Cover

Buch

Ein jahrelanger Albtraum scheint für die Familie Whitaker endlich beendet: Anna und Toms Tochter Julie, die mit 13 Jahren entführt wurde,  steht als 21-Jährige plötzlich wieder vor ihrer Haustür in Houston, Texas. Endlich wieder vereint – die Familie kann ihr Glück kaum fassen. Doch schon bald spüren alle, dass die Geschichte der Verschwundenen nicht aufgeht. Julie lügt, verpasst Termine und schleicht mit unbekannten Absichten durch die Stadt. Als Anna dann von einem ehemaligen Polizisten geheime Informationen über den Entführungsfall erhält, hegt sie einen furchtbaren Verdacht. Sie macht sich auf die Suche nach der Wahrheit über die junge Frau, von der sie inständig hofft, dass es ihre Tochter ist, die ihr gleichzeitig aber auch äußerst fremd erscheint und das gesamte Familiengefüge bedrohlich ins Wanken bringt …

Autorin

Amy Gentry hat ihr Studium an der Universität von Chicago mit einem PhD abgeschlossen und lebt in Austin, Texas, wo sie englische Literatur an einer High School unterrichtet. Gleichzeitig arbeitet sie als freie Literaturkritikerin für die LA Review of Books und Chicago Tribune.  Good as Gone ist ihr erster Roman, der noch vor Erscheinen für riesiges Aufsehen sorgte und in über 20 Länder verkauft wurde.

Amy Gentry

GOOD AS GONE

Ein Mädchen verschwindet.
Eine Fremde kehrt zurück.

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Astrid Arz

C. Bertelsmann

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Die Originalausgabe Good as Gone erschien 2016
bei Houghton Mifflin Harcourt, Boston New York.

Copyright © 2016 by Amy Gentry

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

beim C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: www.buerosued.de, München

Umschlagmotiv: plainpicture/Demurez Cover Arts/Sonja Losberg

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-20493-8
V002

www.cbertelsmann.de

Für Curtis, den besten Menschen auf Erden

Prolog

Jane wachte auf und flüsterte: »Julie?«

Ringsum gähnende Leere. Jane schlief nun seit zwei Jahren in dem neuen Haus im eigenen Zimmer und träumte mittlerweile nicht mehr, dass der Deckenventilator aufs Bett fallen und sie zerstückeln würde. In den Schatten lauerten auch keine Spinnen mehr; bei Zehnjährigen muss man vor dem Einschlafen nicht mehr jede Ecke überprüfen. Nur ab und an, wenn sie mitten in der Nacht von etwas geweckt wurde, fehlten ihr in der Stille Julies leise Atemzüge. Im alten Haus hatte sie immer einen Fuß über das Geländer des oberen Bettes gehängt und gekichert, bis Julie pssst gemacht und schlaf weiter, Janie gesagt hatte. Jetzt kniff sie die Augen fest zu, bevor sie zu den finsteren Winkeln wandern konnten, wo Wände und Decke ineinander übergingen.

Das nächste Geräusch kam eindeutig aus Julies Zimmer.

Jane schlug die Decke zurück und setzte die bloßen Füße auf den Teppich. Im alten Haus war sie beim Aufstehen auf einen rutschigen Flechtteppich über glatten Holzdielen getreten. Jetzt berührten ihre Füße nahezu geräuschlos dichten Teppichflor, während sie zur Tür tappte und den dunklen Flur hinabspähte. Am Ende war unscharf der Umriss eines etwas helleren Rechtecks auszumachen – eine geschlossene Tür.

Sie schliefen selten bei geschlossener Tür: In Janies Zimmer wurde es zu heiß, in Julies zu kalt. Mom klagte über den schlechten Luftaustausch in doppelstöckigen Häusern, aber die Tür zum Elternschlafzimmer unten im Erdgeschoss blieb immer zu, weil Mom und Dad Erwachsene waren. Julie wollte das jetzt offenbar auch sein, seit sie dreizehn war, und schien ständig dafür zu üben: bürstete sich unendlich lange vor dem Badezimmerspiegel die Haare, als würde sie heimlich für ein Theaterstück proben, und saß an ihrem Schreibtisch, um Tagebuch zu schreiben, statt sich wie Jane bäuchlings auf dem Bett zu lümmeln. Und jetzt machte sie also die Zimmertür zu.

Ganz hinten im Flur zitterte das hellere Rechteck, bis sich an einer Seite ein dunkler Spalt auftat. Julies Tür wurde nach innen aufgezogen, von vier großen Fingern, die die Kante umfassten.

Noch ehe Jane einen klaren Gedanken fassen konnte, war sie in ihren Wandschrank geschlüpft, machte sich darin klein und zog die Tür hinter sich zu. Diese Finger – sie waren zu hoch oben am Türblatt gewesen, um zu Julie zu gehören, und zu groß für ihre Mutter. Ihrem Vater gehörten sie auch nicht, doch sie wusste nicht, wieso ihr das klar war, und das beunruhigte sie am allermeisten.

Ein kurzes scheußliches Klicken erinnerte sie daran, dass die Schranktür nie lange zublieb. Sie griff danach, aber zu spät: Die Tür glitt bereits langsam auf.

Jane kniff die Augen zusammen, während leise Sohlen über den Flur näher kamen.

Als sie wieder einen Blick riskierte, war die Schranktür von selbst keine zehn Zentimeter vom Rahmen entfernt stehen geblieben. Der schmale Streifen Flur, den sie aus ihrem Versteck sehen konnte, leuchtete fast vor der tieferen Schwärze im Schrank: Sie sah jede Faser im beigen Teppichboden, jede kleine Delle in der Wandfarbe und das gerahmte Fotostudioporträt im Flur, auf dem eine Jane von ganz früher auf dem Schoß einer Julie von ganz früher saß, in einem Babykleidchen mit aufgesticktem Segelschiff. Das Schiff zitterte auf seinen Garnwellen. Auch alles andere vibrierte. Die Schritte näherten sich Janes Zimmer.

Die laute Bodendiele mitten im Flur knarrte, und die Schritte hielten an. Der Besitzer der Hand war halb bis zu ihrem Zimmer gekommen. Konnte er das Knacken in ihren Ohren hören, jedes Mal, wenn ihr hämmerndes Herz das Schiffchen zum Zittern brachte? Jane widerstand dem Drang, sich tiefer in ihren Kleidern an den klappernden Bügeln zu verkriechen.

Da erschien ein schmaler Fuß auf dem Teppich, mit einem rosa Lackfleck am Nagel des großen Zehs, und Jane atmete auf. Es war bloß Julie. Vor ihrer Geburtstagsparty im Juni hatte sie den pinkfarbenen Lack eine Stunde lang sorgfältig auf ihre Zehennägel aufgetragen, doch im Hochsommer war das meiste davon am rauen weißen Boden des Swimmingpools abgeschabt, sodass sich nur diese kleinen dreieckigen Ränder gehalten hatten. Bei den Fingern hatte Jane sich also getäuscht, sich wieder Sachen eingebildet, wie mit den Spinnen in den Ecken. Na klar, da kam Julie ja schon ins Blickfeld, und ihr vertrautes Micky-Maus-Schlafshirt schlackerte ihr um die vertrauten Knie. Sie ging zur Treppe hinter Janes Zimmer, wahrscheinlich unterwegs in die Küche zu einem Mitternachtssnack. Janes eigenes dazu passendes Donald-Duck-Shirt war in einer braunen Tüte, aussortiert für den Wohltätigkeitsladen; sie war schon rausgewachsen. Mom sagte, eines Tages würde sie größer sein als Julie. Erleichtert schlang Jane die Arme um ihre Schlafanzugknie.

Doch da waren die Finger wieder, diesmal um Julies Schulter gekrallt, packten den Stoff ihres T-Shirts und klemmten ihre langen blonden Haare zwischen knubbeligen Knöcheln ein. Jane bekam gerade noch mit, wie stocksteif Julie ging, wie eine Puppe mit weit aufgerissenen Augen, bevor sie den großen fremden Mann sah, der direkt hinter ihr war. Wie in Zeitlupe bewegten sich Julie und der fremde Mann zusammen, so als wäre sein langer Arm mit der behaarten Hand eine Kette, die sie miteinander verband.

Wach auf, wach auf, wach auf, befahl Jane sich selbst, doch nichts geschah. Alles, auch sie, war erstarrt, wie in einem Traum; nur Julie und der Mann gingen weiter. Langsam, aber nicht erstarrt; langsam, aber schon fast an ihrem Zimmer. Jane wollte losschreien.

Da fiel Julies Blick auf sie.

Jane verschluckte ihren Schrei, als Julie direkt in ihr Versteck im Wandschrank sah. Sie erwiderte den Blick, flehte Julie stumm an, ihr zu sagen, was sie tun sollte, sie würde gehorchen: schreien, heulen oder vielleicht sogar lachen, falls das Ganze bloß ein Spaß war. Julie würde sie doch sicher nicht in diesem Albtraum alleinlassen. Wenn Julie ihr nur sagte, was zu tun war, gelobte sie sich selbst, würde sie ab jetzt immer auf sie hören und sich nie wieder beschweren.

Ohne den Kopf zu bewegen, zog Julie die Brauen hoch und wies mit den Augen auf den Mann hinter ihr, dann wieder auf Jane, wie um ihr zu sagen, sie solle ihn sich genau ansehen, aber Jane wollte nicht: lieber behielt sie Julie im Blick. Mädchen und Mann bogen auf dem Flur ab, ohne an ihrer Tür anzuhalten, und da sah Jane, warum Julie so steif ging: Der Mann hielt ihr die Spitze eines langen scharfen Messers an den Rücken. Jane spürte einen gemeinen Stich wie von einer Mücke zwischen den eigenen Schulterblättern, und Tränen schossen ihr in die Augen.

Sie hatten schon die Treppe erreicht, als es vom Dachboden her laut knackte. Jane wusste, es war nur das Holz, das arbeitete, doch der Mann blieb stehen und sah sich nervös um. In diesem Sekundenbruchteil drehte Julie, wie von einem Zauberbann befreit, den Kopf zu Jane, legte den Zeigefinger an die gespitzten Lippen zu einem lautlosen Pssst.

Jane gehorchte. Julie stieg die Treppe hinab, gefolgt von dem Mann mit dem Messer.

Und das ist, der einzigen Augenzeugin zufolge, die Geschichte, wie ich in einer Nacht meine Tochter – nein, meine beiden Töchter, einfach alles – verloren habe.

1

Julie ist seit acht Jahren fort, aber tot ist sie schon viel länger – seit Ewigkeiten. Ich trete in die schwüle Luft hinaus, um meine letzte Seminarstunde des Frühjahrssemesters zu halten. Mitte Mai ist es in Houston so schwül, als würde einem jemand seinen heißen Atem ins Gesicht blasen. Noch bevor ich die Haustür abgeschlossen habe, bildet sich ein feuchter Film zwischen Haut und Kleidern; fünf Schritte zur Garage, und jede noch so versteckte Körperstelle ist glitschig geworden. Als ich schließlich am Auto bin, läuft mir der Schweiß sogar zwischen die Finger, sodass mir der Thermobecher mit Kaffee beim Einsteigen in den Geländewagen fast entgleitet und heiße Tropfen herausspritzen. Ein paar landen auch auf meiner Hand, aber ich ignoriere den brennenden Schmerz und stelle die Klimaanlage an.

Jedes Jahr kommt der Sommer ein Ideechen früher.

Ich setze den Wagen zurück durch das eiserne Sicherheitstor, das wir einbauen ließen, als es schon zu spät war, und fädele mich auf Anliegerstraßen zum Zubringer und auf die Interstate 10 durch, wo sich massive Autobahnauffahrten aus Beton wie geriffelte Dinosaurierschwänze in den Himmel schwingen. Um acht Uhr, wenn die Hauptverkehrsadern in der Rushhour völlig verstopft sind, schleiche ich durch den vierzehnspurigen Verkehrsinfarkt, eine Landschaft aus glänzenden Motorhauben und roten Rückleuchten, die im diesigen Morgenlicht matt blinken.

Weil ich freie Sicht über die Autos brauche, steht der benzinsparende Prius in der Garage, während ich tagein, tagaus mit Toms Koloss von schwarzem Range Rover – nicht, dass er ihn brauchen würde – über drei verschiedene Freeways zur Universität und zurück fahre. Wenn ich im Schneckentempo dahinkrieche, kann ich die anderen Fahrer im Berufsverkehr vergessen und mich auf die abblätternden Buchstaben an den Betonvordächern von Ladenzeilen konzentrieren: BIG BOY DOLLAR STORE, CARTRIDGE WORLD, L-A HAIR. Das neonpinke Grinsen eines Tex-Mex-Restaurants, ein gelb-blaues IKEA-Ungetüm ragen hinter der Mautstraße auf, die gelbstichigen Backsteine von Apartmentanlagen, durch wuchernde Hecken aus Kräuselmyrten kaum vom Freeway abgeschirmt – alles erinnert mich daran, dass das Schlimmste bereits geschehen ist. Ich brauche das, wie meine Mutter ihren Rosenkranz brauchte. Gegrüßet seist du, Mister Carwash, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Bitte für uns, o Qwik-Fast-Copyshop. Heilige Mutter des Self-Storage, zu dir seufzen wir.

Selbst Julies Plakatwände sind weg. Genau hier war mal eine, an der Kreuzung zwischen der I-10 und der Umgehungsstraße 610, am Seniorenhochhaus, das zwischen Baptistenkirche und Betonüberführung eingepfercht ist, doch die Treuhänder haben vor fünf Jahren beschlossen, dass die Plakate weg sollten. Oder ist es noch länger her? Ich glaube, es wurde ihnen zu teuer, auch wenn ich nie wusste, was sie kosteten – der Julie-Fonds ist Toms Terrain. Heute strahlt das überdimensionale zahngeweißte Lächeln des Predigers einer Megakirche von der Plakatwand, neben den Worten STATT JEDERMANNSGLAUBEN: JEDEN TAG NEU GLAUBEN! Ich wüsste gern, ob sie ihn einfach direkt auf ihr Gesicht gepappt oder ob sie sie zuvor in Streifen heruntergerissen haben. Was für ein unsinniger Gedanke; seither war so vieles andere plakatiert. Zahnärzte, Vasektomie-Rückoperationen. Aus dem Seminarplan von heute geistert mir ein Vers von Wordsworth durch den Kopf: Wohin ist nun die Strahlung der Vision,/Wohin die Herrlichkeit des Traums entflohn?

Ich setze den Blinker und fädele mich auf die Umgehungsstraße ein. Trotz all der Jahre, in denen ich die Lyrik von Wordsworth gelesen und erforscht habe – obschon ich nun also gleich in einem Seminarraum voll formbarer junger Studenten darüber dozieren werde und das auch weiterhin vorhabe, solange meine Universität mich auf meinem Posten belässt, ohne Publikationen, Gremienarbeit oder sonstige Turnübungen zusätzlich zu der großen Überwindung, die es mich kostet, mich jeden Morgen aus dem Bett zu quälen und einer Welt zu stellen, in der meine schlimmste Befürchtung wahr geworden ist und ich dennoch irgendwie weiterlebe –, trotz alledem glaube ich weder an die Strahlung der Vision noch an den Traum. Sondern an Statistiken.

Statistiken besagen, dass die meisten entführten Kinder von Tätern verschleppt werden, die sie kennen; Julie wurde von einem Fremden entführt. Laut Statistik versuchen die meisten Kindesentführer, ihre Opfer in ein Fahrzeug zu locken; Julie wurde mitten in der Nacht mit vorgehaltenem Messer aus ihrem eigenen Zimmer entführt, während meine andere Tochter Jane in einem Schrank versteckt zusah. Und schließlich kommen statistisch gesehen drei Viertel aller entführten Kinder, die ermordet werden, in den ersten drei Stunden ihrer Entführung ums Leben. Wir nehmen an, dass Jane ziemlich genau drei Stunden lang im Wandschrank hockte, starr vor Schreck, bevor sie Tom und mich mit panischem Schreien weckte.

In dem Moment, in dem wir Julies Verschwinden bemerkten, war ihr Schicksal bereits besiegelt.

Die Unerbittlichkeit hat sich auf alles übertragen, wie eine ansteckende Krankheit oder wie Benzingestank. Um mir selbst einzubläuen, dass Julie tot ist, sage ich mir, dass sie es schon immer war: schon vor ihrer, schon vor meiner Geburt. Bevor Wordsworth zur Welt kam. Wenn ich an den Kiefern des Memorial Parks vorbeikomme, stelle ich mir vor, wie sie unter einer Decke rötlich-goldener Nadeln mit leerem Blick nach oben starrt. Wenn ich am Crestview-Wohnkomplex vorbeifahre, sehe ich sie im Azaleenbeet begraben liegen. Die Ladenzeile mit dem SunRay Nagelstudio und Spa ruft vor meinem inneren Auge Bilder vom Müllcontainer hinter dem SunRay Nagelstudio und Spa auf. Das ist meine Vision, mein Traum.

Früher wollte ich die ganze Welt für Julie. Jetzt will ich nur etwas zum Bestatten.

Mein Seminar – das letzte vor den Sommerferien – verstreicht wie auf Autopilot. Wordsworth könnte ich im Schlaf herbeten, und auch wenn ich jetzt wach bin, träume ich vor mich hin. Ich sehe den kristallblauen Pool, glitzernd wie ein Juwel, umgeben von einem frisch abgeschliffenen Sonnendeck unter hohen, hageren Kiefern. Die Mädchen waren völlig aus dem Häuschen wegen dieses Pools, und ich weiß noch, wie ich Tom, den Buchhalter, gefragt habe, ob wir ihn uns wirklich leisten konnten. Der gehobene Stadtteil Energy Corridor mit seinem Mehrwert an Starbucks und gut erreichbaren Country Clubs war eigentlich nicht unser Stil – vor allem nicht meiner. Aber die Mädchen fanden den Pool toll, sogar noch toller, als eigene Zimmer zu bekommen. Sie hatten nichts daran auszusetzen, dass wir aus einer schäbigen, von der Universität zu Verfügung gestellten Dienstwohnung in eine noble Wohngegend der Einfamilienhäuser mit Doppelgaragen und grünen Rasen zogen, bestückt mit Schildern zur Unterstützung von Highschool-Footballteams. Wir hatten verschiedene Gründe dafür, aber natürlich wollen alle nur hören, dass es uns sicherer schien.

»Das war’s für heute. Und nicht vergessen, Abgabetermin für Ihre Seminararbeiten ist der achtundzwanzigste, in meinem Postfach, spätestens fünf Uhr.« Als ich bei »einen schönen Sommer noch« angelangt bin, sind die meisten schon zur Tür raus.

Ich gehe über den Flur zu meinem Büro und spüre ein leises Vibrieren an der Hüfte. Eine SMS von Tom.

Kannst du Jane abholen? IAH 4:05, United 1093.

Ich lege das Handy weg, setze mich an meinen Computer und googele »universität washington akademischer terminkalender«. Dann sehe ich im Telefonverzeichnis nach, rufe eine Verwaltungsangestellte der Uni Washington an, mit der ich auf der Graduiertenschule war, und unterhalte mich kurz mit ihr.

Ich schreibe Tom zurück: Soll ich auch Abendessen holen?

Ein paar Minuten später: Nee.

Mehr haben wir beide uns offenbar nicht dazu zu sagen, dass Jane kurz vor dem Ende ihres ersten Studienjahrs nach Hause kommt.

Zurzeit ist es eine Kunst für sich, Jane in einer Menschenmenge zu erkennen. Man weiß nie, welche Farbe ihre Haare gerade haben. Ich warte in der Nähe von Gepäckkarussell neun, bis sich ein großes Mädchen mit schwarz-burgunderrotem Schopf aus dem Passagierknäuel löst. Nur eine ausgebleichte grüne Stirnlocke hat die letzte Färbeaktion unversehrt überstanden und baumelt ihr nun vor den Augen.

»Hi, Mom.«

»Hallo, Jane.« Wir umarmen uns, ihre schwere Büchertasche schlägt gegen meine Hüfte, als sie sich vorbeugt, und dann erzittert das leere Gepäckförderband mit einem kreischenden Geräusch, nach dem wir uns beide umsehen, während ich mir strikt verbiete, sie nach ihrem vorgezogenen Besuch auszufragen.

»Du hast die Haare wieder anders«, stelle ich fest.

»Jap.«

Alles, was Jane sagt oder tut, ist eine Variation des Türenknallens, das sie in der Mittelstufe zu ihrem Markenzeichen erhob, ein paar Jahre nach Julies Entführung. Auf der Highschool nahm sie zusätzlich laute Musik, gefärbte Haare und das eine oder andere Piercing ins Repertoire auf, doch das Türenknallen war und blieb die Hauptattraktion ihrer Auftritte. Tom folgte ihr dann immer pflichtschuldigst die Treppe rauf, wo er das Schluchzen und Schreien über sich ergehen ließ, das nur in gedämpfter Lautstärke zu mir durchdrang. Ich ließ ihr lieber ihre Ruhe.

»Hattest du einen guten Flug?«

»War okay.«

Lang war er. Ich habe Jane im Verdacht, dass sie sich hauptsächlich wegen der Entfernung von Houston für die Uni Washington entschieden hat. Als kleines Mädchen hat sie gesagt, sie wolle dort zur Uni gehen, wo ich unterrichte, doch damit war es etwa um die Zeit vorbei, als es mit dem Türenknallen losging. Sie hätte in Alaska enden können, wenn sie nicht auf einer Uni mit Quartalen statt Semestern bestanden hätte – auf jedes nur erdenkliche Unterscheidungsmerkmal kam es an. Sicher, alles typisches Teenagerverhalten, doch bei Jane nahm es eine besondere, verquere Bedeutung an, wie auch der Umstand, dass sie jetzt laut der Dame im Prüfungsbüro keins ihrer Frühjahrs-Module vollständig abgeschlossen hat.

Und das, nachdem sie ein ganzes Jahr ununterbrochen in Seattle geblieben ist. Thanksgiving machte mir nicht viel aus, Studenten im Quartalssystem lassen das meistens ausfallen, weil die Uni im Herbst so spät anfängt. Doch als sie uns Mitte Dezember am Telefon schonend beibrachte, dass sie noch dabei sei, sich einzuleben, dass eine Professorin sie zu einem Weihnachtsessen eingeladen habe, dass unsere Familie doch sowieso nie so richtig Weihnachten feiere, oder?, und dass sie das Gefühl habe, es täte ihrer Entwicklung zur Selbstständigkeit gut, zu bleiben, konnte ich förmlich hören, wie Tom, der an seinem Anschluss mithörte, das Herz brach. Ich überspielte sein Schweigen mit der einzig vernünftigen, wenn nicht einzig möglichen Antwort: »Du wirst uns natürlich fehlen, aber wir haben Verständnis dafür.«

Jetzt kommt es mir so vor, als sei die ganze Weihnachtssache noch so eine zugeknallte Tür gewesen, auf die ich nicht angemessen reagiert habe.

»Und«, setze ich erneut an. »Gefällt’s dir noch an der Uni?«

»Go Huskies«, imitiert sie den Washingtoner Schlachtruf mit schlaffer Siegerfaust. »Klar, Mum. Seit unserem letzten Telefonat hat sich eigentlich nichts geändert.« Die ersten Gepäckstücke fallen aufs Band, und wir beugen uns beide vor.

»War die Jacke warm genug für Januar da oben? Wintersachen sind gerade herabgesetzt, wir könnten shoppen gehen.«

Sie zupft verlegen an dem Parka, den sie trägt, seit sie sechzehn ist. »Der hier geht schon klar. Ich hab euch doch gesagt, so furchtbar kalt wird’s da gar nicht.«

»Alles gut mit deinen Seminaren?«

»Ja«, sagt sie. »Warum?«

»Ich frag ja nur.«

»Eigentlich läuft’s sogar richtig gut«, sagt sie. »Und zwar so gut, dass meine Profs mich Hausarbeiten einreichen lassen, als gleichwertige Prüfungsleistung statt Klausuren.«

Gleichwertige Prüfungsleistung! Wenn sich das nicht amtlich anhört. Ich frage mich, wie sie sie dazu gebracht hat, ihr einen zweiten Prüfungsversuch einzuräumen, statt sie durchfallen zu lassen. Meine Studenten sagen normalerweise einfach »Notfall in der Familie« und bauen darauf, dass ich nicht weiter nachhake.

Vorsichtig frage ich: »Gibt’s das öfter an der U-Dub?«

»Mom«, sagt sie. »Sag einfach ›University of Washington‹.«

Ich drücke kurz ihre Schulter. »Wir freuen uns so, dass du zu Hause bist.« Ich lasse den Arm wieder sinken, und wir starren Seite an Seite den glänzenden Metallschacht an, bis die Hälfte ihrer Mitreisenden ihr Gepäck heruntergeholt und weggerollt hat und sich das Rattern des Förderbands wieder lauter anhört. Schließlich purzelt Janes Rollkoffer den Schacht hinab und landet mit einem Plumps vor uns auf dem Band. Er war ein Geschenk zum Schulabschluss – apfelgrün und schon abgenutzt von seinem Jungfernflug nach Seattle und zurück, sodass er fast Ton in Ton ist mit ihrer grün gefärbten Strähne. Sie schnappt ihn sich vor mir, doch als sie nach den automatischen Schiebetüren stehen bleibt, um sich in dem schwülen Luftstoß, der uns draußen entgegenschlägt, aus dem Parka zu schälen, überlässt sie mir ihre Büchertasche.

»Ich merke, wir sind schon im Tropen-Modus.«

»Willkommen zu Hause«, gebe ich zurück und werde mit einem halbherzigen Lächeln belohnt.

Die Autofahrt wird dann wieder heikler. Obwohl ich selbst so viel Zeit an einer Universität zubringe, tappe ich bei ihrem Collegeleben im Dunkeln.

»Wie ist das Wohnheim?«

»Ganz gut.«

»Findest du deine Zimmergenossin noch nett?«

»Sie ist in Ordnung. Wir gehen uns aus dem Weg.«

»Wirst du nächstes Jahr wieder mit ihr zusammenwohnen?«

»Wohl eher nicht.«

Schließlich rette ich mich zu einem Thema, das bestimmt mehr hergibt, obwohl es schmerzhaft für mich ist. »Dann erzähl mir mal von dieser Anglistik-Professorin, bei der du zum Weihnachtsessen eingeladen warst.«

»Sie heißt Caitlyn und ist eigentlich Semiotik-Professorin.«

Caitlyn. »Ich hab nicht gewusst, dass an Anglistik-Instituten noch Semiotik gelehrt wird.«

»Das Seminar heißt ›Intersektionalitäten‹. Es gehört zur Anglistik, wird aber von der Linguistik, der Genderforschung, den Ethnologen und den Anthropologen gleichzeitig angeboten. Es gibt alle möglichen Zugangsvoraussetzungen, aber ich bin einfach am ersten Tag in Caitlyns Sprechstunde aufgetaucht und hab sie überredet, mich aufzunehmen.«

Mich packt unwillkürlich der Stolz. Als echte Professorinnentochter kennt Jane alle Schliche. Außerdem ist dies die längste zusammenhängende Wortfolge, die ich seit Ewigkeiten ohne Tom in der Nähe aus ihrem Mund vernommen habe. »Erzähl mir mehr darüber, was habt ihr gelesen?«

»Ich glaube, damit warte ich lieber, bis Dad auch dabei ist«, sagt sie.

»Aber sicher«, erwidere ich.

»Ich möchte nicht alles zweimal erzählen müssen.«

»Klar, Liebes.«

Ich stelle das Radio an, einen nicht-kommerziellen Sender, und der gemessene, tröstliche Klang von Nachrichtenkommentaren zur Rushhour erfüllt das Auto, während wir an einem Schießstand und an einer Turnhalle vorbeischleichen, wo ein Trainer vielleicht eben gerade auf eine Schar junger Kunstturnerinnen mit Pferdeschwänzen einbrüllt. Jane starrt aus dem Fenster. Wahrscheinlich fragt sie sich, warum nicht Tom sie abholt, sondern ich. Das wüsste ich auch gern.

Wenig später wird es uns beiden klar. Als wir in die Auffahrt einbiegen und am Himmel gerade das erste Abendrot aufzieht, sehe ich Tom durchs Küchenfenster, wie er das Abendessen zubereitet. Ich öffne die Hintertür und gehe rein, da schlägt uns beiden der leckere Geruch von Janes Lieblingspasta entgegen: Fettuccine Alfredo mit panierten Shrimps und gebratenem Spargel, ein absurd dekadentes Rezept, das Tom aus einer Fernseh-Kochshow hat und nur zu besonderen Anlässen zubereitet. Zum Ausgleich steht ein frischer Blattsalat in einer Schüssel neben dem Schneidbrett und wartet darauf, zum bunten Keramikgeschirr auf den Esszimmertisch gestellt zu werden.

»Janie!« Tom macht mit ausgebreiteten Armen einen Schritt auf sie zu, und Jane umarmt ihn stürmisch und drückt sich ihm mit geschlossenen Augen an die Brust. Ich verschwinde ins Bad, dann ins Schlafzimmer, um meine Seminarkleidung gegen eine bequemere Jeans zu wechseln, und vertrödele ein paar Minuten damit, zusammengelegte Wäsche aus einem Korb am Fußende des Bettes einzuräumen. Als ich wiederkomme, unterhalten sie sich angeregt; während Tom Tomaten einer alten Sorte für den Salat schneidet, trommelt Jane mit den Fingerspitzen auf der Echtholz-Arbeitsplatte herum, als spielte sie Klavier.

»Dad, du glaubst es nicht, mit was für Begriffen die Leute in dem Seminar um sich geschmissen haben«, sagt sie. »Derrida, all so was. Alle waren so viel schlauer als ich.«

»Hey, sie hat dich reingelassen, und sie ist die geniale Mac-Arthur-Stipendiatin.«

»Jedes Mal, wenn ich den Mund aufgemacht hab, ist schwachsinniges Zeug rausgekommen.«

»Immerhin hast du den Mund aufgemacht«, sagt er und lässt das Messer kurz ans Schneidbrett gelehnt ruhen, während er ihr in die Augen sieht. »Wetten, andere haben sich nicht getraut, überhaupt was zu sagen.«

Janes dankbares Lächeln, das ich über Toms Schulter eben noch sehen kann, lässt mich wie Milch gerinnen. Als könnte er es spüren, dreht Tom sich um und sieht mich da stehen. Er wirft die gewürfelten Tomaten auf das Grünzeug und nimmt die Salatschüssel in die Hand.

»Alles fertig!«, sagt er. »Schnapp dir die Pasta, Jane. Kommt, Zeit für das erste Familienessen seit Ewigkeiten.«

Und genau in dem Moment klingelt es doch tatsächlich an der Tür.