Der Mann war an Drake vorbeigegangen, bevor der einen genaueren Blick darauf hatte werfen können.

Aber es spielte auch keine Rolle. Die Mütze bedeutete ihrem Träger etwas, und nur das zählte.

Ist schon seltsam, wie anders Amerika mit seinen Kriegsveteranen umgeht, dachte er mit leisem Bedauern, während er die Treppenstufen hinaufstieg. Hier behandelte man sie mit Respekt, sogar ehrfürchtig. Das alte Klischee, dass ein Uniformierter irgendwo im Land in eine beliebige Bar treten und sofort wenigstens eine Person finden würde, die ihm ein Bier ausgab, traf, jedenfalls Drakes Erfahrung nach, immer noch zu. Drüben im Vereinigten Königreich konnten Veteranen allenfalls auf eine lächerliche staatliche Pension und Bingo-Nächte im Kriegsveteranenclub hoffen.

Er bemühte sich, diese Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen, als er das obere Ende der Treppe erreichte und einen Blick auf die Szenerie warf, die unter ihm lag. Im Zentrum des breiten, offenen Platzes stand ein gewaltiger Marmorsarkophag, dessen weiße Oberfläche im Licht der Nachmittagssonne strahlte.

Das Grabmal des Unbekannten Soldaten war einer der heiligsten Orte in ganz Arlington, ein Monument für die Ewigkeit, ein Symbol für Tausende unbekannter Soldaten, die auf den Schlachtfeldern dieser Welt gefallen und deren Namen für alle Zeit verloren waren.

Es wurde rund um die Uhr und bei jedem Wetter bewacht – von Elitesoldaten des dritten US-Infanterieregiments, das auch unter dem Namen »Old Guard« bekannt war. Auch der heutige Tag stellte keine Ausnahme dar. Ein Soldat mit einem alten M14-Gewehr patrouillierte langsam vor dem Sarkophag auf und ab. Seine Uniform war ebenso makellos wie seine kerzengerade Haltung, und die verspiegelte Sonnenbrille reflektierte das Sonnenlicht. Seine Bewegungen waren so präzise wie die jedes anderen Wachsoldaten, der vor ihm Dienst getan hatte, sodass sich nach jahrzehntelanger Wache ein perfektes Quadrat in den Marmor gegraben hatte.

Ein paar Touristen fotografierten die Vorführung, die für sie vermutlich nur eine Sehenswürdigkeit darstellte, ähnlich wie bei den Wachposten der Queen, die reglos vor dem Buckingham-Palast standen.

Einem flüchtigen Beobachter wäre Drakes Verhalten kaum anders vorgekommen als das von Hunderten anderer Besucher, die an jenem Tag den Friedhof bevölkerten. Er ging mit dem leichten, entspannten Schritt eines Mannes, der ohne Hast und doch zielstrebig auf sein Ziel zusteuert. Seine Miene zeigte kaum mehr als das oberflächliche Interesse eines Durchschnittsbesuchers.

Nur seine Augen hinter der dunklen Sonnenbrille, die an jenem Nachmittag keineswegs unangemessen wirkte, verrieten den hellwachen Blick eines ausgebildeten Kämpfers, der jedes Detail seiner Umgebung registrierte, einschließlich der Menschen. Sein Blick zuckte von Gesicht zu Gesicht und suchte nach einem Hinweis, einem verräterischen Indiz, dass das eine oder andere nicht das war, wofür es sich ausgab.

Drake verdiente seinen Lebensunterhalt damit, Leute aufzuspüren, von denen die meisten nicht gefunden werden wollten. Deshalb war er recht gut darin geworden, sehr schnell zu spüren, wenn etwas nicht stimmte. Einen Blick, der ein wenig zu lange verharrte, ein Zucken, das ungewöhnliche Anspannung und Nervosität verriet, eine unwillkürliche Gewichtsverlagerung, mit der das lästige Gewicht einer verborgenen Waffe ausgeglichen werden sollte. Es gab nichts, was er in seiner Dienstzeit noch nicht gesehen hätte, und seine Sinne waren in diesem Augenblick im Alarmzustand.

Er entspannte sich ein wenig, als er sich dem Amphitheater näherte, und gab sich fürs Erste damit zufrieden, dass keiner der Besucher ein unangemessenes Interesse an ihm gezeigt hatte. Natürlich bedeutete das nicht, dass er von niemandem beobachtet wurde – Drake hatte sich im Laufe der letzten Jahre daran gewöhnt, ständig auf der Hut zu sein.

Es gab etliches, woran er sich im Laufe der letzten Jahre gewöhnt hatte.

Das große Freilufttheater, das für gewöhnlich Gottesdiensten am Veteran’s Day und anderen öffentlichen Veranstaltungen diente, war jetzt ungenutzt und nahezu verlassen. Für Touristen gab es drinnen nicht viel zu sehen, und in den Säulengängen der Mauern befanden sich auch keine Denkmäler, weshalb sich nur wenige Menschen darin aufhielten.

Kurz gesagt, es war ein guter Ort für Gespräche, bei denen man nicht unterbrochen oder abgehört werden wollte. Und hier ging es um eine Unterredung genau dieser Art.

Drake bog um eine der großen Steinsäulen, die die äußere Grenze des Theaters bildeten. Dann hielt er einen Moment inne, um den Innenraum zu inspizieren. Von der Hauptbühne aus stiegen Bankreihen bis zu den äußeren Begrenzungen des Theaters empor.

Keine der Bänke war besetzt.

Drake sah auf seine Uhr, holte tief Luft und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Er konnte die Deckung verlassen und ins Zentrum des Theaters gehen, um sich dem, der auf ihn wartete, zu erkennen zu geben. Damit würde er sich jedoch auch angreifbar machen. Es widersprach seinem Instinkt, in einer solchen Situation aus einer schlechteren Ausgangsposition heraus zu agieren.

Er konnte ebenso gut bleiben, wo er war, und abwarten, ob seine Kontaktperson die Initiative ergriff. Allerdings hing bei Treffen wie diesen oft alles vom gegenseitigen Vertrauen ab, und es war möglich, dass seine Kontaktperson dieselben Zweifel hegte wie er selbst. Er wollte auf keinen Fall riskieren, dass sie kalte Füße bekam und wegging, zumal es ihn erhebliche Mühen gekostet hatte, dieses Treffen überhaupt zu arrangieren.

Er wollte gerade einen Rundgang entlang der Außenmauern des Theaters beginnen, als er Schritte auf dem Steinboden hörte, die auf ihn zukamen. Sie waren langsam, schwer und von einem etwas angestrengten Schnaufen begleitet. Ein übergewichtiger älterer Mann, möglicherweise von angeschlagener Gesundheit.

Drake griff zur Browning-Automatik in dem Pancake-Holster auf seinem Rücken. Er stellte sich innerlich auf die unzähligen Möglichkeiten ein, wie diese Sache schiefgehen konnte, und schlüpfte hinter der Säule hervor.

Der Mann, der ihm gegenüberstand, war schwarz, Anfang sechzig, in einen teuren Anzug gekleidet, von durchschnittlicher Körpergröße und überdurchschnittlichem Gewicht. Sein kurz geschnittenes Haar und der Schnurrbart waren grau meliert. Ein kurzer Blick machte klar, dass diesem Mann das Alter deutlich zugesetzt hatte; er ließ die Schultern hängen, und seine Stirn war von jahrelangen Mühen und Sorgen zerfurcht. Der oberste Knopf seines Hemds war offen, und seine Stirn glänzte von Schweiß.

Der Aufstieg hierher war anscheinend nicht sehr angenehm für ihn gewesen.

Er verspannte sich bei Drakes plötzlichem Auftauchen, fasste sich jedoch rasch, als er begriff, dass Drake der Mann war, den er treffen wollte: den jungen Leiter eines Shepherd-Teams, der konspirativ über einen Mittelsmann mit ihm in Kontakt getreten war, auf einem Gespräch unter vier Augen außerhalb Langleys bestanden und ihm versichert hatte, über Informationen zu verfügen, die für die Agency von größter Wichtigkeit seien.

»Ich hoffe, Sie haben mich nicht nur aus dem Grund hier heraufgelockt, um mich zu erschießen, mein Sohn«, bemerkte er reserviert, blickte mit seinen dunklen Augen kurz hinab und deutete auf die Hand, die Drake hinter seinem Rücken verborgen hielt. »Ich bin mir sicher, dass man hier in Arlington schon ein nettes Plätzchen für mich bereithält, aber ich möchte es im Moment noch nicht beziehen.«

Drake lockerte den Griff, mit dem er die Waffe hielt, und seine Anspannung legte sich ein wenig, doch er blieb auf der Hut. »Director Hunt.«

»Das ist mein Name.«

Charles Hunt war der Leiter der CIA-Abteilung zur Kontrolle des Waffenhandels, deren Aufgabe darin bestand, den internationalen illegalen Waffenhandel zu beobachten und zu unterbinden. Das begann mit verschwundenen Munitionskisten aus russischen Militärbeständen und reichte bis zu den iranischen Versuchen, an Nukleargeheimnisse zu kommen. Aufgabe seiner Abteilung war es zu verhindern, dass den Feinden Amerikas Waffen in die Hände fielen.

»Sind Sie allein gekommen?«, fragte Drake.

»So allein, wie man heutzutage noch sein kann«, erwiderte Hunt und blickte nach oben, als wäre dort eine Überwachungsdrohne zu entdecken, die über ihnen ihre Kreise zog.

Drakes Blick verhärtete sich. »Ich meine es ernst. Falls man Ihnen hierher gefolgt ist …«

Hunt runzelte die ergrauenden Brauen und verzog das Gesicht. »Mister Drake, es gehört nicht zu meinen Gepflogenheiten, Leute zu belügen. Ebenso wenig neige ich dazu, meinen fetten Hintern aus meinem sehr gemütlichen Büro zu schleppen, um mit jedem Spinner, der Kontakt mit mir aufzunehmen versucht, konspirative Treffen an nationalen Gedenkstätten abzuhalten. Nun weiß ich, wer Sie sind, und habe mich deshalb entschlossen, Ihnen zu vertrauen, einstweilen jedenfalls. Vielleicht sollten Sie sich an mir ein Beispiel nehmen, sich nicht so albern aufführen und Ihr Schießeisen stecken lassen.«

Drake nahm zögernd die Finger von der Waffe.

»Schon besser«, bemerkte Hunt.

»Sie sagten, Sie wissen, wer ich bin?«, hakte Drake nach.

»Mit dem, was Sie da letztes Jahr in Russland abgezogen haben, haben Sie sich einen Namen gemacht. Ob das gut ist oder schlecht, wird sich noch zeigen, aber Sie können davon ausgehen, dass so etwas nicht unbemerkt bleibt. Das macht Sie entweder zu einem Feind, der ausgeschaltet werden muss, oder zu einer Ressource, derer man sich bedienen sollte.« Er musterte Drake kritisch. »Ich persönlich bin mir nicht sicher, ob Sie für den Aufruhr, den Sie dort veranstaltet haben, eine Belobigung verdienen, oder ob man Sie vor ein Militärgericht stellen sollte.«

Drake beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. Was er im letzten Jahr getan hatte, lief eigentlich auf Verrat hinaus. Er hatte unautorisiert mit dem Geheimdienst einer ausländischen Macht zusammengearbeitet, von seiner Unterstützung für einen gesuchten Terroristen einmal ganz abgesehen. Schon oft hatte er darüber nachgedacht, wie viele Feinde er sich in den letzten Jahren wohl gemacht haben mochte.

»Mir reichen bereits zehn Minuten Ihrer Zeit«, antwortete er. Ungeachtet der Spannungen, die es in den ersten Momenten ihrer Begegnung gegeben hatte, war ihm durchaus bewusst, dass man einen Direktoratsleiter der CIA nicht mit Bagatellen belästigen sollte. Schon an diesen Mann heranzukommen, ohne dabei ein Dutzend anderer Abteilungsleiter auf den Plan zu rufen, hatte sich als Herausforderung erwiesen. Drake war gezwungen gewesen, ein Minenfeld von Dienstanweisungen und geheimen Hierarchien zu überwinden und die Hilfe einiger Kontakte in Anspruch zu nehmen, die ihm noch den einen oder anderen Gefallen schuldig waren.

Ob sich die ganze Anstrengung gelohnt hatte, hing allein davon ab, was in den nächsten zehn Minuten geschah.

Hunt blickte auf seine Uhr – ein altes Modell mit dem Wappen der US-Marines –, dann richtete er seine dunklen Augen wieder auf Drake. »In Ordnung, Mister Drake. Zehn Minuten. Ich hoffe, Ihr Anliegen lohnt diese Mühe.«

Das konnte Drake natürlich nicht versprechen. Er konnte ihm höchstens garantieren, dass es sich lohnte anzuhören, was er zu sagen hatte.

Er holte ein elektronisches Gerät aus seiner Tasche, das einem kleinen Sprechfunkgerät glich und an dem mehrere Antennen befestigt waren. Er betätigte einen Schalter am Rand des Gehäuses, und eine grüne Leuchtdiode lieferte den Hinweis darauf, dass der Störsender aktiv war – was im Umkreis von fünfzig Metern ohnehin niemandem entgangen wäre, der versucht hätte, sein Mobiltelefon oder ein anderes elektronisches Kommunikationsmedium zu benutzen.

Hunt betrachtete das Gerät mit hochgezogener Braue. »So schlimm, hmm?«

Drake deutete auf eine Bank in der Nähe. »Vielleicht sollten Sie sich lieber setzen.«

Hunt folgte dem Vorschlag und hörte sich weitaus länger als zehn Minuten an, was Drake über die Ereignisse der letzten beiden Jahre berichtete. Seine Geschichte reichte von der Operation zur Befreiung einer Gefangenen namens Maras aus einem russischen Gefängnis, über den schmutzigen Krieg, den ein privatwirtschaftlicher Vertragspartner der US-Army in Afghanistan führte, bis zum Tod des russischen Geheimdienstchefs im letzten Jahr. Alle diese Ereignisse ließen sich auf einen einzigen Mann zurückführen: Marcus Cain.

Cain war zurzeit stellvertretender Direktor der CIA und dazu bestimmt, die Führungsposition einzunehmen, sobald der jetzige Chef seinen Posten aufgab.

»Das ist ja eine tolle Geschichte, mein Sohn«, bemerkte Hunt, als Drake schließlich am Ende seiner ausführlichen Schilderung angelangt war. Trotz seiner flapsigen Wortwahl war nicht zu übersehen, dass ihn Drakes Ausführungen beeindruckt hatten. »Aber warum erzählen Sie mir das alles?«

Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Ein sehr altes Sprichwort, das oft bei trivialen Streitereien missbraucht wird. In diesem Fall musste Drake aber darauf hoffen, dass sich der Spruch als wahr erwies.

Falls dem so war, konnte er sich keinen würdigeren Gegner für Cain vorstellen als den Mann, den Cain vor zwei Jahren von seinem Posten verdrängt hatte. Hunt hatte die Position des stellvertretenden Direktors innegehabt, und man war allgemein davon ausgegangen, dass er in nicht allzu ferner Zukunft den Chefsessel des mächtigsten Nachrichtendienstes der Welt übernehmen würde. Dann wurde die Führungsetage überraschend umstrukturiert und Hunt de facto zum Direktoratsleiter degradiert. Selbstverständlich war auch dies eine Position, die mit Macht und Einfluss verbunden war, doch die Botschaft war klar: Ein neuer Spitzenspieler war auf dem Spielfeld aufgetaucht. Sein Name lautete Marcus Cain.

Drake war sich sicher, dass Hunt eine solche Herabstufung, insbesondere gegen Ende seiner Karriere, nicht so leicht weggesteckt hatte. Vielleicht war er sogar so hart angezählt, dass er Drake bei dem Versuch unterstützen würde, den Mann unschädlich zu machen, der seine eigenen Pläne durchkreuzt hatte. Es war ein mieser Trick, sich die Verbitterung und die Enttäuschung eines Mannes für die eigenen Zwecke nutzbar zu machen, doch die Chance, einen Verbündeten in der höchsten Führungsebene der Agency zu gewinnen, konnte Drake sich nicht entgehen lassen.

»Weil ich nicht der Einzige bin, der Cains Sturz will«, erwiderte Drake. »Ich weiß, dass er Sie als stellvertretenden Direktor abgelöst hat, und ich gehe davon aus, dass Sie den Posten nicht freiwillig geräumt haben. Er hat Sie reingelegt, so wie er jeden reingelegt hat, mit dem er jemals zu tun hatte. Es ist seine Schuld, dass Ihnen die Möglichkeit genommen wurde, das zu tun, was Sie sich vorgenommen hatten. Und jetzt haben Sie die Chance, das Heft wieder in die Hand zu nehmen. Helfen Sie mir dabei, seine Machenschaften publik zu machen. Helfen Sie mir, ihn aufzuhalten, bevor noch mehr Unschuldige ihr Leben verlieren. Ich kann Ihnen zwar nicht versprechen, dass Sie zurückbekommen, was Sie verloren haben, doch ich kann Ihnen garantieren, dass seine Verluste am Ende erheblich größer sein werden, als Ihre es je waren.«

Drake hatte noch nie ein Talent für aufrüttelnde Reden oder leidenschaftliche Monologe gehabt. Er konnte nur darstellen, was er wusste, was er erreichen wollte und womit Hunt ihn beim Erreichen dieses Zieles unterstützen konnte. Es war ein Glücksspiel, so viel stand fest. Im Grunde basierte das ganze Treffen auf einem Vertrauensvorschuss – ein Risiko, das Drake hier aber für unumgänglich hielt.

Nachdem er alles gesagt hatte, was zu sagen war, konnte er nur noch Hunts Antwort abwarten. Er musste sich nicht allzu lange gedulden.

Er war auf einiges gefasst gewesen, nicht aber darauf, dass der Mann neben ihm sich vor Lachen förmlich schüttelte. »Und das alles soll ich Ihnen jetzt einfach so abkaufen? Ich soll das einem Kerl von der operativen Ebene glauben, der aus heiterem Himmel auf mich zukommt, mir wilde Verschwörungstheorien serviert und mir darüber hinaus auch noch anbietet, meine Karriere zu befördern? Darauf soll ich mich jetzt also Hals über Kopf einlassen und darauf hoffen, dass es irgendwie gut ausgehen wird?« Hunt schüttelte ungläubig den Kopf. »Mister Drake, Sie sind noch ein junger Mann, deshalb sehe ich Ihnen eine gewisse Naivität nach, doch was Sie da von mir verlangen, ist einfach lächerlich.«

Drake war nicht entgangen, dass Hunt keinen Versuch unternommen hatte, Cain zu verteidigen oder ihn davor zu warnen, Vorschläge zu unterbreiten, die auf Verrat hinausliefen. Deshalb wertete er den ausbleibenden Widerspruch als ein unterschwelliges Eingeständnis, dass seine Anschuldigungen nicht völlig aus der Luft gegriffen waren.

»Sie hatten gesagt«, erwiderte er, »Sie wären bereit, mir einen Vertrauensvorschuss zu gewähren.«

»Vertrauen und blinde Gefolgschaft sind zwei verschiedene Paar Schuhe, mein Sohn. Bis jetzt haben Sie mir noch nichts Vernünftiges an die Hand gegeben, das mein Vertrauen rechtfertigen würde.«

Dieses Resümee konnte Drake ihm nicht vorwerfen. »Ich bin hier. Wir wissen beide, dass Sie mich nach allem, was ich Ihnen berichtet habe, festnehmen lassen könnten. Ich bin trotzdem gekommen, weil ich bereit bin, mein Leben aufs Spiel zu setzen, um diesen Mistkerl zur Strecke zu bringen. Das ist mein Ziel, aber allein schaffe ich das nicht. Ich brauche dazu Leute in einflussreichen Positionen. Leute, die über genug Macht verfügen, um ihm wirklich wehzutun. Leute, auf die ich mich verlassen kann – Leute wie Sie.«

»Rührend, aber wie kommen Sie auf die Idee, dass Sie mir vertrauen können, falls – und dieses ›falls‹ möchte ich betonen – ich mich wirklich dazu bereit erklären sollte, Ihnen zu helfen?«, wollte Hunt wissen.

Drake deutete mit einer Kopfbewegung auf die Armbanduhr an Hunts linkem Handgelenk. »Eine hübsche Uhr haben Sie da. Sie waren mit dem 2. Bataillon der 7. Marinedivision in Vietnam. Sie hatten zwei Einsätze. Sie wurden in Khe Sanh verwundet, als Sie versuchten, eine Patrouille herauszuhauen, die von ihren Kameraden abgeschnitten und vom Feind umzingelt war. Und das, obwohl Sie den Befehl erhalten hatten, auf Unterstützung zu warten. Und davor haben Sie sich dafür eingesetzt, einen Kameraden von den Marines vors Kriegsgericht zu bringen, weil er vietnamesische Zivilisten terrorisiert hatte, obwohl Sie damit einem Ihrer eigenen Leute in den Rücken fielen.«

Es war wichtig, seine Feinde zu kennen, noch wichtiger war es jedoch, über einen potenziellen Freund Bescheid zu wissen – wie Drake aus bitterer Erfahrung wusste. Als er begonnen hatte, seinen Plan auszuarbeiten, hatte er zunächst Wochen darauf verwandt, jedes Detail in Hunts Leben und Karriere auszuleuchten, und war dabei so gründlich wie möglich vorgegangen, ohne die Agency auf sich aufmerksam zu machen. Inzwischen hatte er das Gefühl, Hunt so gut zu kennen wie dieser sich selbst.

Der Direktoratsleiter griff in seine Jackentasche, zog ein Taschentuch hervor und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn. »Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht. Schön. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Worauf ich hinauswill? Alles, was ich bisher über Sie in Erfahrung bringen konnte, hat mich davon überzeugt, dass Sie ein guter Mann sind. Sie sind bereit, sich für die Gerechtigkeit einzusetzen, und schrecken auch nicht davor zurück, dafür Ihren Kopf hinzuhalten. Dass Sie diese Uhr noch tragen, sagt mir, dass Sie sich treu geblieben sind. Deshalb bin ich das Risiko eingegangen, Sie zu kontaktieren. Und deshalb sind Sie nicht einfach weggegangen, und ich glaube, dass Sie genau deshalb auch bereit sind, mir Ihr Vertrauen zu schenken.«

»Ein guter Mann«, wiederholte Hunt und schnaubte höhnisch. »Wirklich schmeichelhaft, aber das ist verdammt lange her. Damals herrschten noch andere Zeiten. Es gab Regeln, an die man sich hielt, einen Verhaltenskodex und eine klare Trennlinie zwischen Gut und Böse. Es stimmt, wir haben sie manchmal überschritten, doch sie war immer da, ganz egal was passierte.«

Dann seufzte er. Es war das müde Seufzen eines Mannes, der schon viel zu lange auf einem Schlachtfeld kämpfte, das er unmöglich als Sieger verlassen konnte. »Dann wechselt man … in diesen Aufgabenbereich und stellt fest, dass es diese Linie, an die man so fest geglaubt hat, nie wirklich gab. Man hat sich das alles nur eingebildet, weil man daran glauben wollte. Man musste einfach daran glauben. Aber eine Sache wird nicht wahrer dadurch, dass man verzweifelt daran glaubt. Im Grunde kann man machen, was man will, und kommt damit durch. Das ist die Wahrheit. Dazu braucht man nur drei Dinge: den Willen, den Verstand und die richtigen Freunde. Und das eine können Sie mir glauben: Marcus Cain verfügt reichlich über alle drei Dinge.« Er verzog die Mundwinkel zu einem kurzen, bitteren Grinsen. »Was glauben Sie denn, wie er es geschafft hat, stellvertretender Direktor zu werden?«

Drake ballte die Fäuste und betrachtete den Mann, der neben ihm saß. »Er kommt also davon – mit allem, was er auf dem Kerbholz hat? Wollen Sie mir das sagen?«

Hunt bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick, als wolle er ihn daran erinnern, wer von beiden mehr Autorität besaß. »Nein, das behaupten Sie. Ich sage nur, dass Sie nicht mit ein paar halbgaren Anschuldigungen gegen einen Mann wie Cain antreten und dann erwarten können, dass sich Gott und die Welt auf Ihre Seite schlägt.«

»Gott und die Welt müssen mir nicht helfen«, betonte Drake. »Aber Sie brauche ich.«

»Wofür genau?« Schon wieder dieses müde Grinsen. »Soll ich vielleicht den Präsidenten anrufen und dafür sorgen, dass Cain noch heute Nachmittag gefeuert wird? Oder soll ich ihn womöglich vor einen Untersuchungsausschuss des Kongresses zerren und vor den Augen der ganzen Welt unsere schmutzige Wäsche ausbreiten?«

»Das wäre schon mal ein guter Anfang.«

»Das wäre es, aber wir wissen beide, dass es nicht dazu kommen wird. Falls diese ganze Sache überhaupt etwas bringen soll, muss ich wissen, was Sie wissen. Jetzt verraten Sie mir zunächst einmal, welche handfesten Beweise Sie gegen Cain haben.«

»Es gibt Aussagen von Augenzeugen, operativen Einsatzkräften und Mitarbeitern der Agency, die er unter Druck gesetzt hat, damit sie schweigen. Alle sind bereit, gegen ihn auszusagen.«

»In einer solchen Situation ist das alles Bullshit!«, konterte Hunt. »Die Glaubwürdigkeit von Zeugen kann man erschüttern, man kann sie erpressen oder einfach verschwinden lassen. Ich brauche etwas Handfestes.«

Drake schwieg einige Sekunden und wog ab, wie viel er preisgegeben und riskieren durfte. Er hatte noch ein letztes Ass im Ärmel, doch einen Trumpf wie diesen konnte er nur einmal ausspielen. Welche Reaktion er damit provozieren würde, war unvorhersehbar, doch er hatte das Gefühl, an einem kritischen Punkt angelangt zu sein. Hunts Glaube an ihn schwand, und allmählich traten Skepsis und Zweifel an die Stelle seines ursprünglichen Interesses.

Er musste etwas Überzeugenderes anbieten, deshalb blieb ihm keine Wahl.

»Ich habe Anya«, sagte er schließlich.

Von diesem Moment an änderte sich Hunts Verhalten schlagartig, und die Stimmung kippte plötzlich. »Sie lebt noch?«, fragte er hastig.

Drake nickte.

»Jesus Christus!«, keuchte er, dann seufzte er tief. »Wo ist sie?«

Drake warf dem Mann einen Blick zu, der ihm unmissverständlich klarmachte, dass er diese Information nicht an jemanden weitergeben würde, den er gerade erst kennengelernt hatte. Ganz gleich wie untadelig sein Charakter sein mochte. Davon abgesehen hätte er es Hunt nicht einmal verraten können, wenn er es gewollt hätte. Anya war wie ein Geist – sie erschien, wo und wann es ihr beliebte, und verschwand wieder in der Versenkung, wenn sie sich von ihrer Präsenz nichts mehr versprach. Sie war zwar eine mögliche Verbündete, spielte jedoch nach ihren eigenen Regeln.

»Gut, das verstehe ich«, pflichtete Hunt ihm bei. »Aber wird sie auch helfen?«

Drake wich seinem Blick aus und strich sich mit der Hand durchs Haar. »Ihr ist wie uns viel daran gelegen, Cain zur Strecke zu bringen.«

»Das ist nicht dasselbe.«

»Sie wird uns helfen«, versicherte ihm Drake.

Hunt betrachtete ihn eine Weile nachdenklich. »Angenommen, Sie hätten recht, und alles, was Sie mir erzählt haben, wäre wahr, und ich würde Ihnen vertrauen. Sie wissen doch selbst am besten, dass es nicht darum geht, ob Sie recht haben oder nicht – es kommt ausschließlich darauf an, wer bestätigt, dass Sie recht haben. Wer wird sich auf Ihre Seite schlagen und wer auf die Seite Cains? Diejenigen, die wissen, dass sie viel zu verlieren haben, wenn es mit Cain zu Ende geht, werden alles in ihrer Macht Stehende tun und jedes Risiko eingehen, um seinen Sturz zu verhindern. Denn sie wissen genau: Werden seine Lügen und Geheimnisse öffentlich aufgedeckt, fliegen sie selbst auch auf.«

Drake hörte solche ernsten Warnungen nicht zum ersten Mal. »Ich weiß, dass Cain Freunde in der Agency hat …«

»Ich rede nicht von der Agency«, unterbrach ihn Hunt, »ich meine auch nicht den Kongress oder das Pentagon, das Weiße Haus oder sonst eine Institution, die Sie noch anführen könnten.«

»Dann verraten Sie mir, wovon Sie sprechen.«

»Wachen Sie auf, Mister Drake! Die wahre Macht finden Sie in diesem Land nicht in Gebäuden, für die man Besichtigungstouren buchen kann, oder bei Männern, die sich vor Kontrollgremien zu verantworten haben, oder vor Wählergruppen. Die wahren Strippenzieher sind die, die sie nicht sehen können und von denen Sie auch nichts wissen, weil das genau die Art ist, wie sie agieren wollen! Für diese Leute steht am meisten auf dem Spiel, wenn Cain stürzt, und genau sie werden alles tun, um seinen Sturz zu verhindern.«

Drake schwieg einen Moment und suchte nach einer Möglichkeit, seine Gedanken diplomatisch auszudrücken. Das Spielchen, das Hunt hier mit ihm abzog, ging ihm zusehends auf die Nerven. Er war hierhergekommen, um sich der Hilfe dieses Mannes zu versichern, nicht, um sich seine rätselhaften Andeutungen und seinen Fatalismus anzuhören.

»Von welchen Leuten reden Sie?«

»Eins nach dem anderen, Mister Drake«, warnte ihn Hunt. »Ich kenne nicht alle, und ich bin ganz bestimmt nicht so dumm, Ihnen die paar Namen zu verraten, die ich weiß. Ich rede von Leuten, die sich einem Fall Cains am heftigsten widersetzen werden, und genau vor diesen Leuten sollten wir beide extrem auf der Hut sein.«

Drake blickte ihn an. »Trotzdem sind Sie immer noch hier.«

»Das bin ich«, räumte Hunt ein. »Denn trotz allem, trotz all der Kompromisse, die mir aufgezwungen wurden, und trotz all der Prinzipien, die ich im Laufe der Jahre über den Haufen geworfen habe, erinnere ich mich immer noch an jene Linie. Ich glaube … nein, ich will glauben, dass es sie immer noch gibt. Und ich habe den Eindruck, dass Sie das auch so sehen.« Er richtete sich auf, mit all der Mühe, die ein Mann seines Alters und seines Gewichts dafür aufbringen musste. »Bringen Sie mir etwas Handfestes, etwas, das ich verwenden kann. Dann reden wir weiter, Mister Drake. Mehr kann ich Ihnen im Moment nicht anbieten.«

Drake seufzte und nickte. Er nahm Hunts Angebot als das, was es war. Er hatte einen Verbündeten, der zögerte und noch nicht bereit war, den eigenen Hals zu riskieren – der aber dessen ungeachtet auf seiner Seite stand. Er hatte sich etwas anderes erhofft, doch mehr konnte er zurzeit nicht erwarten.

Es musste fürs Erste reichen.

»Ich halte Sie auf dem Laufenden«, versprach Drake und setzte seine Sonnenbrille wieder auf.