Zum Buch
Trevor Noah wurde schon als Verbrechen geboren. Er kam im südafrikanischen Township Soweto als Sohn einer Xhosa und eines Schweizers zur Welt – ein Gesetzesbruch unter dem Apartheidregime. In Farbenblind erzählt Trevor Noah ebenso feinsinnig wie komisch in achtzehn Geschichten von seinem Aufwachsen in Südafrika, das den ganzen Aberwitz der Apartheid bündelt.
Der New-York-Times-Bestseller vom »größten internationalen Comedy-Talent seit Jahren« (Die Zeit).
Zum Autor
Trevor Noah, geboren 1984 in Johannisburg, ist als Fernseh- und Radiomoderator, Comedian und Schauspieler tätig. 2011 zog er in die Vereinigten Staaten, im selben Jahr erschien die mehrfach preisgekrönte Netflix-Dokumentation You Laugh, But It’s True über seinen Werdegang als Künstler bis zu seinem ersten Soloprogramm. 2015 wurde er als »Personality of the Year« bei den MTV Africa Music Awards ausgezeichnet und übernahm die Moderation der einflussreichen US-amerikanischen Satiresendung The Daily Show. Noah, der sieben Sprachen spricht, darunter Deutsch, lebt in New York.
TREVOR
NOAH
FARBENBLIND
Aus dem Englischen
von Heike Schlatterer
BLESSING
Originaltitel: Born a Crime – Stories From a South African Childhood
Originalverlag: Spiegel & Grau, RandomHouse, New York
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Copyright © 2016 by Trevor Noah
Copyright © 2017 by Karl Blessing Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, unter Verwendung einer Vorlage von Greg Mollica
Umschlagabbildungen: Mark Stutzman nach einem Foto von Kwaku Alston (Trevor Noah) und Getty Images/AFP/Carl de Souza (Hintergrund)
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-20643-7
V002
www.blessing-verlag.de
Für meine Mutter. Mein erster Fan.
Danke, dass Du einen Mann aus mir gemacht hast.
Inhalt
1 Lauf!
2 Als Verbrechen geboren
3 Bete, Trevor!
4 Chamäleon
5 Das zweite Mädchen
6 Schlupflöcher
7 Fufi
8 Robert
9 Der Maulbeerbaum
10 Eines jungen Mannes lange, peinliche, bisweilen tragische und häufig beschämende Lehre in Herzenssachen, Teil eins: Valentinstag
11 Außenseiter
12 Eines jungen Mannes lange, peinliche, bisweilen tragische und häufig beschämende Lehre in Herzenssachen, Teil zwei: Verknallt
13 Farbenblind
14 Eines jungen Mannes lange, peinliche, bisweilen tragische und häufig beschämende Lehre in Herzenssachen, Teil drei: Der Abschlussball
15 Go, Hitler!
16 Die Cheese Boys
17 Die Welt liebt dich nicht
18 Das Leben meiner Mutter
Danksagung
IMMORALITY ACT, 1927
(Unsittlichkeitsgesetz)
Zum Verbot des außerehelichen Geschlechtsverkehrs zwischen Europäern und Eingeborenen und anderer damit in Zusammenhang stehender Akte
Erlassen Seine allerhöchste Majestät, der Senat und die Nationalversammlung der Südafrikanischen Union wie folgt:
1. Jeder europäische Mann, der außerehelichen Geschlechtsverkehr mit einer eingeborenen Frau hat, und jeder eingeborene Mann, der außerehelichen Geschlechtsverkehr mit einer europäischen Frau hat … macht sich strafbar und wird mit einer Freiheitsstrafe nicht über fünf Jahren bestraft.
2. Eine eingeborene Frau, die zulässt, dass ein europäischer Mann außerehelichen Geschlechtsverkehr mit ihr hat, und eine europäische Frau, die zulässt, dass ein eingeborener Mann außerehelichen Geschlechtsverkehr mit ihr hat, macht sich strafbar und wird mit einer Freiheitsstrafe nicht über vier Jahren bestraft …
Dieses Gesetz wird als Immorality Act von 1927 bezeichnet und tritt am 30. September 1927 in Kraft.
Teil I
DAS GENIALE AN DER APARTHEID war, dass sie Menschen, die die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung stellten, dazu brachte, aufeinander loszugehen. Aparthass, im Prinzip. Man unterteilt die Bevölkerung in verschiedene Gruppen und sorgt dafür, dass sie einander hassen, dann kann man sie ganz leicht lenken. Während der Apartheid war die Zahl der schwarzen Südafrikaner weit höher als die der weißen, das Verhältnis lag bei fast fünf zu eins, doch wir waren in verschiedene Stämme mit unterschiedlichen Sprachen geteilt: Zulu, Xhosa, Tswana, Sotho, Venda, Ndebele, Tsonga, Pedi und noch ein paar mehr.
Diese Stammesfraktionen existierten und bekämpften sich schon lange vor der Apartheid. Die weiße Regierung nutzte dann diese Feindschaft nach dem Motto »Teile und herrsche«. Die Stämme und andere Nichtweiße wurden systematisch in verschiedene Gruppen und Untergruppen eingeteilt. Diese Gruppen erhielten unterschiedliche Rechte und Privilegien, um die Feindschaft zwischen ihnen zu schüren.
Die vielleicht größte Kluft besteht zwischen den beiden größten Bevölkerungsgruppen Südafrikas, den Zulu und den Xhosa. Der Zulu-Mann ist ein Krieger. Er ist stolz. Er senkt den Kopf und stürmt in den Kampf. Als die Soldaten der Kolonialmächte im Land einfielen, stürzten sich die Zulu mit nichts als Speeren und Schilden in die Schlacht, obwohl der Feind Kanonen und Gewehre hatte. Sie wurden zu Tausenden getötet, hörten aber nie auf zu kämpfen. Die Xhosa dagegen betrachten sich als Denker. Meine Mutter ist eine Xhosa. Nelson Mandela war ein Xhosa. Auch die Xhosa führten einen langen Krieg gegen die Weißen, doch nachdem sie festgestellt hatten, dass der direkte Kampf gegen einen besser bewaffneten Feind aussichtslos war, verfolgten viele Häuptlinge der Xhosa einen flexibleren Ansatz. »Die Weißen sind hier, ob uns das nun gefällt oder nicht«, sagten sie. »Schauen wir mal, welche Werkzeuge sie haben, die uns nützlich sein könnten. Anstatt uns gegen Englisch zu wehren, sollten wir es lernen, dann verstehen wir besser, was der weiße Mann sagt, und können ihn zwingen, mit uns zu verhandeln.«
Die Zulu führten Krieg gegen den weißen Mann. Die Xhosa spielten Schach mit ihm. Lange Zeit war weder die eine noch die andere Gruppe besonders erfolgreich, und jede gab der anderen die Schuld an einem Problem, das keine der beiden geschaffen hatte. Die Verbitterung wuchs und wuchs. Jahrzeh–ntelang wurden diese Gefühle dadurch in Schach gehalten, dass man einen gemeinsamen Feind hatte. Dann kam das Ende der Apartheid, Mandela wurde aus der Haft entlassen und das schwarze Südafrika zog gegen sich selbst in den Krieg.
1 Lauf!
In Hollywoodfilmen gibt es manchmal diese verrückten Verfolgungsjagden, bei denen jemand aus einem fahrenden Auto springt oder gestoßen wird. Er stürzt auf die Straße und überschlägt sich. Doch dann steht er wieder auf und klopft sich den Staub ab, als ob das kein großes Ding wäre. Wenn ich so etwas sehe, denke ich jedes Mal: So ein Blödsinn. Wenn man aus einem fahrenden Wagen gestoßen wird, ist das verdammt schmerzhaft.
Ich war neun, als meine Mutter mich aus einem fahrenden Wagen stieß. Es war an einem Sonntag. Ich weiß, dass es an einem Sonntag war, weil sich die Geschichte auf dem Heimweg von der Kirche zutrug. Wir waren jeden Sonntag in der Kirche. Wir verpassten nie den Gottesdienst. Meine Mutter war – und ist es immer noch – eine sehr religiöse Frau. Sehr christlich. Wie viele eingeborene Völker übernahmen die schwarzen Südafrikaner die Religion ihrer Kolonialherren. Mit »übernahmen« meine ich, dass sie uns aufgezwungen wurde. Der weiße Mann war ziemlich streng mit den Eingeborenen. »Ihr müsst zu Jesus beten«, sagte er. »Jesus wird euch erretten.« Woraufhin die Eingeborenen antworteten: »Ja, wir müssen errettet werden – errettet von euch, aber das ist ein anderes Thema. Na, dann probieren wir es eben mal mit diesem Jesus.«
Meine ganze Familie war gläubig, doch während meine Mutter voll und ganz auf Team Jesus abfuhr, ergänzte meine Großmutter den christlichen Glauben durch ihre traditionelle Xhosa-Religion, mit der sie aufgewachsen war, und kommunizierte mit den Geistern unserer Vorfahren. Ich verstand lange nicht, warum so viele Schwarze ihre traditionelle Religion für den christlichen Glauben aufgegeben hatten. Aber je öfter wir in die Kirche gingen und je länger ich die Kirchenbank drückte, desto besser begriff ich, wie das Christentum funktioniert: Wenn ein amerikanischer Ureinwohner zu den Wölfen betet, ist er ein Wilder. Wenn ein Afrikaner zu seinen Vorfahren betet, ist er primitiv. Aber wenn Weiße zu einem Typen beten, der Wasser in Wein verwandelt, tja, dann ist das vollkommen vernünftig.
Gottesdienste oder ähnliche Veranstaltungen waren an mindestens vier Abenden in der Woche fester Bestandteil meiner Kindheit. Dienstagabends war Gebetskreis. Mittwochabends war Bibelkreis. Donnerstagabends war Jugendgruppe. Freitags und samstags hatten wir frei. (Zeit zu sündigen!) Und sonntags gingen wir dann in die Kirche. Genauer gesagt gingen wir in drei verschiedene Kirchen. Der Grund war der, dass meine Mutter sagte, jede Kirche gebe ihr etwas anderes. Die erste Kirche bot die jubilierende Lobpreisung des Herrn. Die zweite Kirche bot eine tiefgründige Analyse der Heiligen Schrift, die meine Mutter so liebte. Die dritte Kirche Leidenschaft und Katharsis. Dort spürte man wirklich die Gegenwart des Heiligen Geistes. Durch Zufall, weil wir zwischen den verschiedenen Kirchen hin und her pendelten, fiel mir auf, dass jede Kirche ihre eigene rassische Zusammensetzung hatte: Die jubilierende Kirche war gemischt. Die analytische Kirche war weiß. Und die leidenschaftliche, kathartische Kirche, die war schwarz.
Die gemischte Kirche war die Rhema Bible Church. Rhema war eine dieser riesigen, supermodernen Megakirchen in der Vorstadt. Der Pastor Ray McCauley war ein ehemaliger Bodybuilder mit breitem Lächeln und der Ausstrahlung eines Cheerleaders, der sich redlich bemühte, Jesus als coolen Typen zu präsentieren. Die Sitzreihen waren wie in einer Arena angeordnet, dazu gab es eine Rockband, die aktuelle christliche Popsongs spielte. Alle sangen mit, und wenn man den Text nicht kannte, war das auch okay, weil er auf einem riesigen Bildschirm eingeblendet wurde. Eine Art Christen-Karaoke. Ich fühlte mich in der gemischten Kirche immer bestens unterhalten.
Die weiße Kirche war die Rosebank Union Church in Sandton, einem sehr weißen und wohlhabenden Stadtteil von Johannesburg. Ich liebte die weiße Kirche, weil ich dort nicht in den richtigen Gottesdienst gehen musste. Den Part übernahm meine Mom, und ich besuchte derweil die Kinderveranstaltung, die Sonntagsschule. In der Sonntagsschule lasen wir coole Geschichten. Noah und die Sintflut war natürlich ein Favorit; daran hatte ich ja quasi ein persönliches Interesse. Aber mir gefielen auch die Geschichten, wie Moses das Rote Meer teilte, David Goliath besiegte oder Jesus die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieb.
Bei uns zu Hause war für Popkultur kein Platz. Boyz II Men waren im Haus meiner Mutter nicht erlaubt. Songs über einen Typen, der die ganze Nacht mit einem Mädchen rummacht? Nein, nein, nein. Das war tabu. Die anderen in der Schule sangen »End of the Road«, und ich hatte keine Ahnung, was sie meinten. Ich wusste, dass es diese Boyz II Men gab, aber ich wusste nicht, was sie machten. Die einzige Musik, die ich kannte, war die Musik aus der Kirche: erhebende, feierliche Lieder, in denen Jesus gepriesen wurde. Mit den Filmen war es nicht anders. Meine Mom wollte nicht, dass Filme mein Denken durch Sex und Gewalt verdarben, das ging gar nicht. Also war die Bibel mein Actionfilm. Samson war mein Superheld. Er war mein He-Man. Ein Typ, der mit dem Kieferknochen eines Esels tausend Philister erschlägt? Echt krass. Irgendwann landet man dann bei Paulus und seinem Brief an die Epheser, und die Handlung verliert sich etwas, aber das Alte Testament und die Evangelien? Ich kann alles wortwörtlich zitieren. In der weißen Kirche gab es jede Woche Bibelspiele und ein Quiz, und ich räumte immer total ab.
Dann war da noch die schwarze Kirche. Irgendwo gab es immer einen Gottesdienst in einer schwarzen Kirche, und wir probierten alle aus. Im Township war das meist eine Freiluftkirche im Stil der Zeltmission. Normalerweise gingen wir in die Kirche meiner Großmutter, eine methodistische Gemeinde alten Stils, fünfhundert afrikanische Omis in blau-weißen Blusen, die Bibel fest in der Hand, die geduldig in der heißen afrikanischen Sonne ausharrten.
Die schwarze Kirche war hart, da will ich niemandem etwas vormachen. Keine Klimaanlage. Keine Texteinblendungen auf einem gigantischen Bildschirm. Und der Gottesdienst dauerte ewig, mindestens drei bis vier Stunden, was ich verwirrend fand, weil der Gottesdienst in der weißen Kirche nur etwa eine Stunde ging – rein, raus, vielen Dank fürs Kommen. Aber in der schwarzen Kirche hatte ich das Gefühl, ich würde endlos herumhocken und darüber nachgrübeln, warum die Zeit so langsam verging. Ist es möglich, dass die Zeit wirklich stehen bleibt? Und wenn ja, warum bleibt sie in der schwarzen Kirche stehen und nicht in der weißen? Letztendlich kam ich zu dem Schluss, dass Schwarze mehr Zeit mit Jesus benötigten, weil wir mehr leiden mussten. »Ich bin hier, um meinen Segen für die Woche aufzufüllen«, sagte meine Mutter immer. Je mehr Zeit wir in der Kirche verbrachten, so dachte sie, desto mehr Segen sammelten wir an, ähnlich wie bei einer Starbucks-Bonuskarte.
Der einzige Lichtblick in der schwarzen Kirche war die Dämonenaustreibung, allerdings musste ich dafür bis zur dritten oder vierten Stunde durchhalten. Die Besessenen rannten dann wie verrückt zwischen den Bankreihen herum und redeten laut in Zungen. Die Kirchendiener überwältigten sie wie Rausschmeißer in einem Club und hielten sie für den Pastor fest. Der Pastor packte sie am Kopf, schüttelte sie heftig vor und zurück und rief dabei laut: »Ich vertreibe diesen Geist im Namen Jesu!« Manche Pastoren waren gewalttätiger als andere, doch alle hörten erst auf, wenn der Dämon ausgetrieben war und das Gemeindemitglied schlaff und kraftlos auf der Bühne zusammenbrach. Der Betroffene musste zu Boden gehen. Tat er das nicht, war der Dämon stark und der Pastor musste ihm noch heftiger zu Leibe rücken. Da war selbst ein Linebacker der National Football League chancenlos. Der Pastor brachte jeden zu Boden. Mein Gott, war das ein Spaß.
Christen-Karaoke, knallharte Action-Geschichten und gewalttätige Teufelsaustreiber – Junge, Junge, ich liebte die Kirche. Was mir nicht so gut gefiel, war die mühevolle Anfahrt, die wir dafür auf uns nehmen mussten. Eine endlose Odyssee. Wir wohnten in Eden Park, einem winzigen Vorort weit außerhalb von Johannesburg. Wir brauchten eine Stunde bis zur weißen Kirche, noch einmal fünfundvierzig Minuten bis zur gemischten Kirche und wieder fünfundvierzig Minuten für die Fahrt nach Soweto zur schwarzen Kirche. Und als ob das noch nicht schlimm genug wäre, fuhren wir an manchen Sonntagen noch einmal zurück zur weißen Kirche für einen speziellen Abendgottesdienst. Wenn wir dann spätabends endlich wieder zu Hause waren, fiel ich nur noch ins Bett.
Jener spezielle Sonntag, der Sonntag, an dem ich aus einem fahrenden Auto gestoßen wurde, begann wie jeder andere Sonntag auch. Meine Mutter weckte mich und machte mir Porridge zum Frühstück. Ich ging ins Bad, während sie meinen kleinen Bruder Andrew anzog, der damals neun Monate alt war. Dann gingen wir raus zum Auto, aber als wir endlich alle angeschnallt und fertig zum Aufbruch waren, wollte das Auto nicht anspringen. Meine Mom hatte einen uralten, ramponierten, grellorangefarbenen VW Käfer, den sie praktisch für umsonst gekauft hatte. Der Grund, warum sie den Wagen so günstig bekommen hatte, war ganz einfach, denn er blieb immer wieder liegen. Bis heute hasse ich Gebrauchtwagen. Fast alles, was je in meinem Leben schiefgelaufen ist, hängt mit einem Gebrauchtwagen zusammen. Wegen eines Gebrauchtwagens musste ich in der Schule nachsitzen, weil ich so oft zu spät kam. Wegen eines Gebrauchtwagens strandeten wir auf der Schnellstraße und mussten trampen. Ein Gebrauchtwagen war auch der Grund, weshalb meine Mutter heiratete. Wenn wir nicht diesen VW gehabt hätten, der ständig streikte, hätten wir uns nie nach einem Mechaniker umgesehen, und ausgerechnet dieser Mechaniker wurde der Ehemann meiner Mutter, mein Stiefvater und damit der Mann, der uns jahrelang quälte und meiner Mutter eine Kugel in den Hinterkopf jagte – nein danke, für mich kommt nur ein Neuwagen mit Garantie infrage.
So gern ich in die Kirche ging, an die Tortur, neun Stunden lang durch die Gegend zu fahren, von der gemischten Kirche zur weißen Kirche und weiter zur schwarzen Kirche und dann wieder zurück zur weißen Kirche, wollte ich nicht einmal denken. Das alles war schon im Auto schlimm genug, aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln dauerte es doppelt so lange und war doppelt so anstrengend. Stumm betete ich: Bitte sag, dass wir einfach daheim bleiben. Bitte sag, dass wir einfach daheimbleiben. Dann schielte ich zu meiner Mutter und sah den entschlossenen Ausdruck in ihrem Gesicht und das vorgereckte Kinn, und ich wusste, dass ich einen sehr langen Tag vor mir hatte.
»Komm«, sagte sie. »Wir fahren mit dem Minibus.«
Meine Mutter ist so stur wie religiös. Wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, gibt es kein Zurück mehr. Hindernisse, die andere Menschen dazu veranlassen würden, ihre Pläne zu ändern, etwa ein Auto, das nicht anspringen will, bestärken meine Mutter nur noch in ihrer Entschlossenheit.
»Das ist der Teufel«, sagte sie über den streikenden Wagen. »Der Teufel will nicht, dass wir in die Kirche gehen. Deshalb müssen wir den Minibus nehmen.«
Wann immer ich mit der Hartnäckigkeit meiner Mutter konfrontiert wurde, die sich noch dazu auf ihren Glauben berief, versuchte ich, mit einer anderen Meinung dagegenzuhalten, natürlich so respektvoll wie möglich.
»Oder«, sagte ich, »der Herr weiß, dass wir heute nicht in die Kirche gehen sollten, und hat deshalb dafür gesorgt, dass das Auto nicht anspringt, damit wir als Familie daheim bleiben und uns einen Tag der Ruhe gönnen, denn selbst der Herr hat geruht.«
»Ah, das hat dir der Teufel eingeflüstert, Trevor.«
»Nein, denn Jesus hat die Kontrolle, und wenn Jesus die Kontrolle hat und wir zu Jesus beten, dann würde er dafür sorgen, dass das Auto anspringt, aber das hat er nicht und deswegen …«
»Nein, Trevor! Manchmal legt Jesus uns Hindernisse in den Weg, um zu schauen, ob wir sie überwinden. Wie bei Hiob. Das könnte eine Prüfung sein.«
»Oh! Ja, Mom. Aber die Prüfung könnte auch darin bestehen, ob wir bereit sind, das Geschehene zu akzeptieren und zu Hause zu bleiben und Jesus für seine Weisheit zu preisen.«
»Nein. Da spricht wieder der Teufel. Und jetzt zieh dich um.«
»Aber Mom!«
»Trevor! Sun’qhela!«
Sun’qhela bedeutet »keine Widerrede«. Xhosa-Eltern sagen das oft zu ihren Kindern. Wenn ich das hörte, wusste ich, dass die Diskussion beendet war; wenn ich noch etwas sagte, drohte mir eine Tracht Prügel.
Ich war jedes Jahr der Champion am Sporttag des Maryvale College, und meine Mutter gewann jedes Mal den Pokal bei den Müttern. Warum? Weil sie mir immer hinterherjagte, um mir den Hintern zu versohlen, und ich lief natürlich weg, damit sie mich nicht erwischte. Niemand rannte so schnell wie meine Mutter und ich. Sie gehörte nicht zu den Müttern, die nach dem Motto verfuhren: »Komm her und hol dir deine Tracht Prügel ab.« Sie lieferte frei Haus. Sie konnte auch gut werfen. Was ihr gerade in die Hände kam, flog in meine Richtung. Wenn es zerbrechlich war, musste ich es fangen und hinstellen. Wenn es kaputtging, war das natürlich meine Schuld und die Strafe fiel noch deftiger aus. Wenn sie eine Vase nach mir warf, musste ich sie auffangen, hinstellen und dann losrennen. Im Bruchteil einer Sekunde musste ich entscheiden: Ist sie wertvoll? Ja. Zerbrechlich? Ja. Fangen, hinstellen, losrennen.
Meine Mutter und ich, wir hatten ein Verhältnis wie Tom und Jerry. Sie war die strenge Zuchtmeisterin; ich war der Junge, der nur Unsinn im Kopf hatte. Sie schickte mich beispielsweise los, um Milch und Brot zu kaufen, und ich kam nicht gleich wieder nach Hause, sondern nutzte das Restgeld, um im Supermarkt Videospiele zu spielen. Ich war verrückt nach Videospielen. Bei Street Fighter war ich ein Meister. Ich holte immer wieder Freispiele für mich raus. Ich warf eine Münze ein, und die Zeit verging wie im Flug. Ich kam erst wieder zur Besinnung, wenn eine Frau mit einem Gürtel hinter mir herjagte. Ein Wettlauf. Ich rannte aus dem Haus und durch die staubigen Straßen von Eden Park, sprang über Mauern, schlich mich durch fremde Gärten. In unserem Viertel war das völlig normal. Alle wussten: Der kleine Trevor stürmt wie der Teufel an einem vorbei, dicht gefolgt von seiner Mutter Patricia. Sie konnte selbst mit hohen Absätzen einen Sprint hinlegen, aber wenn sie mich wirklich kriegen wollte, hatte sie diesen Trick, bei dem sie im vollen Lauf die Schuhe auszog. Eine geschickte Bewegung mit den Fußknöcheln, und schon flogen die hohen Schuhe durch die Luft, sie selbst kam dabei nicht einmal aus dem Tritt. Dann wusste ich: Okay, jetzt hat sie den Turbo zugeschaltet.
Als ich klein war, holte sie mich immer ein, doch mit zunehmendem Alter wurde ich schneller. Wenn Geschwindigkeit nicht reichte, nutzte sie einfach ihren Verstand. Drohte ich zu entkommen, rief sie: »Haltet den Dieb!« So etwas tat sie ihrem eigenen Kind an. In Südafrika mischt sich niemand in die Angelegenheiten anderer Leute ein, es sei denn, ein wütender Mob übt Selbstjustiz, dann will jeder mitmachen. Also rief sie »Haltet den Dieb!«, weil sie wusste, dass sie damit die ganze Nachbarschaft gegen mich aufbrachte. Wildfremde versuchten, mich zu packen und zu Fall zu bringen, und ich musste ausweichen und Haken schlagen und dabei die ganze Zeit schreien: »Ich bin kein Dieb! Ich bin ihr Sohn!«
Das Letzte, was ich an jenem Sonntagmorgen tun wollte, war, mich in einen überfüllten Minibus zu quetschen, aber sobald meine Mutter sun’qhela sagte, wusste ich, dass mein Schicksal besiegelt war. Sie nahm Andrew auf den Arm und wir stiegen aus dem Käfer und machten uns auf den Weg zur Straße in der Hoffnung, dass irgendwann ein Minibus anhielt und uns mitnahm.
Ich war fünf Jahre alt, fast sechs, als Nelson Mandela aus dem Gefängnis freikam. Ich weiß noch, dass darüber im Fernsehen berichtet wurde und dass sich alle freuten. Ich wusste nicht, warum wir uns freuten, nur, dass wir uns freuten. Ich wusste, dass es so etwas wie Apartheid gab, die nun zu Ende war, und dass das eine große Sache war, aber was damit einherging, verstand ich nicht.
Woran ich mich sehr gut erinnere und was ich nie vergessen werde, ist die Gewalt, die danach ausbrach. Der Triumph der Demokratie über die Apartheid wird manchmal auch als unblutige Revolution bezeichnet. Das liegt daran, dass bei der Revolution kaum weißes Blut vergossen wurde. Doch schwarzes Blut floss im Gefolge der Revolution reichlich.
Nach dem Sturz des Apartheidregimes wussten wir, dass nun die Schwarzen herrschen würden. Die Frage war nur: Wer von ihnen? Eine Welle der Gewalt folgte, und es kam zum Machtkampf zwischen der Inkatha Freedom Party und dem African National Congress. Die politische Dynamik zwischen den beiden Parteien ist hoch kompliziert, am einfachsten kann man sie mit einem Stellvertreterkrieg zwischen Zulu und Xhosa erklären. Die Inkatha Freedom Party wurde überwiegend von den Zulu dominiert, war militant und sehr nationalistisch. Der ANC war eine breite Koalition aus vielen verschiedenen Gruppen, doch die damaligen Führer waren hauptsächlich Xhosa. Durch die Apartheid war der Krieg zwischen Zulu und Xhosa auf Eis gelegt worden. Das Land war von fremden Invasoren besetzt worden, und diese Eindringlinge, die Weißen, stellten fortan den gemeinsamen Feind, gegen den man sich verbündete. Doch sobald der gemeinsame Feind weg war, hieß es: »Okay, wo waren wir stehen geblieben? Ach, ja«, und die Messer wurden wieder gezückt. Anstatt sich für den Frieden zu verbünden, gingen die Anhänger der verschiedenen Parteien aufeinander los und verübten unglaubliche Grausamkeiten. Gewaltige Unruhen brachen aus. Tausende wurden getötet. Es kam zu Lynchjustiz, häufig in Form von necklacing. Dabei wurde dem Opfer ein mit Benzin getränkter Autoreifen über Oberkörper und Arme gestülpt. Dann wurde der Reifen angezündet und das Opfer bei lebendigem Leib verbrannt. ANC-Anhänger machten das mit den Mitgliedern der Inkatha. Die Inkatha-Anhänger machten es mit den Mitgliedern des ANC. Auf dem Schulweg sah ich eines Tages so einen verkohlten Körper. Am Abend schalteten meine Mom und ich unseren kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher ein und schauten die Nachrichten. Ein Dutzend Menschen getötet. Fünfzig Menschen getötet. Hundert Menschen getötet. Eden Park lag direkt neben den sich immer weiter ausbreitenden Townships von Johannesburg, Thokoza und Katlehong, wo sich einige der schrecklichsten Zusammenstöße zwischen ANC und Inkatha zutrugen. Mindestens einmal im Monat mussten wir auf dem Nachhauseweg feststellen, dass unser Viertel in Flammen stand. Hunderte randalierten auf der Straße. Meine Mutter steuerte dann unser Auto vorsichtig durch die Menge und um die Blockaden aus brennenden Autoreifen herum. Nichts brennt so gut wie ein Autoreifen – die Flammen lodern mit einer Wucht, die man sich nicht vorstellen kann. Wenn wir an den brennenden Blockaden vorbeifuhren, fühlte sich das an wie in einem Ofen. Ich sagte oft zu meiner Mutter: »Ich glaube, Satan verbrennt in der Hölle Autoreifen.«
Sobald Unruhen ausbrachen, verbarrikadierten sich all unsere Nachbarn hinter verschlossenen Türen. Nur meine Mutter nicht. Sie ging trotzdem raus, und wenn wir an den Blockaden vorbeimussten, sah sie die Randalierer mit diesem speziellen Blick an. Lasst mich durch. Ich habe mit diesem Unfug nichts zu schaffen. Bei drohender Gefahr wich und wankte sie nicht. Darüber musste ich immer wieder staunen. Es spielte keine Rolle, dass direkt vor unserer Haustür ein Krieg tobte. Sie hatte Dinge zu erledigen, musste zur Arbeit. Dieselbe Sturheit, die dafür sorgte, dass sie in die Kirche ging, auch wenn ihr Auto kaputt war. Da konnten fünfhundert Randalierer die Hauptstraße von Eden Park mit brennenden Autoreifen blockieren, meine Mutter sagte nur: »Zieh dich an. Ich muss zur Arbeit. Und du musst in die Schule.«
»Aber hast du keine Angst?«, fragte ich dann. »Du bist allein, und die anderen sind so viele.«
»Schatz, ich bin nicht allein«, antwortete sie. »Ich habe alle Engel des Herrn hinter mir.«
»Tja, wäre schön, wenn man die auch sehen könnte«, sagte ich. »Ich glaube nämlich nicht, dass die Randalierer wissen, dass sie da sind.«
Sie sagte mir, ich solle mir keine Sorgen machen. Am Ende kam sie immer auf den Satz zurück, der auch ihr Lebensmotto war: »Wenn Gott bei mir ist, wer kann dann gegen mich sein?« Sie hatte nie Angst. Selbst wenn es nötig gewesen wäre.
An jenem autolosen Sonntag machten wir also unsere Kirchenrunde und endeten wie üblich bei der weißen Kirche. Als wir aus der Rosebank Union Church kamen, war es dunkel, und wir standen allein da. Der Tag hatte aus einer endlosen Abfolge von Minibussen bestanden, von der gemischten Kirche zur schwarzen Kirche und weiter zur weißen Kirche, und ich war total erschöpft. Es war schon mindestens neun Uhr. Damals, bei all der Gewalt und den Ausschreitungen, war man um diese Zeit besser nicht mehr unterwegs. Wir standen an der Ecke Jellicoe Avenue und Oxford Road, mitten in einem reichen, weißen Vorort von Johannesburg, keine Minibusse in Sicht, die Straßen leer.
Ich hätte so gern zu meiner Mutter gesagt: »Siehst du? Deshalb wollte Gott, dass wir zu Hause bleiben.« Aber ein Blick in ihr Gesicht genügte, und ich wusste, dass ich besser den Mund hielt. Es gab Momente, da konnte ich meiner Mutter mit so einer frechen Bemerkung kommen – aber dieser Moment gehörte ganz sicher nicht dazu.
Wir warteten und warteten, aber es kam kein Minibus. Zu Zeiten der Apartheid gab es keine öffentlichen Verkehrsmittel für Schwarze, aber wir mussten uns trotzdem irgendwie fortbewegen, schließlich sollten wir ja für die Weißen den Fußboden wischen und das Klo putzen. Not macht erfinderisch, daher richteten die Schwarzen ihr eigenes Transportsystem ein, ein inoffizielles Netzwerk aus Buslinien, betrieben von privaten Unternehmern – im Grunde von Gangs. Weil die Minibus-Branche keinerlei Kontrolle unterlag, herrschte das organisierte Verbrechen. Verschiedene Banden betrieben bestimmte Routen und bekämpften sich, um die Kontrolle über ein Gebiet zu erlangen. In dieser generell zwielichtigen Branche war Bestechung an der Tagesordnung, es gab viel Gewalt und auch Schutzgeldzahlungen, um sich vor ebenjener Gewalt zu schützen.
Auf keinen Fall durfte man eine Linie von einer rivalisierenden Bande stehlen. Fahrer, die sich andere Routen zu eigen machten, wurden umgebracht. Und da die Minibusse keiner Kontrolle unterlagen, waren sie auch sehr unzuverlässig. Wenn sie kamen, kamen sie. Wenn nicht, dann nicht.
Wir standen also vor der Rosebank Union Church, und ich schlief praktisch im Stehen ein. Immer noch kein Minibus in Sicht. Schließlich sagte meine Mutter: »Also gut, dann trampen wir.« Wir liefen und liefen und nach einer gefühlten Ewigkeit kam endlich ein Auto und hielt sogar an. Der Fahrer war bereit, uns mitzunehmen, und wir stiegen ein. Wir waren kaum drei Meter gefahren, als plötzlich ein Minibus vor uns einscherte und den Weg blockierte.
Der Fahrer stieg aus, mit einer iwisa in der Hand, einer großen, traditionellen Waffe der Zulu – im Grunde ein Knüppel. Die Zulus schlagen damit anderen Leuten den Schädel ein. Auf der Beifahrerseite stieg sein Kumpel aus. Sie gingen zur Fahrerseite unseres Wagens, packten den Mann, der angeboten hatte, uns mitzunehmen, zerrten ihn aus dem Auto und fingen an, ihn mit ihrem Knüppel ins Gesicht zu schlagen. »Warum klaust du uns unsere Kunden? Warum nimmst du einfach Leute mit?«
Anscheinend wollten sie den armen Kerl umbringen. Ich wusste, dass das manchmal vorkam. Meine Mom schaltete sich ein. »Hey, hört zu. Er wollte mir nur helfen, lasst ihn in Ruhe. Wir fahren bei euch mit. Das hatten wir ursprünglich sowieso vor.« Also stiegen wir aus dem ersten Auto und wechselten in den Minibus.
Wir waren die einzigen Passagiere. Die Fahrer südafrikanischer Minibusse sind nicht nur Gangster und gewalttätig, sie sind auch dafür berüchtigt, dass sie ständig schimpfen und ihre Passagiere maßregeln. Dieser Fahrer war besonders schlecht drauf. Und er war nicht nur schlecht drauf, er war auch noch ein Zulu. Während der Fahrt fing er an, meiner Mutter einen Vortrag zu halten, weil sie zu einem Mann ins Auto gestiegen war, mit dem sie nicht verheiratet war. Meine Mutter konnte Lektionen von fremden Männern noch nie ertragen. Sie sagte ihm, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, doch als er hörte, dass sie mit uns Xhosa sprach, legte er erst so richtig los. Die gängigen Vorstellungen über Zulu- und Xhosa-Frauen waren so fest verwurzelt wie die über die Männer. Zulu-Frauen benahmen sich anständig und waren pflichtbewusst. Xhosa-Frauen waren untreue Flittchen. Und da war nun meine Mutter, von einem verfeindeten Stamm, eine Xhosa-Frau allein mit zwei Kindern – eins davon auch noch ein Mischling. Nicht nur eine Schlampe, sondern eine Schlampe, die mit weißen Männern schläft. »Oh, du bist eine Xhosa«, sagte er. »Das erklärt alles. Steigt ins Auto eines Fremden. Widerlich.«
Meine Mutter ließ sich das nicht gefallen, und er beschimpfte sie und schrie sie vom Fahrersitz aus an, wedelte mit dem Finger vor dem Rückspiegel und wurde immer bedrohlicher, bis er schließlich sagte: »Das ist das Problem mit euch Xhosa-Frauen. Ihr seid alle Schlampen. Aber heute Abend bekommst du eine Lektion erteilt.«
Er gab Gas. Er fuhr schnell und hielt nicht mehr an, nur an den Kreuzungen fuhr er etwas langsamer, falls andere Autos kamen, aber dann beschleunigte er gleich wieder. Damals gehörte der Tod zum Alltag, jeder war gefährdet. Wahrscheinlich würde der Mann meine Mutter vergewaltigen. Und uns alle umbringen. Das war durchaus möglich. Mir war die Gefahr, in der wir uns befanden, nicht so recht klar; ich war so müde, dass ich nur noch schlafen wollte. Außerdem blieb meine Mutter sehr ruhig. Sie reagierte nicht panisch, also reagierte auch ich nicht panisch. Sie versuchte, beruhigend auf den Fahrer einzureden.
»Tut mir leid, wenn wir dich verärgert haben, bhuti. Du kannst uns einfach hier rauslassen …«
»Nein.«
»Wirklich, das ist kein Problem. Wir können zu Fuß weiter …«
»Nein.«
Er raste über die Oxford Street, die wie ausgestorben war, keine anderen Autos weit und breit. Ich saß direkt an der Schiebetür des Minibusses. Meine Mutter saß neben mir, den kleinen Andrew auf dem Schoß. Sie sah aus dem Fenster auf die Straße, beugte sich dann zu mir und flüsterte: »Trevor, wenn er an der nächsten Kreuzung langsamer fährt, mache ich die Tür auf und wir springen raus.«
Ich hörte kein Wort von dem, was sie sagte, denn zu dem Zeitpunkt war ich bereits eingeschlafen. Als wir an eine Ampel kamen, ging der Fahrer ein bisschen vom Gas und hielt Ausschau nach anderen Autos. Meine Mutter griff über mich hinüber, zog die Schiebetür auf, packte mich und stieß mich hinaus. Dann nahm sie Andrew, beugte ihren Oberkörper schützend über ihn und sprang hinter mir her.
Ich kam mir vor wie in einem Traum, bis der Schmerz mich traf. Bumm! Der Aufprall war hart. Meine Mutter landete direkt neben mir, wir überschlugen uns und rollten noch ein Stück weiter. Jetzt war ich hellwach. Aus meinem friedlichen Dösen gerissen, dachte ich: Was zum Teufel? Ich schlitterte noch ein bisschen und stand dann mühsam auf, völlig desorientiert. Ich schaute mich um und sah meine Mutter, die schon wieder auf den Beinen war. Sie drehte sich um, sah mich an und schrie.
»Lauf!«
Also lief ich los, und sie lief auch. Und niemand rannte so schnell wie meine Mutter und ich. Das ist schwer zu erklären, aber ich wusste einfach, was ich tun musste. Ein animalischer Instinkt, erlernt in einer Welt, wo stets Gewalt lauerte, die jederzeit ausbrechen konnte. In den Townships, wo die Sondereinsatzkommandos in voller Kampfmontur mit ihren gepanzerten Wagen und Hubschraubern einfielen, wusste ich in so einem Moment: Such Deckung. Lauf und versteck dich. Das war mir schon als Fünfjähriger klar.
Wenn ich anders aufgewachsen wäre, wäre ich total durcheinander gewesen, wenn ich gerade aus einem fahrenden Minibus gestoßen worden wäre. Wahrscheinlich wäre ich wie ein Idiot dagestanden und hätte gefragt: »Was ist los, Mom? Warum tun mir meine Beine so weh?« Aber nein, nichts dergleichen. Meine Mutter rief »Lauf!«, und ich lief. Ich rannte so schnell wie eine Gazelle, die vor dem Löwen flieht.
Die beiden Männer im Minibus hielten an, stiegen aus und versuchten, uns einzuholen, aber sie hatten keine Chance. Wir hängten sie einfach ab. Ich glaube, sie waren geschockt. Ich weiß noch, wie ich einen Blick nach hinten warf und sah, wie sie mit einem erstaunten Ausdruck im Gesicht aufgaben. Was war da gerade passiert? Wer hätte gedacht, dass eine Frau mit zwei kleinen Kindern so schnell laufen kann? Sie hatten natürlich keine Ahnung, dass sie es mit den amtierenden Champions des Sporttages am Maryvale College zu tun hatten. Wir rannten und rannten immer weiter, bis wir zu einer Tankstelle kamen, die rund um die Uhr geöffnet hatte, und von dort aus die Polizei riefen. Aber da waren die Männer schon längst weg.
Mein Antrieb beim Rennen war pures Adrenalin gewesen. Ich wusste immer noch nicht, warum das alles passiert war. Erst als wir aufhörten zu rennen, bemerkte ich, dass mir alles wehtat. Ich sah an mir hinunter, die Haut an meinen Armen war aufgeschürft und aufgerissen. Ich war zerschrammt und blutete. Meine Mom auch. Mein kleiner Bruder dagegen war unversehrt, unglaublich, meine Mutter hatte ihn mit ihrem eigenen Körper so gut geschützt, dass er nicht einen Kratzer abbekommen hatte. Geschockt fragte ich:
»Was war denn das?! Warum sind wir weggelaufen?«
»Wie meinst du das, ›Warum sind wir weggelaufen?‹ Die Männer wollten uns umbringen.«
»Davon hast du kein Wort gesagt! Du hast mich einfach aus dem Auto geschubst!«
»Ich habe es dir gesagt. Warum bist du nicht gesprungen?«
»Gesprungen?! Ich habe geschlafen!«
»Dann hätte ich dich also lieber im Auto lassen sollen, damit die Männer dich umbringen?«
»Die hätten mich wenigstens geweckt, bevor sie mich umgebracht hätten.«
Und so ging es hin und her. Ich war gerade aus einem fahrenden Auto gestoßen worden und so verwirrt und wütend, dass ich gar nicht verstand, was eigentlich passiert war. Meine Mutter hatte mir das Leben gerettet.
Während wir wieder zu Puste kamen und auf die Polizei warteten, damit sie uns nach Hause fuhr, sagte meine Mutter: »Nun ja, zumindest sind wir in Sicherheit, Gott sei Dank.«
Aber ich war neun Jahre alt und wusste es besser. Dieses Mal wollte ich nicht den Mund halten.
»Nein, Mom! Nicht Gott sei Dank! Du hättest auf Gott hören sollen, als er uns sagte, dass wir zu Hause bleiben sollen, als das Auto nicht ansprang. Dieses Mal hat uns eindeutig der Teufel dazu überlistet, überhaupt aus dem Haus zu gehen.«
»Nein, Trevor! So arbeitet der Teufel nicht. Das gehört zu Gottes Plan, und wenn er uns hierhaben wollte, dann hatte er einen Grund …«
Und so zankten wir also mal wieder wie so oft über den Willen Gottes. Schließlich sagte ich: »Hör mal, Mom. Ich weiß, dass du Jesus liebst, aber vielleicht könntest du ihn nächste Woche bitten, zu uns nach Hause zu kommen. Weil das heute Abend war echt kein Spaß.«
Ihr Gesicht zuckte, sie lächelte und fing dann an zu lachen. Ich musste auch lachen, und da standen wir dann, mitten in der Nacht im Licht der Tankstelle draußen auf der Straße, ein kleiner Junge und seine Mutter, die Arme und Beine mit Blut und Dreck verkrustet, und lachten trotz der Schmerzen.
APARTHEID WAR DER PERFEKTIONIERTE RASSISMUS. Ein System, das sich über Jahrhunderte entwickelte. Angefangen hatte alles 1652, als die Niederländische Ostindien-Kompanie am Kap der Guten Hoffnung landete und eine Handelskolonie namens Kaapstaad gründete, später auch bekannt als Cape Town oder Kapstadt. Dort machten die Handelsschiffe auf der Überfahrt von Europa nach Indien Station. Zur Durchsetzung der weißen Herrschaft führten die niederländischen Kolonialherren Krieg gegen die Eingeborenen und entwickelten eine Reihe von Gesetzen, um sie zu unterwerfen und oft auch zu versklaven. Als die Briten die Kolonie am Kap übernahmen, zogen die Nachfahren der ursprünglichen niederländischen Siedler ins Landesinnere und entwickelten ihre eigene Sprache, Kultur und Gebräuche. So wurden sie schließlich ein eigenes Volk, die Afrikaaner – der weiße Stamm in Afrika.
Die Briten schafften die Sklaverei offiziell ab, hielten jedoch in der Praxis daran fest. Denn in der kleinen Kolonie, die anfänglich als praktisch wertlose Zwischenstation am Ende der Welt abgetan worden war, stolperten ein paar glückliche Kapitalisten über die reichsten Gold- und Diamantenvorkommen der Welt. Für den Abbau der Bodenschätze war ein endloser Nachschub entbehrlicher Arbeiter erforderlich, die sich in den Boden wühlten und Minen vortrieben. Mit der Auflösung des Britischen Empire meldeten sich die Afrikaaner zurück und beanspruchten Südafrika als ihr rechtmäßiges Erbe. Ihre Regierung erkannte, dass sie neuere und robustere Instrumente benötigte, um sich angesichts der aufstrebenden und unruhigen schwarzen Mehrheit im Land an der Macht zu halten. Also wurde eine offizielle Kommission eingerichtet, die den institutionalisierten Rassismus weltweit studierte. Die Kommission reiste nach Australien. Sie reiste in die Niederlande. Sie reiste nach Amerika. Die Mitglieder sahen, was funktionierte und was nicht. Nach ihrer Rückkehr verfassten sie einen Bericht, und die Erkenntnisse daraus wurden zum Aufbau des fortschrittlichsten Systems der Rassenunterdrückung genutzt, das die Menschheit je gesehen hatte.
Apartheid war ein Polizeistaat, ein Überwachungssystem und ein Gesetzeswerk. Das alles wurde zur Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung geschaffen. Die komplette Sammlung dieser Gesetzestexte umfasste über dreitausend Seiten und wog ungefähr fünf Kilo, doch die allgemeine Stoßrichtung erklärt sich ganz einfach am Beispiel Amerika. In Amerika gab es die Zwangsvertreibung der Indianer in Reservate und die Sklaverei, gefolgt von der Rassentrennung. Nun stelle man sich vor, dass das alles denselben Menschen zur gleichen Zeit widerfährt. Das ist Apartheid.