FEDERICO INVERNI ist das Pseudonym
eines italienischen Autors, »Das Opfer Null«
ist sein erster Roman. Um sein Buch für sich
selbst sprechen zu lassen, hat er sich
entschieden, anonym zu bleiben.
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FEDERICO INVERNI
DAS
OPFER
NULL
THRILLER
Aus dem Italienischen
von Sigrun Zühlke
Er war tot, aber das würde sich bald ändern.
Das war zumindest die Hoffnung. Meine Hoffnung, weil man, um zu hoffen, davon ausgehen muss, dass es eine Zukunft gibt, auf die eine oder andere Weise. Und in seinen Gedanken schien kein Platz für die Zukunft zu sein, schien es kein Morgen zu geben: Der zeitliche Horizont war für ihn so wenig greifbar wie Regen, den man zwischen den Fingern zerdrücken will.
Als die Tür sich öffnete, um ihn hindurchzulassen, schien mir durch den Türspalt ein Konzert aus Zischen, ein an- und abschwellendes Glockengeläut und metallisches Knirschen zu dringen. Ich schaute ihm zu, wie er die Schwelle überschritt, und beobachtete sein unbewegliches, gespenstisch bleiches Gesicht.
Dann schloss sich die Tür, und er war weg und ließ eine blinde Stille zurück, die von den hellgrünen Wänden des Krankenhauses widerhallte.
Jetzt konnte ich nur noch warten.
Als kleinen Scherz des Schicksals – auch wenn ich es mir zur Auflage gemacht habe, diesen Begriff niemals zu verwenden, nur um meinen Ängsten einen Namen zu geben – spürte ich plötzlich eine elektrische Entladung unter der Haut im Nacken.
Ich legte die Hand auf diese Stelle, unter dem Haaransatz, und strich mit den Fingerkuppen darüber. Und machte mir damit eine Geste zu eigen, die bis zu jenem Augenblick nicht meine gewesen war, sondern seine.
Er war wie tot, aber vielleicht würde sich das bald ändern.
FREITAG
1
Das Vibrieren des Handys rüttelte Lucas aus seiner Benommenheit.
Es war kurz vor sieben, Freitagabend, und er war vor etwas mehr als einer Stunde nach Hause gekommen, nach beinahe zwanzig Stunden Dienst, doch sein Verstand hatte das bereits alles vergessen. Die langwierige, zermürbende und kräftezehrende Vernehmung des Mannes, die endlosen Fragen nach den siebenunddreißig Jahren seiner Ehe, nach der Beziehung zu seiner Frau, die Tränen in seinen Augen, während er erklärte, dass er sich nicht damit abfinden, dass er nicht ohne sie leben könnte, dass er nicht wüsste, wo sie sich aufhielt und warum sie gegangen war. Die Intuition. Die Fahrt im Transporter, zusammen mit der Gerichtsmedizinerin, Sasha Grass. Das Auffinden der Leiche, das erloschene Gesicht der Frau, die hinter einer Backsteinmauer in dem kleinen Haus in den Bergen eingemauert war, das dem Schwiegervater des Ehemannes gehörte.
Lucas hatte die Gedanken daran beiseitegeschoben, so wie man einen Projektor am Ende einer Filmvorführung ausschaltet, und als er den Fuß in seine Wohnung gesetzt hatte, war ihm nur noch der etwas ranzige, durchdringende Geruch am Leib geblieben, wie ein Abflussgraben auf dem Land, und eine bleierne, körperliche Erschöpfung.
Die Wohnung war leer. Doch wie immer kam es ihm vor, als sei jemand da gewesen. Jemand, der nicht er war. Jemand, der seine Sachen angefasst, seine spärlichen materiellen Erinnerungsstücke berührt hatte. Doch er wusste, dass das nur ein Eindruck war, zumindest hatte er es gelernt.
Er hatte kurz an Kathryn gedacht.
Hastig und gedankenlos hatte er im Flur seine Kleider ausgezogen, sie auf dem Boden liegen gelassen und sich auf dem Bett ausgestreckt. Er wusste, dass er eine Notiz schreiben musste, und hatte es auch getan: Ein paar Wörter in schwarzer Schrift auf dem Notizblock, der stets griffbereit auf dem Nachttisch lag, auf dem er bereits das Telefon und die Armbanduhr abgelegt hatte.
Er wollte nur ein paar Minuten die Augen zumachen, nur kurz die müden Glieder entspannen. Er wusste, dass er noch duschen musste. Er wusste, dass er zu Abend essen musste. Er wusste, dass er noch etwas Sport machen musste – das in der Erinnerung abgespeicherte Programm sah für jenen Abend Dehn- und Bauchmuskelübungen vor –, bevor er schlafen ging. Er wusste, dass er die Tabletten nehmen musste, und er wusste, in welcher Reihenfolge und mit welchem Abstand voneinander. Er wusste, dass er schlafen musste. Er brauchte Kathryn nicht, um sich an all diese Dinge zu erinnern.
Deshalb wollte er sich einfach nur ein paar Minuten der Dunkelheit hinter seinen Augenlidern widmen.
Er hatte sie gesenkt.
Und, ohne es zu bemerken, hatte er sich verloren.
Lucas reagierte nicht auf das Handy, das auf seinem Nachttisch vibrierte.
Er war hochgeschreckt und hatte sich schweißgebadet im Bett aufgesetzt. Mit weit aufgerissenen Augen schaute er sich verwirrt um. Sein Blick fiel auf den Spiegel über der hellen Holzkommode. Im Spiegelbild sah er ein unbekanntes Gesicht mit eher regelmäßigen Zügen. Hohe Stirn, kurz geschorenes, grau meliertes Haar, das der Form des Schädels folgte, ausgeprägte Geheimratsecken. Der Bart war einen Tag alt, vielleicht zwei: Das konnte er nicht mehr nachvollziehen, weil er aufgehört hatte, auf Kleinigkeiten wie die Zeit zu achten, wie auch auf viele andere Belanglosigkeiten. Grüne Augen, dunkel, verlorener Blick.
Er war sicher, dass er sich nicht erkannte.
Das Handy vibrierte erneut, und Lucas’ Blick suchte die Geräuschquelle. Auf dem Nachttisch lagen eine Uhr, ein Handy und ein aufgeschlagener Notizblock. Darauf stand etwas geschrieben. Er ging ein wenig näher heran, las, dann löste er den Blick, wiederholte die Worte im Stillen und las sie noch einmal.
Es verging eine Minute in vollkommener Reglosigkeit, in absoluter Stille.
Er ließ eine weitere Minute verstreichen.
Als das Handy wieder zu vibrieren begann, nahm er es in die Hand. Auf dem Display stand ein Name, und Lucas war es, als kannte er ihn, wenn auch nur flüchtig. Er drückte auf den Knopf und nahm den Anruf an.
»Lucas, warum bist du nicht drangegangen? Du hast doch wohl nicht geschlafen, oder?«, sagte die Stimme am anderen Ende, die erregt auf ihn einstürmte.
Lucas war alles andere als wach, aber er zwang sich, ein paar unverständliche Worte zu murmeln, die seinen Kollegen für den Augenblick zu beruhigen schienen.
Er versuchte, sich zu bewegen, vom Bett aufzustehen, aber er fühlte sich wie eine Fliege, die dem Geruch eines Fliegenfängers erlegen war. Die Stimme am Telefon zwang ihn, sich an die Realität zu klammern.
»Lucas! Meine Güte, nun sag schon was!«
»Ich ruf dich in fünf Minuten zurück«, murmelte Lucas und kam dem Protest seines Kollegen zuvor, indem er auflegte.
Er holte Luft.
Exakt fünf Minuten später nahm er das Handy, drückte eine Kurzwahltaste und setzte sich mit Martin in Verbindung, seinem Kollegen im Dezernat.
»Da bin ich«, sagte er.
»Ich brauche dich.«
»Schieß los.« Eine Redensart, die Lucas nur Martin gegenüber verwenden konnte.
»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen … Es hat eine Schießerei gegeben, vor, lass mich nachsehen … siebenundzwanzig Minuten. Ein Heckenschütze. Großkaliber.«
»Wo?«
Martin nannte ihm den Straßennamen und fuhr dann fort: »Die Augenzeugen stehen unter Schock, wir sind noch dabei, die Ereignisse zu rekonstruieren. Unterm Strich sieht die Lage folgendermaßen aus: Ein voll besetzter Omnibus stößt mit einem Geländewagen zusammen und bleibt mitten auf der Straße liegen. Dort wird er plötzlich unter Beschuss genommen. Einige Fahrgäste haben versucht zu fliehen, aber der Scheißkerl hat Warnschüsse abgegeben und sie wieder zurückgescheucht.«
»Opfer?«
»Ein paar mit Sicherheit, aber noch ist unklar, ob durch den Unfall oder die Schüsse. Jedenfalls ist die Situation hier … Lucas, das ist hier wie in Bagdad. Du musst sofort herkommen.«
»Bin schon unterwegs. Sprich weiter.« Das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, begann Lucas damit, die verstreuten Kleidungsstücke vom Boden aufzuklauben. Dann fiel ihm ein, dass er sich umziehen musste. Also nahm er ein frisches schwarzes Hemd aus einer Schublade und einen Anzug in derselben Farbe aus dem Schrank.
»Die Straße ist jetzt abgeriegelt, am Anfang und am Ende stehen Polizeiposten. Wir haben den Block evakuieren lassen, soweit das möglich war. Die Rettungswagen sind bereits vor Ort, aber sie können momentan nicht viel ausrichten«, fuhr Martin fort.
»Warum?«
»Weil der Mistkerl weiterschießt. Als ein Sanitäter an den Bus ranwollte, um Erste Hilfe zu leisten, fiel sofort ein Schuss und ist direkt vor seinen Füßen in den Asphalt eingeschlagen. Ich war schon hier, Lucas, ich hab’s mit eigenen Augen gesehen. Die Kugel hat ein richtiges Loch in den Boden gerissen, die Steine sind in alle Richtungen gespritzt. Der Sanitäter wurde an den Beinen verletzt, zum Glück nur leicht, er konnte sich bis hinter die Absperrung zurückschleppen. Jedenfalls kommt jetzt keiner an den Bus ran. Sobald jemand versucht, sich zu nähern, feuert der Kerl.«
»Warte mal kurz«, sagte Lucas. Er legte das Handy auf das Tischchen im Flur, schlüpfte eilig in Hose und Schuhe, dann nahm er das Gespräch wieder auf: »Gibt es Geiseln?«
»Nicht, dass wir wüssten. Aber möglich wäre es. Abgesehen davon ist jeder, der auf dieser Straße auch nur die kleinste Bewegung macht, de facto eine Geisel.« Martin holte tief Luft und atmete in einem lang gezogenen Seufzer aus, der den kleinen Lautsprecher an Lucas’ Handy vibrieren ließ. »Du musst herkommen. Und zwar jetzt.«
Das letzte Wort ließ Lucas aufhorchen.
»Da ist noch was, was du mir nicht gesagt hast, Martin. Spuck’s aus.«
Martin hielt kurz den Atem an, dann presste er, ohne noch einmal Luft zu holen, hervor: »Wir haben auch das Gebäude, von dem aus er schießt, durch die Hintertür evakuiert. Es ist uns gelungen, eine Telefonverbindung zu seiner Wohnung herzustellen, wir haben angerufen und …«
»Und?« Lucas zog eine Schublade des Dielenschränkchens auf und nahm die Dienstmarke heraus. Wie immer lag auch das Pistolenhalfter darin, in dem seine Dienstwaffe steckte, eine Glock. Daneben lag die Munition. Er schob die Dienstmarke in die Innentasche seines Jacketts, ließ die Waffe jedoch liegen, wo sie war. Sollte sie ruhig weiter Staub ansetzen.
»Und?«, fragte er noch einmal, als er merkte, dass Martin seit Sekunden nichts gesagt hatte. Im Hintergrund waren das Heulen eines Martinshorns und die herausgebrüllten Befehle der Einsatzpolizisten zu hören. Vielleicht sogar das Flappen von Hubschrauberflügeln.
»Und der Mann hat geredet, Lucas. Er hat einen Namen genannt. Deinen. Dich will er hier haben, sonst schießt er weiter. Und er hat gesagt, dass es keine Warnschüsse mehr geben wird.«
SAMSTAG
30
Die Scheinwerfer von Annas Wagen stachen wie Lanzen in die dunklen, ölig schillernden Pfützen, die sich nach dem Regen auf dem Asphalt gebildet hatten. Durch einen Spalt des offenen Seitenfensters auf der Fahrerseite drang der Geruch der Stadt herein, ein Gemisch aus Feuchtigkeit und Abgasen.
Sie fuhren auf der langen, zentralen Achse, die Haven von Süden nach Norden durchschnitt, die Hauptschlagader, von der sich verworrene Kapillaren verzweigten, die einander ohne erkennbare Logik kreuzten. Um sie herum erhoben sich majestätische Wohnhäuser und Wolkenkratzer vor der sterbenden Nacht: Chrom, Glas, Zement, Stahl. Einige Fenster waren ungeachtet der Uhrzeit – es war kurz vor fünf Uhr morgens – bereits erleuchtet.
Sie überquerten die Kreuzung, von der der Boulevard abging, auf dem Lucas erst vor wenigen Stunden seinen Freund Martin an die Schwelle des Todes begleitet hatte. Und den jüngsten Nachrichten zufolge stand er immer noch dort, balancierte auf der Grenze zwischen Leben und Tod.
Anna warf einen verstohlenen Blick zur Seite, aber wie beim vorigen Mal schien Lucas vollkommen in das versunken, was er durch das Fenster sah.
»Wollen Sie mir erzählen, wie es passiert ist?«, fragte sie ihn.
»Vielleicht ein andermal.«
»Als wir noch da drin waren mit Robin, haben Sie etwas gesagt. Sie haben gesagt, Sie hätten Angst, dass wir mehr Fragen als Antworten finden würden.«
»Denken Sie das nicht?«
»Doch, schon.« Anna schaltete herunter und beschleunigte, um eine weitere Kreuzung zu überqueren, bevor die Ampel auf Rot sprang. »Aber es gibt noch eine Frage, die mir wichtiger erscheint als jede andere.«
Lucas schwieg, als wollte er die unausgesprochene Herausforderung, die in ihren Worten lag, nicht annehmen.
Der Wagen fuhr weiter, überquerte eine weitere Kreuzung und noch eine, bis er plötzlich scharf bremste, rechts an den Bordstein heranfuhr und vor den dunklen Schaufenstern eines Geschäftes, aus denen sie eine Gruppe Schaufensterpuppen beobachtete, zum Stehen kam.
Lucas nahm neben sich eine Bewegung wahr. Im Glas des Beifahrerfensters spiegelte sich Annas Gesicht: Sie sah ihn an, aber es fiel ihm schwer, ihre Miene zu entschlüsseln. Dann hörte er einen Seufzer, und der Wagen fuhr wieder an.
Aber in die falsche Richtung.
»Wo wollen Sie hin?«
Anna antwortete nicht.
»Gacey erwartet uns im Dezernat, haben Sie das vergessen?«
Anna antwortete immer noch nicht.
Sie fuhr durch einen Kreisverkehr, ohne sich um die Vorfahrtsregeln zu scheren, aber zum Glück war kaum Verkehr. Zügig legte sie weitere dreihundert Meter Straße zurück, bog dann abrupt nach links ein und bremste direkt vor der Straßensperre der Polizei ab, die noch immer die Zufahrt zu einer Fahrspur des Boulevards blockierte.
Die andere Spur war frei: Das Wrack des Omnibusses war abtransportiert worden, ebenso wie der schwarze SUV. Die Straßenlaternen tauchten den Boulevard, die Bürgersteige, die Rinnsteine und den vom Regen glänzenden Asphalt in ein gelbliches Licht, das von den Scherben zurückgeworfen wurde, die noch vor dem von der Explosion zertrümmerten Schaufenster lagen.
Einen Augenblick lang sah Lucas wieder die Frau in dem Geländewagen vor sich, ihr blutüberströmtes Gesicht, die Hand, die sich nach ihm ausstreckte.
Sie war gestorben. Wie so viele Menschen in dieser Nacht.
»Warum haben Sie mich hierhergebracht?«, fragte er Anna und drehte sich endlich zu ihr um, um sie anzusehen: Sie hatte den Knoten gelöst, und ihr Haar fiel lose auf die Schultern.
»Weil ich Antworten brauche.«
»Ich weiß nicht, ob ich sie Ihnen geben kann, Wayne. Ich weiß nicht alles.«
»Dann helfen Sie mir wenigstens, sie zu finden, Herrgott noch mal!«
Sichtlich frustriert versetzte Anna dem Lenkrad ein paar saftige Hiebe.
Lucas ahnte den Grund: Eine kurze Weile hatte die Profilerin die Hoffnung gehegt, war sich vielleicht sogar sicher gewesen, den Fall, der sie seit Wochen quälte, aufgeklärt zu haben. Der Killer war identifiziert. Er war tot, er würde niemandem mehr etwas zuleide tun. Es würden keine weiteren Mädchen entführt, gefangen genommen, unter Drogen gesetzt und ermordet werden. Es würde keine weiteren Leichenfunde mitten in der Nacht in irgendwelchen heruntergekommenen, verlassenen oder einfach nur gesichtslosen Gegenden geben.
Doch dann hatte sich die Illusion zerschlagen, und es war ausgerechnet Lucas gewesen, der dafür verantwortlich war.
Der Killer war tot, ja, aber er hatte noch nicht aufgehört, Opfer zu produzieren: Eines von ihnen war noch am Leben, war noch gefangen, wartete noch … Und alles hing von ihnen ab.
»Nicht hier. Hier werden wir nichts finden«, bemerkte Lucas, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte.
»Könnten Sie mir wenigstens mal zuhören?«
»Legen Sie los.«
»Ich kann nicht aufhören, immer wieder über eine Frage nachzudenken. Dieser Mann … Der Killer. Sie haben doch gesehen, wie er ermordet wurde, oder?«
»Ja. Ein Schuss in die Brust.«
»Mit extremer Präzision, haben Sie gesagt. Mit der Treffsicherheit eines erstklassigen Scharfschützen.«
»Der Heckenschütze hat heute so viele Menschen getötet. Da war eine Frau in einem Auto, das von dem Bus gerammt wurde …« Lucas verstummte und versuchte, die Bilder, die sich vor seinem geistigen Augen bildeten, wieder zu verdrängen. Als ihm das gelang, wurden sie jedoch abgelöst von denen aus der dunklen Wohnung, dem Präzisionsgewehr und dem Gespenst. »Er war geisteskrank. Aber das ist ein anderer Fall, Anna. Den klären wir auf, sobald wir herausbekommen, wer er war.«
»Sie verstehen nicht, worauf ich hinauswill. Ich kenne diesen Typus: Solche Amokläufer brüten lange Zeit an ihrem Hass, einer Art tiefen Widerwillens, der für sie absolut unwiderlegbare Gründe hat, die wir aber häufig nicht nachvollziehen können. Der Zorn gärt in diesen Menschen, setzt sich vielleicht für eine Weile ab, bis er eines Tages wieder an die Oberfläche kommt und sich in mörderischem Wahnsinn entlädt, aber die Art und Weise, wie und wann das geschehen wird, ist nicht vorherzusagen. Und wo ich schon mal dabei bin, Ihnen quasi das Lehrbuch herunterzubeten, lassen Sie mich noch etwas hinzufügen: Die Gewalt dieses Tätertyps ist chaotisch und bricht anfallartig hervor. Sie ist nicht zielgerichtet.«
Lucas rieb sich den Nacken direkt über dem Hemdkragen.
Es musste die Müdigkeit sein. Oder vielleicht der Schock darüber, was mit Martin passiert war, auch wenn ihm das wenig wahrscheinlich erschien. Wie dem auch sein mochte, er fürchtete, dass er allmählich nicht mehr alles mitbekam. Selbst so einleuchtende Dinge wie die Schlussfolgerung, zu der Anna ihn führen wollte. Er hätte sie vorwegnehmen, vorhersehen müssen. Er hätte darauf kommen müssen, hätte nicht zulassen dürfen, dass sie als Erste darauf kam.
Einen Augenblick lang gestattete er sich, daran zu denken, dass er mit Kathryn hätte sprechen müssen: Nur sie konnte ihm helfen, wenn ihn etwas so sehr beschäftigte wie dieser Fall. Normalerweise besprachen sie so etwas bei einem gemeinsamen Frühstück, das für ihn zu einem Ritual geworden war, welches ihm Sicherheit gab. Er sah auf die Uhr: Heute Morgen sollte sie kommen, wie jeden Samstag, aber er vermutete, dass er es nicht schaffen würde. Vielleicht konnte er später noch bei ihr vorbeifahren, um sie abzuholen, mit ihr irgendwohin zu fahren, in Ruhe zu reden, allein … Aber nicht jetzt. Jetzt hatten sie noch viel zu tun, und sie mussten es schnell tun.
»Warum er? Ist es das, was Sie wirklich wissen wollen?«, fragte er schließlich. »Daran hätte ich längst denken müssen.«
Annas Gesicht schien etwas weicher zu werden, während die Verärgerung von eben sich allmählich auflöste.
»Ja. Lucas, die Fälle stehen irgendwie miteinander in Verbindung. Ich glaube nicht, dass das ein Zufall sein kann. Ihr Killer hat meinen ermordet. Sie kennen die Rekonstruktion der Dynamik. Er hat gewartet, er hat sich in Position gebracht, er hat alles gründlich vorbereitet. Er hat geplant. Als der Bus kam, hat er gewartet, bis unser Unbekannter ausgestiegen ist, und hat ihn erschossen. Der einzige Mensch, der direkt von einem Geschoss getötet wurde, war er, die anderen waren … wie nennt man das beim Militär?«
»Kollateralschäden.«
»Genau. Kollateralschäden. Da gibt es eine Verbindung, Lucas.«
Lucas rieb sich die Augen.
»Ja. Ja, das denke ich auch. Aber wir haben nichts, womit wir arbeiten können. Zumindest nicht in diese Richtung und nicht in diesem Moment.«
»Sie müssen noch einmal alles überdenken, was geschehen ist, Lucas. Sie waren dabei. Sie müssen noch einmal überdenken, was Sie gesehen haben und was Sie gespürt haben, jedes Detail.«
»Gut, das werde ich tun«, antwortete Lucas.
»Danke.«
»Aber nicht jetzt. Uns läuft die Zeit davon.«
»Ich weiß. Wir müssen ins Dezernat fahren und Gacey überzeugen. Irgendwo da draußen gibt es noch eine Gefangene …«
»Und wenn wir sie nicht bald finden, wird sie verhungern und verdursten.«
»Zumindest, wenn sie keine Vorräte hat. Aber der Einzige, der den Ort kannte, an dem sie eingeschlossen ist, ist tot, und wir wissen nichts über ihn«, schloss Anna.
»Das stimmt nicht ganz. Eines wissen wir.«
»Und was?«
»Wir haben die Leiche. Wir wissen, wie er aussieht.«
SONNTAG
82
Ich stand im Regen neben der Trage und schaute auf den Mann, der darauf lag. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn richtig zuzudecken, sodass ihm das Wasser über Gesicht und Schädel lief und in den Mondkratern, zu denen seine Augenhöhlen geworden waren, kleine, schwarzblau umrandete Pfützen bildete.
Zwei Rettungssanitäter luden die Trage in den Laderaum eines Krankenwagens und knallten lautstark die Türen zu. Ich hörte ein Klopfen aus dem Inneren: das Zeichen, das dem Fahrer sagte, dass er losfahren konnte.
In der Kälte schienen mir alle Geräusche durchdringender, die Lichter blendender. Reglos im Regen stehend, sah ich den Rücklichtern des Krankenwagens nach, während sie am Ende der Straße verschwanden. Das Echo der roten, strahlenden Lichter blieb noch auf meiner Netzhaut hängen, als ich für einen kurzen Moment die Lider senkte.
Ich hob den Blick zu einer Uhr, die am Pfahl einer Straßenlaterne hing. Es war kurz nach Mitternacht.
Es waren erst achtundvierzig Stunden vergangen, seit Lucas zu Robin Moores Leiche gekommen war. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit.
Als ich wieder oben auf dem Damm stand, hatte ich mit Kathryns Handy die Zentrale angerufen, meinen Namen genannt und den Anruf an Ramirez weiterleiten lassen. Er war bereits in der Gegend, weil ich ihm die Adresse geschickt hatte, bevor ich mich in Lucas’ Höhle gewagt hatte, aber jetzt musste ich ja noch etwas Weiteres anfordern: einen Krankenwagen.
Lucas’ regloser Körper war von zwei Sanitätern auf die Trage gehoben worden, auf der sie ihn dann auf die Straße gegenüber von Geztus Loft transportiert hatten. Ich war ihnen schweigend gefolgt, auf dem Weg, den ich kurz zuvor erst gekommen war.
Der Regen störte mich nicht. Im Gegenteil, ich hoffte, dass er mir half, wieder einen klaren Gedanken zu fassen.
Aber nichts schien einen Sinn zu ergeben. Die Luft um mich herum war angefüllt mit der unsichtbaren Tinte, mit der man Albträume schreibt.
Ein blau-rotes Blinklicht schmerzte in meinen Augen.
Captain Gacey stieg aus einem Streifenwagen und kam auf mich zu. Schweigend blieb er neben mir stehen. Mit einer Geste ungewohnter Fürsorglichkeit bot er mir einen Platz unter seinem Regenschirm an.
»Sasha?«, fragte ich.
»Ist unterwegs«, antwortete er. Auch seine Stimme klang anders als sonst: Das Misstrauen, das sonst immer mitschwang, war zwar nicht ganz verschwunden, aber durch eine seltsame Freundlichkeit gemildert. Vielleicht sogar Anteilnahme.
»Gehen wir rein?«, fragte er nach einer Weile. »Dieser Regenschirm taugt nicht gerade viel«, setzte er als Vorwand hinzu.
Ich folgte ihm in die ehemalige Fabrik. Wir stiegen die Treppe hinauf, und ich ließ mich auf das kleine Sofa fallen, das direkt am Geländer stand. Ich nahm ein Kissen und drückte es an die Brust, um ein bisschen Wärme zu finden und etwas im Arm zu haben. Es war eine verräterische Geste, die Schwäche zeigte, und ich war mir dessen bewusst. Aber ich baute darauf, dass der Captain sie angesichts der Umstände nicht ausnutzen würde.
»Wayne, ich habe Ihre Akte gelesen. Ich kenne Ihre Geschichte.«
Vielleicht hatte ich mich geirrt, denn das, was er gerade gesagt hatte, klang ganz danach, als würde er meine Schwäche doch ausnutzen.
»Und?«
»Und es gibt da eine Verbindung, das wissen Sie genauso gut wie ich. Ich habe den Glaskasten gesehen. Aber ich will nicht ….« Er schnaubte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er schien sich unwohl zu fühlen. »Hören Sie«, fuhr er fort, »ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht, mit Ihnen. Ramirez hat mir alles berichtet, und … ich bin auf Lucas hereingefallen wie …«
»Wir sind alle auf ihn hereingefallen.«
»Ja, das mag stimmen. Aber es ist noch nicht zu spät.« Er machte eine Pause, als suchte er nach den richtigen Worten. »Hören Sie, Wayne. Ich möchte nicht noch mehr Fehler machen, aber ich muss etwas wissen.«
»Was?«
»Kann ich Ihnen vertrauen? Können Sie mir garantieren, dass Sie geistesgegenwärtig genug bleiben, um diese Ermittlung weiterzuführen?«
Mein rebellischer Instinkt, befeuert vor allem von Stolz und genährt durch die ganze Mühe, die es mich gekostet hatte, mir mein Leben wieder aufzubauen, drängte mich zur Auflehnung. Dazu, ihm die Tatsache unter die Nase zu reiben, dass seine Borniertheit und seine Machtspielchen daran schuld waren, dass ich die Ermittlungen inoffiziell, ohne Unterstützung und sogar ohne Waffe und Dienstausweis, hatte fortführen müssen. Die Frage war doch eher, ob ich ihm vertrauen konnte, und nicht umgekehrt.
Aber ich tat nichts dergleichen. Stattdessen nahm ich mir die Zeit, um seine Frage und meine Antwort in Ruhe zu durchdenken.
Konnte ich angesichts dessen, was ich da unten gesehen hatte, weitermachen? War ich in der Lage, eine Ermittlung voranzutreiben, die mit einem Mal auch mich selbst betraf, nicht nur als äußerer Faktor, sondern als integraler Bestandteil?
War ich wirklich bereit, das Risiko einzugehen, noch einmal zum Opfer zu werden?
Doch dann kam mir das Gesicht eines wirklichen Opfers in den Sinn: Kathryn Immonen. Ein Opfer, das ich vielleicht noch retten konnte.
Ich spürte, dass ich, wenn ich sie wieder ins Leben zurückholen konnte, vielleicht auch mich selbst wirklich und endgültig ins Leben zurückholen konnte. Wenn Kathryn wieder aus dem Abgrund herauskommen würde, würde mich vielleicht auch der Abgrund freigeben, in den ich mich in den letzten Jahren selbst verbannt hatte. Die Beziehung zu Stephen hatte nicht gereicht, um mich da herauszuholen, aber vielleicht würde es mir helfen, wenn ich diese Frau rettete.
In dem Augenblick ging Sasha an uns vorbei. Sie trug den Koffer mit der Ausrüstung für die erste Spurensicherung und grüßte mich mit einem Kopfnicken, während sie Gacey nicht einmal eines Blickes würdigte. Ramirez folgte ihr auf dem Fuß.
Ich dachte an den Sonntag zurück, den ich bei Sasha und ihren Töchtern verbracht hatte. Ich dachte an ihr Lächeln zurück, und daran, wie die kleine Emily mich gefragt hatte, ob ich die Tante sei, die ihre Mama immer von zu Hause fernhielt.
Dabei hatte ich mich selbst von mir ferngehalten. Ich hatte mich Hals über Kopf in die Arbeit gestürzt, in dem Glauben, mich so von dem Albtraum befreien zu können. Stattdessen hatte ich eine unüberwindbare Mauer um mich herum errichtet, finstere Nacht um mich herum geschaffen. Ein Gefängnis. Einen dunklen Keller.
Einen gläsernen Sarg. Und neben mir lag, in jedem meiner Gedanken, in jedem Winkel, in jeder geheimen Windung meiner Gedanken, der Albtraum versteckt. Tatsächlich hatte ich mich nicht von ihm befreit: Ich hatte ihn zu einem Teil von mir gemacht, der mich von innen heraus verzehrte, ohne dass ich es überhaupt gemerkt hatte.
Für Kathryn hingegen war noch Zeit.
Und vielleicht auch für mich.
»Ich werde tun, was getan werden muss«, sagte ich.
Epilog
98
»Danke, dass Sie gekommen sind.«
»Kein Problem«, antwortete ich. »Wie geht es Ihnen?«
Ich schaute ihn ruhig an. Die Narbe am Hals würde wohl für immer bleiben und die auf der Brust auch, konnte ich mir vorstellen. Er hatte Glück gehabt, das Projektil hatte kein lebenswichtiges Organ getroffen. Es war etwas unterhalb des Schlüsselbeins eingedrungen und durch das Schulterblatt wieder ausgetreten.
Im Geist erlebte ich diese Augenblicke noch einmal. Noch immer konnte ich es mir nicht verzeihen, vor Schreck so gelähmt gewesen zu sein. Die Wut hatte sich langsam in mir aufgebaut, aber nicht die kritische Masse erreicht, und so hatte ich zugelassen, dass Lucas seinen Körper dieser Waffe schutzlos dargeboten hatte.
Aber wie es aussah, hatte sein Überlebensinstinkt die Oberhand über die Todessehnsucht gewonnen. Lucas war im richtigen Augenblick ausgewichen und noch einmal davongekommen.
»Ich heile, körperlich. Und was den Rest angeht … ich denke, ich bin so weit«, sagte er.
Seine Stimme war immer noch monoton und ausdruckslos, aber in seinen Augen sah ich ein fiebriges Glänzen, einen hungrigen Funken, den ich vorher noch nicht bemerkt hatte.
Lucas nahm die Hand in den Nacken und fing an, sich zu kratzen.
Anmerkungen des Autors
Dieser Roman ist die Frucht der Fantasie des Autors. Jeder Bezug auf tatsächlich existierende Umstände oder Personen ist rein zufällig.
Normalerweise schreibt man das so, aber … ich muss ein Geständnis ablegen: Nicht alles entspringt meiner Fantasie.
Vieles entstammt meiner Obsession für ein ganz bestimmtes Thema: das Gedächtnis, die Erinnerung. Bei irgendeinem Neurowissenschaftler muss ich den Satz gelesen haben, dass, nachdem die ganze Welt erforscht worden ist, die letzte wahre Grenze näher liegt, als wir denken, und gleichzeitig das, was dahinter liegt, größtenteils unerforscht ist: unser Verstand.
Die Handlung dieses Buches und seine Hauptfiguren sind aus der Faszination geboren, die dieses unerforschte Gebiet auf mich ausübt, mit seinen ungewissen Umrissen, die sich immer in dem Moment dem Zugriff entziehen, in dem man glaubt, sie fassen zu können.
Besonders die Vorstellung, wie unzuverlässig unsere Erinnerung ist, hat mich gereizt.
Aus der Beschäftigung mit diesem Thema habe ich gelernt, dass es unser Gedächtnis ist, was uns zu dem macht, was wir sind. Und in der Tat ist es unser Gedächtnis, das uns daran erinnert, wer wir gestern waren, und nur das erlaubt uns zu wissen, wer wir heute sind, und uns schließlich vorzustellen, wer wir morgen sein könnten. Das Gedächtnis, die Art und Weise, wie es archiviert, deutet und wieder hervorruft, ist das Fundament für die Konstruktion unserer Identität.
Aber ich habe auch entdeckt, dass die Erinnerung keine Aufzeichnung ist: Zu glauben, dass sie es sei, ist illusorisch. Stattdessen handelt es sich um eine fortwährende Erzählung.
Die Erinnerung lässt uns in der Zeit reisen, verändert Dinge und Menschen, transformiert die Ereignisse und verknüpft sie anders, als sie geschehen sind. Die Erinnerung ist ein Roman, den wir selbst ständig neu schreiben.
Aber wenn die Erinnerung das Fundament unserer Identität ist, müssen in der Konsequenz wir ein Roman sein.
Als ich aus persönlichem Interesse angefangen habe, dieses Thema zu vertiefen, habe ich mich an eine einfache Regel gehalten: Um die Norm zu erkennen, muss man die Ausnahmen studieren. Um zu verstehen, wie ein normaler Verstand funktioniert, muss man diejenigen studieren, die krankhaft verändert sind – je ausgefallener, desto besser.
Und das ist genau der Punkt, wo nicht jeder Bezug auf wahre Begebenheiten oder tatsächlich existierende Personen rein zufällig ist.
Ich bin auf ein seltenes Syndrom gestoßen, bei dem die Patienten vergessen, dass sie am Leben sind. Und mehr und mehr zu der Überzeugung gelangen, dass sie tot sind. »Nihilistisches Delirium« nannte es der Entdecker dieses Syndroms, der französische Neurologe Jules Cotard, bevor es nach ihm benannt wurde. Im Jahr 1880 stellte er den Fall von Mademoiselle X vor, die irgendwann an den Punkt gelangt war, kein Bedürfnis nach Nahrung mehr zu verspüren, weil sie, wie sie steif und fest behauptete, tot sei.
In einem 2013 im New Scientist erschienenen Artikel wurde eines der frühesten Gespräche mit einem Patienten, der am Cotard-Syndrom litt, wiedergegeben. Er hieß Graham und behauptete, er habe neun Jahre zuvor entdeckt, dass er tot sei. »Ich hatte Geruchs- und Geschmackssinn verloren. Ich verspürte kein Bedürfnis mehr zu sprechen, zu essen oder sonst irgendetwas zu tun. Am Ende verbrachte ich meine gesamte Zeit auf dem Friedhof, weil das die einzige Art und Weise war, wie ich mich dem Tod annähern konnte.« In Grahams halluzinatorischer Konstruktion war es nicht sein ganzer Körper, der tot war, sondern nur sein Gehirn. Die Ärzte hatten schon bald herausgefunden, dass es sinnlos war, ihm gegenüber rational zu argumentieren: Er fand immer eine Möglichkeit, ihre Argumente so zu interpretieren, dass sie seine Halluzination stützten. Offensichtlich war sein Gehirn noch am Leben; nur hatte er aus irgendeinem Grund etwas überaus Wichtiges vergessen: wie man Gefühle empfindet. Und da ihm dies nicht mehr möglich war, hatte sein Gehirn den einzig möglichen Schluss gezogen: Nur die Toten empfinden keine Gefühle, also muss ich tot sein.
Die Ursache dieses Syndroms scheint die Unfähigkeit zu sein, optische Wahrnehmungen mit den Gefühlen zu verknüpfen, die sie normalerweise begleiten: Wer unter dem Cotard-Syndrom leidet, erkennt eine ihm vertraute Person zwar, wenn er sie sieht, empfindet aber nichts für sie.
1996 stellte A. W. Young, ein amerikanischer Wissenschaftler, in einer Studie die Hypothese auf, dass es eine Verbindung zwischen dem »kausalen Attributionsstil« eines Individuums und dem Auftreten eines bestimmten Syndroms gibt. Unter »kausalem Attributionsstil« versteht man die Art und Weise, wie jeder von uns auf bestimmte Lebensereignisse reagiert: Es gibt Menschen, die sich tendenziell für alles verantwortlich fühlen, für alles die Schuld auf sich nehmen (interner kausaler Attributionsstil), oder solche, die eher davon ausgehen, dass alles von anderen abhängt (externer Attributionsstil). 2007 berichtete R. McKay über den Test einer 24-jährigen Patientin mit Cotard-Syndrom, der ergab, dass dieses Krankheitsbild sich im Zusammenhang mit einem internen kausalen Attributionsstil entwickelt.
Nach einem traumatischen Erlebnis, manchmal physisch, manchmal auch nur mental, kann ein Mensch, der ohnehin schon dazu neigt zu denken, dass alles von seinem eigenen Verhalten abhängt, und der vielleicht unter dem Druck einer fordernden, verantwortungsvollen Tätigkeit steht, ein Cotard-Syndrom entwickeln.
Einige Studien stellen dieses Syndrom in Zusammenhang mit einem anderen, dem in manchen Zügen spiegelbildlichen Capgras-Syndrom: der Überzeugung, dass die anderen (Familienangehörige, Freunde) in Wirklichkeit tot und durch Doppelgänger oder Betrüger ersetzt worden sind. Die Phänomenologie der Wahrnehmung ist ähnlich (»Ich sehe einen Menschen, der mir theoretisch lieb und teuer sein müsste, aber ich empfinde nichts dabei«), nur die Schlussfolgerung ist anders. Der kausale Attributionsstil scheint in diesem Fall eher extern zu sein: Es ist die Schuld der anderen, sie sind die Betrüger. Sie sind die Toten.
Zu dem Thema wurden Studien veröffentlicht und Therapien vorbereitet, einschließlich, in einigen Fällen, elektrokonvulsiver Behandlungsmethoden. Aber wie schon erwähnt, ist das eine komplexe Welt, faszinierend und in vielerlei Hinsicht noch nicht erforscht.
Ich kann nicht sagen, ob das Cotard-Syndrom eine Form von »Verrücktheit« ist. Ich weiß nur, was Edgar Allan Poe wusste: »Es ist noch nicht geklärt, ob der Wahnsinn nicht die höchste Entwicklungsstufe des Intellektes ist, ob nicht vieles Glorreiche und alles Tiefe einer Krankheit des Denkens entspringt, Erregungszuständen des Geistes auf Kosten des allgemeinen Verstandes.« Lucas wüsste es ebenso wenig zu sagen wie ich. Und auch Anna nicht.
Immer noch der einfachen Regel von vorhin folgend – die anomalen Formen zu studieren, um die Konturen des Normalen erkennen zu können –, bin ich auf ein weiteres interessantes Krankheitsbild gestoßen: das Korsakow-Syndrom, das in einigen wunderbaren Texten von Oliver Sacks geschildert wird. Es handelt sich um eine degenerative Form, die dazu führt, dass der Patient nicht mehr in der Lage ist, neue Erinnerungen festzuhalten. Daher leiden die Patienten unter Erinnerungslücken.
Was mich besonders beeindruckt hat, war, dass die natürliche Reaktion des Geistes auf diese Erinnerungslücken darin besteht, falsche Erinnerungen zu erschaffen, was man »Konfabulation« nennt. Nicht in der Lage, den durch das Fehlen der Erinnerung ausgelösten horror vacui zu ertragen, fängt der Geist spontan an zu erfinden, zu erzählen, um das Gefühl der Leere zu mildern. Er tut es, weil er es braucht, auf einem ebenso ursprünglichen wie universalen Niveau.
Das Bedürfnis, Geschichten zu erzählen, ist folglich fundamental für den Menschen. Mehr noch, es ist das, was uns ausmacht. Es sind die Geschichten, in denen unser Gedächtnis, unsere Identität, seine Fesseln abstreift. Und es sind die Geschichten, in denen es sich befreit – sich von seinen Beschränkungen befreit und ans Licht des Tages findet.
Ohne Geschichten wären wir Gefangene der Nacht.
Danksagung
Ich danke: Stefano. Cecilia. Cristina.
Luisa. Viviana.
Meiner Frau, meiner Familie.
Lucas.
Anna.
3
Lucas fädelte sich ohne Blaulicht und Sirene in den Verkehr ein und schaffte es, sich durch die belebtesten Verkehrsknoten zu mogeln, indem er sich in die Lücken zwischen den anderen Fahrzeugen zwängte und Ampeln und Straßenschilder ignorierte, ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Während der gesamten Fahrt hielt ihn Martins Stimme in seinem Ohrhörer weiter über die Lage auf dem Laufenden.
Soweit Martin und die anderen es den Zeugenaussagen entnehmen konnten, hatte alles gegen acht Uhr vierzig begonnen, als der Bus der Linie D77 an einer Haltestelle gehalten hatte.
Etwa ein Dutzend Leute waren ausgestiegen und ungefähr ebenso viele an Bord geblieben. Ein paar neue Fahrgäste waren zugestiegen. Wenige Sekunden später, als der Bus gerade wieder angefahren war, hatte es einen lauten Knall gegeben.
Der Busfahrer musste aus dem Augenwinkel gesehen haben, wie ein junger Mann um die dreißig, der als Letzter ausgestiegen war, blutüberströmt zu Boden ging. In Panik hatte er das Lenkrad herumgerissen und das Gaspedal durchgetreten, um vom Bordstein wegzukommen, und mit der Schnauze des Busses einen vorbeifahrenden Geländewagen gerammt.
Die bereits durch den Schuss aufgeschreckten Menschen auf der Straße waren nach dem krachenden Zusammenstoß schreiend in alle Richtungen davongelaufen.
»Und von da an ist alles immer nur noch schlimmer geworden«, hatte Martin seinen Bericht geschlossen.
Für einen Moment hatte sich eine unwirkliche Stille über die Straße gelegt, die gleich darauf von den Sirenen der Polizeiautos und kurze Zeit später von denen der Rettungswagen zerrissen worden war.
Ein Streifenwagen war herangerast und mit quietschenden Reifen zum Stehen gekommen, an Bord zwei Polizisten, einer davon Martin.
»Zwei unmittelbar nacheinander abgegebene Schüsse haben uns aufgehalten. Das erste Geschoss hat den Tank des Busses durchschlagen, das zweite hat ihn zum Explodieren gebracht. Das muss eine kleine Granate gewesen sein. Um ein Haar hätte es uns erwischt, Lucas.«
Durch die Explosion war der Bus auf die Seite geschleudert worden und hatte dabei den Geländewagen weggeschoben.
»Da waren Leute in dem Bus«, wiederholte Martin. »Ich hab sie wie in Zeitlupe gesehen, als der Bus umgekippt ist, und … mein Gott, du hättest hören sollen, wie sie geschrien haben.«
Ein dritter Schuss wenige Zentimeter vor dem Streifenwagen hatte Martin und seinen Kollegen gezwungen, den Rückwärtsgang einzulegen und auf die Kreuzung am Anfang der Straße zurückzufahren.
»Wir mussten sie dalassen, verstehst du? Du musst dich beeilen, Lucas. Wo bist du?«
Glücklicherweise wohnte Lucas nicht allzu weit von der Straße entfernt, in der das Inferno losgebrochen war.
Sieben Minuten später war er am Tatort.
Er parkte an der Straßensperre, stieg aus, und während er die Tür hinter sich zuwarf, zog er automatisch die Dienstmarke heraus, um sie dem Posten zu zeigen.
»Martin«, sagte er ins Handy, »ich bin da. An der Kreuzung am südlichen Ende. Wo bist du?«
»Ich seh dich. Bin gleich da.«
Das Gesicht seines Kollegen, das schon im Normalfall zu leichten Rötungen neigte, war feuerrot, und seine Haltung verriet Müdigkeit und Anspannung. Mit seiner großen und stattlichen Erscheinung wirkte er oft etwas unbeholfen, verstand es im Einsatz aber dennoch, sich geschickt und präzise zu bewegen. Jetzt jedoch klatschten seine Schritte schwer und hektisch auf den Boden. Er blieb vor Lucas stehen und musterte ihn einen Augenblick, als wollte er sichergehen, dass sein Kollege ganz bei sich war.
»Du musst Kontakt zu diesem Irren aufnehmen. Und zwar sofort«, sagte er zu ihm, dann ging er weiter, ohne ihm noch einmal ins Gesicht zu sehen: Seine Augen waren auf den Tatort gerichtet, etwa hundert Meter von der Polizeisperre entfernt. Immer wieder drangen gedämpfte Hilfeschreie durch die von Rauch und Nebel gesättigte Luft: Sie kamen aus dem Linienbus, der auf die Seite gekippt mitten auf der Fahrbahn lag, direkt neben dem Wrack eines schwarzen SUV.
»Wie heißt er?«, fragte Lucas.
»Die Nachbarn sagen, er wäre ein freundlicher Mann, allenfalls ein bisschen menschenscheu. Ungefähr fünfundfünfzig Jahre alt, lebt allein, ist erst vor Kurzem eingezogen …«
Lucas zwang sich, eine Hand auf die Schulter des Freundes zu legen, damit der sich zum ihm umdrehte, und sah ihm in die Augen.
»Später. Später die Einzelheiten. Jetzt den Namen.«
»Bundeigh. Theodore Bundeigh. Auf den Namen ist zumindest die Wohnung gemietet. Sagt dir das was?«
Lucas durchforstete ein paar Sekunden lang sein Gedächtnis auf der Suche nach einer Assoziation, einem Echo. Er fand nichts.
»Nein, ich erinnere mich an niemanden, der so heißt.«
»Er hat nach dir verlangt. Ich dachte, du würdest ihn kennen.«
»Es könnte ein falscher Name sein.«
»Es ist alles möglich«, schnaubte Martin, dann drehte er sich wieder zu der gut zweihundertfünfzig Meter langen Straße hinter ihnen um. Sie wirkte wie eine Welt für sich. Jenseits ihrer Grenzen, markiert durch die Polizeiautos, die Absperrbänder mit der »Zutritt verboten«-Aufschrift und die Panzersperren, die Spezialkräfte in ihren kugelsicheren Kevlarwesten und die Verkehrspolizisten, die den Verkehr umleiteten, rauschte und pulsierte die Stadt im selben Takt wie immer. Doch innerhalb dieser Grenzen, in diesem kurzen Straßenabschnitt mit Wohnhäusern, Geschäften und Tiefgaragen herrschte eine spürbare Anspannung, die von unsichtbarer Hand aufrechterhalten wurde.
Lucas folgte dem Blick seines Kollegen: Er musste sich die Szene einprägen, und zwar schnell.
»Von wo aus schießt er?«
»Siehst du das große Wohnhaus da rechts? Er befindet sich im fünften Stockwerk, wahrscheinlich liegt er auf einem der Balkone oder steht hinter einem der Fenster an der Ecke.«
»Und unsere Scharfschützen?«
»Er schießt auf alles, was sich bewegt, insofern ist es unmöglich, in die Gebäude zu gelangen, deren Eingänge zur Straße liegen. Wir haben ein Team aus vier Männern, die gerade versuchen, durch einen Hintereingang in das Haus gegenüber zu kommen, aber dazu werden sie Zeit brauchen und …«
»Und selbst wenn alles gut läuft, werden sie kein freies Schussfeld bekommen. Dieses Haus ist niedriger als das des Heckenschützen, es hat nur drei Geschosse. Was ist mit dem Hubschrauberteam?«
»Da oben«, sagte Martin und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf einen dunklen Schatten, der sich vom beinahe schwarzen Himmel abhob. »Aber der Balkon ist tief und durch den Dachüberstand gedeckt, und wenn der Schütze sich wirklich darauf befindet, kann er sich jederzeit in die Wohnung zurückziehen und aus einem der Fenster weiterschießen.«
»Oder er steht sowieso schon an einem der Fenster, wie du sagtest.«
Martin nickte. »Wenn das so ist, dann hat er exzellente Arbeit geleistet. Er muss ein Loch in die Fensterscheibe geschnitten haben, in der Wohnung brennt kein Licht, es gibt keinerlei Spiegelungen.«
»Militärische Ausbildung.«
»Mit Sicherheit. Das erkennt man auch an der Art und Weise, wie er schießt.«
»Und wir wissen nicht, ob er eine Geisel hat …«
»Ganz genau. Folglich können wir nicht einfach auf Verdacht auf sämtliche Fenster schießen. Auch wenn ich das gern täte.«
Während sie redeten, hatte Martin sich eine Zigarette angezündet, aber er schien sie vergessen zu haben. Sie war von allein bis auf den Filter heruntergebrannt, sodass die Hitze jetzt offensichtlich seine Finger erreichte, denn er warf sie mit einer beinahe verärgerten Handbewegung auf den Boden und zerrieb den Stummel unter der Schuhsohle.
»Wo ist der Transporter?«, fragte Lucas.
Martin machte ihm ein Zeichen, ihm zu folgen.
Sie waren gerade wenige Schritte gegangen, als plötzlich die Druckwelle einer Explosion sie von hinten erfasste.
Lucas wurde durch die imposante Gestalt seines Kollegen geschützt, der die volle Wucht des heißen Luftschwalls abbekam. Als er sich umwandte, sah er am unteren Ende der Straße, eingehüllt in eine schwarze Wolke, dunkel und undurchdringlich, einen roten Fleck.
Während sie auf den Transporter zurannten, der hinter der Straßensperre an der Kreuzung stand, schnappte Lucas Gesprächsfetzen auf. Martin stand über einen Ohrhörer und ein am Kragen seiner Jacke angebrachtes Mikrofon mit dem Einsatzkommando in Verbindung.
Lucas hörte ihn ein »Gott sei Dank« murmeln.
Wenige Augenblicke später gefolgt von einem »Verdammte Scheiße.«
2
Das Vibrieren des Handys rüttelte mich auf.
Ich saß allein im Auto und fuhr schon seit ein paar Stunden ziellos durch die Straßen von Havens Vorstädten.
Ich versuchte, an nichts zu denken. Ich versuchte, nicht an den Fall zu denken, der mich beschäftigte, doch die einzige Strategie, mit der ich mich ablenken konnte, bestand darin, über Stephen nachzudenken, und auch diese Gedanken waren unerträglich, nach allem, was er mir angetan hatte. Stephen McCoy war … ein Fehler gewesen, anders konnte ich es nicht beschreiben. An meiner linken Hand war noch der Verband, der mich daran erinnerte. Ein Journalist war wirklich der Letzte gewesen, mit dem ich eine Beziehung hatte anfangen wollen, und doch war es passiert. Und es hatte wesentlich länger funktioniert als erwartet, so lange, dass ich überraschenderweise schon gedacht hatte, es könnte halten.