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ZUM BUCH

Ein neuer Fall wartet auf die TV-Journalistin Laurie Moran, die in ihrer Sendung »Unter Verdacht« ungelöste spektakuläre Kriminalfälle untersucht.

Fünf Jahre ist es her, dass Amanda Pierce unmittelbar vor ihrer prunkvollen Hochzeit in Palm Beach, Florida, spurlos verschwand. Medien sprachen schnell von der »Braut, die sich nicht traut«. Vermutet wurde, dass Amanda einfach kurz vor der Hochzeit kalte Füße bekommen hatte und fernab ihrer Familie ein ganz neues Leben beginnen wollte.

Doch Amandas Mutter ist überzeugt, dass ihre Tochter nicht einfach untertauchte, sondern einem Verbrechen zum Opfer fiel.

Laurie Moran übernimmt den Fall für ihre Sendung und versucht, alle Beteiligten von damals wieder im Hochzeitshotel zu vereinen. Bald zeigt sich, dass eine ganze Menge Leute, die Amanda angeblich sehr nahestanden, durchaus Motive für ein Gewaltverbrechen gehabt hätten. Allen voran ihr Verlobter Jeff, der in Amandas Testament als Erbe ihres gesamten Treuhandvermögens eingesetzt ist und der bereits ein Jahr nach ihrem Verschwinden Amandas beste Freundin Meghan geheiratet hat.

Je tiefer Laurie sich in den Fall gräbt, desto verwirrender werden die Spuren. Und desto größer die Angst, dass sich mitten unter ihnen ein Mörder befindet …

ZUM AUTOR

Mary Higgins Clark (1927 -2020), geboren in New York, lebte und arbeitete in Saddle River, New Jersey. Sie zählte zu den erfolgreichsten Thrillerautorinnen weltweit. Mit ihren Büchern führte sie regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den begehrten »Edgar Award«. Sie starb am 31. Januar 2020 im Kreis ihrer Familie.

Alafair Burke war lange als Staatsanwältin tätig. Ihr Beruf inspirierte sie dazu, Kriminalromane zu schreiben, u. a. die New York Times-Bestsellerserie um Ellie Hatcher. Sie ist die Tochter von Erfolgsautor James Lee Burke und lebt in New York.

MARY

HIGGINS

CLARK

ALAFAIR BURKE

UND NIEMAND

SOLL DICH FINDEN

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ALL DRESSED IN WHITE bei Simon & Schuster, New York

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Copyright © 2015 by Nora Durkin Enterprises Inc.

All rights reserved. Published by arrangement with the original publisher, Simon & Schuster Inc.

Copyright © 2017 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, nach einem Konzept von Martina Eisele, unter Verwendung eines Bildes von shutterstock/Wedding Stock Photo

Redaktion: Claudia Alt

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-20477-8
V002

www.heyne-verlag.de

Zur Erinnerung an Joan Nye,

meine liebe Freundin seit unserem Aufenthalt

in der Villa Maria Academy, in Liebe

MARY

Für Richard und Jon

ALAFAIR

Treulich geführt ziehet dahin,

wo euch der Segen der Liebe bewahr!

PROLOG

Es war ein Donnerstagabend Mitte April im Grand Victoria Hotel in Palm Beach.

Amanda Pierce, die Braut, probierte mit Unterstützung ihrer langjährigen Freundin Kate ihr Hochzeitskleid an.

»Bete zu Gott, dass es passt«, sagte sie noch, aber der Reißverschluss glitt bereits mühelos über die heikle Stelle an der Taille.

»Ich weiß nicht, warum du dir überhaupt Sorgen machst«, entgegnete Kate.

»Na ja, nachdem ich letztes Jahr so viel abgenommen habe, war zu befürchten, dass ich jetzt zu viel zugelegt habe und das Kleid an der Hüfte zwickt. Ich dachte mir, wir testen das lieber gleich und nicht erst am Samstag. Sonst fummeln wir noch am Reißverschluss rum, wenn ich schon durch den Mittelgang schreite.«

»Keine Sorge, das wird nicht passieren«, erklärte Kate entschieden. »Außerdem ist mir völlig schleierhaft, warum du so nervös bist. Schau doch in den Spiegel. Du siehst toll aus.«

Amanda betrachtete sich. »Ist das Kleid nicht wundervoll?« Sie hatte in Manhattans besten Brautmodenläden mehr als hundert Kleider anprobiert, bevor sie in einem kleinen Geschäft in Brooklyn Heights auf dieses gestoßen war. Seide in gebrochenem Weiß, Empire-Linie mit handgefertigter Spitze für das Oberteil – genau, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Übermorgen würde sie es in der Kirche tragen.

»Es ist fantastisch«, sagte Kate. »Also, warum bist du dann so traurig?«

Wieder sah Amanda in den Spiegel. Sie hatte blonde Haare, ein schmales Gesicht, lange Wimpern und volle, rote Lippen. Sie sah toll aus, sie wusste es selbst. Aber Kate hatte recht. Sie wirkte traurig. Nein, nicht traurig, eher besorgt. Das Kleid passte wie angegossen. Das könnte sie doch als ein gutes Zeichen sehen, oder? Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich hab mir bloß überlegt, wie viel ich heute essen darf, damit ich am Samstag noch ins Kleid passe.«

Kate lachte und klopfte sich auf ihren kleinen Bauchansatz. »Das musst ausgerechnet du mir sagen. Im Ernst, Amanda, ist wirklich alles in Ordnung? Musst du immer noch an unser Gespräch von gestern denken?«

Amanda winkte ab. »Ach, längst vergessen«, antwortete sie, was aber nicht ganz der Wahrheit entsprach. »Gut, dann hilf mir mal wieder raus. Die anderen haben sich bestimmt schon fürs Abendessen fertig gemacht.«

Zehn Minuten später, als Amanda allein in ihrem Zimmer war – sie trug jetzt ein hellblaues Leinenkleid –, legte sie ihre Ohrringe an und warf dabei einen letzten Blick auf das Brautkleid, das sorgfältig auf dem Bett ausgebreitet lag. Da bemerkte sie am Ausschnitt einen Fleck, der wahrscheinlich von ihrem Make-up stammte. Dabei war sie so vorsichtig gewesen. Natürlich konnte man ihn rauswaschen, aber war das vielleicht das Zeichen, auf das sie gewartet hätte?

Die vergangenen zwei Tage hatte sie das Gefühl gehabt, als würde sie irgendwie neben sich stehen, als hätte das alles gar nichts mit ihr zu tun. Immer hatte sie nach Anzeichen Ausschau gehalten, ob diese Ehe wirklich sein sollte. Als sie jetzt den Fleck auf dem Kleid betrachtete, gab sie nicht ihrem Bräutigam, sondern sich selbst ein feierliches Versprechen: Wir haben nur ein Leben, und meines soll glücklich sein. Wenn ich nur den geringsten Zweifel habe, werde ich mich am Samstag nicht trauen lassen.

Und bald werde ich Bescheid wissen, dachte sie sich.

Das beruhigende Gefühl durchströmte sie, alles vollkommen im Griff zu haben. Sie ahnte nicht, dass sie am folgenden Morgen spurlos verschwunden sein würde.

1

Laurie Moran stand in der Schlange im Bouchon, der neu eröffneten französischen Bäckerei gleich an der Ecke ihres Büros im Rockefeller Center, und lauschte amüsiert der Teenagerin vor ihr, die unbedingt ihr Highschool-Französisch ausprobieren musste.

»Schö vu-drä an pan schokolat, si vu plä. Ach nein, doch lieber deux.«

Die Angestellte lächelte geduldig, während die junge Frau ihre Bestellung zusammenstoppelte. Sie war es anscheinend gewohnt, dass ihre Kunden ihre paar Französischbrocken bemühten, obwohl die Bäckerei im Herzen von New York City lag.

Laurie war lang nicht so geduldig. Es stand an diesem Tag ein Treffen mit ihrem Boss Brett Young auf dem Programm, und sie hatte sich immer noch nicht entschieden, welche Story sie ihm als erste anpreisen wollte. Sie musste sich also noch entsprechend vorbereiten und hätte dafür gern so viel Zeit wie möglich gehabt.

Nach einem abschließenden »meer sieh« ging das Mädchen mit ihren Gebäckteilchen endlich.

Laurie war an der Reihe. »Ich bestelle auf anglais, s’il vous plaît

»Merci«, antwortete die Bedienung erleichtert.

Es hatte sich eingebürgert, dass sie am Freitagmorgen in der Bäckerei vorbeischaute und ihren beiden Mitarbeitern, der Assistentin Grace Garcia und dem Produktionsassistenten Jerry Klein, etwas mitbrachte. Die freuten sich immer schon auf die Tartes, Croissants und Brötchen. Laurie gab ihre Bestellung auf, und anschließend fragte die Bedienung sie, ob sie noch etwas wünsche. Die Macarons sahen köstlich aus. Vielleicht ein paar für Dad und Timmy, dachte sie sich, und für mich vielleicht auch, zur Belohnung, falls das Treffen mit Brett gut verlaufen sollte.

Als sie im fünfzehnten Stock des Rockefeller Center 15 aus dem Fahrstuhl trat, wurde ihr wieder mal bewusst, wie sehr sich der Erfolg ihrer Arbeit im vergangenen Jahr in den Büros der Fisher Blake Studios widerspiegelte. Früher hatte sie mit einem kleinen Büro ohne Fenster vorliebnehmen und sich eine Assistentin mit zwei weiteren Produzenten teilen müssen. Seitdem sie aber ein auf wahren Kriminalfällen basierendes Sendeformat geschaffen hatte, war es mit ihrer Karriere steil bergauf gegangen. Inzwischen residierte sie in einem geräumigen Büro mit einer langen Fensterfront und eleganter, moderner Einrichtung. Jerry war zum Produktionsassistenten aufgestiegen und saß gleich nebenan in einem eigenen Zimmer. Und Grace wirbelte unermüdlich draußen im Großraumbüro. Die drei arbeiteten nun ausschließlich für ihre Sendung Unter Verdacht und mussten sich nicht mehr mit irgendwelchen 08/15-Programmen herumschlagen.

Grace war vor Kurzem siebenundzwanzig geworden, sah aber nach wie vor jünger aus. Mehr als einmal war Laurie versucht gewesen, Grace zu sagen, dass sie auf ihr penibles Make-up getrost verzichten könnte. Allerdings unterschied sich Graces Modegeschmack grundlegend von Lauries eher klassischem Stil. Heute trug ihre Assistentin eine farbenfrohe Seidentunika über hautengen Leggings, dazu zehn Zentimeter hohe Plateau-Stiefel. Die langen schwarzen Haare hatte sie zu einer Frisur à la Bezaubernde Jeannie hochgesteckt.

Normalerweise stürzte Grace sich mit Heißhunger auf die Tüte aus der Bäckerei, heute aber nicht. »Laurie«, sagte sie eher verhalten.

»Ist was, Grace?« Laurie kannte ihre Assistentin gut genug und sah ihr meist sofort an, wenn etwas nicht stimmte.

Als Grace zu einer Erklärung ansetzen wollte, erschien Jerry aus seinem Büro. Zwischen dem hochaufgeschossenen, schlaksigen Jerry und Grace auf ihren Monsterabsätzen kam sich Laurie wie eine Zwergin vor, obwohl sie selbst eins siebzig groß und schlank war.

Jerry hob entschuldigend beide Hände. »Eine Frau sitzt in deinem Büro, sie ist gerade erst gekommen. Ich hab Grace gesagt, sie soll ihr einen Termin geben. Nur damit du es weißt, ich habe nichts damit zu tun.«

2

Sandra Pierce sah aus dem Fenster von Laurie Morans Büro. Fünfzehn Stockwerke tiefer lag die berühmte Eislaufbahn des Rockefeller Center – zumindest stand sie mit ihren Schlittschuhläufern Sandra vor Augen, obwohl die Eisfläche, mitten im Juli, sommerlichen Gärten und einem Restaurant Platz gemacht hatte.

Aber sie sah wieder ihre eigenen Kinder vor sich, die dort unten vor zwanzig Jahren Hand in Hand übers Eis gekurvt waren: Charlotte, die Älteste, gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder Henry, und in der Mitte ihre kleine Schwester Amanda. Die größeren Geschwister hielten sie so fest, dass sie sicher vorwärtsglitt, obwohl sie mit den Kufen immer wieder von der Eisfläche abhob.

Mit einem Seufzen wandte sich Sandra vom Fenster ab und ließ den Blick schweifen. Es überraschte sie, wie ordentlich das Büro war. Sie war noch nie in einem Fernsehstudio gewesen, hatte sich aber immer riesige Räume mit zahllosen Schreibtischreihen vorgestellt, wie man sie manchmal im Hintergrund der Fernsehnachrichten zu sehen bekam. Laurie Morans Büro fühlte sich dagegen wie ein gestyltes, aber gemütliches Wohnzimmer an.

Ihr fiel das gerahmte Foto auf Lauries Schreibtisch auf. Nach einem Blick zur geschlossenen Tür nahm sie es zur Hand und betrachtete es. Es zeigte Laurie mit ihrem Mann Greg an einem Strand. Der kleine Junge im Vordergrund musste ihr Sohn sein. Sandra kannte die Familie nicht persönlich, aber sie hatte Fotos von Laurie und Greg im Internet gesehen. Sandras Neugier auf Unter Verdacht war nach der ersten Ausstrahlung der Sendung geweckt worden. Und als sie kürzlich einen Artikel über das ebenfalls von einem ungelösten Verbrechen überschattete Leben der Produzentin gelesen hatte, wusste sie, dass sie Laurie Moran persönlich treffen musste.

Sofort hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie hier in Lauries Privatsphäre eindrang. Sie hätte es ja selbst nicht gewollt, dass sich ein Fremder Fotos von ihr, Walter und Amanda ansah.

Fünfeinhalb Jahre war es nun her, dass sie das letzte Mal mit ihrem Exmann und ihrer jüngsten Tochter zusammen gewesen war – an den letzten gemeinsamen Weihnachten vor Amandas Hochzeit. Der geplanten Hochzeit. Bei der Erinnerung wurde ihr schwer ums Herz.

Werde ich mich jemals daran gewöhnen, Walter als meinen Exmann zu sehen?, dachte sie. Sie hatte Walter in ihrem ersten Semester an der University of North Carolina kennengelernt. Ihr Vater war beim Militär gewesen, weshalb sie überall auf der Welt herumgekommen waren, nur im amerikanischen Süden hatten sie nie gelebt. Es war ihr schwergefallen, sich dort einzugewöhnen – immer hatte sie das Gefühl, die Studenten, die dort aufgewachsen waren, folgten ungeschriebenen und ihr samt und sonders unbekannten Regeln. Ihre Zimmergenossin nahm sie dann mit zur ersten Football-Partie der Saison und versprach ihr, wenn sie für die Tar Heels brüllte, würde sie zu einer echten North-Carolinerin werden. Und der Bruder ihrer Zimmergenossin brachte einen Freund mit. Der war im zweiten Studienjahr, hieß Walter und stammte aus der Gegend. Er unterhielt sich mit Sandra und hatte schnell nur noch Augen für sie und kaum noch für das Spiel, und als sie im letzten Viertel alle zusammen die Hymne sangen – »Wir sind geboren für die Tar Heels, leben für die Tar Heels, und wenn wir sterben, nur für die Tar Heels« –, dachte sich Sandra, sie hätte den Mann gefunden, den sie einmal heiraten würde. Sie täuschte sich nicht. Von da an waren sie ein Paar. Sie zogen in Raleigh ihre drei Kinder auf, nur eine halbe Stunde Autofahrt von dem Stadion entfernt, in dem sie sich kennengelernt hatten.

In den ersten zweiunddreißig Jahren ihrer Ehe hatten sie einander in ihren ganz unterschiedlichen Bereichen immer unterstützt. Obwohl Sandra offiziell nie bei Walters Familienunternehmen angestellt war, beriet sie ihn bei der Präsentation von neuen Produkten, bei Werbekampagnen und Personalentscheidungen. Sie war diejenige, die mehr Gespür für die Gefühle und Motivationen der Mitarbeiter hatte. Walter revanchierte sich, wann immer er konnte, und unterstützte sie bei den Kirchen-, Schul- und Gemeindeprojekten, in denen sie sich engagierte. Sie musste lächeln, als sie an ihren großen Bären Walter dachte, der für das jährliche Entenrennen auf dem Ol’ Bull River mit einem Marker Hunderte Gummientchen nummerierte und dabei jede Zahl laut vor sich hin brummte, während er sie alle auf einen großen Haufen warf.

Sie waren in allem Partner – das jedenfalls hatte Walter immer gesagt. Natürlich war ihr jetzt klar, dass das nie ganz stimmte. Sosehr sich Walter auch anstrengte, in seiner Rolle als Vater blieb es meistens beim Bemühen. Er besuchte Schulaufführungen und Baseball-Spiele, aber die Kinder merkten natürlich, dass er in Gedanken ganz woanders war. Gewöhnlich bei der Arbeit – bei einer neuen Produktlinie, den Fabrikationsfehlern in einer der Fertigungsanlagen, dem Großhändler, der einen noch höheren Rabatt forderte. Walters bester Beitrag als Vater war es, dass er sich ums Geschäft kümmerte und damit der Familie ein Vermögen und finanzielle Sicherheit verschaffte. Damit blieb es Sandra vorbehalten, die emotionale Distanz auszugleichen, die zwischen ihm und den drei Kindern herrschte.

Und dann, vor zwei Jahren, traf sie eine schwerwiegende Entscheidung. Sie hielt es einfach nicht mehr aus, dass Walter jedes Mal aufbrauste, wenn sie Amandas Namen auch nur erwähnte. Jeder von uns trauert auf seine Art, dachte sie, und der Kummer, der sich in ihrem Haus angesammelt hatte, wurde ihr einfach zu viel.

Sie zog die Anstecknadel gerade, die sie am Revers trug, die Nadel mit dem Aufdruck AMANDA – BIS HEUTE VERMISST. Sie wusste nicht mehr, wie viele sie davon in den zurückliegenden Jahren hatte herstellen lassen. Oh, wie sehr hatte Walter diese Anstecknadeln gehasst, die überall im Haus in Kartons herumlagen. »Ich kann ihren Anblick nicht mehr ertragen«, hatte er gesagt. »Ich habe keine Minute mehr in meinem Haus, in der ich nicht daran denken muss, was Amanda zugestoßen sein könnte.«

Hatte er allen Ernstes erwartet, sie würde die Suche nach ihrer Tochter einstellen? Unmöglich. So blieb Sandra ihrer Mission treu, und Walter kehrte in sein gewohntes Leben zurück. Und das war es dann mit ihrer Partnerschaft.

Daher war Walter jetzt ihr »Exmann«, so seltsam ihr das Wort auch immer noch anmutete. Seit fast zwei Jahren lebte sie mittlerweile in Seattle. Sie war an die Westküste gezogen, um näher bei Henry und seiner Familie sein zu können, und wohnte dort in einem schönen holländischen Kolonialgebäude oben in Queen Anne. Ihre beiden Enkelkinder hatten ihre eigenen Zimmer, in denen sie übernachten konnten, wenn sie ihre Oma besuchen kamen. Walter war natürlich in Raleigh geblieben. Er müsse sich um die Firma kümmern, zumindest so lange, bis er in Rente ging, was, wie sie wusste, nie der Fall sein würde.

Sandra hörte Stimmen vor der Tür und ließ sich schnell wieder auf dem langen weißen Ledersofa vor der Fensterfront nieder. Bitte, Laurie Moran, bitte sei diejenige, die ich mir erhofft habe.

3

Die Frau, die auf sie gewartet hatte, erhob sich sofort vom Sofa und streckte ihr die Hand entgegen, als Laurie ihr Büro betrat.

»Ms. Moran, vielen Dank, dass Sie mich empfangen. Ich bin Sandra Pierce.« Ihr Händedruck war kräftig, und sie sah ihrem Gegenüber fest in die Augen, trotzdem entging Laurie nicht, wie nervös die Frau war. Was sie sagte, klang einstudiert, und ihre Stimme zitterte.

»Ihre Assistentin war so freundlich und hat mich hier warten lassen. Ich fürchte, ich war etwas aufgebracht. Hoffentlich bekommt sie also keinen Ärger. Sie war sehr nett zu mir.«

Laurie nahm sie sacht am Ellbogen. »Grace hat es mir schon erzählt. Ist alles in Ordnung?«

Bei einem schnellen Blick durchs Büro glaubte Laurie zu erkennen, dass ihr gerahmtes Foto auf dem Schreibtisch leicht verschoben war. Bei allen anderen Gegenständen wäre ihr das kaum aufgefallen, bei dem Foto allerdings war es anders. Fünf Jahre hatte sie es vermieden, ein Bild ihrer Familie mit ins Büro zu nehmen. Sie hatte ihre Mitarbeiter nicht ständig daran erinnern wollen, dass ihr Mann ermordet worden war. Erst als es der Polizei gelungen war, Gregs Mörder zu identifizieren, hatte sie dieses Foto rahmen lassen und auf ihren Schreibtisch gestellt – es war das letzte Bild, auf dem sie, Timmy und Greg gemeinsam zu sehen waren.

Die Frau nickte, vermittelte aber immer noch den Eindruck, als könnte sie beim geringsten Anlass die Fassung verlieren. Laurie führte sie zum Sofa, damit sie sich etwas beruhigen konnte.

»Es tut mir leid, ich bin sonst nicht so nervös«, begann Sandra Pierce. Sie verschränkte die Hände im Schoß, um das Zittern zu unterdrücken. »Nur, manchmal habe ich das Gefühl, als gäbe es keinen mehr, der mir noch weiterhelfen könnte. Die örtliche Polizei, die Bundesbehörden, die Staatsanwaltschaft, das FBI … Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Privatdetektive ich angeheuert habe. Einmal sogar einen Hellseher. Er hat mir erzählt, Amanda würde in naher Zukunft in Südamerika wiedergeboren werden. Danach habe ich es mit denen sein lassen.«

Die Worte sprudelten so schnell aus ihr heraus, dass Laurie Mühe hatte, ihr zu folgen. Aber mehr musste sie gar nicht hören. Ganz offensichtlich gehörte Sandra Pierce zu denen, die meinte, Unter Verdacht könnte alle ihre Probleme lösen und jede Ungerechtigkeit geradebiegen. Nachdem sich die Sendung zu einem so großen Erfolg entwickelt hatte, schienen immer mehr Menschen davon überzeugt zu sein. Tag für Tag füllte sich die Facebook-Seite der Sendung mit verworrenen Leidensgeschichten, die für sich in Anspruch nahmen, noch tragischer zu sein als die der anderen – es ging um gestohlene Autos, um untreue Ehemänner, bösartige Vermieter. Zweifellos hatten manche Hilfesuchende Hilfe auch bitter nötig, aber nur die wenigsten schienen einsehen zu wollen, dass sich Unter Verdacht ausschließlich mit Kapitalverbrechen befasste. Selbst wenn tatsächlich Verbrechensopfer oder deren Familien sie kontaktierten, musste Laurie die meisten Fälle ablehnen. Schließlich war die Zahl der von ihr produzierten Sendungen begrenzt.

»Bitte, Mrs. Pierce, es gibt keinen Grund zur Eile«, sagte Laurie, obwohl ihr die Zeit bis zu ihrem Treffen mit Brett davonlief. Sie ging zur Tür und bat Grace, ihnen Kaffee zu bringen. Im ersten Moment war sie durchaus verärgert gewesen, dass Grace die Besucherin in ihr Büro gelassen hatte, jetzt aber verstand sie, warum sie sich hatte erweichen lassen. Die Frau hatte etwas an sich, was ihr Mitgefühl weckte.

Und sie sah sehr gut aus, wie Laurie bemerkte, als sie sich wieder ihr zuwandte. Sandra Pierce hatte ein schmales Gesicht und schulterlanges, aschblondes Haar. Ihre Augen waren von einem klaren Blau. Laurie hätte sie auf sechsunddreißig geschätzt, so alt wie sie selbst, wären da nicht die verräterischen Fältchen am Hals gewesen.

»Grace sagte mir, Sie kommen aus Seattle?«

»Ja. Ursprünglich habe ich überlegt, ob ich Ihnen schreiben oder Sie anrufen soll, aber wahrscheinlich melden sich jeden Tag Hunderte bei Ihnen. Wahrscheinlich halten Sie mich für verrückt, wenn ich unangekündigt und uneingeladen quer durchs ganze Land fliege, um zu Ihnen zu kommen. Aber ich wollte sichergehen, dass ich die Gelegenheit nicht nutzlos verstreichen lasse. Denn Sie sind diejenige, auf die ich gewartet habe – nein, nicht Sie persönlich, natürlich nicht … Ich meine die Sendung.«

Allmählich bedauerte Laurie ihr Entgegenkommen. Sie musste unbedingt die Präsentation für Brett fertig machen. Was hatte sie überhaupt dazu veranlasst, sich Sandra Pierces Geschichte anzuhören? Sie wollte ihrer Besucherin schon erklären, dass sie sich noch auf ein Meeting vorzubereiten habe, als ihr der Anstecker an Sandras Blazer auffiel.

Auf dem Button war das Bild einer hübschen jungen Frau zu sehen. Ihre Ähnlichkeit mit Sandra war geradezu unheimlich. Unterhalb des Gesichts war ein gelbes Band aufgedruckt. Und irgendwie kam ihr das Foto bekannt vor.

»Sind Sie deswegen hier?«, fragte Laurie und zeigte auf den Anstecker.

Sandra sah an sich hinab, griff in die Tasche ihres Blazers und holte einen gleichen Anstecker heraus. Sie gab ihn Laurie. »Ja. Das ist meine Tochter. Ich habe die Suche nie aufgegeben.«

Als Laurie einen genaueren Blick darauf warf, rief das Lächeln des Mädchens eine ferne Erinnerung wach. Sie hatte das Foto noch nie gesehen, aber sie kannte das Lächeln. »Ihr Nachname, sagten Sie, lautet Pierce?« Sie hoffte, wenn sie den Namen laut aussprach, würde das ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.

»Ja, Sandra Pierce. Und meine Tochter ist Amanda Pierce. Meine Tochter ist die, die von den Medien als ›die Braut, die sich nicht traut‹ bezeichnet wird.«

4

Die Braut, die sich nicht traut. Laurie erinnerte sich sofort an den Fall. Amanda Pierce, die schöne blonde Braut, die einen attraktiven Anwalt heiraten wollte, den sie auf dem College kennengelernt hatte. Alles war für ein äußerst exklusives, rauschendes Fest in Palm Beach, Florida, vorbereitet, doch dann war sie einen Tag vor dem großen Ereignis einfach verschwunden.

Hätte sich die Geschichte zu einem anderen Zeitpunkt in Lauries Leben zugetragen, hätte sie wahrscheinlich nicht nur Amanda Pierce auf dem Foto, sondern sogar deren Mutter Sandra sofort erkannt. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte die Geschichte einer jungen Braut, die sich so kurz vor ihrer Traumhochzeit scheinbar in Luft auflöste, auf jeden Fall ihr Interesse geweckt. Immerhin erinnerte sie sich noch an die Spekulationen, die sich um den Vorfall rankten. Manche meinten, Amanda habe kalte Füße bekommen und ein neues Leben begonnen, irgendwo weit weg von ihrer erdrückenden Familie, möglicherweise sogar mit einem heimlichen Liebhaber. Andere glaubten, sie und der Bräutigam hätten sich am Vorabend gestritten, was in einer gewalttätigen Auseinandersetzung geendet hatte, und es sei »nur noch eine Frage der Zeit, bis ihre Leiche auftaucht«.

Obwohl die Geschichte alles besaß, was normalerweise ihre Aufmerksamkeit erregte, hatte Laurie den Fall nicht weiterverfolgt. Denn nur wenige Wochen vor Amanda Pierces Verschwinden war ihr eigener Mann Greg im Beisein ihres damals dreijährigen Sohnes Timmy erschossen worden. Und während Amandas Geschichte die Medien beschäftigte, war Laurie von der Arbeit freigestellt und hatte nicht viel mitbekommen, was außerhalb der eigenen vier Wände vor sich ging.

Sie erinnerte sich noch, damals den Fernseher angemacht und sich gedacht zu haben, dass der Braut – falls sie nicht doch im letzten Moment Reißaus genommen hatte – etwas Schreckliches zugestoßen sein musste. Sofort fühlte sie sich der Familie sehr nahe und glaubte zu wissen, was diese jetzt durchmachte.

Ihr Blick ging wieder zum Bild auf ihrem Schreibtisch, und unweigerlich musste sie an den schrecklichen Tag denken: Greg war mit ihrem Sohn zum Spielplatz aufgebrochen, und als er sich mit Timmy auf den Schultern von ihr verabschiedete, hatte sie ihn noch schnell geküsst – das letzte Mal, dass sie seine warmen Lippen gespürt hatte.

Zufällig sollte Amanda Pierces Hochzeit im Grand Victoria Hotel gefeiert werden. Laurie hatte mit Greg dort einmal einige Tage verbracht. Trotz ihres lachenden Protests, dass das Wasser doch viel zu kalt sei, war sie damals von ihm ins Meer gezogen worden.

Es klopfte an der Tür, gleich darauf kam Grace herein. Auf ihrem Tablett befanden sich zwei Tassen Kaffee und einige der von Laurie im Bouchon erstandenen Gebäckteile. Lächelnd sah Laurie zu Grace, als sie bemerkte, dass diese ihr absolutes Lieblingsteilchen – das Mandelcroissant – Mrs. Pierce anbot.

»Kann ich sonst noch etwas bringen?« Grace hatte es nicht unbedingt mit den Konventionen, aber wenn es darauf ankam, zeigte sie ganz altmodische Umgangsformen.

»Nein, danke.« Sandra Pierce lächelte verhalten.

Nachdem Grace wieder fort war, wandte sich Laurie an Sandra. »Ich muss gestehen, ich habe in letzter Zeit nichts über das Verschwinden Ihrer Tochter gehört oder gelesen.«

»Ich auch nicht, und genau das ist das Problem. Sogar damals, gleich nach dem Vorfall, hatten wir den Eindruck, dass die Polizei den Fall nicht recht ernst nimmt. Es gab keinerlei Hinweise auf eine tätliche Auseinandersetzung in Amandas Zimmer. Auch auf dem Gelände des Resorts wurden keine ungewöhnlichen Vorfälle bemerkt. Außerdem wäre man doch nirgends sicherer gewesen als im Grand Victoria – dort hätte die Hochzeit stattfinden sollen. Ich habe es ja selbst miterlebt, wie die Polizisten immer wieder auf ihre Uhr und ihr Handy sahen, als gingen sie davon aus, dass Amanda jeden Moment zu Hause in New York auftauchen und eingestehen würde, dass ihr wegen der Hochzeit mulmig geworden ist.«

Hatte Sandra Vorbehalte gegen die Polizei? Laurie konnte sich erinnern, sogar in den kurzen Fernsehausschnitten Freiwillige gesehen zu haben, die das Hotelgelände nach Spuren der vermissten Braut abgesucht hatten. »Wenn ich mich recht erinnere, wurde damals doch einiges unternommen, um sie zu finden«, sagte Laurie. »Der Fall war wochenlang Thema in den Nachrichten.«

»Ja, sicher, es wurde alles abgehakt, was seitens der Behörden in einem Vermisstenfall offiziell zu tun ist«, entgegnete Sandra verbittert. »Und wir standen jeden Tag vor den Kameras und flehten die Öffentlichkeit an, uns zu helfen.«

»Wer ist ›wir‹?« Laurie ging zu ihrem Schreibtisch und nahm einen Notizblock zur Hand. Sie spürte, wie Sandras Geschichte sie zunehmend in ihren Bann zog.

»Mein Mann Walter. Mein jetziger Exmann, Amandas Vater. Und ihr Verlobter Jeff Hunter. Eigentlich war die ganze Hochzeitsgesellschaft beteiligt. Meine beiden anderen Kinder Charlotte und Henry, zwei Collegefreundinnen von Amanda, Meghan und Kate, und zwei Collegefreunde von Jeff, Nick und Austin. Wir haben überall in der Gegend Flyer verteilt. Zunächst hat sich die Suche auf das Hotelgelände konzentriert, dann haben wir sie ausgeweitet. Es hätte mir fast das Herz zerrissen, als ich gesehen habe, wie abgelegene Landstriche, Kanäle, Baustellen und die Sümpfe entlang der Küste abgesucht wurden. Nach einem Monat ist die Suche dann aber eingestellt worden.«

»Sandra, was ich nicht verstehe: Warum wurde Ihre Tochter als die Braut, die sich nicht traut, bezeichnet? Ich kann nachvollziehen, dass die Polizei zunächst davon ausging, dass sie ihre Meinung geändert hatte. Aber später müssen die Behörden Ihre Bedenken doch geteilt haben. Warum meinten sie trotzdem, Ihre Tochter wäre davongelaufen?«

Sandra zögerte, also hakte Laurie nach. »Sie sagten, es habe keine Auseinandersetzung in ihrem Zimmer gegeben. Wurde ihr Koffer vermisst? Ihre Handtasche?« Anhand dieser Gegenstände konnte man meistens erkennen, ob sich jemand bloß auf und davon gemacht hatte oder ob Schlimmeres passiert war. Ohne Geld und Ausweispapiere kam man nicht weit.

»Nein«, antwortete Sandra. »Es schien nur eines aus ihrer Brieftasche zu fehlen, nämlich ihr Führerschein. Alles andere, Kleidung, Handtasche, Schminkset, Kreditkarten, Handy – das alles war noch in ihrem Zimmer. Abends hatte sie oft nur eine winzige Handtasche mit der Magnetkarte für das Hotelzimmer und einem Schminkset bei sich. Diese Tasche ist nie gefunden worden. Sie hätte leicht ihren Führerschein dazupacken können, falls sie vorhatte, den Wagen zu benutzen. Sie und Jeff hatten einen am Flughafen gemietet. Soweit wir wissen, hatte Amanda ihn als Letzte gefahren, als sie mit ihren Freundinnen am Morgen beim Einkaufsbummel war. Auf dem Hotelgelände gibt es einen Parkplatz, dort war er immer abgestellt.«

Oder, dachte Laurie, sie hat ihren Führerschein und einiges Bargeld mitgenommen und sich mit jemandem getroffen. Allmählich dämmerte Laurie, warum damals so viele gemutmaßt hatten, Amanda wäre aus freien Stücken verschwunden. Aber sie hatte noch eine andere Frage: »Und der Mietwagen – der stand auf dem hoteleigenen Parkplatz?«

»Nein. Man fand ihn drei Tage später hinter einer aufgelassenen Tankstelle, etwa acht Kilometer vom Hotel entfernt.«

Sandras Lippen wurden schmal, ihre Wut war nicht zu übersehen.

»Die Polizei beharrte darauf, Amanda hätte sich mit jemandem bei dieser alten Tankstelle getroffen und wäre dort in einen anderen Wagen gestiegen. Am nächsten Morgen, als ihr Verschwinden bekanntgegeben und ihr Foto im Fernsehen gezeigt wurde, behauptete eine Frau aus Delray Beach, Amanda gegen Mitternacht in einem weißen Mercedes-Cabrio an einer Ampel gesehen zu haben. Es war angeblich während einer lang anhaltenden Rotphase, daher will sie sie ganz deutlich erkannt haben. Amanda soll auf dem Beifahrersitz gesessen haben. Zum Fahrer konnte die Frau allerdings keine Angaben machen, außer dass er angeblich groß war und eine Mütze aufhatte. Die Frau war eine Verrückte, ganz eindeutig. Sie hatte es bloß auf Publicity abgesehen. Sie konnte es kaum erwarten, vor eine Kamera zu kommen.«

»Und Sie meinen, die Polizei hat ihr geglaubt?«

»Die meisten Polizisten schon. Vor der Polizeidienststelle bekam ich einmal zufällig mit, was sich zwei Beamte erzählten. Sie lehnten an ihrem Streifenwagen, rauchten eine Zigarette und redeten über meine Tochter, als wäre sie irgendeine Figur aus einer Fernsehsendung. Einer der beiden war überzeugt, dass sie einen heimlichen Liebhaber hat – natürlich einen russischen Milliardär, mit dem sie sich auf eine Insel abgesetzt hätte. Der andere schüttelte bloß den Kopf, und ich dachte schon, er würde jetzt Amanda verteidigen. Aber dann sagte er – und das werde ich nie vergessen: ›Ich wette mit dir um zehn Mücken, dass wir ihre Leiche demnächst aus dem Atlantik fischen.‹«

Sandra rang mit den Tränen.

»Das tut mir leid«, sagte Laurie. Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.

»Oh, glauben Sie mir, die beiden haben was von mir zu hören bekommen. Eine Polizistin, Marlene Henson, ist immer noch offiziell mit dem Fall betraut. Eine nette Frau, aber natürlich geschieht nichts mehr. Verzeihen Sie, wenn ich persönlich werde, Ms. Moran, aber ich bin aus einem ganz bestimmten Grund zu Ihnen gekommen. Sie wissen, wie es ist, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Und wenn man jahrelang nicht weiß, was mit ihm geschehen ist oder wer dafür verantwortlich ist.«

Greg war durch einen Schuss in die Stirn getötet worden, als er sich mit Timmy auf dem Spielplatz aufgehalten hatte. Der Täter hatte es ganz bewusst auf Greg abgesehen und sogar Timmys Namen gekannt. »Timmy, sag deiner Mutter, dass sie die Nächste ist«, hatte er ihm aufgetragen. »Und dann bist du an der Reihe!« Fünf Jahre lang hatte Laurie vom Mörder ihres Mannes nur gewusst, dass er blaue Augen hatte. So hatte ihr Sohn ihn beschrieben. »Der Mann mit den blauen Augen hat meinen Daddy erschossen!«

Laurie nickte also nur.

»Und jetzt, Ms. Moran, stellen Sie sich vor, Sie würden noch weniger wissen. Sie würden noch nicht einmal wissen, ob dieser von Ihnen geliebte Mensch überhaupt noch am Leben ist oder ob er längst schon tot ist. Sie würden nicht wissen, ob er zu leiden hatte oder doch irgendwo ein glückliches Leben führt. Stellen Sie sich das vor. Insgeheim denken Sie sich vielleicht, ich könnte von Glück reden. Ich könnte mich doch an die Hoffnung klammern, dass Amanda noch lebt, solange ihr Leichnam nicht gefunden wird. Ich habe nie geglaubt, dass sie aus freien Stücken verschwunden ist. Vielleicht wurde sie entführt und versucht sich jetzt zu befreien. Oder sie wurde von einem Auto angefahren und leidet seitdem an Amnesie. Es gibt also immer noch Hoffnung für mich. Aber manchmal denke ich mir, was wäre es doch für eine Erleichterung, wenn der fürchterliche Anruf endlich käme und man mir sagen würde, dass es endgültig vorbei ist. Dann würde ich wenigstens wissen, dass sie Ruhe gefunden hat. Ich würde endlich Gewissheit haben. Aber bis dahin kann ich nicht aufhören … ich werde nie aufhören, nach meiner Tochter zu suchen. Bitte … möglicherweise sind Sie meine letzte Hoffnung.«

Laurie legte ihren Notizblock auf den Beistelltisch, lehnte sich zurück und wappnete sich, Sandra Pierce das Herz zu brechen.

5

Laurie strich sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr, was bei ihr immer ein Zeichen für Nervosität war. »Mrs. Pierce …«

»Bitte nennen Sie mich Sandra.«

»Sandra, es muss unendlich schwer sein, nicht zu wissen, was mit Amanda geschehen ist. Aber unsere Sendung ist in ihren Möglichkeiten begrenzt. Wir sind nicht die Polizei oder das FBI. Wir kehren an den Tatort zurück und stellen die Ereignisse nach, so wie sie von den Beteiligten damals erlebt wurden.«

Sandra Pierce beugte sich vor. »Aber genau deshalb wäre Amandas Fall doch so perfekt. Das Grand Victoria ist eines der bekanntesten Hotels der Welt. Eine glamourösere Bühne werden Sie nicht finden. Außerdem lieben Zuschauer Geschichten, die mit Hochzeiten zu tun haben, und einem rätselhaften Kriminalfall können sich die wenigsten entziehen. Ich werde meine Familie zur Teilnahme überreden können, eingeschlossen Walter, meinen Exmann. Ich habe auch schon eine der Freundinnen meiner Tochter angerufen, Kate Fulton. Sie hat mir versprochen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun. Die beiden Freunde des Bräutigams werden ebenfalls zustimmen. Und Jeff, glaube ich, wird es nicht wagen, sich zu widersetzen.«

»Darum geht es nicht, Sandra. Zum einen handelt unsere Sendung von Altfällen. Von Verbrechen. Sie sagten selbst, die Polizei hat keinerlei Beweise, dass Ihre Tochter tatsächlich Opfer eines Verbrechens wurde. Vielleicht haben Sie recht, und sie wurde tatsächlich gewaltsam entführt. Aber es gibt keine Beweise, dass hier wirklich ein Verbrechen vorliegt.«

Mittlerweile liefen Sandra Tränen übers Gesicht.

»Es ist über fünf Jahre her«, sagte sie. »Meine Tochter war eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Sie war begeistert von New York City. Es gab vor ihrem Verschwinden keine auffälligen Barabhebungen oder Kreditkartentransaktionen, und auch seitdem absolut nichts mehr. Sie hat ihre Freunde und ihre Familie geliebt. Sie hätte uns nie solchen Kummer bereitet. Wenn sie nicht hätte heiraten wollen, hätte sie das Jeff schonend mitgeteilt, und die beiden wären getrennte Wege gegangen. Bitte, Sie müssen mir glauben – Amanda ist nicht davongelaufen.«

»Gut, aber dann haben wir immer noch ein zweites Problem. Unsere Sendung heißt aus gutem Grund Unter Verdacht. Wir konzentrieren uns auf Verbrechensfälle, bei denen dem Opfer nahestehende Personen der Tat verdächtigt werden, auch wenn sie nie offiziell angeklagt wurden – was allerdings ihr ganzes Leben überschattet. Amanda gilt im Grunde lediglich als vermisst, es gibt niemanden, der eines an ihr verübten Verbrechens beschuldigt wurde.«

»Oh, ich denke, Jeff Hunter würde Ihnen in dieser Hinsicht etwas anderes erzählen.«

»Der Bräutigam? Ich dachte, er wäre bei Ihnen und Ihrem Mann gewesen und hätte sich auch an der Suche beteiligt?«

»Anfangs ja. Uns wäre nie der Gedanke gekommen, dass Jeff mit der Sache irgendwas zu tun hat. Aber eine Woche nach Amandas Verschwinden engagiert Jeff einen Anwalt und weigert sich danach, ohne dessen Beisein mit der Polizei überhaupt zu reden. Warum braucht er einen Anwalt, wenn er sich nichts hat zuschulden kommen lassen? Ganz davon zu schweigen, dass er selbst Anwalt ist.«

»Das erscheint tatsächlich seltsam.« Unschuldige, wusste Laurie, heuerten Anwälte an, um sich selbst zu schützen. Ihr selbst war das allerdings nie in den Sinn gekommen, obwohl auch sie nach dem Mord an Greg von einigen Ermittlungsbeamten argwöhnisch unter die Lupe genommen wurde.

»Und als Jeff dann nach New York zurückkehrt, versuchen einige aus der Staatsanwaltschaft darauf hinzuwirken, dass seine Kanzlei ihn entlässt, weil sie davon überzeugt sind, dass er an Amandas Verschwinden beteiligt ist. Wenn Sie sich auf diesen zwielichtigen Klatsch-und-Tratsch-Websites herumtreiben, werden Sie sogar heute noch eine ganze Menge Leute finden, für die Jeff sämtliche Kriterien für Unter Verdacht erfüllt. Und die werden definitiv einschalten, wenn Sie sich Amandas Falls annehmen.«

Sandra abzuwimmeln erwies sich als schwieriger, als Laurie angenommen hatte. Mittlerweile fürchtete sie, dass ihr ganzer Morgen zum Teufel sei, obwohl sie doch noch am Vormittag mit ihrem Boss über mögliche neue Fälle reden sollte. Laurie hatte eine Liste mit den drei Top-Fällen für die nächste Sendung zusammengestellt, sich aber noch nicht festgelegt. Daran musste sie noch arbeiten.

»Sandra, wenn Frauen verschwinden, geraten die Freunde und Ehemänner immer bis zu einem gewissen Grad ins Visier der Ermittler. Aber Sie sagten selbst, Sie glauben nicht, dass er irgendetwas damit zu tun hat.«

»Nein, ich sagte, zunächst glaubten wir das nicht. Er tat uns erst ganz fürchterlich leid. Aber dann kam das eine zum anderen. Erst ließ er sich durch einen Anwalt vertreten. Dann fanden wir heraus, dass für Jeff eine Menge Geld auf dem Spiel steht. Amanda und Jeff, müssen Sie wissen, hatten vor der geplanten Hochzeit einen Ehevertrag geschlossen. Durch Walters Unternehmen war unsere Familie – und Amanda, die für das Unternehmen arbeitete – im Besitz beträchtlicher Vermögenswerte. Jeff dagegen besaß sehr wenig.«

»Sie sagten doch, der Verlobte Ihrer Tochter sei Anwalt?«

»Ja, und ein sehr guter noch dazu. Er hatte den besten Abschluss seines Jahrgangs an der juristischen Fakultät in Fordham. Aber er konnte weder auf ein Familienvermögen zurückgreifen, noch war er jemand, der selbst viel Geld verdiente. Als Pflichtverteidiger in Brooklyn hatte er gerade mal ein Drittel von Amandas Einkommen, von ihren Anteilen am familieneigenen Unternehmen ganz zu schweigen. Zudem stand es außer Frage, dass sie einmal die Unternehmensleitung übernehmen würde, wenn sich ihr Vater zur Ruhe setzt. Mir gefiel es ganz und gar nicht, dass ein Vertrag für eine mögliche Scheidung aufgesetzt wurde, bevor die beiden überhaupt verheiratet waren, aber Walter hatte darauf bestanden.«

»Wie hat Jeff darauf reagiert?«

»Als Anwalt, sagte er, habe er volles Verständnis dafür. Ich war sehr erleichtert, dass er keinerlei Einwände erhob. Aber dann stellten wir fest, dass Amanda neben dem Ehevertrag einen Monat vor der Hochzeit auch noch ein Testament aufgesetzt hatte. Walter fürchtete, dass Jeff die Familie nach Strich und Faden ausnehmen könnte, falls die Ehe zu Bruch ging, aber in ihr Testament konnte Amanda natürlich reinschreiben, was sie wollte. Wahrscheinlich war sie so verärgert über ihren Vater und den Ehevertrag, auf den er bestand, dass sie das Testament eindeutig zu Jeffs Gunsten abfasste. Sie hinterließ ihm nämlich ihr gesamtes Treuhandvermögen.«

»Und um wie viel handelt es sich dabei?«

»Um zwei Millionen Dollar.«

Das erstaunte Laurie dann doch. Sandra hatte also nicht übertrieben, als sie sagte, die Familie besitze Vermögen. »Und, hat Jeff die Summe schon erhalten? Oder müssen erst sieben Jahre vergehen, damit man jemanden für tot erklären kann?«

»Ja, das ist wohl die gesetzliche Frist. Wenn man ihren Leichnam findet, gewinnt dieser grässliche Polizist in Florida seine Zehn-Dollar-Wette. Aber Jeff bekommt in diesem Fall zwei Millionen Dollar plus beträchtliche Kapitalerträge. Er könnte Amanda aber auch schon jetzt für tot erklären lassen und sich auf diese Weise das Geld sichern. Hätte Amanda die Hochzeit abgesagt, wäre ihm absolut nichts geblieben. Keine Entschädigung durch eine Scheidung, kein Erbe, weil Amanda nach ihrer Rückkehr nach New York das Testament unverzüglich geändert hätte.«

»Er war mit Ihrer Tochter verlobt – dann müssen Sie ihn doch recht gut gekannt haben. Ist Jeff Ihnen jemals als ein gefährlicher Mensch erschienen?«

»Nein. Wir hielten ihn für einen wunderbaren Ehemann. Er war Amanda sehr zugetan, eine treue Seele. Aber rückblickend hätten wir die Zeichen vielleicht erkennen können. Seine beiden besten Freunde, Nick und Austin, genießen, soweit ich weiß, nach wie vor ihr Junggesellendasein und sind ständig mit anderen Frauen zusammen. Gleich und gleich gesellt sich gern, sagt man doch.«

»Sie meinen, Jeff wäre untreu gewesen?«

»Es erscheint jedenfalls möglich, wenn man sich anschaut, wie das mit Meghan gelaufen ist.«

Laurie sah zu ihrem Notizblock auf dem Beistelltisch. »Meghan ist …«

»Meghan White, die Brautjungfer. Sie war Amandas beste Freundin am Colby. Und sie hatten auch nachher, als sie nach New York zogen, viel miteinander zu tun. Sie ist ebenfalls Anwältin. Für Einwanderungsrecht. Amanda und Jeff kannten sich vom College, hatten da aber nichts miteinander zu schaffen. Meghan jedenfalls hat Amanda in New York mit Jeff bekanntgemacht. Und ich bin überzeugt, dass sie das sehr bedauert hat.«

»Wie meinen Sie das?«

»Na ja, es stellte sich heraus, dass Meghan sich öfter mit Jeff getroffen hat, bevor er Amanda kennenlernte. Und nach Amandas Verschwinden wartete sie nicht lange und schnappte ihn sich. Es hat kaum ein Jahr gedauert, bis sie verheiratet waren. Meghan White ist jetzt Mrs. Jeff Hunter. Und ich glaube, einer von ihnen oder beide gemeinsam haben meine Tochter ermordet.«

Laurie fasste zu ihrem Notizblock. »Fangen wir noch mal von vorn an.«

6

Zwei Stunden später, als sich die beiden Frauen immer noch unterhielten, gab Lauries Handy einen Alarmton von sich. Das Treffen mit Brett Young stand in zehn Minuten an.

»Sandra, ich habe einen Termin bei meinem Chef.« Brett gehörte nicht zu denen, die man warten lassen sollte. »Aber ich bin sehr froh, dass Sie den langen Flug auf sich genommen und mich auf Amanda aufmerksam gemacht haben.«

»Kann ich Ihnen noch irgendetwas erzählen, um Sie zu überzeugen, den Fall in Ihre Sendung zu nehmen?«, fragte Sandra, als sie das Büro verließ.

»Sandra, ich treffe diese Entscheidung nicht allein, aber ich verspreche Ihnen, ich werde mich bei Ihnen melden – so oder so.«