Buch
Vor vier Jahren erschütterte der Mord an der siebenjährigen Megan Purvis ganz London. Die Leiche des Mädchens wurde in abgelegenen Waldstück gefunden, auf ihrem nackten Schenkel stand das Wort »Sorry«. Zwei Jahre später verschwand Tilly Reid, auch ihre Leiche wurde gezeichnet und im Wald gefunden. Vierzehn Monate danach fand man erneut eine Mädchenleiche. Der Mörder der drei wurde nie gefasst. Und nun ist die kleine Poppy Glover verschwunden ...
Autorin
Tammy Cohen arbeitet als freie Journalistin für verschiedene Zeitschriften und Magazine, u.a. für Cosmopolitan und Woman and Home. Auch wenn sie das Schreiben fiktionaler Texte erst spät für sich entdeckte, sorgte sie mit ihrem ersten Psychothriller Während du stirbst für Furore und eroberte die Bestsellerlisten. Sie lebt mit ihrem Partner, ihren drei (fast) erwachsenen Kindern und einem sehr ungezogenen Hund im Norden Londons.
Von Tammy Cohen bereits erschienen
Während du stirbst
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TAMMY COHEN
PSYCHOTHRILLER
DEUTSCH VON BERND STRATTHAUS
Für las guapas: Rikki, Mel, Juliet, Fiona, Roma
Gestern um diese Zeit war nichts von alldem hier real. Gestern um diese Zeit wurde sie nur vermisst. Hoffnung und Möglichkeit atmeten noch in mir wie ein Ding, das sich im Dunkeln verborgen hält.
Vorgestern um diese Zeit war nichts von alldem überhaupt passiert. Die Sonne ging über einer Welt auf, die noch normal war, und sie stand neben meinem Bett und flüsterte: »Steh auf, Mami, Mia weint.« Und weil die Welt noch normal und nichts von alldem passiert war, fühlte ich mich zerschlagen und war unleidlich wegen des verlorenen Schlafs.
Um diese Zeit vor einer Woche war ich mit ihr auf dem Schulausflug zur City Farm in East London und sah ihr dabei zu, wie sie mit ihren Freundinnen zusammensaß und aß, was ich sorgfältig in verschieden große, mit Comicfiguren bedruckte Plastikdosen verpackt hatte, und bemerkte dabei zum ersten Mal, dass sie jetzt ein eigenes Leben führte, dass sie mir niemals mehr ganz vertraut sein würde. Vor nur einer Woche breitete sich ihr Leben verlockend vor ihr aus, als sie auf der Decke im Gras saß und Honigbrote aß, von denen ich die Krusten abgeschnitten hatte.
Gestern um diese Zeit war ich noch ich selbst.
1
Donnerstag wird der Müll geleert, denk dran, die Mülltonne vor das Tor zu stellen, oder sie nehmen ihn nicht mit. Jemima? Hat heute Sport, Turnzeug ist gewaschen und liegt neben ihrer Schultasche (das Oberteil ist langsam viel zu klein, muss ein neues bestellen), die Einkäufe sind ordentlich im Kühlschrank verstaut. Verdammt, Caitlins Geige braucht eine neue Saite. Muss dran denken, bei Maitlands eine mitzunehmen und sie vor dem Unterricht in der Schule abzugeben. Wie spät ist es? Vier? Halb fünf? Zum Glück ist Nancy dran, die Mädchen vom Ballett abzuholen, also habe ich Zeit für ein richtiges Abendessen. Brathähnchen? Oder was war es noch, was Jemima letzte Woche bei ihrer Freundin Violet gegessen hat und so gern mochte? Tagine mit irgendwas? Sollte ich das mal ausprobieren?
Verloren in ihrem Gedankenstrom, nahm Emma den Wecker nur am Rande wahr.
»Kannst du das Scheißding abstellen?«, fragte Guys Rücken. Er betonte das »Scheiß«, wie ein unsicheres Kind, das zum ersten Mal zu fluchen versucht. Schon komisch, dass sein Rücken fast schon eine eigene Persönlichkeit entwickelt hatte, jetzt, da Emma ihn so oft sah. Er war widerspenstig, kompakt und unnachgiebig – sie stellte ihn sich wie Marlon Brando in Endstation Sehnsucht vor, nur in sich gekehrte Muskeln und angespannter Widerstand. Ganz anders als Guy selbst, dessen Anwesenheit wie feiner Nebel über dem ganzen Haus lag und überall und nirgends gleichzeitig war.
Sie schwang die Beine aus dem Bett und stemmte sich mutlos hoch. Konnte es wirklich eine Zeit gegeben haben, in der sie die Decke zurückgeworfen und sich kopfüber in den neuen Tag gestürzt hatte? Sie versuchte sich zu erinnern, doch ihr Kopf war leer.
Sie saß auf der Bettkante wie ein Vogel auf seiner Stange und hob ihre Sachen von dem cremefarbenen Schaffellteppich auf. Die Wolle fühlte sich weich und tröstlich an, und sie verspürte den Drang, ihr Gesicht darin zu vergraben.
Stattdessen streifte sie mit möglichst wenigen Bewegungen ihren Schlafanzug ab und schlängelte sich in ihre Kleidung. Sie hatte Guy den Rücken zugewandt – wenn er sich umgedreht hätte, hätte er nur ihr Rückgrat und die scharfen Kanten ihrer Schulterblätter gesehen, bevor der Schleier ihres weiten grauen Baumwolljersey-Oberteils über die weiße Leinenhose mit den weiten Beinen fiel. »Die westliche Variante einer Burka« hatte Guy die Kleider einmal genannt, die sie dieser Tage trug. Er hatte dabei ironisch geklungen, doch sein Gesicht war traurig gewesen.
Obwohl es noch früh war, brannte die Sonne schon durch die weißen Vorhänge und beleuchtete die antiken Schränke im französischen Stil und den Sessel mit dem Kattunbezug und den cremefarbenen bestickten Kissen. Im Morgenlicht, das durch die Milchglasscheibe hereindrang, schien Guy, der in dem riesigen Bett seitlich auf einem Nest aus weißen Kissen und Daunendecken lag, wie eine übergroße Putte auf einer Wolke zu schweben. Nur sein Rücken, angespannt und düster, zeigte ihr, dass er wach war.
Sie tastete sich vorsichtig am Geländer entlang, öffnete dann die Tür zu Caitlins Zimmer einen Spaltbreit und verharrte einen Augenblick im Türrahmen. Als Emma zart den Fuß ihrer Tochter berührte, riss diese die Augen auf, die vom selben Goldbraun wie Herbstlaub waren, und blinzelte, obwohl Emma wusste, dass sie sie noch nicht sehen konnte. Sie war noch immer in dem Traumland, das sie im Schlaf besucht hatte, und jagte ihrem Traum durch hallende Korridore nach. Schließlich wurde ihr Blick fokussierter, und Emma wusste, dass sie nun wieder zu ihr kam. Es war dieser Moment, den sie am allermeisten genoss – wenn Caitlin von da zurückkehrte, wo auch immer sie gewesen war, und für einen kurzen Augenblick wieder ganz ihr gehörte.
»Hallo, Süße«, begrüßte sie sie in neutralem Tonfall, während sie sich auf die Bettkante setzte und mit der Rückseite der Finger über Caitlins weiche Wange strich. Was sie eigentlich wollte, war natürlich, sich ihre jüngste Tochter gegen die Brust zu pressen, sich neben sie ins Bett zu legen und sich unter dem Federbett an sie zu kuscheln. Doch erst vor Kurzem hatte sie gespürt, dass sich Caitlin bei diesem morgendlichen Knuddeln nicht mehr wohlfühlte. »Das ist mir zu heiß«, hatte sie sich beschwert und ihren noch immer weichen Körper versteift und sich gegen sie gestemmt. »Ich verdampfe gleich.«
An diesem Morgen nun schien Caitlin schon allein vor der Berührung der Finger ihrer Mutter zurückzuweichen.
»Hast du die Saite für meine Geige gekauft?«, wollte sie wissen und sah Emma dabei direkt, und ohne zu blinzeln, an.
»Tut mir leid, mein Liebling, ich hab’s vergessen. Deine dumme Mama wird dir deine Geige in die Schule bringen müssen.«
Caitlin runzelte die Stirn. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie bei der Scharade mit der gespielten Reue mitgemacht. »Ja, dumme Mama.« Doch jetzt, mit neun Jahren, war sie einfach nur sauer. »Du vergisst dauernd irgendwas.«
Der Vorwurf schmerzte – und zwar umso mehr, weil sie ihn sich verdient hatte. Emma versuchte sich zu erinnern, ob sie schon immer eine Mama gewesen war, die Dinge vergaß. Ja, klar, ihr Alltag war voller Textmarker und farbcodierter Kalender und kleiner Notizblöcke in leuchtenden Farben, auf denen »Nicht vergessen!« oben quer aufgedruckt war. Vielleicht war sie trotz der Post-its und der Kalender immer eine Mama gewesen, die Dinge vergaß – die Sorte Mutter, die an einem Freitag schwitzend und verspätet in ein beinahe leeres Klassenzimmer platzt, um ein angststarres Kind abzuholen; die Sorte Mutter, deren Töchter mit leeren Händen beim Kuchenbasar aufkreuzen.
Auf dem Weg weiter nach oben zögerte sie, dann straffte sie sich und klopfte sanft an Jemimas Tür. Jemima war dieser Tage so gereizt mit ihrer neu erworbenen Attitüde einer Dreizehnjährigen und so entfremdet von ihrem noch immer kindlichen Körper.
Jemima war bereits wach. Emma konnte sie hinter ihrer Tür wild murren hören. Sie war sicher schon dabei, Klumpen von Kleidern aus Schubladen zu zerren und sie nach dem einen unauffindbaren Ding zu durchforsten, das ihre Freundin India vor Neid schäumen lassen oder die Blicke Finns aus der Parallelklasse auf sie ziehen würde. Später würde Emma in ihr Zimmer gehen, die verstreuten Klamotten aufheben und sie ordentlich zusammengefaltet wieder in die Schubladen legen. Guy hasste es, wenn sie das tat. »Wie sollen sie es jemals selbst lernen, wenn du ihnen immer alles abnimmst?«, würde er sie anblaffen, weil er nicht verstand, dass sie es tun wollte. Um sich ihnen näher zu fühlen.
Als sie nach unten kam, saß Caitlin schon am Küchentisch und beugte sich über eine Schale mit Müsli, während ihre vielen dunklen Haare ihr Gesicht verbargen. Neben ihr auf dem Tisch stand eine Schachtel mit Loom-Bändern, und Emma wurde schwer ums Herz, wenn sie daran dachte, dass sie später die winzigen elastischen Kunststoffbänder vom Boden aufsammeln würde.
»Ich hasse Donnerstage.« Jemima hatte sich auf einen Stuhl gefläzt und starrte ihre Mutter böse an, als ob allein Emma dafür verantwortlich wäre, dass der Mittwoch nicht nahtlos in Freitag überging. »Doppelstunde Mathe, Doppelstunde Französisch und Ethik.«
Emma schaltete das Radio ein und wünschte sich, dass sie nur ein einziges Mal etwas anderes als diesen nervigen Musiksender hören könnten.
»Bist du dir sicher, dass diese Shorts das Richtige für die Schule sind?« Sie ließ ihre Stimme betont lässig klingen, doch trotzdem war es die absolut falsche Äußerung. Jemimas Kinn zitterte, und sie riss ihre grünen Augen sofort weit und beleidigt auf.
»Na ja, wenn ich irgendwas anderes zum Anziehen hätte, könnte ich vielleicht aussuchen, doch weil du mir ja nie was kaufst, habe ich nicht wirklich die Wahl, oder?«
Wann war ihre Tochter nur so wütend geworden? Wie konnte Emma sich so rasch vom Mittelpunkt ihrer Welt zur Erzfeindin entwickelt haben? Sie wandte sich ab, um nicht zu zeigen, dass es ihr etwas ausmachte. Zeichen von Schwäche brachten Jemima nur noch mehr auf.
Emma versuchte, die Jeansshorts über der schwarzen blickdichten Strumpfhose zu ignorieren, die Jemima als angemessen für einen Schultag erklärt hatte, zog ein dickes Schneidebrett aus einer Nische in der gepflegten Einbauküche hervor und begann, die Pausenbrote vorzubereiten. Wie immer musste sie zwei vollkommen unterschiedliche Varianten machen – Caitlin mochte Butter, aber keine Mayonnaise, Schinken, Tomaten, aber keine Gurken (»igitt, schleimig«). Jemima wollte Hummus (Emmas Weigerung, wie sie Vegetarierin zu werden, fasste sie als persönliche Beleidigung auf) mit Salat (aber nicht die knackigen Blätter, die im Inneren weiß waren). Eine mochte grüne Äpfel, die andere kernlose Clementinen. Eine wollte Salt&Vinegar Chips, die andere auf keinen Fall. In den seltenen Fällen, in denen Emma die Brotdosen vertauscht hatte, war die Verurteilung ihrer Töchter unerbittlich gewesen. »Vielen Dank! Ich musste den ganzen Tag hungern!«
An diesem Morgen achtete Emma darauf, die Brote getrennt voneinander zu schmieren, indem sie die verschiedenfarbigen Deckel ihrer Tupperdosen nutzte. Jemima: grün; Caitlin: blau.
Der Radiomoderator machte einen Witz über das Wetter, das nach Monaten grauer träger Morgen endlich wärmer und heller geworden war. Die Sonne schien bereits auf die Terrasse in Emmas Garten. Für einen Moment sah sie hinaus auf die gepflegten Holzbohlen in ihren geraden und geordneten Reihen, die den verwilderten und verwahrlosten Garten ersetzten, der sich hier befunden hatte, als sie das Haus kauften (konnte das schon fast zehn Jahre her sein? Wann hatte es angefangen, dass die Zeit eher in Jahrzehnten als in Tagen und Monaten verging?). Alle Häuser in ihrer Nordlondoner Straße – viktorianische rote Ziegelhäuser mit Buntglasfenstern in den Türen und neu angelegten Mosaikpfaden davor – hatten den gleichen Garten mit Holzterrasse. In Emmas und Guys Nachbarschaft waren die Leute Experten darin geworden, ihre rohen und unansehnlichen Rasenflecken zu überdecken.
»Mama, hat Frannie nicht gesagt, dass ich in der Theateraufführung nächstes Jahr mit einer richtig großen Rolle dran bin?«, fragte Caitlin drängelnd.
Obwohl sie nun schon mehrere Jahre Zeit gehabt hatte, sich daran zu gewöhnen, fand Emma es noch immer seltsam, dass ihre Kinder ihre Lehrer beim Vornamen nannten. In der progressiven Privatschule, die beide Mädchen besuchten und deren sanft geschwungene grüne Rasen sich nur einen Steinwurf entfernt von dem weiten, offenen Gelände von Hampstead Heath befanden, war man der Auffassung, dass Vornamen wenig hilfreiche Grenzen zwischen Lehrpersonal und Kindern einrissen, doch für Emma war das alles verwirrend. Nur durch aufmerksames Einordnen in den Kontext konnte sie erraten, ob ihre Töchter von Erwachsenen oder ihren Mitschülern sprachen.
»Vielleicht lassen sie dich einen Baum spielen oder so«, ätzte Jemima, während sie sorgfältig ihr Müsli durchforstete und die von ihr ungeliebten Stücke von Trockenfrüchten zu einem kleinen Haufen neben ihrer Schüssel auftürmte.
»Mama, sag ihr, dass ich kein Baum sein werde.« Caitlins Miene zeigte beleidigte Empörung. »Sag ihr, wie Frannie mich genannt hat. Sie hat gesagt, ich hätte viel Vor… Vor… Vor…«
»Vorstellungskraft«, kam Emma ihr zu Hilfe. »Sie sagte, du hast für ein Mädchen deines Alters eine außerordentliche Vorstellungskraft.«
»Ja, aber was weiß Frannie denn schon?«, warf Jemima ein. »Außer dass sie Lehrerin ist, hat sie doch nur in irgend so einem Andrew-Lloyd-Webber-Ding mitgespielt. Sie ist ja nicht berühmt oder so was.«
Wenn es nach Jemima ging, war man nur berühmt, wenn man bei X-Factor oder Made in Chelsea aufgetreten war. Alles andere war es kaum wert, sich damit zu beschäftigen.
Caitlin war den Tränen nah. Sie regte sich im Moment immer so leicht auf. »Du bist ja nur neidisch, weil man dich nie für irgendwas auswählt«, sagte sie zu ihrer Schwester mit gefährlich hoher Stimme. Emma hätte sich gern zu ihr an den Tisch gesetzt, sie in die Arme geschlossen und sie so lange an sich gedrückt, bis all ihre Sorgen verschwunden wären. Doch sie wusste, dass sich Caitlin aus ihrer Umarmung winden würde, während Jemima diesen Vorfall triumphierend auf ihrer stetig wachsenden Liste von Beweisen dafür notieren würde, dass Emma ihre Jüngste bevorzugte. Also blieb sie an der Arbeitsplatte stehen und löffelte Kaffeepulver in die Kanne, während Jemima mit einem ironischen Lachen antwortete. Im Hintergrund scherzte der ermüdend gut gelaunte Radiomoderator mit dem Nachrichtensprecher, der gerade damit anfangen wollte, die Schlagzeilen vorzulesen.
Caitlins Gesicht war nun ganz fleckig. Schließlich ließ sie eine Salve wütender Beschimpfungen los, die Jemima giftig konterte. Emma zögerte, fragte sich, ob sie eingreifen sollte, wusste jedoch, dass sie damit riskierte, die Zielscheibe für den gesammelten Ärger beider Töchter zu werden. Doch dann durchschnitt aus dem Radio ein Name die Kakofonie aus geschwisterlichem Zorn und das Summen der Mikrowelle, in der sie die Milch für den Kaffee aufwärmte.
Tilly Reid.
In genau diesem Moment begann Emmas Handy zu klingeln. Jemima hatte es so eingestellt, dass es einen allgegenwärtigen Popsong herausplärrte, der mit jeder weiteren Sekunde immer lauter wurde, bis er den gesamten Raum ausfüllte. Auch ohne auf das Display zu sehen, wusste sie, welcher Name darauf aufleuchten würde. Leanne Miller.
Emma bemerkte, dass die Mädchen mitten im Streit innegehalten hatten und in stummer Erwartung lauschten, als sie auf den Knopf mit dem grünen Telefonsymbol drückte.
»Emma? Es tut mir so leid«, begann die Stimme, die sie seit fast einem Jahr nicht mehr gehört hatte, die Stimme, in der sich all ihre Albträume zu einem einzigen verbanden.
Emma wartete nicht ab, was Leanne leidtat. Das war nicht nötig.
»Es hat noch eine gegeben, nicht wahr?«
2
Es gab Aspekte der Arbeit, die einen deprimierten, das war nicht zu leugnen.
Leanne meinte damit nicht nur den emotionalen Kram. Der war zu erwarten, wenn man es mit Familien zu tun hatte, für die plötzlich das Leben zur Hölle geworden ist. »Stressmanagement« war etwas, worauf sie in diesen Trainings für Opferschutz besonderen Wert legten. Ja genau. Sie erinnerte sich daran, wie sie zu ihrer ersten Einweisung gegangen war und all diese Strategien und Techniken im Kopf gehabt hatte, wie man mit dem Druck am besten umging, wie sie gefühlsmäßig Distanz wahren konnte, bla, bla, bla. Sie war nervös gewesen, hatte aber den Eindruck gehabt, gut vorbereitet zu sein und auf alles gefasst, was auf sie zukommen konnte, das Lob ihres Betreuers klang ihr noch in den Ohren. Nun erschauderte sie, wenn sie daran zurückdachte, wie naiv sie gewesen war – als wäre Stress etwas, das man einfach verwalten konnte, wie ein Konto oder Büroarbeit. Als könnte man menschliche Gefühle ordentlich portionieren und sie in einer hübsch angemessenen Distanz von sich weghalten.
Leanne war noch keine fünf Minuten da gewesen, als sie schon merkte, dass es kein Training dafür gab, mit Trauer umzugehen. Man konnte nur ihr Zeuge sein und sie hinnehmen. Natürlich achtete sie darauf, in den Nachbesprechungen mit der arbeitsmedizinischen Betreuung nicht dieses Wort – »hinnehmen« – zu verwenden. Das konnte man wirklich nicht tun – nicht wenn man weiterhin diesen Job ausüben wollte. Stattdessen sagte sie dann so etwas wie »mitfühlen«, zum Beispiel »mit den Nöten der Familie mitfühlen«. Doch sie fügte stets rasch hinzu, dass sie dabei objektiv blieb. Ich weiß, dass es meine wichtigste Aufgabe ist zu ermitteln und dass ich niemals Ratschläge geben darf, erzählte sie ihnen. Sie kannte die ganzen Sprachregelungen. Sie war nun seit fast elf Jahren dabei.
Training hin oder her, an manchen Tagen konnte es einen wirklich runterziehen, und heute war einer dieser Tage.
Sie war kurz nach sechs Uhr durch einen Anruf von Desmond aufgeweckt worden. Sobald sie seinen Namen auf dem Display gesehen hatte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Detective Chief Inspector Desmond war niemand, der einen so früh anrief, um einen guten Morgen zu wünschen oder sich zu versichern, dass man seinen Tag mit einer positiven Einstellung begonnen hatte.
»Wir haben mal wieder einen Mord zu bearbeiten«, erklärte er ihr. Kein Vorgeplänkel. Keine Nettigkeiten.
Als Leanne das Gespräch beendete, stemmte Will sich auf die Ellbogen hoch und sah sie mit dem fragenden Blick an, der sie noch immer zum Dahinschmelzen brachte. Will wusste, dass er sie besser in Ruhe ließ, wenn sie vom Telefon aufgeweckt worden war. »Du bist wie ein alter Motor«, pflegte Leannes Exmann Pete zu sagen. »Brauchst lange, bis du am Morgen auf Touren kommst.«
Leanne lehnte sich für einen Moment gegen die Kissen und versuchte, die Folgen dessen zu überblicken, was gerade passiert war, doch ihr Hirn schien eine halbe Stunde zeitversetzt zum Rest ihrer Person zu arbeiten.
Nach einer Weile stand Will auf, zog Leannes alten Frotteebademantel um seinen mageren Körper und tappte davon, um Tee aufzusetzen. Leanne konnte noch immer kaum glauben, dass ihr morgens jemand Tee machte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Pete ihr in den gesamten zwölf Jahren, die sie verheiratet gewesen waren, jemals ein Getränk ans Bett gebracht hätte. Und er wäre lieber splitternackt nach unten gegangen, als sich etwas von ihr überzuziehen. Er hätte das »unmännlich« gefunden.
Während Will sich hörbar in der Küche am Ende des Korridors zu schaffen machte, streckte Leanne sich wieder im Bett aus, das einmal ihr und Pete gehört hatte, nun aber ihr allein (und manchmal Will) gehörte, und zwar auf der blau-weißen Bettdecke, die Pete und sie zur Hochzeit bekommen hatten.
Sie versuchte, sich gedanklich auf das Gespräch zu konzentrieren, das sie gerade geführt hatte. Oder vielmehr auf das Gespräch, das sie nun würde führen müssen, da sie das Gespräch geführt hatte, das sie eben gerade geführt hatte.
Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass Leanne sich nicht darauf freute, Emma Reid anzurufen.
Desmond hatte ihr versichert, dass die Medien noch nicht Lunte gerochen hatten. Noch nicht. Gab es überhaupt ein Wort mit vier Buchstaben, das so sehr belastet war? Leanne wusste, dass tote Kinder für die Medien wie Goldstaub waren. Als sie diesen Job begonnen hatte, war sie darüber schockiert gewesen, wozu Reporter bereit waren, nur um eine Story zu bekommen, während sie immer wieder dieselben alten Phrasen droschen: »Für die Menschen ist es reinigend, darüber zu sprechen.« – »Vielleicht bringt Ihre Geschichte jemanden, der einen Hinweis hat, dazu, sein Schweigen zu brechen.« Und natürlich der verabscheuungswürdige letzte Strohhalm: »Wenn Sie nicht mit uns sprechen, schreiben wir die Geschichte trotzdem. Hätten Sie nicht lieber ein wenig Einfluss auf das, was wir berichten?« Sally Freeland, diese schreckliche Journalistin vom Chronicle, war dafür ein Paradebeispiel.
Seit Leanne mit Will zusammen war, war sie wesentlich zynischer geworden. Nicht dass Will etwa das Muster des abgebrühten Schreiberlings war. Für ihn als Kulturredakteur einer Marketingzeitschrift mit kleiner Auflage war es sehr viel wahrscheinlicher, dass er über die aktuelle Parfümwerbung schrieb als über die Ermittlungen in einem Kriminalfall, doch trotzdem wusste er, wie das Geschäft funktionierte, und deshalb redete Leanne sich gern ein, dass sie inzwischen weniger leicht zu schockieren war. Sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bevor irgendein Medienmensch bei Emma Reid anrief, um sie zu den Neuigkeiten zu befragen. Es war unbedingt notwendig, sich als Erste mit ihr in Verbindung zu setzen. Unbedingt. Sie redete schon wie Desmond.
Als Will mit zwei dampfenden Teetassen wieder ins Schlafzimmer kam, lag Leanne immer noch ratlos im Bett.
»Deine, glaub ich.« Er streckte ihr die Tasse hin, die sie immer benutzte, die, auf der seitlich der Schriftzug Diva aufgedruckt war – ein Geschenk von Pete aus besseren Zeiten.
Während Leanne auf ihren Tee blies, musterte Will ihr Gesicht, suchte nach Hinweisen darauf, was los war.
»In Ordnung«, gab sie nach. Obwohl er kein Wort gesagt hatte, brachte Wills endlose, übertriebene Geduld sie garantiert immer dazu, eine Indiskretion zu begehen. »Einer meiner alten Fälle ist, na ja, wieder zum Leben erwacht.«
»Tilly Reid?«
Leanne sah ruckartig auf. Dann machte sie ein Gesicht, das ausdrückte: »Du weißt, dass ich darüber unmöglich etwas sagen kann.« In solchen Momenten hatte sie das Gefühl, dass sie Pete vielleicht doch vermisste. Nicht weil Pete sie emotional so sehr unterstützt hätte, sondern weil er bei der Polizei war und sich deshalb wenigstens ein bisschen vorstellen konnte, was sie durchmachte.
»Es ist etwas passiert, das dazu führen wird, dass die Medien wieder alles aufwühlen werden«, erklärte sie Will so ungenau es eben möglich war. »Also muss ich mich wieder mit der Familie in Verbindung setzen. Und zwar im Grunde umgehend.« Dennoch machte sie keine Anstalten, sich zu bewegen.
Will sah sie weiter ruhig an. Der Bademantel, verblichenes Lila mit Flecken, die hundert Geschichten erzählten, klaffte vorn auf, sodass seine blasse, fast haarlose Brust zu sehen war, und sie wandte den Blick ab, als wäre das etwas Unanständiges.
»Lass mich raten, du willst es eigentlich nicht tun«, sagte er leise und strich ihr über den Arm.
Leanne gestattete es sich beinahe, sich unter dieser Berührung zu entspannen, doch dann riss sie sich wieder zusammen. Obwohl es manchmal schien, als könnte Will ihre Gedanken lesen, konnte er in diesem Fall unmöglich wissen, wie wenig Lust sie wirklich auf diesen Anruf hatte.
»Es ist immer dasselbe«, platzte sie heraus. »Ich rede mir ein, dass es das letzte Mal ist. Und dann passiert alles wieder aufs Neue. Und ich stehe wieder da und klingle an dieser verdammten Tür … Sie hasst mich, weißt du?«, erklärte sie Will und gab sich nicht einmal Mühe so zu tun, als wüsste er nicht genau, wer »sie« war. »Für sie bin ich Gevatter Tod im Rock.«
»Kannst du ihr das verübeln?«
»Wahrscheinlich nicht.« Leanne wehrte sich dagegen, doch in Wahrheit konnte sie Emma Reid natürlich nicht vorwerfen, dass sie sich anspannte, sobald Leanne sich ihr näherte. Als Leanne das letzte Mal bei ihr aufgetaucht war, war der Grund dafür, dass ein weiteres kleines Mädchen sein Leben verloren hatte. Jemand anderes Tochter, jemand anderes Schwester/Nichte/Enkelin. Nach Emmas Tilly hatte es zwei weitere Todesfälle gegeben, und natürlich hatte es vor Tilly noch Megan Purvis gegeben, den ursprünglichen »Engel«, wie die Boulevardzeitungen sie alle genannt hatten. Und immer wieder tauchte Leanne bei Emma auf wie die ungebetene Fee bei der Taufe – und niemals mit der einen Nachricht, nach der Emma sich am meisten sehnte: dass Tillys Mörder gefasst worden war.
Während Will unter die Dusche ging, lehnte sich Leanne wieder gegen das Kopfteil und schloss beide Hände fest um ihre Tasse. Wenn ihr Blick konzentriert gewesen wäre, hätte sie entweder ihr eigenes Bild in dem an der Wand lehnenden Spiegel angestarrt oder den übervollen Wäschekorb daneben. (»Die Klamotten kriegen irgendwann Beine und laufen von allein weg, wenn du sie noch ein bisschen länger liegen lässt«, hätte Pete gesagt, wenn er das gesehen hätte. Als läge die Wäsche irgendwie ganz allein in ihrer Verantwortung.) Doch an diesem Morgen war sie sich ihrer Umgebung ganz und gar nicht bewusst.
Stattdessen hatte sie Emma Reid vor Augen, so wie sie sie zum ersten Mal gesehen hatte – glänzendes karamellfarbenes Haar, das in einen dieser Knoten zurückgebunden war, in dem das Haar scheinbar unordentlich befestigt ist und aus dem sich wie ungewollt einige Strähnen lösen. Diese Frisur wirkte wahnsinnig lässig, doch Leanne hatte es oft genug bei ihren eigenen widerspenstigen hellbraunen Haaren ausprobiert (»beige« hatte Pete sie immer spöttisch genannt), um zu wissen, dass sie bei Weitem nicht so nebenbei entstanden war, wie es den Anschein hatte.
Die losen Haarsträhnen umrahmten ein kleines hübsches Gesicht mit makellosem Teint. Sie war die Art von Frau, die sich so schminken konnte, dass es wirkte, als wäre sie ungeschminkt. Leanne erinnerte sich, dass sie enge ausgeblichene Jeans getragen hatte, die in kniehohen Lederstiefel gesteckt hatten, und Leanne hatte an ihre eigenen Stiefel denken müssen, die um ihre Unterschenkel herum gerade eben passten, und sich gefragt, wie viele Zentimeter Umfang sie an jedem Bein verlieren müsste, um die Stiefel über dicke Jeans ziehen zu können. Und dann hatte sie sich schlecht gefühlt, weil sie an etwas so Triviales dachte. Heutzutage passierte ihr das mit dem schlechten Gewissen nicht mehr so oft. Sie verstand inzwischen, dass es fürs Trauern keine Regeln gab, keine Beschränkungen für die Art und Weise, wie man denken sollte oder nicht. Im ersten Moment konnte man mit etwas so Furchtbarem konfrontiert sein, dass man darüber alles, was man über die Welt wusste, infrage stellte, und im nächsten Moment würde man daran denken, dass man die Gasrechnung noch bezahlen musste. So war es einfach.
Als sie Emma Reid zum ersten Mal getroffen hatte, war Tilly nur vermisst gewesen. Guy, Emmas Ehemann mit dem kantigen Kinn, hatte unter Druck gestanden und war die ganze Zeit durchs Haus gestiefelt. Es gibt eine Menge, was man tun kann, wenn ein Kind vermisst wird – man kann Leute anrufen oder die Suche organisieren –, und Guy Reid war tatkräftig. Also war er ganz in seinem Element, ersann Strategien, dachte über Lösungen nach, über das »Best-Case-Szenario«. Soweit Leanne es beurteilen konnte, war der hochgewachsene Mann eine Art Problemlöser in der Bankbranche, einer dieser Menschen, die ihr Leben damit verbringen, mit Begriffen wie »Best-Case-Szenario« um sich zu werfen. Das war noch bevor es nichts mehr für ihn zu tun gab, bevor all diese tatkräftige Energie in ihm sich in etwas anderes verwandelte und das Best-Case-Szenario sich als schlimmer als alles herausstellte, was er sich hätte vorstellen können.
Emma war offensichtlich daran gewöhnt gewesen, dass ihr Mann diese Best-Case-Szenarios auch erreichte. Sie schien sich des Ernstes der Situation gar nicht bewusst zu sein – hatte nicht einmal die Verbindung zum Tod des kleinen Purvis-Mädchens zwei Jahre zuvor hergestellt. Sie hatte wie jemand ausgesehen, der darauf wartet, dass sich ein Missverständnis aufklärt, als hätte ihr der Kassierer zu wenig herausgegeben.
Leanne war diejenige gewesen, die ihnen die Neuigkeiten hatte mitteilen müssen, als sie zwei Tage später die Leiche gefunden hatten. Das war etwas, das man seinem schlimmsten Feind nicht wünschte. Der Leiter der Ermittlungen hatte ihr angeboten, sie zu begleiten, doch er hatte es auf eine Weise getan, die keinen Zweifel zuließ, dass er sich lieber ohne Betäubung die Zehennägel hätte herausreißen lassen, wie sie es Pete gegenüber später ausgedrückt hatte.
Also hatte sie es allein durchgezogen, hatte sich auf dem braunen Ledersofa der Reids vorgebeugt, um über den Couchtisch hinweg Emmas Knie zu berühren. Man hatte ihnen viel über Körpersprache und tröstliche Gesten beigebracht. Man hatte ihnen nichts darüber beigebracht, wie es aussieht, wenn direkt vor den eigenen Augen das Leben aus einem Menschen weicht, oder wie es sich anfühlt, auf eine Weise angeschaut zu werden, als wäre man selbst für die Dinge verantwortlich, die man gerade schilderte. Man hatte ihnen nicht beigebracht, wie unangemessen sich der Satz »Es tut mir leid« anhören kann.
Um Viertel vor acht hatte Leanne Emma Reid noch immer nicht angerufen. Wenigstens hatte sie zu diesem Zeitpunkt schon damit angefangen, sich anzuziehen. Normalerweise zog sie einfach die erstbesten Klamotten aus der »Arbeitsseite« ihres Kleiderschranks, doch heute gab sie sich etwas mehr Mühe. Heute würde ganz offensichtlich kein gewöhnlicher Tag werden, und sie wollte gewappnet sein, was hieß, dass sie Kleider tragen wollte, die nicht wirkten, als hätte sie sie unten aus dem Schmutzwäschebehälter hervorgekramt. Eine bemerkenswerte Eigenschaft von Emma Reid war, dass sie auch in tiefster Trauer noch die passenden Socken zu ihrem Outfit trug. Leanne konnte von Glück reden, wenn ihre Socken auch nur zueinanderpassten.
Leanne durchwühlte gerade ihre Unterwäscheschublade nach einer Strumpfhose ohne Loch, als ihr Telefon erneut klingelte. Desmond.
»Ich hoffe, Sie haben sie schon angerufen, denn offenbar verbreitet sich die Neuigkeit bereits.«
Scheiße.
»Ich wollte sie gerade anrufen.«
Desmond war davon unbeeindruckt.
Nachdem sie aufgelegt hatte, scrollte Leanne sofort durch ihre Kontaktliste. Die Festnetznummer war unter Reids gespeichert, daran erinnerte sie sich. Doch sie scrollte einen Eintrag weiter zu Reid, Emma.
Während sie darauf wartete, dass Emma ranging, versuchte sich Leanne, an die Stressabbautechniken zu erinnern, die man ihnen bei ihrem Training beigebracht hatte. Tief durchatmen, konzentrieren Sie sich auf Ihre Atmung, nicht auf das, was um Sie herum passiert. Nicht auf den Riss an der Decke über dem Schlafzimmerfenster, der im letzten Monat breiter geworden zu sein schien, nicht auf die Tatsache, dass die Strumpfhose, die sie ausgewählt hatte, eine Laufmasche am Oberschenkel hatte (sie dachte kurz darüber nach und entschied, dass der Rock sie gerade so verdecken würde), nicht auf das Bild von Emma Reid, wie sie in seliger Ahnungslosigkeit ihre morgendlichen Routinen verrichtete, oder auf Jemima Reids Gesicht, das vor Angst und Frustration ganz fleckig wäre.
»Emma? Es tut mir so leid …«